Anfang Eins
September
Die Übergabe
Das Andere würde gleich beginnen. Hieß es nicht so? Hieß es nicht immer so?
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Zungen klammerten sich an Zähnen fest. Gum an Gum. Sie saugten, Augen aufgerissen, starrten sich mit einer Leidenschaft an, von der beide, bis eben, nichts gewusst hatten. Die Bereitschaft, miteinander zu sprechen, ging gegen Null. Dass es mit der Wortlosigkeit seine Richtigkeit hatte, war keine Frage. Finger und Blicke begegneten sich.
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In der Stadt ohne Meer, die einen Hafen besaß, im bröckelnden Palazzo Forcella de Seta, jenseits der neuen Uferpromenade, die kaum benutzt wurde, da der Weg ans und ins Wasser versperrt blieb, hatte man sie entdeckt. Neben dem Salz, ein feinkörniger Haufen, höher als ein geöffnetes, stark gebogenes Zweimetermaß, dem der letzte Abschnitt halb fehlte, hatte sie auf dem Rücken gelegen und an die Decke gestarrt. Als hätte ein Wunder sie in Bann gehalten. Über ihr hatte, von Staub bedeckt, ein Wandmosaik, den Sternen nah, geleuchtet. Sie hatte sich, im Laufe der Nacht, mehrmals Salzprisen in die Augen gerieben, reiben müssen, um die unerwartete Schönheit des Raums auszuhalten. Alhambra, hatte sie gedacht, daran reicht es eher nicht heran, aber das hier ist, mit Abstand, das Nächstbeste, was ich jemals gesehen habe.
Ihre Mutter hatte bis zuletzt, auf dem Totenbett, von Granada geschwärmt. In höchsten Tönen. Eine Litanei der Liebe. Ihre Eltern hatten sie auf der Hochzeitsreise in Andalusien gezeugt. Im Schatten der Stadtburg, bei Vollmond, unter Zitrusbäumen sei es passiert, hatte ihre Mutter gesagt, als sie wissen wollte, wo ihr Dasein begonnen hatte. Was glaubst du, wo dein zweiter Name, Kasbah, herkommt, hatte Vater beim Lebewohl gesagt und ihr mit Händen, die schon nicht mehr ihm gehörten, über das Haar gestrichen.
Sie war in das Torhaus, in der Stadt ohne Meer, durch ein bereits eingeschlagenes Kellerfenster eingedrungen und hatte sich im oberen Saal erschöpft auf die Fliesen fallen lassen. Einen Plan hatte sie nicht gehabt. Seit dem Konservatorium hatte sie keine Pläne mehr gemacht. Pläne seien Enttäuschungen auf Raten, die Zinsen für nichts, rein gar nichts verlangten. Den Spruch hatte sie, klein gefaltet, in einem Medaillon aus Blech um den Hals getragen. Der Hund, der sie am Morgen entdeckt hatte, wurde von seiner Besitzerin Bambino gerufen.
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In jedem Erwachsenen verbirgt sich das Kind. Nicht in jedem Kind der Erwachsene, glücklicherweise.
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Und, angenommen, mein Name sei Du, Kantensein, hieltet ihr mich nicht trotzdem für sie oder er oder es? Oder, keine angenehme Vorstellung, für egozentrisch? Würdet ihr von Wirklichkeitsflucht sprechen? Und, im Gespräch, nach einer Weile, zugeben, dass ihr selbst nicht so genau wüsstet, was es mit der Realität auf sich hätte? Würdet ihr mich ganz genau ansehen, also - bleibt bei der Wahrheit - begutachten, von allen Seiten, und mich am Ende, als wir, mit einer Leidenschaft umarmen wollen, die ihr nicht mehr für möglich gehalten hättet?
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Sie, die bald ich sein würde (oder ich bald sie), harrte unter der Plane aus. Der Atem leicht, an die Schwere des Alkohols gewöhnt. Kein schlechter Flecken, die Trockenheit des Sommers hatte den harten Sandweg weich werden lassen. Wir, dachte sie, die Abgehängten der westlichen Hemisphäre, gehören, vorläufig, zu den wenigen Gewinnern des Klimawandels.
Wenn Grog und sie gefragt wurden, wo sie eigentlich lebten - selbst Obdachlose hatten sich im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends dem Approbiationsdiskurs zu stellen -, antworteten sie in den Weinbergen, was romantischer klang als es war.
Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Nun fielen die Tropfen. Als schösse Wasser vom Himmel. Präszise Einschläge. Ligetis Atmosphères, dachte sie, die, vor dem Unfall, am Konservatorium davon geträumt hatte, Pianistin zu werden. Lange her. Nicht an Jahren. Der Gemütsverfassung wegen. Sie lüftete die Plane, um Luft zu schnappen. Verkrustetes Salz hing an ihren Augenlidern. Mascara für Arme. Geweint, dachte sie, ich muss geweint haben. Wahrscheinlich hatte Grog, im Suff, Ivana erwähnt, die, wie es hieß, im hinteren Teil der Kantstraße, am anderen Ende der Stadt, wohnte, und weder ihre Anrufe angenommen noch auf die Voicemails reagiert hatte.
Grog, der schlecht schlief, schlich bereits zum Lager der anderen, auf der Suche nach Flaschen, die in den Einkaufswagen der Dinge harrten. Eine dumme Angewohnheit, das Stehlen.
Ein Unfall, im klassischen Sinne, war es nicht gewesen. Eher eine Vendetta. Ein Racheakt, der sich in sein Gegenteil verkehrt hatte. Statt Ivanas Vater, der sie am laufenden Band betrogen hatte, einzunorden, wie es ihr die Angeheuerten versprochen hatten, hatte die Gang sein Geld akzeptiert und ihr beide Zeigefinger gebrochen. Mehrmals.
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Stil und Ehrlichkeit kommen nicht von Sachen, die man kaufen kann.
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In der Stadt ohne Meer hatte sie, als der Hausmeister des Teatro Bellini in den Untiefen des Gebäudes verschwunden gewesen war, die doppelten Schlüssel des Apartments entwendet, dessen Balkon auf die Piazza Bellini zeigte. Sie hatte sich erinnert, dass er, der später mal sie werden würde, mit seiner Frau vorm Bisso Bistrot auf einen freien Tisch gewartet und von dem Ausblick auf den Turm der Kirche Santa Maria dell'Ammiraglio in höchsten Tönen geschwärmt hatte. Er hatte das Fenster über der Küchenzeile Himmeslloch genannt. Zu seiner lächelnden Frau hatte er gesagt, dass er niemals geglaubt hätte, eine solche Befriedigung und Katharsis in der Erscheinung einer puren Aushöhlung zu finden. Sie hatte, dem Paar lauschend, neidisch geschluckt, sich die Plastikblumen, die ihren Kopf als Kranz umschlungen hatten, zurechtgerückt und den Wunsch verspürt, dieses gepriesene cielo del buco, mehrere Nächte lang, zu observieren. Vielleicht, hatte sie gedacht, gibt mir die Aussicht einen Fingerzeig, welchen Weg ich einzuschlagen habe.
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Später, falls sie die Mitte erreichten - hier sei die Möglichkeitsform angebracht, denn nichts sei sicher, alles könnte sich gegen den Augenblick wenden, gegen das Jetzt wehren -, später würden sie vorm CoWorkingSpace in der Zehdeniker stehen und den Geruch des Kaffees einsaugen. Er schliche sich durch die Tür der Bar und schnüffelte. Ein Süchtiger. Drei bis vier Tassen Kaffee hatten sie früher getrunken, am Stück. Besonders vor den Demonstrationen. Meistens hatten sie sich mit Kaffeesatz eingerieben. Beide hatten das Gefühl gehabt, dass die Schmiere - sie mischten den Sud meistens mit Gesichts-, seltener mit Handcreme - ihnen ungeahnte Kraft bescherte, die in der anderswo geernteten Bohne verborgen lag.
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Sie brachen mit allem. Zuletzt, ein Fehler, mit sich selbst.
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Weil es nicht anders geht, sagte er, die Hand am Stemmeisen, das schwer im Licht der Taschenlampe blinkte.
Hast du das eben geschrieben, sagte sie: schwer blinkte?
Ein Warnsignal, sagte er. Sie können unsere Worte riechen. Ein Altbrand aus neuer Ferne. Unbekümmert sind wir nicht. Sollen vermuten, was ihrer harrt, wagten sie den Angriff. Bereitschaft sei die Tochter der Einsicht.
Und Umsichts Bruder der Winkelzug, sagte die Schriftstellerin. Wer sich Illusionen macht, Heartofmyherart, lebt der nicht im ariden Ichland, fern der feuchtklammen Realität?
Stört dich nicht, was andere von dir denken?, sagten sie.
Weniger, sagte er, viel weniger.
Als?, sagten sie.
Was ich selbst von mir denke, sagte er.
Hilfe, die wir verweigern, vergisst uns nicht, sagten sie.
Wirland, schrieb er.
Daran hälst du fest?, sagte die Geschichte, ihre Hand auf seinen Lippen.
An uns?, sagte der Leser, Fingerspitzen küssend.
Schlagzeilen, sagten sie, unbedarft. Schlugen Bücher auf wie Hufeeier.
Beim Stoßgebet flossen Seufzer, hinter geschlossenen Flügeltüren. Im Treppenhaus verharrten Freunde, auf Zehenspitzen, eine Viertelstunde zu früh, warteten Höhepunkte der Kochkunst ab.
Headlines, sagten sie, durchdacht. Hielten sich, Plots flüsternd, und gingen durch die nächste Nacht.
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Alles könnte anders sein. Ganz anders. Allein du bist du. In, wie dir bekannt ist, aller Regel.
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Dass wir uns selbst begehren, sei eine Auszeichnung, sagtest du, meine Zunge dirigierend.
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Schläge sprangen ins aufgedunsene Gesicht. Prasselten auf ihn nieder. Starkegen. Zur Gegenwehr fehlte Kraft. Behütet lag er über ihr. Schützend lag sie unter ihm. Gimme shelter from the storm. Stünde er auf, verließe sie ihn. Die ungeschnittenen Nägel der anderen Männer zerkratzten seine Haut. Rammten Centstücke, ihm gestohlen, in schlitzförmige Öffnungen. Jukebox, sagte Karl, der ihn am meisten um ihre Gegenwart beneidete, sing schon, Grog, spiel uns das Lied vom Tod, sing die Winterreise. Fremd bin ich eingezogen, sagte er, fremd zieh ich wieder aus, während Karl eine Flasche auf seinem Rücken zerschlug. Das war der Preis, den er dafür zahlte, dass sie ihm erlaubte, bei ihr zu sein.
