Anfang Vier
Dezember
Die Gerade
Er sagt. Was sie, anfangs, nicht hört. Oder glaubt, nicht zu hören. Sie sagt, sag's noch mal. Er sagt. Sie sagt, du hast nichts gesagt. Er sagt. Sie sagt, so geht's nicht. Das sei sinnlos, und was sinnlos sei, vergeude Zeit, und Zeit zu vergeuden, erlaub ich nicht. Er sagt. Sie sagt, das erinnert mich an Beckett, ich gehe. Er sagt. Sie sagt, und komme nicht zurück. Er sagt. Sie sagt, ich habe Beckett niemals besonders gemocht, sein Gesicht ja, die Furchen des Seins, die Lakonie, das Französische, diese fertige Unfertigkeit, attraktiv, attraktiver als du, aber das ist dir ja selbst bewusst, nicht zusammengeschrieben, sagt sie, steht auf und geht.
*
Einzukaufen erfordert keinen Verstand.
*
Am Hals wucherten Nadelbäume. Der Verkäufer wurde, als er mich und die Zapfen entdeckte, ganz nervös. Konkurrenz belebt das Geschäft, sagte ich, und bestellte am Wurststand der Invalidenstraße, gleich vorm Weihnachtsbaumplatz, einen nichtalkoholischen Glühwein. Ob seine Tränen echt waren oder ob er eine Tannenbaumallergie hatte, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen.
*
Einzukaufen erfordert mehr Verstand als Abstinenz.
*
Die Sache ist ihm nicht leichtgefallen. Eigentlich ist ihm seit der Schulzeit, wo sie, sein Freund Rabe und er, als Genies gegolten haben, nichts leichtgefallen. Was wiederum auch nicht ganz richtig ist. Es gibt eine Sache, die ihm, quasi, ohne sein Verlangen, sagen wir: in den Schoß gefallen ist. Aber dazu gleich mehr. Zuerst - für ihn, was ein Problem darstellt, für ihn gibt's immer ein Zuerst, ganz grundsätzlich, so gut wie niemals gibt's ein Zuletzt - zuerst sehen wir ihn vorm Späti an der Bernauer Straße sitzen, Tourisgucken, wie er's nennt, und rauchen. Wir sehen ihn rauchen. Kein E-Zeugs, das nicht. Echtes. Darauf legt er Wert. Er raucht, selbst wenn er broken ist, Echtes. Falsches gäb's genug, überall, ubiquitär sei's, das Falsche. Im Sonderangebot, im populistischen Sale. Echtes ebne den Weg, sagt er gerne. Zu häufig, keine Frage, sagt er das.
Der Späti in der Bernauer passt nicht richtig zu ihm, und er weiß es. Zu geleckt. Zu neon, mit ATM vor der Tür. Drei Währungen. Der Späti in der Bernauer ist allein in dem Laden im neuen Haus, da niemand sonst die Fläche mieten will. Schräge Laufkundschaft. Grenze vor der Tür. Zwischen dem Brunnenviertel und Mitte ist die alte Mauer weg und eine neue da. Geld, Macht, Eigentum. Der Makler hat alles versucht, um den Laden anzurpeisen. Niemand hat angebissen. Wie auch immer. Kein Mitleid für Haie. Schmidt sitzt jedenfalls vorm Späti und raucht. Und wartet auf Rabe, der versprochen hat, vorbeizukommen. Zwei Stunden ist das her. Zwei geschlagene Stunden. Und dann kommt Tina vorbei, an deren Namen er sich nicht sofort erinnern kann. Lang her, zu lange. Aus dem Office. Mit den Kuben und den Schirmen. Digitaler Regen. Sie joken. Tina benutzt, als sie merkt, dass Schmidt sich nicht an ihren Namen erinnern kann, die indirekte Rede. Und dann, sagt sie, sagte der Türsteher, Tina, sagte der Türsteher, Tina, wenn du noch mal fucking behauptest, auf der fucking Gästeliste zu stehen, kriegst du fucking Clubverbot - und ich mein nicht Club Mate. Sie lachen, hysterisch. Weniger über den Witz, der ist eher flach, fucking flach. Tina und Schmidt lachen, weil das Leben lächerlich ist, und sie, die neuen Hippies, es ganz genau wissen. Besser als die Kubengeister, die Nine-to-Five-Sklaven. Tina sagt, die Hedonisten haben auch keine Ahnung, aber tun wenigstens nicht so, als hätten sie welche.
