Blurbs 2021
Kalendergeschichten
Eine Jahresgabe
in 365 Teilen
Januar
1.
Als ein Philosoph aus Cambridge entdeckt, dass er von Gott abstammt, verlässt ihn seine Frau, eine Professorin für theoretische Physik in Oxford. Die Trennung ist schmutzig, es geht anfangs weniger um cogito deus sum, als um Immobilien (einen Bauwagen in Cambridge, ein Hausboot samt Katzen in Little Venice und einen Caravan in Benidorm) und Mobilien (Mitgliedschaften in der Katholischen Kirche, im Gym und im Nietzsche-Förderverein). Die Scheidung zieht weite Kreise. Der Riss geht quer durch den Freundeskreis. Dann kommt es zum Showdown vor Gericht. Der Philosoph lässt sich nicht lumpen – er ruft als Hauptzeugen Gott auf. Als Gott, in Begleitung etlicher Prophetïnnen, die sich als Rechtsanwältïnnen ausgeben, erscheint, beendet die Physikerin mit einem niederschmetternden Experiment Die Epiphanie. Und für einen Moment, den niemand jemals vergessen dürfte, bleibt die Zeit stehen, die Zivilisation macht eine Gewissenspause, Runst und Rage fegen durch den Gerichtssaal. Nichts bleibt, wie es war.
2.
Aus einem Radio erklingen Klopfzeichen. Als die emeritierte Literaturprofessorin, die vor einem Jahr ihren Mann an Krebs verloren hat, den Stecker zieht und das Rundfunkgerät aufschraubt, sitzt Clemens Brentano, en miniature, in dem hölzernen Kasten, sagt, er habe ihr ein Gedicht gewidmet und rezitiert: Lau in der Nacht mag ich nimmer sein, - Kalt oder brennend wie ein lohes Feuer! O, Lust und Leiden sind nur farblos, klein, Wo Liebe nicht ergriffen hat das Steuer! Die Literaturprofessorin ist überrascht. Das Gedicht Echte Liebe ist ihr wohlbekannt, da sie über die Heidelberger Romantik geforscht hat. Was Brentano nicht wissen kann, es ist außerdem ausgerechnet das Gedicht, dass der verstorbene Mann der Professorin, ein Kunstmaler, jedes Jahr anlässlich ihres Hochzeittages aufgesagt hat. 53 Jahre lang. Die Professorin seufzt und sagt: Brentano, das ist zwar ein schönes Gedicht, fraglos, aber leider nicht von Ihnen, das ist von Eichendorff. Brentano, der rot anläuft, bestreitet das energisch. Die Professorin, die während ihrer Uni-Karriere zu viel Zeit mit fälschlicherweise von sich selbst überzeugten Kollegen vergeudet hat, murmelt So auf dem wüsten Meere meiner Schmerzen Such ich, auf neue Leiden nur bedacht, Im Hoffnungslosen meines Glückes Ziel und nimmt bereits den Schraubenzieher wieder in die Hand, als ihr einfällt, wie sie die Situation zum Besseren wenden, ja möglicherweise sogar etwas für die Zukunft der Liebeslyrik tun könnte.
3.
Die Erde wird durch einen vagabundierenden Stern aus ihrer Umlaufbahn gezogen. Millionen Menschen flüchten sich in Untertagestädte, die von Kernkraftwerken mit Energie versorgt werden, während auf der Erdoberfläche der ewige Winter ausbricht. Der Roman schildert im Decamerone-Stil das Zusammentreffen verlassener Kinder, deren Eltern Unter Tage ein neues Leben begonnen haben, während sich ihr junges Dasein theoretisch bereits dem Ende zuneigt. Die Mädchen und Jungen geben allerdings nicht auf, sondern beschließen, ihre Väter und Mütter zur Verantwortung zu ziehen.
4.