Die Nacht war noch anstrengender als der Morgen gewesen. Was er, in vergleichbaren Lagen, stets probiert hatte, gelang ihm zunächst: er tauchte in Erinnerungen ab. Jaipurs Nässe, die über sie mit einer Wut und Wucht gekommen war, mit Hast und Hass, die sie nirgendwo, selbst nicht in Goa, wo sie den Monsun ausgesessen hatten, erlebt hatten. Er wusste nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, ob sie im Hawa Mahal gewesen waren, ob das Geld gereicht hatte, um den Palast der Winde von innen zu sehen. Was er wusste, war, dass sich der rote Staub, der die Straße vorm Hawa Mahal bedeckt hatte, durch den Regen bläulich verfärbt hatte. Ein Blau, das dem Ton der Schwellungen entsprach, die sich auf seiner verprügelten Haut rund um die Augen und, wo die Farbe am längsten ausharrte, die Nieren zeigen würde.
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Sie versuchte, als sie noch nicht ich war, zu atmen und sagte zu ihm, dessen Nase blutete: die Blitze, die entstehen, wenn die Polizeisirenen angehen, erinnern mich an Marseilles, Boulevard Michelet. Als Mutter noch lebte, Ivana war noch nicht geboren, sind wir im Hotel der Wohnmaschine abgestiegen, und Hermes, mein Bruder, hat mich gebeten, durch die Flure der Stockwerke zu rennen, an den bunten Türen vorbei. Während ich gerannt bin, hat er Fotos gemacht, in denen ich gerade nicht mehr zu sehen gewesen bin, aber das Licht - so jedenfalls seine Behauptung -, das sich in Schlieren in den dämmerigen Fluren entlud. Hermes hielt in den Bildern seine eingeschränkte Sehkraft fest. So sehe ich, pflegte mein Bruder zu sagen, wenn er gefragt wurde, warum er Schemen fotografierte.
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Wenn die Aussagen über Henning Ritter - <ein unglücklicher Alkoholiker, ein Mann im Schatten des übermächtigen Vaters, jemand, der mit 50 Jahren noch Autofahren lernen, sein Leben von Grund auf verändern wollte, ein Mann, der als erstes zu seinen Förderern sagte "Sie widersprechen mir nicht"> -, wenn die Aussagen über Henning Ritter stimmten, Bemerkungen, die der Freund Ritters dem Ritter-Zugeneigten im Ritter gewidmeten Salon zwischen Tür und Angel servierte, blieb die Frage der Gültigkeit des Niedergeschriebenen als Lebensersatz. Wer, wie Ritter, Tag für Tag las, bis zu zwölf Stunden am Stück, an sich kaum etwas anderes machte, als sich in Voltaire, Renard und Proust zu versenken, nebenbei ein schmales, elegantes Bändchen, die Notizhefte, über - ja, über was? - Literatur und den leidenschaftlichen Mut zum Denken publizierte, und dann, wie gewünscht, im selben Lebensjahr wie der biologische Übervater starb, ein Übervater, der ihm, Ritter, auf dem Sterbebett anvertraut hatte, dass er wesentlich lieber den Sohn Fs als Sohn gehabt hätte, wer solch eine Buchstabenexistenz führte, war der als "erfolgreicher Mensch" zu beneiden? Oder, da - auf der Suche nach genialen Spurenelementen - weiterhin tief im Apokryphen, Nicht-Fertigen gewühlt wurde, in letzter Konsequenz, die sich auf die Schnittmenge von Leben und Werk bezieht, zu bedauern?
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Wir übernehmen die Rechtsradikalen Parteien, sagte er. Was haltet ihr davon? Wir treten geschlossen in die AfD ein. Zweihunderttausend junge Linke. Wir drehen die Partei radikal um, machen sie zur Speerspitze der Pro-Flüchtlinge-Bewegung. Wir schmeißen die Faschisten raus. Alles ganz demokratisch. Als Intervention. Vielfalt kommt durch Teilhabe. Wer sich nicht bewegt, verändert nichts.
Sie, die auf dem Podium beim Decolonizing-wor:l:ds-Kongress im aquarium am Kotti saß, sagte, das veränderte unsere Gesellschaft nicht. Er habe keine Ahnung, wo die eigentlichen Probleme lägen. Wir hätten bislang keine schwarzen Deutschen im Bundestag, das sei das größte Problem.
Er sagte, das könnte sich ändern, wenn es eine wahrhaft aufgeklärte Partei gäbe. Das Hijacking der AfD könnte als Musterbeispiel der neuen Teilhalbe dienen.
Sie sagte, nein. Die Anwesenden spendeten Beifall.
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Wer gibt uns Zensuren, wenn wir uns selbst zensieren?
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Die Beleidigungen wirkten. Will Self lächelte scharf aus einem Gesicht, so schmal wie ein leerer Pappordner. Wer, Self sah ins Publikum, wird nachher das Buch lesen? Seien Sie ehrlich! Raus mit der Sprache! Hebt die Hände! Der Autor zählte. Aha, eine Handvoll, sagte er. Für die anderen füllt dieser Abend ein kulturelles Loch. Um ehrlich zu sein: ich brauch das nicht. Ich brauch Euch nicht. Kommt einfach nicht. Bleibt weg.
In der Mitte der Gartenbühne, um präzise zu sein: zufällig der tatsächlichen Mitte des Raums, räusperte sich ein Gast der Lesung und sagte oder wollte, ohne Mikrofon, sagen: Danke für das routiniert vorgetragene Spiel, Herr Handke-Bernhard. Die Publikumsbeschimpfung haben Sie perfektioniert. Auch die Zurechtweisung von Mister Starstruck, der neben Ihnen sitzt und Sie eigentlich moderieren sollte, Mister Starstruck, der offenbar keine Ahnung hat, wer der Schauspieler neben ihm wiederum ist, der allen Ernstes vermutet hat, dass es sich um den Translator handelt und auch niemals davon gehört hat, dass der Schauspieler die deutsche Übersetzung ausgerechnet des Abschnitts Ihres neuen Buches, den Sie eben selbst halb gelesen, halb gesungen haben, vortragen soll, auch die Zurechtweisung hat nicht eines gewissen Charmes entbehrt. Well done. Erst wollte ich nur anmerken, sagte der Mann aus dem Publikum, dass Sie nicht wissen können, ob wir nicht schon das fragliche Buch gelesen haben. Auch wollte ich zunächst bloß erwähnen, dass ich von Ihnen vier, fünf Bücher gelesen habe, mich halbwegs qualifiziert finde, um bei dieser Lesung anwesend zu sein. Da dies, meine Erwiderung, aber gerade zu einer marginalen Szene aus Rachel Cusks Roman Kudos wird, sei doch noch erwähnt, dass Ihre eingestreuten Zitate, Shakespeare und James Joyce, genauso abgespult wirken wie ihre altgedienten Beleidigungen.
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<Die Zeit der Freundlichkeiten ist vorbei> stand an der Fassade, in brauner Farbe und Frakturschrift. Wir besorgten uns einen Eimer Farbe, aus dem Keller, und malten die Botschaft über. Du sagtest, jetzt geht der Kampf los. Ich nickte, die Vernunft hat mehr Kraft als die Unvernunft vermutet. Du lächeltest, daran werd ich dich demnächst erinnern, vorm Schokoladenregal.
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Sie sagte, später, am nächsten Morgen, zu ihm, warum hast du es nicht so gelassen, wie es wirklich gewesen ist? Du hast mit deinem Einwand, dass wir das Buch schon gelesen haben könnten und alle Leserinnen und Leser sind, Selfs Hasstriade eingefangen. Er wurde auf der Stelle freundlich, hat sich bei dir – damit bei uns – entschuldigt und hat den Rückzieher, war mein Eindruck, ehrlich gemeint. Self kann alle Register ziehen. Das rhetorisch Zugespitzte macht dich kleiner, als du im Moment des Größezeigens gewesen bist. Außerdem, warum ich auf deine Intervention stolz bin, was nicht immer der Fall ist, wie du weißt, außerdem hast du, ohne ausfällig zu werden, die Aggressivität, die er, aus welchen Gründen auch immer, an den Tag gelegt hat, ins Leere laufen lassen. Deine Sachlichkeit hat den Gedankenaustauch, der danach kam, möglich gemacht. Diese Tatsache solltest du nicht hinter spitzfindigen und, was mich stört, erfundenen Pointen verbergen.
Er sagte, aber es handelt sich, was dir selbstverständlich klar ist, um eine Aneignung, um einen Text. Niemand, der liest, wird glauben, dass es sich bei dem „Gast im Publikum“ um mich handelt. Wer erzählt, schafft automatisch eine Distanz – sowohl zum Geschehen als auch zu den Leserinnen und Lesern.
Sie sagte, da irrst du dich. Der erste Impuls ist und bleibt biografisch. Dass es sich bei „sie“ oder „er“ um eine reine Erzählstrategie handelt, glaubt niemand. Die Dritte Person Singular wird zuverlässig als Zweite Person Singular, als Du, wahrgenommen. Übrigens, ich möchte „dich“ bitten, nicht über unsere Unterhaltung zu schreiben. Versprochen?
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Das Geld war schnell verdient. Zehn Euro und einen Sechserpack pro Unfall zahlte die ASA dem Stoßtrupp aus dem Weinbergpark für die Einmischung. Zwischen Brunnen und Strelitzer postierten sich die Männer und Frauen, ein knappes Dutzend, die meisten kamen aus Russland und Polen. Sie warteten da, wo die Straße abschüssig war, die Radler, die Richtung Friedhöfe wollten, Fahrt aufnahmen und über die Fußwege bretterten. Dass die AnklamerStraßenAnwohnerschaft, die jedes Jahr einige Hofflohmärkte und Nachbarschaftsfeste organisierte, im Unrecht war, scherte weder die Obdachlosen noch ihre Auftraggeber. Seit dem Unfall an der spanischen Kita – ein Essenskurier war in eine Kindergruppe gefahren und hatte zwei Jungen mit einer heißen Suppe eines Speiselokals vom Rosenthaler Platz verbrüht – sprach niemand mehr über die Rechtsradikalen in Sachsen oder Trumps Merkel-Bashing, sondern man unterhielt sich ausschließlich über die Generation Me, myself and my Handy.