Und als Schmidt und Tina und Habibi, der im Wedding wohnt und sich zu ihnen gesetzt hat, weil ihm, wieder mal, das Bein schmerzt, meine Zweite Seele nennt Habibi sein Bein, als die Drei allmählich Fahrt aufnehmen, braust die Demo vorbei. Zackig. Im Gleichschritt. Wie Marionetten. E.T.A. Hoffmann, sagt Tina, die Literatur studiert hat. Gelbe Flaggen, schwarze Striche, strenge Scheitel, sagt Schmidt, erinnert mich an was - fängt mit Fa an und hört mit Schos auf. Keine Bullen, sagt Habibi. Nicht angemeldet, sagt Tina. Die melden sich nie an, sagt Schmidt, Spontifaschos. Und Tina sagt, guck mal, wie die gucken. Und Habibi sagt, die rauchen nichts Echtes, anders als du, Schmidt. Faschos rauchen Braunen Dreck, sagt Schmidt. Und er steht auf und schreit: Geht heim zu Mutti. Habibi sagt, rhetorisch ausbaufähig, Schmidt. Wirkt trotzdem, sagt Tina und springt auf.
*
In der Kurve fühlte sich der Kreisel, dessen Unentschlossenheit bei etlichen für Vergnügen gesorgt hatte, überfordert.
*
Zerstörungen beharren auf Zeichen. Am Hals Falten, an den Organen Abzweigungen, die sich nicht entschieden haben, welche Richtung sie einschlagen wollen. In Bewegung bleiben, das zähle, sagen sie. Laute fänden sich von selbst, denen die Stille abhandengekommen wäre.
*
Der Naivität ausgeliefert zu sein, gerade der freundlichen, erzeugt eine Unruhe, die sich nur durch Abwesenheit mildern lässt. Zu bleiben, weckt die Lust am ewigen Schlaf.
*
Ich, sagten sie, unisono sagten sie es, ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen.
Aber sei das nicht die Human Condition schlechthin?, fragten wir, unisono fragten wir es.
Stünden alle neben sich, sagtet ihr, unisono sagtet ihr es, stünden doch alle richtig.
*
Sie wollten es weniger, als es es selbst wollte. Es, von Freud gehätschelt, hielt sich auffällig zurück, unter Baumwollschichten, die dampften, in überheizten Räumen. Und als die Delamination begann, stellte sich, Sekunden später, heraus, dass die Jahre umsonst ins Land gegangen waren. Was nicht am Bewusstsein lag, wie sie sich wieder und wieder versicherten. Schließlich hatten sie, das konnte ihnen niemand vorwerfen, Verträge unterzeichnet, die Summe für den Haushalt erhöht, Extrapolicen gehortet. Für den Verfall der Abfälle.
*
Sie hielten an. Im Nirgendwo. Bei dir und mir um die Ecke. In uns hielten sie an, eigentlich. Als wären wir Haltestellen, an sich aus dem Verkehr gezogen. Betriebsfahrt stand auf dem Display. Sie wälzten sich vor Lachen. Be trieb, sagten sie und ergänzten: ein besseres Motto für ein erfülltes Sein gäbe es nicht. Was dann passierte, warum ich die Geschichte in dieser ungebührlichen Ausführlichkeit auf den gedeckten Tisch bringe, hat mich an meiner Gottesferne zweifeln lassen. Kurz. Aber immerhin.
*
Ich hielt mich auf. Weiter. Als weit. So weit, dass Du von einem organlosen Körper gesprochen hast. Voll. Und leer. Zugleich. Als stünde Spinoza zwischen uns. Wir sagten, zunächst, wenig. Wie auch? Die Zungen suchten und fanden sich. Nichts dagegen, sagten Passanten, denen wir im Wege standen, die uns, als wären wir ein Erdball, umrundeten. Geschlossene Arme. Nachhaltig, sagte ein Kind, das uns überleben würde, im Zweifelsfall.
*
In der Sinnlichkeit sei das Sein. Nirgendwo sonst sei es. Uns und sich näher.
*
Wer sich lächerlich machen will, findet genug schlechte Gründe. Von guten ganz zu schweigen.