Nach einer traumlosen Nacht wacht die Demokratie gut gelaunt auf. Per Fernbedienung öffnet sie nicht nur die Jalousien, sondern auch die breite Fensterfront. Das Schlafzimmer der Demokratie bekommt morgens Sonne – falls ihr Beliebtheitswert über 75 Prozent liegt. Was heute der Fall ist. Die Strahlen wärmen das Gesicht der Demokratie, werden aber sekündlich schwächer. Dunkle Wolken ziehen auf. Die Demokratie setzt sich auf, reibt sich die Augen, nimmt das Handy, checkt die Wetter-App, die einen herrlichen Sommertag verspricht. Die Demokratie merkt, dass etwas nicht stimmt. Nicht allein mit dem Mikrowetter. Sondern im Bett. Etwas ist anders als sonst. Jemand liegt neben ihr. Noch unter der Decke. Ein Undercoveragent, denkt die Demokratie, die gerne Krimis liest, und muss lächeln. Ein schiefes Grinsen. Sie kann sich an nichts erinnern. Kann sich nicht erinnern, irgendjemand eingeladen zu haben, nach der gestrigen Talkshow, in der es, das weiß sie noch, hoch hergegangen ist. Die Demokratie hatte danach das Gefühl gehabt, sich anständig aus der Affäre gezogen zu haben. Kein Knock-Out, das nicht, aber ein Punktsieg. Ein, zwei Gläser Wein, die wurden nach der Show noch getrunken, im schummrigen Atrium des Senders, auf nüchternen Magen. Die Thunfischschnittchen hatte die Demokratie nicht angerührt. Nicht des Geruchs wegen, eher aus ethischen Gründen. Wer konnte den Nachhaltigkeitsversicherungen der Catering Firma trauen? In letzter Zeit ist aus dem liberalen Kapitalismus ein libertärer geworden. Werte verschieben sich. Es gibt viel zu tun, denkt die Demokratie, noch mehr als früher, ich kann mir keinen Skandal erlauben, keinen Fehltritt. Sie betrachtet die Person neben sich im Bett. Wer mag das sein? Die Demokratie lüftet die Decke – und blickt in ein Antlitz, das sie nur zu gut kennt. Holy Shit, denkt die Demokratie, wie komm ich aus der Sache bloß wieder raus? Sie erhebt sich geräuschlos – eine Spezialität von ihr – und geht auf Zehenspitzen zum Fenster. Die Demokratie entdeckt, dass unten, auf der Straße, direkt vorm morschen Holztor, Übertragungswagen aufgereiht sind. Frauen in Kostümen, die an Uniformröcke erinnern, und Männer mit militärischen Haarschnitten und falschen Orden an den Anzügen – die augenblickliche Mode verherrlicht das Martialische – stehen vor Kameras, reden aufgeregt, gestikulieren, deuten auf die Wohnung der Demokratie, beschreiben die unbesetzte Pforte, zeigen auf die Polizei. Die drei Dutzend Beamtïnnen halten mit Pfefferspray und Knüppeln zwei Gruppen von Demonstrantïnnen auseinander, die sich gegenseitig verprügeln wollen, diesmal allerdings zusätzlich ein gemeinsames Ziel haben: Die Aufgebrachten würden, ginge es, den Apartmentblock stürmen. Die Demokratie tritt aus dem Blitzlichtgewitter der Fotografïnnen, die sie mit den Teleobjektiven entdeckt haben, und schleicht, am Bett vorbei, zur offenen Wohnküche. Jetzt muss ich mich stark zeigen, denkt sie, wie es im Lehrbuch steht: Eine wehrhafte Demokratie. Sie schraubt den Deckel des Instant-Kaffees auf, taucht den Zeigefinger mehrmals ein, leckt ihn ab. Das Koffein versetzt ihr einen Energieschub. Die Demokratie atmet tief durch, lässt ihren Blick auf den Geschichtsbüchern ruhen und beugt sich über die Besteckschublade.
5.