Den Arm mit einem Schlag Richtung Fahrrad auszustrecken, als wäre dir unerwartet etwas eingefallen, war einfacher, als sich plötzlich – aus Lebensfreude – mit der Einkaufstüte im Kreis zu drehen und dabei Teenage Kicks zu singen. Übrigens ein Lied, das John Peel gemocht hatte. Die dritte Variante, die Schauspielkunst verlangte und die wahre Kunst des Egoistische-Radfahrer-auf-Fußwegen-Erledigens darstellte, nämlich einen epileptischen Anfall vorzutäuschen und dabei gegen einen Fußgänger zu kommen, der wiederum die Fahrradfahrer von ihren Vehikeln riss, die dritte Variante überließ der Stoßtrupp allein Maria. Die Banater Schwäbin hatte, vor ihrem Zusammenbruch, Statistenrollen in Babelsberg gehabt und sogar in einer Babylon Berlin-Barszene im Moka Efti zum Kommissar <Onkel> Wolter „Du bist ein verdammt süßer Scheißkerl - küss mich“ gesagt.
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Als ich hochblickte, ging eine Gestalt vorbei, die wie ich aussah. Ende des Monats, ich lächelte, an einen Traum glaubend, da sind hier eben alle auf Wanderschaft, ziehen reihenweise um. Warum sollte ich eine Ausnahme sein? Ein Ich wirft im Wir Schatten. Spätestens, geht’s ans Sterben. Hatten wir nicht des Öfteren darüber nachgegrübelt, was wäre, wenn? Wer kann, akzeptiert das Geld der Makler, kauft sich einen Hof in Brandenburg, mit Koppel, für die Kinder, und Steg am See, gleich um die Ecke. Die Lastkraftwagen parken pünktlich zum letzten Wochenende vor der Tür. Männer mit Muskeln, die keine Elektroimpulsarmbänder kennen, tragen Kartons aus Hauseingängen, die für mehrere Stunden offenstehen, was in der Rosenthaler Vorstadt eher ungewöhnlich ist.
Ich fühle mich, dachte ich, wie eine Ausstellung am Tag nach der Finissage. Die Stücke, die mich als Einheit ausmachten, deretwegen ich bewundert worden war, die in allen großen Zeitungen ob ihrer überaus gelungenen, immersiven Zusammenstellung Erwähnung gefunden hatten, besaßen auf einmal keinerlei Bedeutung mehr. Wenigstens als Ensemble. Was machen, fragte ich mich, ist das gelbe Licht des Sonnenuntergangs verlöscht, die Fische aus Parrenos Ausstellung im Gropius Bau?
Die Gestalt, die wie ich aussah, blickte sich zu mir um - jedenfalls war das mein Eindruck. Im Gesicht eine Mischung aus Mitleid und Ekel. Und Angst. Und, kennen Sie das?, Stripes - Streifen, die sich wie abstrakte Schlieren zwischen uns schoben. Von ihr hatte ich nichts zu erwarten. Weder ein warmes Wort noch eine kalte Münze. Die beiden Raben, die ich bislang nicht bemerkt hatte, die sich gleich neben mir aufhielten, als gehörten wir zusammen, die keinerlei Furcht zeigten, hackten auf einer Plastiktüte herum. La Pausa, las ich, der billige Italiener um die Ecke, am Rosenthaler Platz, mit den ellenlangen Pizzen, den wir, als sie, deren Namen mir auf der pelzig belegten Zunge liegt, aber partout nicht einfällt, irgendetwas mit N am Anfang und Y kurz vorm Ende, als sie ihre Buchparty im Cosmic Kaspar, gleich unter dem Haus am See, gefeiert hatte, für das Mitternacht-Catering erwogen, aber, leider, verworfen hatten.
Jemand, den ich nicht kannte, der, sein Körper verriet es, mich kannte oder glaubte, mich zu kennen, das auf der schrägen Wiese liegende Mich, die Ausrichtung der Wirbelsäule, das leichte Abgewinkelte seiner mageren Schultern, die Wölbung der von Schrammen aufgerissenen Hühnerbrust, die man sehen konnte, er trug kein Oberteil, ging gebückt über die Wiese, verrieten die Beziehung des Sammlers zu mir. Ob er Geld oder Kippen suchte, war nicht klar, dass er ein Lied von The Cure summte, auf dessen Namen ich auch nicht mehr kam, irgendwie hakte mein überlastetes Hirn, dagegen schon.
Es war früh, höchstens 5.30 Uhr. Die fleckige, ehemals flauschige Decke, die über die Matratze ausgebreitet war, wärmer als gedacht, roch nach Rotwein. Was nicht sein konnte, da ich nur Weißen trinke. Roter bekommt mir nicht. Am nächsten Morgen bekommt mir Roter nicht. Während des höchst seltenen Trinkens – wir öffnen nur mit Gästen Alkohol – ist an sich alles in Ordnung. Um ganz ehrlich zu bleiben: während des Trinkens bevorzuge ich sogar die Schwere des Rotweins. Besonders des spanischen. Sehr zu empfehlen, trotz des Preises, ist Valbuena 5, aus der Tempranillo-Traube, die im Duerotal Tinto Fino genannt wird. Leider sind die Nachwehen beim Rotweintrinken erheblich, sie raubten mir problemlos den halben Tag.
Ich fasste mir an den Mund, der gepierct war. Die Unterlippe, zum linken Winkel hin, schmerzte. Mein Mund ist noch nie gepierct gewesen, dachte ich, während ich beobachtete, wie die Gestalt, die wie ich aussah, Richtung Weinbergsweg verschwand. Ich verspürte den Drang, meine volle Blase zu entleeren. Allein: meine vielen, im Vergleich zu ihrem sonstigen Umfang, kläglich dünnen Beine flimmerten mir hilflos vor den Augen.
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Zunächst eine Entschuldigung. Ich weiß, dass du mich begleiten wolltest. Aber es ging nicht. Ich habe das Ticket umgetauscht. In Geld. Die 210 Euro liegen in der Schublade, unter dem Besteckfach. Wie du es verlangst. Wie es dir eine Herzensangelegenheit ist. Das Geld, dein Fahrgeld, liegt unter den Löffeln.
Jeder Monat läutet sich ein. Wie eine Glocke, die, bevor sie aufgehängt wird, einen Test in der Glockengießerwerkstatt bestehen muss. Was wäre, wenn der September den Test nicht besteht? August sagte, er bliebe? Wir übersprängen dich?
Ist das der Klang?, fragt der Glockengießer, dessen schönste Glocken, wie er mir gleich am Telefon erzählt hat, nicht-religiöse seien. Er ahnt, dass es sich um einen Testballon handelt. Einen Fesselballon, den ich besteigen will, um über die Perspektive der Drohnen zu blicken.
Du hast mir vorgeworfen, die Wahrnehmung von Realität zu verzerren. Als gäbe es nur eine - darf ich sagen: deine? - von der du dir ein ewiges Sfumato-Bild machst, das du, was ich zu einfach finde, mit deinem Sehfehler und, allen Ernstes, mit deiner Vorliebe für blurry Land Art begründest?
Die Drohne, die du gekauft hast, habe ich als Symbol verstanden. Nicht als Kampfmittel gegen Nachbarn, deren Pflanzen unsere Fenster überwuchern. Oder als Lustverstärker, denn theoretisch könnten wir uns vor den Bildschirm setzen, während du die Drohne an geöffneten Fenstern vorbeisteuerst, und Paare beobachten. Du weißt, wobei. Bei den Sachen, die du "Keine Hoffnung" nennst. Von deiner Perspektive aus, wohlgemerkt. Das möchte ich noch anmerken. Wie gesagt, das Geld für das Ticket liegt unter den Löffeln, vielleicht auch unter den Gabeln.
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Die Frau von der Reinigung, die, was ich ich hören konnte, dem aktuellen Hardtalk Podcast der BBC, dessen Ankündigung ich vorhin im Postfach gehabt hatte, während des Abfallsammelns lauschte, rüttelte sanft an meiner Schulter. Sie legte mir, freundlich nickend, auf meine Beine zeigend, über die ein rotes Rinnsal kroch, eine Binde aus dem Ökoladen auf den Bauch - was ich erst dankend ablehnen wollte, bevor ich begriff. Ich blutete. Wie es ansonsten nur die jungen Frauen getan hatten, mit denen ich zusammengelebt hatte.
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Na, sagte die Frau von der Stadtreinigung. In dem „Na“ lagen Schichten, die mir unbekannt waren. Wahrscheinlich kannten wir uns. Wahrscheinlich sagten wir Sachen zueinander, die sie nicht zu den campierenden Männern, hinten in den Büschen, bei den steinernen Campingtischen, sagen würde. Vielleicht sagten wir manchmal Sachen, die uns zu Verbündeten gemacht hatten. Vielleicht zeigte die Frau von der Stadtreinigung mir ab und an auf ihrem Handy Fotos von ihren Kindern und von ihrem Pauschalurlaub am Strand einer spanischen Insel. All-inclusive. Selbst die Drinks an der Poolbar waren enthalten. Der Gedanke an Alkohol in Strömen löste einen Schluckreflex im Rachen aus. Der Speichel floss zusammen, wie es manchmal passiert war, wenn wir uns die Croissants vom französischen Café in der Brunnenstraße gekauft hatten. Der Gedanke an die vorab bezahlten Drinks ließ meine Hände zittern. Vielleicht kannten wir uns, und vielleicht gab mir die Frau von der Stadtreinigung Dinge, die ich in den Wintermonaten unbedingt brauchte, um mir die Kälte vom Leib zu halten. Denn obwohl der Morgen durchaus frisch war, war dies, selbst für mich, der ich zum ersten Mal auf der abschüssigen Wiese stand und die Joggerinnen beobachtete, die, ohne auf die Stadtreinigung oder uns, den gebückten Mann, der immer noch Sachen im nassen Morgengras suchte, und mich, zu achten, die als Gruppe gut gelaunt um den Teich sprinteten, war dies als Biwak-Saison noch halbwegs erträglich. Beinahe, wenn man so wollte, ein Abenteuer. Ich lächelte und sagte: Na. Woraufhin die Frau von der Stadtreinigung sagte: Na, was? Was gibt es da zu lächeln?
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Ich hoffe, du hast das Besteckfach entdeckt. Es handelt sich um die Holzschublade im Keller, im kleinen Kabinett, neben der Gefriertruhe, von der du lieber nicht sprichst. Warum ich das Geld dort versteckt habe?