*
Du leuchtest, wie man es in diesen Stunden eben macht. Konventionell. Was an sich gleichzeitig befriedigt und dich staunen lässt. Ob des althergebrachten Pfades, den zu schreiten, ihr erinnert euch, vor Jahren noch weitgehend ausgeschlossen schien. Nein, nicht gesucht, das lässt sich nicht behaupten, das wohl eher nicht, soweit geht's nicht, noch nicht, aber doch mit einer funkelnden Zustimmung dekoriert, die sich nicht länger ohne Aufstand wiederverwerten lässt.
*
Selbstverständlich drehe sich dieser Anfang um die Frage einer (un)möglichen Poetologie. Umkreise die gerade Kurve. Denn das sei ein Gedicht, eine gebogene Gerade. Aus der Ferne. Und versuchter Nähe. Jedes Wort in einem Text stelle eine Untersuchung am Atem und am Atmenden dar. Eine Untersuchung des Themas. Des Augenblicks. Der eigenen Verfassung. Der Gesellschaft. Des Erlebten. Der Vergangenheit und der Zukunft. Und des Gelesenen, bei uns und anderen.
Im Begiff der Verfassung stecke sowohl das Beständige als auch das Transiente. Die Verfassung des Verfassten ändere sich genauso wie die Verfassung des Verfassers; und fuße auf dem allzeit befristeten, sich selbst in Frage stellenden Vertrauen in die Sprache als dem eigentlichen Mittel der Verwirklichung. Ein unstillbares Vertrauen, das, in den Momenten vermeintlicher Stärke, mit sich grundsätzlich hadere, grausam an sich und dem Wunsch nach Vollkommenheit (ver)zweifele, das, in den Momenten unvermeidlicher Schwäche, sich sehnsüchtig lobe und leidenschaftlich ob der eigenen Unvollkommenheit liebe.
Da es keine Wahl gäbe, entstünden die Gedichte. Sie wären da. Deutlich mehr da als er selbst.
Was zugleich ein Erschrecken und ein Glück sei.
*
Sie hielten sich zurück. Was, zu Beginn, für Bewunderung sorgte. Man schätzte sie. Ihre Kritiker sagten überschätzte. Sie antworteten, hörten sie von den im überfluteten Tal angesiedelten Kritiken, wer von seinen Feinden gelobt werde, sei so gut wie tot.
*
Als gäbe es den Tod nicht länger umsonst, sagten sie, als die Spekulation die Runde machte, dass jene grinsend eingeforderte Ausbeutung, die Teil der Überallerreichbarkeit war, ein fabelhaftes Glück für den orientierungslosen Menschen darstellte. Als zahlten wir freiwillig dafür, dass man uns erlaubte, uns 24/7 zu Tode zu schuften. Als wären wir dankbar, Nacht für Nacht vorm Screen zu sitzen und das Schlafen zu verlernen. Der Kapitalismus hat gesiegt, sagte Freya, auf ganzer Linie. Und den meisten Typen, sagte Raphael, scheint's egal zu sein, solange das digitale Tellerwäschermärchen einige superreiche Arschlöcher produziert, denen die Gesellschaft gepflegt am Funkloch vorbeigeht. Wer sich heutzutage zur Avantgarde zählt, siecht im Start-Up, sagte Tundra. Oder wird von Ex-Old-School-Firmen von den Zwängen des geregelten Feierabends befreit, sagte Hegel. Soziale Medien sorgen für eine asoziale Marktwirtschaft, sagte Church. Wir sollten etwas unternehmen, sagte Flower. Online?, sagte Porty. Analog, sagte Freya.
*
Im Alter wird nichts klarer, die Jugend verwischt sich, ohne zu gehen, die Aussichten, seien wir ehrlich, bleiben erbärmlich.
*
Du hättest gesagt, dass das vermeintlich absichtslose Herumführen ein Akt der Anbändelei sei. Du hättest darauf verwiesen, dass Nähe der erste Schritt zur Gewöhnung sei. Immer schon. Du hättest auf Abstand und Wettbewerb gesetzt. Prüfungen auferlegt zu bekommen, darum gehe es. Deine Kindheit sei ein Testmarathon gewesen, hättest du gesagt. Und das habe dir wirklich nicht geschadet, hättest du hinzugefügt, echt nicht. Dein Schrank sei voller Trophäen, eine schöner und größer als die andere. Unseren Hinweis auf die Kraft des Miteinanders hättest du vom Tisch gewischt. Wir seien Memmen, hättest du gesagt, Mitleidsmemmen, Kunstmemmen, Poesiememmen, Gutmenschenmemmen. Am Ende des Tages zähle die Nummer, die man ... mit ins Grab nehme, hätten wir gesagt, dich unterbrechend, und wären entschwunden.