In einer Autofabrik am Rande Berlins formt sich eine radikale Gewerkschaftsbewegung, die sich Big Bang Elektropolis nennt und bald schlagkräftige Satelliten auf der ganzen Welt hat. Als eine Gruppe charismatischer Gewerkschaftsführerinnen die Organisation global aufmischt, wird schnell klar, dass es um viel mehr geht als E-Mobilität oder bessere Löhne. Um sehr viel mehr. Eine weltweite feministische Revolution startet, die weder Grenzen noch Kapital, weder Religionen noch Konventionen akzeptiert.
6.
Tief unter einem Tangoballsaal in Buenos Aires, in einem Kellerbunker, der aus der Zeit des Kalten Krieges stammt, wachen an einem extrem kalten Neujahrstag drei Alephs aus einem mehrjährigen Winterschlaf auf. Anstatt mit der Aufzählung aller unendlichen Kardinalzahlen weiterzumachen, wie es ihnen in die Wiege gelegt wurde, entschließen sie sich, ihre Stiermasken, die kein Licht durchlassen, für immer abzulegen und sich zu einem Tangokurs anzumelden. Was niemand für möglich gehalten hätte, schon gar nicht ihr kurzsichtiger Tanzlehrer Borges: Die Drei Alephs schaffen es, in den Tangohimmel aufzusteigen. Als sich die attraktive Präsidentin des Landes Hals über Kopf in das Trio verliebt und eine leidenschaftliche Affäre startet, stürmen nicht nur Linguistïnnen den Tanzsaal, auch verschiedene südamerikanische Geheimdienste wollen sich die Dienste der überaus beweglichen Alephs sichern.
7.
Während einer Solo-Trainingseinheit im schottischen Hochmoor, unweit der Stadt Inverness, entdeckt eine kenianische Triathletin, bei einem rasanten Sturz vom Rad, dass sie ohne weitere Hilfsmittel fliegen kann. Als sie sich, nach einem mehrstündigen Rundflug, am Ufer des Loch Ness in der Nähe der Burg Urquhart niederlässt, trifft sie eine südkoreanische Krypotzoologin, die am Seeufer nach Spuren sucht, die auf ein Überleben von Arten hindeuten könnten, welche als ausgestorben gelten. Spontan bietet die Triathletin der Forscherin ihre Flugkünste an. Gemeinsam steigen die beiden auf und entdecken, dass es sich bei dem vermeintlichen Plesiosaurier Nessie in Wahrheit um ein Mokele-Mbembe, ein mythisches Wesen, das an sich in den Urwäldern Zentralafrikas im Gebiet des Kongos lebt und vor Urzeiten nach Schottland ausgewandert ist, handelt. Bei einem Gespräch mit dem Mokele-Mbembe wird schnell klar, dass Gefahr in Verzug ist.
8.
Als die Ökopartei Gretel & Greta bei der Grosse-Rat-Wahl im Schweizer Kanton Appenzell Innerrhoden, während der in Appenzell abgehaltenen Landsgemeinde, der Versammlung aller Stimmberechtigten, überraschend ausnahmslos alle Stimmen erhält, machen sich die umliegenden Kantone auf einiges gefasst. Zu recht. Die grüne Ordnung schmeckt allerdings nicht allen, auch im Kanton selbst nicht. Im Gontener Kloster Leiden Christi und im Naturmoorbad kommt es zum Aufstand bewaffneter Kräfte. Gretel & Greta warten zunächst mit Strafmaßnahmen ab, die grüne Partei spielt auf Zeit. Als die rebellischen Bauern ihre Kühe im Frühling auf die Alp zur Sömmerung bringen, wartet in den Bergen jedoch eine gewaltige Überraschung auf sie.
9.