Gestern war sein Todestag. Vor zehn Jahren hat sich die Platte vom Haken gelöst und hat ihn erschlagen. In seiner Werkstatt. Niemand da, nur er. So ist das, wenn man allein ist.
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Ein Mädchen, in der Hand eine Tüte mit Vogelfutter, rannte über die ausgetrocknete Wiese, stockte, als es mich sah, drehte sich zu seiner Mutter um, die am Geländer des Teichs Dehnübungen machte, und fragte: Soll ich der auch was geben? Die Mutter sieht zu mir, ich sehe zu ihr. Ich kenne sie. Wir haben uns manchmal, bei Vernissagen, wenn ihr älterer Mann die Getränke geholt hat, angelächelt. Fast sage ich zu ihr, ich wusste gar nicht, dass du eine Tochter hast. Sie sagt zu dem Mädchen: lieber nicht, Lea, die ist krank. Siehst du die roten Flecken auf den Armen? Ansteckend. Gefährlich. Krätze, nennt man das. Komm her zu mir, wir müssen jetzt los, den Rest verfüttern wir morgen.
Meine Ärmchen jucken, sagte ich zu dem Mädchen, unerträglich. Würdest du bitte mal kratzen? Aber es hörte mich nicht mehr, ging, sich nach mir umblickend, mit seiner Mutter, die am Handy sprach, Richtung Polizeiwache. Wahrscheinlich wollen sie zum Bio Deli, Ecke Ackerstraße, Brötchen, Käse und Ochsenherzentomaten kaufen, dachte ich.
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Wenn du mich fragst, sagte er, hätten wir uns das sparen können. Eine geistige Durchdringung hat nicht stattgefunden. Die zehn Minuten, die ich gestern mit der Festivaldirektorin aus Zagreb hatte, im Literaturzelt, neben der Betongarage, waren interessanter als die drei Stunden, die wir gerade abgeleistet haben.
Vier, sagte sie, vier Stunden. Ich bin so hungrig, dass ich kaum noch stehen kann.
Vier?, sagte er. Nie wieder. Versprichst du mir das, bitte?
Versprochen, sagte sie. Was hast du eigentlich vom Autotanz gehalten, den Adania und ich aufgeführt haben, um die Schranke des Parkplatzes davon zu überzeugen, uns vom Gelände zu lassen?
Wunderschön, sagte er. Der mit Abstand allerschönste Tanz, den ich jemals in meinem ganzen Leben beobachten durfte.
Schade, sagte sie, dass die Schranke das nicht genauso empfunden hat.
Nicht so wild, sagte er, dafür sind wir dann ja über den Rasen der Festspiele in die Freiheit gebrettert.
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Das Aua des Mädchens, ein Laut, den sie gehört hatten, als sie unter dem Fenster vorbeigegangen waren, war aus dem gekippten Schlafzimmerfenster in ihre Gehörgänge gekrochen. Er fragte sich, noch Tage später, ob der Mann, den er für ehrlich hielt, sich an seiner Tochter vergangen hatte. Oder ob die Kinder der Familie, wie so oft, einen Streit ausgefochten hatten.
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Zum Mitnehmen - das Schild, das vor ihr stand, stammte aus der Elisabethkirchstraße. In der mit Pflastersteinen geschmückten Krümmung, gleich neben der Bank, unter dem einzelnen Baum, in der idyllischen Krümmung hinter der Schinkelkirche, die von Touristen unablässig fotografiert wurde, ließen die Rosenthaler Vorstädter alles liegen, was sie ohne großes Ado loswerden wollten. Tauchte ein Zum Mitnehmen-Schild auf, rannten die Anwohner, die zu faul gewesen waren, selbst ein Schild anzufertigen, in ihre Keller und schleppten Überflüssiges an. In aller Regel trennte man sich von dicken Röhrenfernsehern, verklebten Mixern, die noch nach Humus oder Kuchenteig rochen, Büchern, die man geschenkt bekommen hatte, aber niemals lesen würde, Druckern, die zusätzlich, wenigstens theoretisch, faxen, kopieren und scannen konnten, und, nicht zu vergessen, heillos abgetragenen Kleidungsstücken. Das einzige, was sie jemals an sich genommen hatte, waren die Zum Mitnehmen-Schilder. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Schilder - übrigens: je krakeliger, je besser - erst ein Lächeln, dann ein Innehalten bei den Spaziergängern verursachten, das, häufig genug, zu einem Umdrehen führte und mehr Ein-Euro- als Fünf-Cent-Münzen in ihrem Glas enden ließ. Nicht dass jemand ernsthaft überlegt hatte, die Frau im Park wegen des Schilds mitzunehmen - außer, was sie niemals vergessen konnte, bei einer einzigen Gelegenheit ... doch das ist eine derart unglaubliche Geschichte, die mehr Raum braucht, einen Endpunkt darstellt, demgemäß später, vielleicht im November, erzählt werden könnte.
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Als es nicht mehr ging, schloss Grog die Augen. Karl zeichnete mit glühenden Streichhölzern. Gleich am Anfang, als sie vom Savignyplatz zum Weinbergpark umgezogen war, hatte Grog sich ihretwegen die Aura des Harten-Nehmers zugelegt. Er kollabiere nicht so leicht, hatte er gesagt, atme den Schmerz wieder aus. Wie sie sich das vorzustellen habe, hatte sie gefragt. Wie beim Zahnarzt, hatte er geantwortet. Dir wird ohne Narkose ein Zahn runtergeschliffen, und du weißt, dass der Schmerz, zwischendurch, aufhört. Was du machst? Du konzentrierst dich aufs Zwischendurch. Das Davor und das Dahinter hältst du fern. Die Idee der schmerzlosen Gegenwart hatte für sie den Ausschlag gegeben, sich mit ihm, dem Fringeboy, dem kanadischen Ex-Pat, der, im späten Abendlicht, als Hipster durchging, zu verbünden.
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Die Beinchen, am fremden Körper, knackten, knirschten, knarrten, fielen faul wie Herbstlaub reihenweise ab, ließen Phantomschmerzen zurück. Maßlose Glieder, dachte ich und reichte der Frau von der Stadtreingung, die mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, die leere Bionadeflasche. Behalt mal schön selbst, sagte die Frau von der Stadtreinigung, das war übrigens die letzte Binde, die du von mir bekommen hast, ich werd in den Humboldthain versetzt.
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Zuerst hatten sie, im Zelt, nach der Lesung, im Schatten der Bar jeder Vernunft, über die Unmöglichkeit der Perspektive geredet, über die Bewegungserinnerung eines Zehnkämpfers, über geschriebene und ungeschriebene Dankesbriefe, gerichtet an Hamburger Professoren der Kunstgeschichte (Warburgkenner) oder Trainer in der niedersächischen Provinz (Menschenkenner). Über die Sehnsucht, worauf beinahe alles hinauslief, nach Anerkennung, das war, sogleich, das nächste Thema gewesen. Die Lust am Fotografieren, in aller Heimlichkeit. Das Muss des Dichtens, nicht weniger versteckt. Um schließlich, am Ende, zur Macht des Romans zu kommen. Der Sehnsucht nach der Erweiterung des Erzählbaren. Solche Romane würden durch Bahnhofsbuchandlungsstapel querfinanziert, das sei jedenfalls die Hoffnung. Nicht zu selten, hier lachte der ehemalige Leichtathlet, würden dann jedoch die seltsamen Geschichten die herkömmlichen stützen. Man wüsste niemals, was ginge oder floppte.
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Du merkst, was du hattest, ist es gegangen. Sich zu fragen, was wäre gewesen, hätte ich jenen oder diesen Augenblick genutzt, hätte mich, wie einst geschworen, am See, dem carpe diem anvertraut, sei vergebene Liebesmüh. Egal, wie viele Fotos wir vom anderen gemacht haben, ich von dir, du von mir, wie viele Videos existieren, wie viele Zeilen uns gewidmet sind, stoppt das Herz, ist es aus, für alle Zeiten vorbei.
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Verletzlich?, fragte sie.
Ja, sagte er. Neben der Überholspur, ewig im zweiten Gang, so fühle ich mich.
Stärke ist kein Muskel, sagte sie, den man trainiert. Geschwindigkeit zählt allein auf der Flucht. Außerdem: hast du das früher nicht geschätzt? Dich nicht auf deine Schwäche berufen? Auf die Leidenschaft der Galle gepocht? Piazza Cavour ...
... what is life for, sagte er.
Geht doch, sagte sie.
Nein, sagte er. Melancholie verliert im Alter an Attraktivität.
Unsinn, sagte sie. Klarheit braucht die Trübe.
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Das Blaue des Morgens, der Nacht entrissen; sie forderte von Greg oder Grog, ihr fiel nicht ein, welchen Konsonanten er bevorzugte, sie forderte von ihm, dass er ihr half, die Mauer zu besteigen. Sie balancierte, hier hatte sie gewohnt, dies war ihr Balkon gewesen. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht, sprang sie, fasste die Eisensprossen, zog sich am Geländer hoch, schickte Greg oder Grog weg, setzte sich aufs verwitterte Holz, am schmaleren Ende des Balkons, weit weg von der Balkontür, die in einer Nische lag. Als, eine halbe Stunde später, der Mann, der sie gewesen war, auf den Balkon trat und Fotos vom Morgenmond machte, hielt sie die Beinchen, die plötzlich kribbelten, still und sah sich selbst beim Fotogafieren zu.
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Du, angenommen, stelltest dich, einen Morgen später, nach einer Nacht ohne Schlaf, vor die Linse. Zwischen euch das Dreifachglas, die Markise. Er risse, wie es seine Art ist, Ungeduld und die Lust an der Abstraktion trieben ihn, die Kamera hin und her. Da er keine Brille trüge, sähe er dich nicht. Du wärst ein Streifen am Horizont, und ich frage dich, was du an meiner Stelle gemacht hättest? Hättest du geklopft? Hättest du gesagt, Du, Kantensein, uns gibt es jetzt zweimal? Hättest du gesagt, dass du dich auf dem gelben Sofa einrollen könntest? Dass du sie, denn es gibt nicht nur ihn, also dich, dass du sie beim Podcasthören nicht stören würdest? Oder hättest du dich damit begnügt, eine Trace zu hinterlassen? Eine Erinnerung in einem Text zu werden?
September
Die Übergabe
Das Andere würde gleich beginnen. Hieß es nicht so? Hieß es nicht immer so?