*
Traurigkeit qualifiziert für nichts. Und alles.
*
Sie sagt. Was er, anfangs, nicht hört. Oder glaubt, nicht zu hören. Er sagt, sag's noch mal. Sie sagt. Er sagt, du hast nichts gesagt. Sie sagt. Er sagt, so geht's nicht. Das sei sinnlos, und was sinnlos sei, vergeude Zeit, und Zeit zu vergeuden, erlaub ich nicht. Sie sagt. Er sagt, das erinnert mich an Beckett, ich gehe. Sie sagt. Er sagt, und komme nicht zurück. Sie sagt. Er sagt, ich habe Beckett niemals besonders gemocht, sein Gesicht ja, die Furchen des Seins, die Lakonie, das Französische, diese fertige Unfertigkeit, attraktiv, attraktiver als du, aber das ist dir ja selbst bewusst, nicht zusammengeschrieben, sagt er, steht auf und geht.
*
Die Vergangenheit ist, und die Gegenwart war gleichzeitig.
*
In den Einladungen überstürzen sich die Töne. Gingen zu weit. Halten nichts aus. Tranken Schnaps. Klar und anständig. Ein Sarg von. Innen. Nicht. Außen. Die Einladungen schlucken, als es Absagen hagelt. Beleidigungen blitzten. Wir haben uns angestrengt. Sie reden sich gut zu. Um das Schlechte auszuhalten. Als ließe sich alles meistern. Als seien Past und Present durch eine poröse Schleuse getrennt. Das Eben sickerte ins Jetzt und macht sich breit. Die Einladungen ermuntern das Heute, das sich dem Gestern entgegenstellte. Als hätte es eine Chance. Gerade um diese Jahreszeit. Seasonal Greetings. Im Westen blühen schon die Krokusse, Vorboten des Unheils. Schwertliliengewächse, die jeden Widerstand aufgegeben hatten.
*
Der Einfachheit halber, ich füge es ein, sei erwähnt. Nicht das Unwissen hielte uns fest, am Boden, selbst im Fluge, uns, die wir, trotz des oft Gewussthabens, oft Nachgeschlagenhabens, niemals Furcht und Staunen ob des Obenseins, des Überdenstädten-, Überdemland-, Überdemwasserseins verloren haben, nicht das Unwissen wäre es, sondern die Erkenntnis, dass wir keine Wahl, kein Mitspracherecht haben, ergo ausgeliefert sind.
*
Wer gut sein will, hat mehr mit sich als dem Bösen zu kämpfen.
*
Blicken wir zum Kern der vergangenen Sätze, nicht gebunden an Worte, allein dem Sinn verbunden, es ließe sich, möglicherweise, behaupten, dass jene Losgelöstheit, von der hier und da die Rede war, jene Unabhängigkeit von Systemen, jenes gerade Ungerade, einen schätzbaren Vorteil offeriert, den das starre Festhalten an Traditionen und vermeintlichen Erkenntnissen nicht oder nur sehr selten feilbietet.
*
Den Tagen vorzuziehen seien Nächte, in denen Fragen ruhelos wanderten, auf Füßen, die unseren glichen.
*
Große Liebe verzichtet auf Nichtigkeiten, kleine Liebe zehrt von ihnen.
Schwindel entzückt die Armen, die sich, in ihm, reich und erhaben fühlen.
*
Den Dieben fiel die Anmut schwer. Sie stahlen sich davon. Verneinten Angebote. Arbeiteten mit sich selbst zusammen. Rafften mit --------------------
*
Zunächst, um einen Ausbruch zu wagen, kämen uns Zweifel. Ob der Herausforderung. Ob der Beweislast. Ob der Arbeitsmoral. Wir lachten, hielten uns die Seiten. Und die Paragraphen. Und die Vorsätze. Arbeits-Moral. Zu komisch! Als hingen Ideen wie Laute zusammen. Als könnten wir Stillpunkte zähmen. Jene Punkte, die eine Linie bildeten. Denn das ließ sich sehen, wenn man herantrat, ganz nah: etliche Punkte, darunter die analogen, hatten sich zusammengerottet und - was für ein Anblick! - schworen feierlich den Kurven ab.
*
Er hat das Gefühl, dass er den Schwager zum Schweigen bringen will. Das wölfische Grinsen zerschmettern möchte. Läge er nicht in der Kurve, die ihn umfängt, er täte es. Mehr dazu später.