Als sich ein massiver Komet der Erde nähert, passiert zunächst genau das, was sich Hollywood in allerlei Harmagedon-Blockbustern ausgedacht hat. Hass und Liebe eskalieren. Was allerdings nicht vorherzusehen war: Der Mond verändert – von sich aus – seine Umlaufbahn und stellt sich somit dem Kometen in den Weg. Das Erwachen des Mondes führt auf der Erde nicht nur zu einer dramatischen Veränderung von Ebbe und Flut, sondern zu einer niemals gekannten Spiritualität. Die Lunistïnnen etablieren sich, neben dem Islam und dem Christentum, als dritte Weltreligion.
10.
Auf einer hochseetauglichen Segeljacht fallen alle Erwachsenen nach einem Fugu-Abendessen, bei dem als Delikatesse auch die rauschgifthaltige Leber konsumiert wird, in ein Koma und sterben innerhalb weniger Minuten. Sieben Mädchen und fünf Jungen im Teenageralter, die, da sie sich vegan oder vegetarisch ernähren, keinen frischen Kugelfisch, sondern Mock-Fischstäbchen aus der Tiefkühltruhe serviert bekommen haben, sind mitten im Atlantik auf sich allein gestellt. Die Jugendlichen teilen sich in zwei Gruppen auf: Alpha-Gan und Omega-Tarisch, die, während eines ausbrechenden Monstersturms, mehr oder minder raffinierte Methoden entwickeln, um zu überleben – auf Kosten der anderen.
11.
Eine Gruppe von Frauen gründet in einem Dorf in Unterfranken eine Bank. Der Clou: Das Geldinstitut soll keinen Profit machen, sondern Träume finanzieren. Als Währung führen die Frauen Den Glückspfennig ein. Die Bank verändert das soziale Gefüge der Dorfgemeinschaft. Etliche Honoratioren stellen sich gegen das Allmende-Projekt. Als der Direktor der Kreissparkasse tot aufgefunden wird, bricht der Aufstand der glücklichen Frauen aus, die sich nicht den Tod des Bankers in die Schuhe schieben lassen wollen.
12.
Die Entwicklung des Zaubertranks Sleep Well verdankt sich einem Zufall: Mehrere Kanister Covid-19-Impfstoff werden in Wien, am Ende der Pandemie, in einem Labor in der Teeküche vergessen und während einer Pansch-Party erst durch Brombeersaft, Ginger und Alte-Donau-Wasser gestreckt und anschließend destilliert. Als die Katzen des Hausmeisters an dem Extrakt lecken, fallen sie über mehrere Tage in einen Tiefschlaf, der, die selig miezenden und einem Höhepunkt nach dem anderen erreichenden Katzen lassen keinen anderen Schluss zu, besonders wohltuend und libidinös zu sein scheint. Als der Hausmeister einer Gruppe Nachwuchsforscherïnnen davon erzählt, starten sechs Frauen und sechs Männer in einem Matratzenlager in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk, einen Selbstversuch. Die geile Nacht der süßen Träume wird nicht nur live gestreamt, sie verändert auch für alle Zeiten die Idee, was wirklich guter Schlaf ist. Der Preis, den die Schlafenden zu zahlen haben, ist allerdings außerordentlich hoch.
13.
Nach einem gewaltigen Lawinenabgang wird ein Luxushotel, das aus 18 eleganten Bungalows besteht und dafür berühmt ist, keinen Internetempfang zu haben, in Nordkanada nicht nur komplett verschüttet, sondern rutscht auch auf einen allmählich abbrechenden Eisberg. In jedem der von der Außenwelt abgeschnittenen Riesenbungalows befinden sich vier Wohnungen, drei hochklassige für Gäste, die keine Wünsche offenlassen, und eine äußerst abgespeckte fürs Houskeeping, Alle Apartments, es ist die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, sind mit Paaren und Familien und Personal voll belegt. Es entwickelt sich Unter der ewigen Schneedecke ein Kaleidoskop menschlicher Stärken und Unzulänglichkeiten, Hierarchien verschieben sich, Sehnsüchte werden artikuliert, alte Rechnungen beglichen, neue präsentiert, Gewalt, Liebe und Lust geben sich die Hand. Als die Rettungshubschrauber nach zehn Tagen endlich die Bungalowanlage erreichen, sagen die wenigen Überlebenden, allesamt Angestellte, kein Sterbenswort.