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Zungen klammerten sich an Zähnen fest. Gum an Gum. Sie saugten, Augen aufgerissen, starrten sich mit einer Leidenschaft an, von der beide, bis eben, nichts gewusst hatten. Die Bereitschaft, miteinander zu sprechen, ging gegen Null. Dass es mit der Wortlosigkeit seine Richtigkeit hatte, war keine Frage. Finger und Blicke begegneten sich.
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In der Stadt ohne Meer, die einen Hafen besaß, im bröckelnden Palazzo Forcella de Seta, jenseits der neuen Uferpromenade, die kaum benutzt wurde, da der Weg ans und ins Wasser versperrt blieb, hatte man sie entdeckt. Neben dem Salz, ein feinkörniger Haufen, höher als ein geöffnetes, stark gebogenes Zweimetermaß, dem der letzte Abschnitt halb fehlte, hatte sie auf dem Rücken gelegen und an die Decke gestarrt. Als hätte ein Wunder sie in Bann gehalten. Über ihr hatte, von Staub bedeckt, ein Wandmosaik, den Sternen nah, geleuchtet. Sie hatte sich, im Laufe der Nacht, mehrmals Salzprisen in die Augen gerieben, reiben müssen, um die unerwartete Schönheit des Raums auszuhalten. Alhambra, hatte sie gedacht, daran reicht es eher nicht heran, aber das hier ist, mit Abstand, das Nächstbeste, was ich jemals gesehen habe.
Ihre Mutter hatte bis zuletzt, auf dem Totenbett, von Granada geschwärmt. In höchsten Tönen. Eine Litanei der Liebe. Ihre Eltern hatten sie auf der Hochzeitsreise in Andalusien gezeugt. Im Schatten der Stadtburg, bei Vollmond, unter Zitrusbäumen sei es passiert, hatte ihre Mutter gesagt, als sie wissen wollte, wo ihr Dasein begonnen hatte. Was glaubst du, wo dein zweiter Name, Kasbah, herkommt, hatte Vater beim Lebewohl gesagt und ihr mit Händen, die schon nicht mehr ihm gehörten, über das Haar gestrichen.
Sie war in das Torhaus, in der Stadt ohne Meer, durch ein bereits eingeschlagenes Kellerfenster eingedrungen und hatte sich im oberen Saal erschöpft auf die Fliesen fallen lassen. Einen Plan hatte sie nicht gehabt. Seit dem Konservatorium hatte sie keine Pläne mehr gemacht. Pläne seien Enttäuschungen auf Raten, die Zinsen für nichts, rein gar nichts verlangten. Den Spruch hatte sie, klein gefaltet, in einem Medaillon aus Blech um den Hals getragen. Der Hund, der sie am Morgen entdeckt hatte, wurde von seiner Besitzerin Bambino gerufen.
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In jedem Erwachsenen verbirgt sich das Kind. Nicht in jedem Kind der Erwachsene, glücklicherweise.
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Und, angenommen, mein Name sei Du, Kantensein, hieltet ihr mich nicht trotzdem für sie oder er oder es? Oder, keine angenehme Vorstellung, für egozentrisch? Würdet ihr von Wirklichkeitsflucht sprechen? Und, im Gespräch, nach einer Weile, zugeben, dass ihr selbst nicht so genau wüsstet, was es mit der Realität auf sich hätte? Würdet ihr mich ganz genau ansehen, also - bleibt bei der Wahrheit - begutachten, von allen Seiten, und mich am Ende, als wir, mit einer Leidenschaft umarmen wollen, die ihr nicht mehr für möglich gehalten hättet?
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Sie, die bald ich sein würde (oder ich bald sie), harrte unter der Plane aus. Der Atem leicht, an die Schwere des Alkohols gewöhnt. Kein schlechter Flecken, die Trockenheit des Sommers hatte den harten Sandweg weich werden lassen. Wir, dachte sie, die Abgehängten der westlichen Hemisphäre, gehören, vorläufig, zu den wenigen Gewinnern des Klimawandels.
Wenn Grog und sie gefragt wurden, wo sie eigentlich lebten - selbst Obdachlose hatten sich im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends dem Approbiationsdiskurs zu stellen -, antworteten sie in den Weinbergen, was romantischer klang als es war.
Seit Wochen hatte es nicht geregnet. Nun fielen die Tropfen. Als schösse Wasser vom Himmel. Präszise Einschläge. Ligetis Atmosphères, dachte sie, die, vor dem Unfall, am Konservatorium davon geträumt hatte, Pianistin zu werden. Lange her. Nicht an Jahren. Der Gemütsverfassung wegen. Sie lüftete die Plane, um Luft zu schnappen. Verkrustetes Salz hing an ihren Augenlidern. Mascara für Arme. Geweint, dachte sie, ich muss geweint haben. Wahrscheinlich hatte Grog, im Suff, Ivana erwähnt, die, wie es hieß, im hinteren Teil der Kantstraße, am anderen Ende der Stadt, wohnte, und weder ihre Anrufe angenommen noch auf die Voicemails reagiert hatte.
Grog, der schlecht schlief, schlich bereits zum Lager der anderen, auf der Suche nach Flaschen, die in den Einkaufswagen der Dinge harrten. Eine dumme Angewohnheit, das Stehlen.
Ein Unfall, im klassischen Sinne, war es nicht gewesen. Eher eine Vendetta. Ein Racheakt, der sich in sein Gegenteil verkehrt hatte. Statt Ivanas Vater, der sie am laufenden Band betrogen hatte, einzunorden, wie es ihr die Angeheuerten versprochen hatten, hatte die Gang sein Geld akzeptiert und ihr beide Zeigefinger gebrochen. Mehrmals.
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Stil und Ehrlichkeit kommen nicht von Sachen, die man kaufen kann.
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In der Stadt ohne Meer hatte sie, als der Hausmeister des Teatro Bellini in den Untiefen des Gebäudes verschwunden gewesen war, die doppelten Schlüssel des Apartments entwendet, dessen Balkon auf die Piazza Bellini zeigte. Sie hatte sich erinnert, dass er, der später mal sie werden würde, mit seiner Frau vorm Bisso Bistrot auf einen freien Tisch gewartet und von dem Ausblick auf den Turm der Kirche Santa Maria dell'Ammiraglio in höchsten Tönen geschwärmt hatte. Er hatte das Fenster über der Küchenzeile Himmeslloch genannt. Zu seiner lächelnden Frau hatte er gesagt, dass er niemals geglaubt hätte, eine solche Befriedigung und Katharsis in der Erscheinung einer puren Aushöhlung zu finden. Sie hatte, dem Paar lauschend, neidisch geschluckt, sich die Plastikblumen, die ihren Kopf als Kranz umschlungen hatten, zurechtgerückt und den Wunsch verspürt, dieses gepriesene cielo del buco, mehrere Nächte lang, zu observieren. Vielleicht, hatte sie gedacht, gibt mir die Aussicht einen Fingerzeig, welchen Weg ich einzuschlagen habe.
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Später, falls sie die Mitte erreichten - hier sei die Möglichkeitsform angebracht, denn nichts sei sicher, alles könnte sich gegen den Augenblick wenden, gegen das Jetzt wehren -, später würden sie vorm CoWorkingSpace in der Zehdeniker stehen und den Geruch des Kaffees einsaugen. Er schliche sich durch die Tür der Bar und schnüffelte. Ein Süchtiger. Drei bis vier Tassen Kaffee hatten sie früher getrunken, am Stück. Besonders vor den Demonstrationen. Meistens hatten sie sich mit Kaffeesatz eingerieben. Beide hatten das Gefühl gehabt, dass die Schmiere - sie mischten den Sud meistens mit Gesichts-, seltener mit Handcreme - ihnen ungeahnte Kraft bescherte, die in der anderswo geernteten Bohne verborgen lag.
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Sie brachen mit allem. Zuletzt, ein Fehler, mit sich selbst.
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Weil es nicht anders geht, sagte er, die Hand am Stemmeisen, das schwer im Licht der Taschenlampe blinkte.
Hast du das eben geschrieben, sagte sie: schwer blinkte?
Ein Warnsignal, sagte er. Sie können unsere Worte riechen. Ein Altbrand aus neuer Ferne. Unbekümmert sind wir nicht. Sollen vermuten, was ihrer harrt, wagten sie den Angriff. Bereitschaft sei die Tochter der Einsicht.
Und Umsichts Bruder der Winkelzug, sagte die Schriftstellerin. Wer sich Illusionen macht, Heartofmyherart, lebt der nicht im ariden Ichland, fern der feuchtklammen Realität?
Stört dich nicht, was andere von dir denken?, sagten sie.
Weniger, sagte er, viel weniger.
Als?, sagten sie.
Was ich selbst von mir denke, sagte er.
Hilfe, die wir verweigern, vergisst uns nicht, sagten sie.
Wirland, schrieb er.
Daran hälst du fest?, sagte die Geschichte, ihre Hand auf seinen Lippen.
An uns?, sagte der Leser, Fingerspitzen küssend.
Schlagzeilen, sagten sie, unbedarft. Schlugen Bücher auf wie Hufeeier.
Beim Stoßgebet flossen Seufzer, hinter geschlossenen Flügeltüren. Im Treppenhaus verharrten Freunde, auf Zehenspitzen, eine Viertelstunde zu früh, warteten Höhepunkte der Kochkunst ab.
Headlines, sagten sie, durchdacht. Hielten sich, Plots flüsternd, und gingen durch die nächste Nacht.
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Alles könnte anders sein. Ganz anders. Allein du bist du. In, wie dir bekannt ist, aller Regel.
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Dass wir uns selbst begehren, sei eine Auszeichnung, sagtest du, meine Zunge dirigierend.
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Schläge sprangen ins aufgedunsene Gesicht. Prasselten auf ihn nieder. Starkegen. Zur Gegenwehr fehlte Kraft. Behütet lag er über ihr. Schützend lag sie unter ihm. Gimme shelter from the storm. Stünde er auf, verließe sie ihn. Die ungeschnittenen Nägel der anderen Männer zerkratzten seine Haut. Rammten Centstücke, ihm gestohlen, in schlitzförmige Öffnungen. Jukebox, sagte Karl, der ihn am meisten um ihre Gegenwart beneidete, sing schon, Grog, spiel uns das Lied vom Tod, sing die Winterreise. Fremd bin ich eingezogen, sagte er, fremd zieh ich wieder aus, während Karl eine Flasche auf seinem Rücken zerschlug. Das war der Preis, den er dafür zahlte, dass sie ihm erlaubte, bei ihr zu sein.