Dezember
Die Gerade
Er sagt. Was sie, anfangs, nicht hört. Oder glaubt, nicht zu hören. Sie sagt, sag's noch mal. Er sagt. Sie sagt, du hast nichts gesagt. Er sagt. Sie sagt, so geht's nicht. Das sei sinnlos, und was sinnlos sei, vergeude Zeit, und Zeit zu vergeuden, erlaub ich nicht. Er sagt. Sie sagt, das erinnert mich an Beckett, ich gehe. Er sagt. Sie sagt, und komme nicht zurück. Er sagt. Sie sagt, ich habe Beckett niemals besonders gemocht, sein Gesicht ja, die Furchen des Seins, die Lakonie, das Französische, diese fertige Unfertigkeit, attraktiv, attraktiver als du, aber das ist dir ja selbst bewusst, nicht zusammengeschrieben, sagt sie, steht auf und geht.
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Einzukaufen erfordert keinen Verstand.
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Am Hals wucherten Nadelbäume. Der Verkäufer wurde, als er mich und die Zapfen entdeckte, ganz nervös. Konkurrenz belebt das Geschäft, sagte ich, und bestellte am Wurststand der Invalidenstraße, gleich vorm Weihnachtsbaumplatz, einen nichtalkoholischen Glühwein. Ob seine Tränen echt waren oder ob er eine Tannenbaumallergie hatte, ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen.
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Einzukaufen erfordert mehr Verstand als Abstinenz.
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Die Sache ist ihm nicht leichtgefallen. Eigentlich ist ihm seit der Schulzeit, wo sie, sein Freund Rabe und er, als Genies gegolten haben, nichts leichtgefallen. Was wiederum auch nicht ganz richtig ist. Es gibt eine Sache, die ihm, quasi, ohne sein Verlangen, sagen wir: in den Schoß gefallen ist. Aber dazu gleich mehr. Zuerst - für ihn, was ein Problem darstellt, für ihn gibt's immer ein Zuerst, ganz grundsätzlich, so gut wie niemals gibt's ein Zuletzt - zuerst sehen wir ihn vorm Späti an der Bernauer Straße sitzen, Tourisgucken, wie er's nennt, und rauchen. Wir sehen ihn rauchen. Kein E-Zeugs, das nicht. Echtes. Darauf legt er Wert. Er raucht, selbst wenn er broken ist, Echtes. Falsches gäb's genug, überall, ubiquitär sei's, das Falsche. Im Sonderangebot, im populistischen Sale. Echtes ebne den Weg, sagt er gerne. Zu häufig, keine Frage, sagt er das.
Der Späti in der Bernauer passt nicht richtig zu ihm, und er weiß es. Zu geleckt. Zu neon, mit ATM vor der Tür. Drei Währungen. Der Späti in der Bernauer ist allein in dem Laden im neuen Haus, da niemand sonst die Fläche mieten will. Schräge Laufkundschaft. Grenze vor der Tür. Zwischen dem Brunnenviertel und Mitte ist die alte Mauer weg und eine neue da. Geld, Macht, Eigentum. Der Makler hat alles versucht, um den Laden anzurpeisen. Niemand hat angebissen. Wie auch immer. Kein Mitleid für Haie. Schmidt sitzt jedenfalls vorm Späti und raucht. Und wartet auf Rabe, der versprochen hat, vorbeizukommen. Zwei Stunden ist das her. Zwei geschlagene Stunden. Und dann kommt Tina vorbei, an deren Namen er sich nicht sofort erinnern kann. Lang her, zu lange. Aus dem Office. Mit den Kuben und den Schirmen. Digitaler Regen. Sie joken. Tina benutzt, als sie merkt, dass Schmidt sich nicht an ihren Namen erinnern kann, die indirekte Rede. Und dann, sagt sie, sagte der Türsteher, Tina, sagte der Türsteher, Tina, wenn du noch mal fucking behauptest, auf der fucking Gästeliste zu stehen, kriegst du fucking Clubverbot - und ich mein nicht Club Mate. Sie lachen, hysterisch. Weniger über den Witz, der ist eher flach, fucking flach. Tina und Schmidt lachen, weil das Leben lächerlich ist, und sie, die neuen Hippies, es ganz genau wissen. Besser als die Kubengeister, die Nine-to-Five-Sklaven. Tina sagt, die Hedonisten haben auch keine Ahnung, aber tun wenigstens nicht so, als hätten sie welche.