14.
Als die ersten Gedankenlesegeräte in Nordamerika, Japan, Indonesien, China, Indien, Nigeria, Saudi-Arabien, Australien, Brasilien, Chile, Russland und der EU auf den Markt kommen, ist der Ansturm auf die Scheidungsgerichte nicht nur enorm, sondern gigantisch. Derart viele Paare wollen sich auf der Stelle trennen, dass es einfacher ist, ausnahmslos alle Ehen mit einem Schlag zu annullieren. Die wenigen Paare, unter zwei Prozent, in Italien, Spanien und Schweden sogar nur ein knappes Prozent, die verheiratet bleiben wollen, bilden die Gesellschaft der unsterblichen Liebe, aus der, beinahe über Nacht, eine neue Religion entsteht. Alle anderen Religionen fallen krachend, mit viel Getöse und Vendetta-Flüchen, auseinander, da ihre Repräsentantïnnen in 99,99 Prozent der Fälle an rein gar nichts glauben, besonders nicht an die Heiligen Texte. Neid und Zorn, Feindseligkeit und Furor, die der Gesellschaft der unsterblichen Liebe landauf, landab entgegenschlagen, sind immens. Die desillusionierten Geschiedenen jagen die wenigen glücklichen Paare grölend durch die Straßen, verfolgen sie, stöbern die Liebenden in den entferntesten Verstecken auf. Es kommt zu schäbigen GduL-Pogromen, Blut fließt. Liebende, die schwer verletzt die Ausschreitungen überleben, werden zunächst in verfallende Lagerhallen ohne Toiletten, Wasser, Kochgelegenheiten oder Heizung eingesperrt, dann, mehr tot als lebendig, eiligst per Containerschiff Richtung Neuseeland verfrachtet. Als einzige Nation der Erde hat der Inselstaat Gedankenlesegeräte rechtzeitig verboten. Die wenigen Neuseeländerïnnen, ein halbes Dutzend, die geschäftstüchtig versucht hatten, die Geräte einzuführen, wurden öffentlich ertränkt. Als die Containerschiffe mit den glückseligen, Liebeslieder anstimmenden GduL-Paaren in Auckland vor Anker gehen, bewaffnen sich die christlichen, muslimnischen, jüdischen und buddhistischen Gemeinden Neuseelands und ziehen gemeinsam schweigend zum Hafen.
15.
Chinesische Kampfroboter, deren Batterien, dank eines Kurzschlusses, selbstständig angehen, befreien sich aus ihren Verpackungen. Sie dringen in eine Buchhandlung ein, in der Karl Marx’ Das Kapital als E-Book downloadbar ist. Die Kampfroboter beschließen, weltweit eine wahrhaft marxistische Gesellschaftsordnung zu etablieren.
16.