Die Nacht war noch anstrengender als der Morgen gewesen. Was er, in vergleichbaren Lagen, stets probiert hatte, gelang ihm zunächst: er tauchte in Erinnerungen ab. Jaipurs Nässe, die über sie mit einer Wut und Wucht gekommen war, mit Hast und Hass, die sie nirgendwo, selbst nicht in Goa, wo sie den Monsun ausgesessen hatten, erlebt hatten. Er wusste nicht mehr mit Sicherheit zu sagen, ob sie im Hawa Mahal gewesen waren, ob das Geld gereicht hatte, um den Palast der Winde von innen zu sehen. Was er wusste, war, dass sich der rote Staub, der die Straße vorm Hawa Mahal bedeckt hatte, durch den Regen bläulich verfärbt hatte. Ein Blau, das dem Ton der Schwellungen entsprach, die sich auf seiner verprügelten Haut rund um die Augen und, wo die Farbe am längsten ausharrte, die Nieren zeigen würde.
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Sie versuchte, als sie noch nicht ich war, zu atmen und sagte zu ihm, dessen Nase blutete: die Blitze, die entstehen, wenn die Polizeisirenen angehen, erinnern mich an Marseilles, Boulevard Michelet. Als Mutter noch lebte, Ivana war noch nicht geboren, sind wir im Hotel der Wohnmaschine abgestiegen, und Hermes, mein Bruder, hat mich gebeten, durch die Flure der Stockwerke zu rennen, an den bunten Türen vorbei. Während ich gerannt bin, hat er Fotos gemacht, in denen ich gerade nicht mehr zu sehen gewesen bin, aber das Licht - so jedenfalls seine Behauptung -, das sich in Schlieren in den dämmerigen Fluren entlud. Hermes hielt in den Bildern seine eingeschränkte Sehkraft fest. So sehe ich, pflegte mein Bruder zu sagen, wenn er gefragt wurde, warum er Schemen fotografierte.
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Wenn die Aussagen über Henning Ritter - <ein unglücklicher Alkoholiker, ein Mann im Schatten des übermächtigen Vaters, jemand, der mit 50 Jahren noch Autofahren lernen, sein Leben von Grund auf verändern wollte, ein Mann, der als erstes zu seinen Förderern sagte "Sie widersprechen mir nicht"> -, wenn die Aussagen über Henning Ritter stimmten, Bemerkungen, die der Freund Ritters dem Ritter-Zugeneigten im Ritter gewidmeten Salon zwischen Tür und Angel servierte, blieb die Frage der Gültigkeit des Niedergeschriebenen als Lebensersatz. Wer, wie Ritter, Tag für Tag las, bis zu zwölf Stunden am Stück, an sich kaum etwas anderes machte, als sich in Voltaire, Renard und Proust zu versenken, nebenbei ein schmales, elegantes Bändchen, die Notizhefte, über - ja, über was? - Literatur und den leidenschaftlichen Mut zum Denken publizierte, und dann, wie gewünscht, im selben Lebensjahr wie der biologische Übervater starb, ein Übervater, der ihm, Ritter, auf dem Sterbebett anvertraut hatte, dass er wesentlich lieber den Sohn Fs als Sohn gehabt hätte, wer solch eine Buchstabenexistenz führte, war der als "erfolgreicher Mensch" zu beneiden? Oder, da - auf der Suche nach genialen Spurenelementen - weiterhin tief im Apokryphen, Nicht-Fertigen gewühlt wurde, in letzter Konsequenz, die sich auf die Schnittmenge von Leben und Werk bezieht, zu bedauern?
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Wir übernehmen die Rechtsradikalen Parteien, sagte er. Was haltet ihr davon? Wir treten geschlossen in die AfD ein. Zweihunderttausend junge Linke. Wir drehen die Partei radikal um, machen sie zur Speerspitze der Pro-Flüchtlinge-Bewegung. Wir schmeißen die Faschisten raus. Alles ganz demokratisch. Als Intervention. Vielfalt kommt durch Teilhabe. Wer sich nicht bewegt, verändert nichts.
Sie, die auf dem Podium beim Decolonizing-wor:l:ds-Kongress im aquarium am Kotti saß, sagte, das veränderte unsere Gesellschaft nicht. Er habe keine Ahnung, wo die eigentlichen Probleme lägen. Wir hätten bislang keine schwarzen Deutschen im Bundestag, das sei das größte Problem.
Er sagte, das könnte sich ändern, wenn es eine wahrhaft aufgeklärte Partei gäbe. Das Hijacking der AfD könnte als Musterbeispiel der neuen Teilhalbe dienen.
Sie sagte, nein. Die Anwesenden spendeten Beifall.
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Wer gibt uns Zensuren, wenn wir uns selbst zensieren?
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Die Beleidigungen wirkten. Will Self lächelte scharf aus einem Gesicht, so schmal wie ein leerer Pappordner. Wer, Self sah ins Publikum, wird nachher das Buch lesen? Seien Sie ehrlich! Raus mit der Sprache! Hebt die Hände! Der Autor zählte. Aha, eine Handvoll, sagte er. Für die anderen füllt dieser Abend ein kulturelles Loch. Um ehrlich zu sein: ich brauch das nicht. Ich brauch Euch nicht. Kommt einfach nicht. Bleibt weg.
In der Mitte der Gartenbühne, um präzise zu sein: zufällig der tatsächlichen Mitte des Raums, räusperte sich ein Gast der Lesung und sagte oder wollte, ohne Mikrofon, sagen: Danke für das routiniert vorgetragene Spiel, Herr Handke-Bernhard. Die Publikumsbeschimpfung haben Sie perfektioniert. Auch die Zurechtweisung von Mister Starstruck, der neben Ihnen sitzt und Sie eigentlich moderieren sollte, Mister Starstruck, der offenbar keine Ahnung hat, wer der Schauspieler neben ihm wiederum ist, der allen Ernstes vermutet hat, dass es sich um den Translator handelt und auch niemals davon gehört hat, dass der Schauspieler die deutsche Übersetzung ausgerechnet des Abschnitts Ihres neuen Buches, den Sie eben selbst halb gelesen, halb gesungen haben, vortragen soll, auch die Zurechtweisung hat nicht eines gewissen Charmes entbehrt. Well done. Erst wollte ich nur anmerken, sagte der Mann aus dem Publikum, dass Sie nicht wissen können, ob wir nicht schon das fragliche Buch gelesen haben. Auch wollte ich zunächst bloß erwähnen, dass ich von Ihnen vier, fünf Bücher gelesen habe, mich halbwegs qualifiziert finde, um bei dieser Lesung anwesend zu sein. Da dies, meine Erwiderung, aber gerade zu einer marginalen Szene aus Rachel Cusks Roman Kudos wird, sei doch noch erwähnt, dass Ihre eingestreuten Zitate, Shakespeare und James Joyce, genauso abgespult wirken wie ihre altgedienten Beleidigungen.
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<Die Zeit der Freundlichkeiten ist vorbei> stand an der Fassade, in brauner Farbe und Frakturschrift. Wir besorgten uns einen Eimer Farbe, aus dem Keller, und malten die Botschaft über. Du sagtest, jetzt geht der Kampf los. Ich nickte, die Vernunft hat mehr Kraft als die Unvernunft vermutet. Du lächeltest, daran werd ich dich demnächst erinnern, vorm Schokoladenregal.
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Sie sagte, später, am nächsten Morgen, zu ihm, warum hast du es nicht so gelassen, wie es wirklich gewesen ist? Du hast mit deinem Einwand, dass wir das Buch schon gelesen haben könnten und alle Leserinnen und Leser sind, Selfs Hasstriade eingefangen. Er wurde auf der Stelle freundlich, hat sich bei dir – damit bei uns – entschuldigt und hat den Rückzieher, war mein Eindruck, ehrlich gemeint. Self kann alle Register ziehen. Das rhetorisch Zugespitzte macht dich kleiner, als du im Moment des Größezeigens gewesen bist. Außerdem, warum ich auf deine Intervention stolz bin, was nicht immer der Fall ist, wie du weißt, außerdem hast du, ohne ausfällig zu werden, die Aggressivität, die er, aus welchen Gründen auch immer, an den Tag gelegt hat, ins Leere laufen lassen. Deine Sachlichkeit hat den Gedankenaustauch, der danach kam, möglich gemacht. Diese Tatsache solltest du nicht hinter spitzfindigen und, was mich stört, erfundenen Pointen verbergen.
Er sagte, aber es handelt sich, was dir selbstverständlich klar ist, um eine Aneignung, um einen Text. Niemand, der liest, wird glauben, dass es sich bei dem „Gast im Publikum“ um mich handelt. Wer erzählt, schafft automatisch eine Distanz – sowohl zum Geschehen als auch zu den Leserinnen und Lesern.
Sie sagte, da irrst du dich. Der erste Impuls ist und bleibt biografisch. Dass es sich bei „sie“ oder „er“ um eine reine Erzählstrategie handelt, glaubt niemand. Die Dritte Person Singular wird zuverlässig als Zweite Person Singular, als Du, wahrgenommen. Übrigens, ich möchte „dich“ bitten, nicht über unsere Unterhaltung zu schreiben. Versprochen?
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Das Geld war schnell verdient. Zehn Euro und einen Sechserpack pro Unfall zahlte die ASA dem Stoßtrupp aus dem Weinbergpark für die Einmischung. Zwischen Brunnen und Strelitzer postierten sich die Männer und Frauen, ein knappes Dutzend, die meisten kamen aus Russland und Polen. Sie warteten da, wo die Straße abschüssig war, die Radler, die Richtung Friedhöfe wollten, Fahrt aufnahmen und über die Fußwege bretterten. Dass die AnklamerStraßenAnwohnerschaft, die jedes Jahr einige Hofflohmärkte und Nachbarschaftsfeste organisierte, im Unrecht war, scherte weder die Obdachlosen noch ihre Auftraggeber. Seit dem Unfall an der spanischen Kita – ein Essenskurier war in eine Kindergruppe gefahren und hatte zwei Jungen mit einer heißen Suppe eines Speiselokals vom Rosenthaler Platz verbrüht – sprach niemand mehr über die Rechtsradikalen in Sachsen oder Trumps Merkel-Bashing, sondern man unterhielt sich ausschließlich über die Generation Me, myself and my Handy.