Und als Schmidt und Tina und Habibi, der im Wedding wohnt und sich zu ihnen gesetzt hat, weil ihm, wieder mal, das Bein schmerzt, meine Zweite Seele nennt Habibi sein Bein, als die Drei allmählich Fahrt aufnehmen, braust die Demo vorbei. Zackig. Im Gleichschritt. Wie Marionetten. E.T.A. Hoffmann, sagt Tina, die Literatur studiert hat. Gelbe Flaggen, schwarze Striche, strenge Scheitel, sagt Schmidt, erinnert mich an was - fängt mit Fa an und hört mit Schos auf. Keine Bullen, sagt Habibi. Nicht angemeldet, sagt Tina. Die melden sich nie an, sagt Schmidt, Spontifaschos. Und Tina sagt, guck mal, wie die gucken. Und Habibi sagt, die rauchen nichts Echtes, anders als du, Schmidt. Faschos rauchen Braunen Dreck, sagt Schmidt. Und er steht auf und schreit: Geht heim zu Mutti. Habibi sagt, rhetorisch ausbaufähig, Schmidt. Wirkt trotzdem, sagt Tina und springt auf.
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In der Kurve fühlte sich der Kreisel, dessen Unentschlossenheit bei etlichen für Vergnügen gesorgt hatte, überfordert.
*
Zerstörungen beharren auf Zeichen. Am Hals Falten, an den Organen Abzweigungen, die sich nicht entschieden haben, welche Richtung sie einschlagen wollen. In Bewegung bleiben, das zähle, sagen sie. Laute fänden sich von selbst, denen die Stille abhandengekommen wäre.
*
Der Naivität ausgeliefert zu sein, gerade der freundlichen, erzeugt eine Unruhe, die sich nur durch Abwesenheit mildern lässt. Zu bleiben, weckt die Lust am ewigen Schlaf.
*
Ich, sagten sie, unisono sagten sie es, ich habe das Gefühl, neben mir zu stehen.
Aber sei das nicht die Human Condition schlechthin?, fragten wir, unisono fragten wir es.
Stünden alle neben sich, sagtet ihr, unisono sagtet ihr es, stünden doch alle richtig.
*
Sie wollten es weniger, als es es selbst wollte. Es, von Freud gehätschelt, hielt sich auffällig zurück, unter Baumwollschichten, die dampften, in überheizten Räumen. Und als die Delamination begann, stellte sich, Sekunden später, heraus, dass die Jahre umsonst ins Land gegangen waren. Was nicht am Bewusstsein lag, wie sie sich wieder und wieder versicherten. Schließlich hatten sie, das konnte ihnen niemand vorwerfen, Verträge unterzeichnet, die Summe für den Haushalt erhöht, Extrapolicen gehortet. Für den Verfall der Abfälle.
*
Sie hielten an. Im Nirgendwo. Bei dir und mir um die Ecke. In uns hielten sie an, eigentlich. Als wären wir Haltestellen, an sich aus dem Verkehr gezogen. Betriebsfahrt stand auf dem Display. Sie wälzten sich vor Lachen. Be trieb, sagten sie und ergänzten: ein besseres Motto für ein erfülltes Sein gäbe es nicht. Was dann passierte, warum ich die Geschichte in dieser ungebührlichen Ausführlichkeit auf den gedeckten Tisch bringe, hat mich an meiner Gottesferne zweifeln lassen. Kurz. Aber immerhin.
*
Ich hielt mich auf. Weiter. Als weit. So weit, dass Du von einem organlosen Körper gesprochen hast. Voll. Und leer. Zugleich. Als stünde Spinoza zwischen uns. Wir sagten, zunächst, wenig. Wie auch? Die Zungen suchten und fanden sich. Nichts dagegen, sagten Passanten, denen wir im Wege standen, die uns, als wären wir ein Erdball, umrundeten. Geschlossene Arme. Nachhaltig, sagte ein Kind, das uns überleben würde, im Zweifelsfall.
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In der Sinnlichkeit sei das Sein. Nirgendwo sonst sei es. Uns und sich näher.
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Wer sich lächerlich machen will, findet genug schlechte Gründe. Von guten ganz zu schweigen.
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Du leuchtest, wie man es in diesen Stunden eben macht. Konventionell. Was an sich gleichzeitig befriedigt und dich staunen lässt. Ob des althergebrachten Pfades, den zu schreiten, ihr erinnert euch, vor Jahren noch weitgehend ausgeschlossen schien. Nein, nicht gesucht, das lässt sich nicht behaupten, das wohl eher nicht, soweit geht's nicht, noch nicht, aber doch mit einer funkelnden Zustimmung dekoriert, die sich nicht länger ohne Aufstand wiederverwerten lässt.
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Selbstverständlich drehe sich dieser Anfang um die Frage einer (un)möglichen Poetologie. Umkreise die gerade Kurve. Denn das sei ein Gedicht, eine gebogene Gerade. Aus der Ferne. Und versuchter Nähe. Jedes Wort in einem Text stelle eine Untersuchung am Atem und am Atmenden dar. Eine Untersuchung des Themas. Des Augenblicks. Der eigenen Verfassung. Der Gesellschaft. Des Erlebten. Der Vergangenheit und der Zukunft. Und des Gelesenen, bei uns und anderen.
Im Begiff der Verfassung stecke sowohl das Beständige als auch das Transiente. Die Verfassung des Verfassten ändere sich genauso wie die Verfassung des Verfassers; und fuße auf dem allzeit befristeten, sich selbst in Frage stellenden Vertrauen in die Sprache als dem eigentlichen Mittel der Verwirklichung. Ein unstillbares Vertrauen, das, in den Momenten vermeintlicher Stärke, mit sich grundsätzlich hadere, grausam an sich und dem Wunsch nach Vollkommenheit (ver)zweifele, das, in den Momenten unvermeidlicher Schwäche, sich sehnsüchtig lobe und leidenschaftlich ob der eigenen Unvollkommenheit liebe.
Da es keine Wahl gäbe, entstünden die Gedichte. Sie wären da. Deutlich mehr da als er selbst.
Was zugleich ein Erschrecken und ein Glück sei.
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Sie hielten sich zurück. Was, zu Beginn, für Bewunderung sorgte. Man schätzte sie. Ihre Kritiker sagten überschätzte. Sie antworteten, hörten sie von den im überfluteten Tal angesiedelten Kritiken, wer von seinen Feinden gelobt werde, sei so gut wie tot.
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Als gäbe es den Tod nicht länger umsonst, sagten sie, als die Spekulation die Runde machte, dass jene grinsend eingeforderte Ausbeutung, die Teil der Überallerreichbarkeit war, ein fabelhaftes Glück für den orientierungslosen Menschen darstellte. Als zahlten wir freiwillig dafür, dass man uns erlaubte, uns 24/7 zu Tode zu schuften. Als wären wir dankbar, Nacht für Nacht vorm Screen zu sitzen und das Schlafen zu verlernen. Der Kapitalismus hat gesiegt, sagte Freya, auf ganzer Linie. Und den meisten Typen, sagte Raphael, scheint's egal zu sein, solange das digitale Tellerwäschermärchen einige superreiche Arschlöcher produziert, denen die Gesellschaft gepflegt am Funkloch vorbeigeht. Wer sich heutzutage zur Avantgarde zählt, siecht im Start-Up, sagte Tundra. Oder wird von Ex-Old-School-Firmen von den Zwängen des geregelten Feierabends befreit, sagte Hegel. Soziale Medien sorgen für eine asoziale Marktwirtschaft, sagte Church. Wir sollten etwas unternehmen, sagte Flower. Online?, sagte Porty. Analog, sagte Freya.
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Im Alter wird nichts klarer, die Jugend verwischt sich, ohne zu gehen, die Aussichten, seien wir ehrlich, bleiben erbärmlich.
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Du hättest gesagt, dass das vermeintlich absichtslose Herumführen ein Akt der Anbändelei sei. Du hättest darauf verwiesen, dass Nähe der erste Schritt zur Gewöhnung sei. Immer schon. Du hättest auf Abstand und Wettbewerb gesetzt. Prüfungen auferlegt zu bekommen, darum gehe es. Deine Kindheit sei ein Testmarathon gewesen, hättest du gesagt. Und das habe dir wirklich nicht geschadet, hättest du hinzugefügt, echt nicht. Dein Schrank sei voller Trophäen, eine schöner und größer als die andere. Unseren Hinweis auf die Kraft des Miteinanders hättest du vom Tisch gewischt. Wir seien Memmen, hättest du gesagt, Mitleidsmemmen, Kunstmemmen, Poesiememmen, Gutmenschenmemmen. Am Ende des Tages zähle die Nummer, die man ... mit ins Grab nehme, hätten wir gesagt, dich unterbrechend, und wären entschwunden.