Den Arm mit einem Schlag Richtung Fahrrad auszustrecken, als wäre dir unerwartet etwas eingefallen, war einfacher, als sich plötzlich – aus Lebensfreude – mit der Einkaufstüte im Kreis zu drehen und dabei Teenage Kicks zu singen. Übrigens ein Lied, das John Peel gemocht hatte. Die dritte Variante, die Schauspielkunst verlangte und die wahre Kunst des Egoistische-Radfahrer-auf-Fußwegen-Erledigens darstellte, nämlich einen epileptischen Anfall vorzutäuschen und dabei gegen einen Fußgänger zu kommen, der wiederum die Fahrradfahrer von ihren Vehikeln riss, die dritte Variante überließ der Stoßtrupp allein Maria. Die Banater Schwäbin hatte, vor ihrem Zusammenbruch, Statistenrollen in Babelsberg gehabt und sogar in einer Babylon Berlin-Barszene im Moka Efti zum Kommissar <Onkel> Wolter „Du bist ein verdammt süßer Scheißkerl - küss mich“ gesagt.
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Als ich hochblickte, ging eine Gestalt vorbei, die wie ich aussah. Ende des Monats, ich lächelte, an einen Traum glaubend, da sind hier eben alle auf Wanderschaft, ziehen reihenweise um. Warum sollte ich eine Ausnahme sein? Ein Ich wirft im Wir Schatten. Spätestens, geht’s ans Sterben. Hatten wir nicht des Öfteren darüber nachgegrübelt, was wäre, wenn? Wer kann, akzeptiert das Geld der Makler, kauft sich einen Hof in Brandenburg, mit Koppel, für die Kinder, und Steg am See, gleich um die Ecke. Die Lastkraftwagen parken pünktlich zum letzten Wochenende vor der Tür. Männer mit Muskeln, die keine Elektroimpulsarmbänder kennen, tragen Kartons aus Hauseingängen, die für mehrere Stunden offenstehen, was in der Rosenthaler Vorstadt eher ungewöhnlich ist.
Ich fühle mich, dachte ich, wie eine Ausstellung am Tag nach der Finissage. Die Stücke, die mich als Einheit ausmachten, deretwegen ich bewundert worden war, die in allen großen Zeitungen ob ihrer überaus gelungenen, immersiven Zusammenstellung Erwähnung gefunden hatten, besaßen auf einmal keinerlei Bedeutung mehr. Wenigstens als Ensemble. Was machen, fragte ich mich, ist das gelbe Licht des Sonnenuntergangs verlöscht, die Fische aus Parrenos Ausstellung im Gropius Bau?
Die Gestalt, die wie ich aussah, blickte sich zu mir um - jedenfalls war das mein Eindruck. Im Gesicht eine Mischung aus Mitleid und Ekel. Und Angst. Und, kennen Sie das?, Stripes - Streifen, die sich wie abstrakte Schlieren zwischen uns schoben. Von ihr hatte ich nichts zu erwarten. Weder ein warmes Wort noch eine kalte Münze. Die beiden Raben, die ich bislang nicht bemerkt hatte, die sich gleich neben mir aufhielten, als gehörten wir zusammen, die keinerlei Furcht zeigten, hackten auf einer Plastiktüte herum. La Pausa, las ich, der billige Italiener um die Ecke, am Rosenthaler Platz, mit den ellenlangen Pizzen, den wir, als sie, deren Namen mir auf der pelzig belegten Zunge liegt, aber partout nicht einfällt, irgendetwas mit N am Anfang und Y kurz vorm Ende, als sie ihre Buchparty im Cosmic Kaspar, gleich unter dem Haus am See, gefeiert hatte, für das Mitternacht-Catering erwogen, aber, leider, verworfen hatten.
Jemand, den ich nicht kannte, der, sein Körper verriet es, mich kannte oder glaubte, mich zu kennen, das auf der schrägen Wiese liegende Mich, die Ausrichtung der Wirbelsäule, das leichte Abgewinkelte seiner mageren Schultern, die Wölbung der von Schrammen aufgerissenen Hühnerbrust, die man sehen konnte, er trug kein Oberteil, ging gebückt über die Wiese, verrieten die Beziehung des Sammlers zu mir. Ob er Geld oder Kippen suchte, war nicht klar, dass er ein Lied von The Cure summte, auf dessen Namen ich auch nicht mehr kam, irgendwie hakte mein überlastetes Hirn, dagegen schon.
Es war früh, höchstens 5.30 Uhr. Die fleckige, ehemals flauschige Decke, die über die Matratze ausgebreitet war, wärmer als gedacht, roch nach Rotwein. Was nicht sein konnte, da ich nur Weißen trinke. Roter bekommt mir nicht. Am nächsten Morgen bekommt mir Roter nicht. Während des höchst seltenen Trinkens – wir öffnen nur mit Gästen Alkohol – ist an sich alles in Ordnung. Um ganz ehrlich zu bleiben: während des Trinkens bevorzuge ich sogar die Schwere des Rotweins. Besonders des spanischen. Sehr zu empfehlen, trotz des Preises, ist Valbuena 5, aus der Tempranillo-Traube, die im Duerotal Tinto Fino genannt wird. Leider sind die Nachwehen beim Rotweintrinken erheblich, sie raubten mir problemlos den halben Tag.
Ich fasste mir an den Mund, der gepierct war. Die Unterlippe, zum linken Winkel hin, schmerzte. Mein Mund ist noch nie gepierct gewesen, dachte ich, während ich beobachtete, wie die Gestalt, die wie ich aussah, Richtung Weinbergsweg verschwand. Ich verspürte den Drang, meine volle Blase zu entleeren. Allein: meine vielen, im Vergleich zu ihrem sonstigen Umfang, kläglich dünnen Beine flimmerten mir hilflos vor den Augen.
*
Zunächst eine Entschuldigung. Ich weiß, dass du mich begleiten wolltest. Aber es ging nicht. Ich habe das Ticket umgetauscht. In Geld. Die 210 Euro liegen in der Schublade, unter dem Besteckfach. Wie du es verlangst. Wie es dir eine Herzensangelegenheit ist. Das Geld, dein Fahrgeld, liegt unter den Löffeln.
Jeder Monat läutet sich ein. Wie eine Glocke, die, bevor sie aufgehängt wird, einen Test in der Glockengießerwerkstatt bestehen muss. Was wäre, wenn der September den Test nicht besteht? August sagte, er bliebe? Wir übersprängen dich?
Ist das der Klang?, fragt der Glockengießer, dessen schönste Glocken, wie er mir gleich am Telefon erzählt hat, nicht-religiöse seien. Er ahnt, dass es sich um einen Testballon handelt. Einen Fesselballon, den ich besteigen will, um über die Perspektive der Drohnen zu blicken.
Du hast mir vorgeworfen, die Wahrnehmung von Realität zu verzerren. Als gäbe es nur eine - darf ich sagen: deine? - von der du dir ein ewiges Sfumato-Bild machst, das du, was ich zu einfach finde, mit deinem Sehfehler und, allen Ernstes, mit deiner Vorliebe für blurry Land Art begründest?
Die Drohne, die du gekauft hast, habe ich als Symbol verstanden. Nicht als Kampfmittel gegen Nachbarn, deren Pflanzen unsere Fenster überwuchern. Oder als Lustverstärker, denn theoretisch könnten wir uns vor den Bildschirm setzen, während du die Drohne an geöffneten Fenstern vorbeisteuerst, und Paare beobachten. Du weißt, wobei. Bei den Sachen, die du "Keine Hoffnung" nennst. Von deiner Perspektive aus, wohlgemerkt. Das möchte ich noch anmerken. Wie gesagt, das Geld für das Ticket liegt unter den Löffeln, vielleicht auch unter den Gabeln.
*
Die Frau von der Reinigung, die, was ich ich hören konnte, dem aktuellen Hardtalk Podcast der BBC, dessen Ankündigung ich vorhin im Postfach gehabt hatte, während des Abfallsammelns lauschte, rüttelte sanft an meiner Schulter. Sie legte mir, freundlich nickend, auf meine Beine zeigend, über die ein rotes Rinnsal kroch, eine Binde aus dem Ökoladen auf den Bauch - was ich erst dankend ablehnen wollte, bevor ich begriff. Ich blutete. Wie es ansonsten nur die jungen Frauen getan hatten, mit denen ich zusammengelebt hatte.
*
Na, sagte die Frau von der Stadtreinigung. In dem „Na“ lagen Schichten, die mir unbekannt waren. Wahrscheinlich kannten wir uns. Wahrscheinlich sagten wir Sachen zueinander, die sie nicht zu den campierenden Männern, hinten in den Büschen, bei den steinernen Campingtischen, sagen würde. Vielleicht sagten wir manchmal Sachen, die uns zu Verbündeten gemacht hatten. Vielleicht zeigte die Frau von der Stadtreinigung mir ab und an auf ihrem Handy Fotos von ihren Kindern und von ihrem Pauschalurlaub am Strand einer spanischen Insel. All-inclusive. Selbst die Drinks an der Poolbar waren enthalten. Der Gedanke an Alkohol in Strömen löste einen Schluckreflex im Rachen aus. Der Speichel floss zusammen, wie es manchmal passiert war, wenn wir uns die Croissants vom französischen Café in der Brunnenstraße gekauft hatten. Der Gedanke an die vorab bezahlten Drinks ließ meine Hände zittern. Vielleicht kannten wir uns, und vielleicht gab mir die Frau von der Stadtreinigung Dinge, die ich in den Wintermonaten unbedingt brauchte, um mir die Kälte vom Leib zu halten. Denn obwohl der Morgen durchaus frisch war, war dies, selbst für mich, der ich zum ersten Mal auf der abschüssigen Wiese stand und die Joggerinnen beobachtete, die, ohne auf die Stadtreinigung oder uns, den gebückten Mann, der immer noch Sachen im nassen Morgengras suchte, und mich, zu achten, die als Gruppe gut gelaunt um den Teich sprinteten, war dies als Biwak-Saison noch halbwegs erträglich. Beinahe, wenn man so wollte, ein Abenteuer. Ich lächelte und sagte: Na. Woraufhin die Frau von der Stadtreinigung sagte: Na, was? Was gibt es da zu lächeln?
*
Ich hoffe, du hast das Besteckfach entdeckt. Es handelt sich um die Holzschublade im Keller, im kleinen Kabinett, neben der Gefriertruhe, von der du lieber nicht sprichst. Warum ich das Geld dort versteckt habe?