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Traurigkeit qualifiziert für nichts. Und alles.
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Sie sagt. Was er, anfangs, nicht hört. Oder glaubt, nicht zu hören. Er sagt, sag's noch mal. Sie sagt. Er sagt, du hast nichts gesagt. Sie sagt. Er sagt, so geht's nicht. Das sei sinnlos, und was sinnlos sei, vergeude Zeit, und Zeit zu vergeuden, erlaub ich nicht. Sie sagt. Er sagt, das erinnert mich an Beckett, ich gehe. Sie sagt. Er sagt, und komme nicht zurück. Sie sagt. Er sagt, ich habe Beckett niemals besonders gemocht, sein Gesicht ja, die Furchen des Seins, die Lakonie, das Französische, diese fertige Unfertigkeit, attraktiv, attraktiver als du, aber das ist dir ja selbst bewusst, nicht zusammengeschrieben, sagt er, steht auf und geht.
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Die Vergangenheit ist, und die Gegenwart war gleichzeitig.
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In den Einladungen überstürzen sich die Töne. Gingen zu weit. Halten nichts aus. Tranken Schnaps. Klar und anständig. Ein Sarg von. Innen. Nicht. Außen. Die Einladungen schlucken, als es Absagen hagelt. Beleidigungen blitzten. Wir haben uns angestrengt. Sie reden sich gut zu. Um das Schlechte auszuhalten. Als ließe sich alles meistern. Als seien Past und Present durch eine poröse Schleuse getrennt. Das Eben sickerte ins Jetzt und macht sich breit. Die Einladungen ermuntern das Heute, das sich dem Gestern entgegenstellte. Als hätte es eine Chance. Gerade um diese Jahreszeit. Seasonal Greetings. Im Westen blühen schon die Krokusse, Vorboten des Unheils. Schwertliliengewächse, die jeden Widerstand aufgegeben hatten.
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Der Einfachheit halber, ich füge es ein, sei erwähnt. Nicht das Unwissen hielte uns fest, am Boden, selbst im Fluge, uns, die wir, trotz des oft Gewussthabens, oft Nachgeschlagenhabens, niemals Furcht und Staunen ob des Obenseins, des Überdenstädten-, Überdemland-, Überdemwasserseins verloren haben, nicht das Unwissen wäre es, sondern die Erkenntnis, dass wir keine Wahl, kein Mitspracherecht haben, ergo ausgeliefert sind.
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Wer gut sein will, hat mehr mit sich als dem Bösen zu kämpfen.
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Blicken wir zum Kern der vergangenen Sätze, nicht gebunden an Worte, allein dem Sinn verbunden, es ließe sich, möglicherweise, behaupten, dass jene Losgelöstheit, von der hier und da die Rede war, jene Unabhängigkeit von Systemen, jenes gerade Ungerade, einen schätzbaren Vorteil offeriert, den das starre Festhalten an Traditionen und vermeintlichen Erkenntnissen nicht oder nur sehr selten feilbietet.
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Den Tagen vorzuziehen seien Nächte, in denen Fragen ruhelos wanderten, auf Füßen, die unseren glichen.
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Große Liebe verzichtet auf Nichtigkeiten, kleine Liebe zehrt von ihnen.
Schwindel entzückt die Armen, die sich, in ihm, reich und erhaben fühlen.
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Den Dieben fiel die Anmut schwer. Sie stahlen sich davon. Verneinten Angebote. Arbeiteten mit sich selbst zusammen. Rafften mit --------------------
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Zunächst, um einen Ausbruch zu wagen, kämen uns Zweifel. Ob der Herausforderung. Ob der Beweislast. Ob der Arbeitsmoral. Wir lachten, hielten uns die Seiten. Und die Paragraphen. Und die Vorsätze. Arbeits-Moral. Zu komisch! Als hingen Ideen wie Laute zusammen. Als könnten wir Stillpunkte zähmen. Jene Punkte, die eine Linie bildeten. Denn das ließ sich sehen, wenn man herantrat, ganz nah: etliche Punkte, darunter die analogen, hatten sich zusammengerottet und - was für ein Anblick! - schworen feierlich den Kurven ab.
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Er hat das Gefühl, dass er den Schwager zum Schweigen bringen will. Das wölfische Grinsen zerschmettern möchte. Läge er nicht in der Kurve, die ihn umfängt, er täte es. Mehr dazu später.