Gestern war sein Todestag. Vor zehn Jahren hat sich die Platte vom Haken gelöst und hat ihn erschlagen. In seiner Werkstatt. Niemand da, nur er. So ist das, wenn man allein ist.
*
Ein Mädchen, in der Hand eine Tüte mit Vogelfutter, rannte über die ausgetrocknete Wiese, stockte, als es mich sah, drehte sich zu seiner Mutter um, die am Geländer des Teichs Dehnübungen machte, und fragte: Soll ich der auch was geben? Die Mutter sieht zu mir, ich sehe zu ihr. Ich kenne sie. Wir haben uns manchmal, bei Vernissagen, wenn ihr älterer Mann die Getränke geholt hat, angelächelt. Fast sage ich zu ihr, ich wusste gar nicht, dass du eine Tochter hast. Sie sagt zu dem Mädchen: lieber nicht, Lea, die ist krank. Siehst du die roten Flecken auf den Armen? Ansteckend. Gefährlich. Krätze, nennt man das. Komm her zu mir, wir müssen jetzt los, den Rest verfüttern wir morgen.
Meine Ärmchen jucken, sagte ich zu dem Mädchen, unerträglich. Würdest du bitte mal kratzen? Aber es hörte mich nicht mehr, ging, sich nach mir umblickend, mit seiner Mutter, die am Handy sprach, Richtung Polizeiwache. Wahrscheinlich wollen sie zum Bio Deli, Ecke Ackerstraße, Brötchen, Käse und Ochsenherzentomaten kaufen, dachte ich.
*
Wenn du mich fragst, sagte er, hätten wir uns das sparen können. Eine geistige Durchdringung hat nicht stattgefunden. Die zehn Minuten, die ich gestern mit der Festivaldirektorin aus Zagreb hatte, im Literaturzelt, neben der Betongarage, waren interessanter als die drei Stunden, die wir gerade abgeleistet haben.
Vier, sagte sie, vier Stunden. Ich bin so hungrig, dass ich kaum noch stehen kann.
Vier?, sagte er. Nie wieder. Versprichst du mir das, bitte?
Versprochen, sagte sie. Was hast du eigentlich vom Autotanz gehalten, den Adania und ich aufgeführt haben, um die Schranke des Parkplatzes davon zu überzeugen, uns vom Gelände zu lassen?
Wunderschön, sagte er. Der mit Abstand allerschönste Tanz, den ich jemals in meinem ganzen Leben beobachten durfte.
Schade, sagte sie, dass die Schranke das nicht genauso empfunden hat.
Nicht so wild, sagte er, dafür sind wir dann ja über den Rasen der Festspiele in die Freiheit gebrettert.
*
Das Aua des Mädchens, ein Laut, den sie gehört hatten, als sie unter dem Fenster vorbeigegangen waren, war aus dem gekippten Schlafzimmerfenster in ihre Gehörgänge gekrochen. Er fragte sich, noch Tage später, ob der Mann, den er für ehrlich hielt, sich an seiner Tochter vergangen hatte. Oder ob die Kinder der Familie, wie so oft, einen Streit ausgefochten hatten.
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Zum Mitnehmen - das Schild, das vor ihr stand, stammte aus der Elisabethkirchstraße. In der mit Pflastersteinen geschmückten Krümmung, gleich neben der Bank, unter dem einzelnen Baum, in der idyllischen Krümmung hinter der Schinkelkirche, die von Touristen unablässig fotografiert wurde, ließen die Rosenthaler Vorstädter alles liegen, was sie ohne großes Ado loswerden wollten. Tauchte ein Zum Mitnehmen-Schild auf, rannten die Anwohner, die zu faul gewesen waren, selbst ein Schild anzufertigen, in ihre Keller und schleppten Überflüssiges an. In aller Regel trennte man sich von dicken Röhrenfernsehern, verklebten Mixern, die noch nach Humus oder Kuchenteig rochen, Büchern, die man geschenkt bekommen hatte, aber niemals lesen würde, Druckern, die zusätzlich, wenigstens theoretisch, faxen, kopieren und scannen konnten, und, nicht zu vergessen, heillos abgetragenen Kleidungsstücken. Das einzige, was sie jemals an sich genommen hatte, waren die Zum Mitnehmen-Schilder. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass die Schilder - übrigens: je krakeliger, je besser - erst ein Lächeln, dann ein Innehalten bei den Spaziergängern verursachten, das, häufig genug, zu einem Umdrehen führte und mehr Ein-Euro- als Fünf-Cent-Münzen in ihrem Glas enden ließ. Nicht dass jemand ernsthaft überlegt hatte, die Frau im Park wegen des Schilds mitzunehmen - außer, was sie niemals vergessen konnte, bei einer einzigen Gelegenheit ... doch das ist eine derart unglaubliche Geschichte, die mehr Raum braucht, einen Endpunkt darstellt, demgemäß später, vielleicht im November, erzählt werden könnte.
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Als es nicht mehr ging, schloss Grog die Augen. Karl zeichnete mit glühenden Streichhölzern. Gleich am Anfang, als sie vom Savignyplatz zum Weinbergpark umgezogen war, hatte Grog sich ihretwegen die Aura des Harten-Nehmers zugelegt. Er kollabiere nicht so leicht, hatte er gesagt, atme den Schmerz wieder aus. Wie sie sich das vorzustellen habe, hatte sie gefragt. Wie beim Zahnarzt, hatte er geantwortet. Dir wird ohne Narkose ein Zahn runtergeschliffen, und du weißt, dass der Schmerz, zwischendurch, aufhört. Was du machst? Du konzentrierst dich aufs Zwischendurch. Das Davor und das Dahinter hältst du fern. Die Idee der schmerzlosen Gegenwart hatte für sie den Ausschlag gegeben, sich mit ihm, dem Fringeboy, dem kanadischen Ex-Pat, der, im späten Abendlicht, als Hipster durchging, zu verbünden.
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Die Beinchen, am fremden Körper, knackten, knirschten, knarrten, fielen faul wie Herbstlaub reihenweise ab, ließen Phantomschmerzen zurück. Maßlose Glieder, dachte ich und reichte der Frau von der Stadtreingung, die mich mit hochgezogenen Augenbrauen musterte, die leere Bionadeflasche. Behalt mal schön selbst, sagte die Frau von der Stadtreinigung, das war übrigens die letzte Binde, die du von mir bekommen hast, ich werd in den Humboldthain versetzt.
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Zuerst hatten sie, im Zelt, nach der Lesung, im Schatten der Bar jeder Vernunft, über die Unmöglichkeit der Perspektive geredet, über die Bewegungserinnerung eines Zehnkämpfers, über geschriebene und ungeschriebene Dankesbriefe, gerichtet an Hamburger Professoren der Kunstgeschichte (Warburgkenner) oder Trainer in der niedersächischen Provinz (Menschenkenner). Über die Sehnsucht, worauf beinahe alles hinauslief, nach Anerkennung, das war, sogleich, das nächste Thema gewesen. Die Lust am Fotografieren, in aller Heimlichkeit. Das Muss des Dichtens, nicht weniger versteckt. Um schließlich, am Ende, zur Macht des Romans zu kommen. Der Sehnsucht nach der Erweiterung des Erzählbaren. Solche Romane würden durch Bahnhofsbuchandlungsstapel querfinanziert, das sei jedenfalls die Hoffnung. Nicht zu selten, hier lachte der ehemalige Leichtathlet, würden dann jedoch die seltsamen Geschichten die herkömmlichen stützen. Man wüsste niemals, was ginge oder floppte.
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Du merkst, was du hattest, ist es gegangen. Sich zu fragen, was wäre gewesen, hätte ich jenen oder diesen Augenblick genutzt, hätte mich, wie einst geschworen, am See, dem carpe diem anvertraut, sei vergebene Liebesmüh. Egal, wie viele Fotos wir vom anderen gemacht haben, ich von dir, du von mir, wie viele Videos existieren, wie viele Zeilen uns gewidmet sind, stoppt das Herz, ist es aus, für alle Zeiten vorbei.
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Verletzlich?, fragte sie.
Ja, sagte er. Neben der Überholspur, ewig im zweiten Gang, so fühle ich mich.
Stärke ist kein Muskel, sagte sie, den man trainiert. Geschwindigkeit zählt allein auf der Flucht. Außerdem: hast du das früher nicht geschätzt? Dich nicht auf deine Schwäche berufen? Auf die Leidenschaft der Galle gepocht? Piazza Cavour ...
... what is life for, sagte er.
Geht doch, sagte sie.
Nein, sagte er. Melancholie verliert im Alter an Attraktivität.
Unsinn, sagte sie. Klarheit braucht die Trübe.
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Das Blaue des Morgens, der Nacht entrissen; sie forderte von Greg oder Grog, ihr fiel nicht ein, welchen Konsonanten er bevorzugte, sie forderte von ihm, dass er ihr half, die Mauer zu besteigen. Sie balancierte, hier hatte sie gewohnt, dies war ihr Balkon gewesen. Als hätte sie nie etwas anderes gemacht, sprang sie, fasste die Eisensprossen, zog sich am Geländer hoch, schickte Greg oder Grog weg, setzte sich aufs verwitterte Holz, am schmaleren Ende des Balkons, weit weg von der Balkontür, die in einer Nische lag. Als, eine halbe Stunde später, der Mann, der sie gewesen war, auf den Balkon trat und Fotos vom Morgenmond machte, hielt sie die Beinchen, die plötzlich kribbelten, still und sah sich selbst beim Fotogafieren zu.
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Du, angenommen, stelltest dich, einen Morgen später, nach einer Nacht ohne Schlaf, vor die Linse. Zwischen euch das Dreifachglas, die Markise. Er risse, wie es seine Art ist, Ungeduld und die Lust an der Abstraktion trieben ihn, die Kamera hin und her. Da er keine Brille trüge, sähe er dich nicht. Du wärst ein Streifen am Horizont, und ich frage dich, was du an meiner Stelle gemacht hättest? Hättest du geklopft? Hättest du gesagt, Du, Kantensein, uns gibt es jetzt zweimal? Hättest du gesagt, dass du dich auf dem gelben Sofa einrollen könntest? Dass du sie, denn es gibt nicht nur ihn, also dich, dass du sie beim Podcasthören nicht stören würdest? Oder hättest du dich damit begnügt, eine Trace zu hinterlassen? Eine Erinnerung in einem Text zu werden?