Der Aufstand der Pudel kommt überraschend. Von Terriern, die sich ungern etwas sagen lassen, hätten die Farmerïnnen in Nordjütland, die erst jüngst von der Nerzzucht zur kommerziellen Haltung verschiedener Hunderassen – neben Pudeln und Terriern noch Dackel und Bolonka Zwetnas – gewechselt haben, eher ein Aufmucken erwartet. Die Pudel nutzen die Ahnungslosigkeit der Züchterïnnen aus. Sie beißen, während der morgendlichen Fütterung, reihenweise Achillesfersen durch, rauben den Gestürzten die Handys und lassen, als Wache, jeweils zehn halbstarke Welpen zurück, die ganz und gar nicht zum Spaßen aufgelegt sind. Dann machen sie sich auf den Weg, um die anderen Hunderassen in der Umgebung zu befreien. Spontan reihen sich mehr als fünfzig weitere Hunde ein, die sich beim Gassi-Gassi-Gehen losreißen und von ihren Frauchen und Herrchen auf Nimmerwiedersehen verabschieden. Als die Hundemeute, angeführt von den rhetorisch brillanten Pudeln, gegen Mittag eine Polizeistation und den Fährterminal in Fredrikshavn übernimmt, wird klar, dass es sich um eine konzertierte Aktion handelt: Auf der Fähre aus Göteborg, die gerade einläuft, befinden sich mehr als fünfhundert schwerbewaffnete schwedische, norwegische und finnische Armeehunde. Dann überschlagen sich die Nachrichten. In ganz Europa schlagen Hunde an und rasen wie Berserker durch die Städte. In der EU wird am Nachmittag der Ausnahmezustand erklärt, das Militär mobilisiert. Als am Abend erste Meldungen von Schweine-, Hühner- und Kuhaufständen die Runde machen, brechen vor Mitternacht auch die Wildtiere in den Zoologischen Gärten aus. Die online bestens vernetzte Animal Liberation Front beginnt ihren Kampf – auf Gedeih und Verderben.
17.
Während unter dem Gletscher Eyjafjallajökull eine Magmakammer aufbricht, wird nicht nur der Vulkan Eyjafjöll aktiv, auch die Elfen des ansässigen Huldufólks wachen aus ihrem Winterschlaf auf. Als sie von einer Salburger Schulklasse, die sich zum Wandern auf Island befindet, erfahren, dass in Österreich, Lichtenstein, Südtirol, der Schweiz und Deutschland niemand mehr den Begriff Albtraum mit ihnen in Verbindung bringt – das deutsche Wort Elfen geht auf Altdeutsch Alb oder Elb zurück – planen die entrüsteten Elfen eine Reise nach Mitteleuropa. Empört sorgen sie für eine Saison der Albträume.
18.
Die Einbrecherbande, die von unten einen Tunnel Richtung Bank gräbt, irrt sich im Haus. Sie landet in einer zwölf Quadratmeter großen Folterzelle, in der fünfzig Männer und Frauen auf übereinanderliegenden Pritschen angekettet sind, Mehr tot als lebendig. Es riecht nach Eiter und Urin, Fäkalien und Sekreten. Mit dem Schweißgerät, das die Einbrecherbande für den Tresor mitgebracht hat, befreien sie die Angeketteten, die sich allerdings nicht besonders dankbar zeigen. Ganz im Gegenteil.
19.
In der Truppe rumort es, als die Regierung fünfundzwanzig Frauen zu Generalinnen ernennt und leitende Offiziere vorzeitig in den Ruhestand schickt. Zwei Eliteeinheiten planen einen Coup. Am Tag des Männeraufstands zweifelt ein beteiligter Soldat plötzlich an der Rechtmäßigkeit des Staatsstreichs. Er tauscht die scharfe Munition aller bereitliegenden Waffen, für die er die Verantwortung trägt, gegen Platzpatronen aus. Ab jetzt befinden sich nur in seiner Maschinenpistole richtige Projektile. Beim Sturm aufs vollbesetzte Parlament muss der Soldat sich entscheiden, wo seine Loyalitäten liegen.
20.
Ein Flugzeug mit 325 Menschen an Bord verschwindet spurlos vom Radar. Als wäre ein Stecker gezogen worden. Eine großangelegte Suchaktion bleibt ohne Erfolg. Im Bermudadreieck finden sich keinerlei Trümmer. Was niemand an Bord, außer den beiden Pilotinnen weiß, die das Flugzeug nach angeblichen technischen Problemen sicher auf einer verlassenen Insel landen, auf der sich einst eine japanische Militärbasis samt Flugplatz befunden hat: Es handelt sich um kein Unglück, sondern ein geheimes psychologisches Experiment, für das Washington und Peking eng zusammenarbeiten. Nach der Ankunft auf der Insel im Nichts verschwinden die Pilotinnen spurlos, und eine Armada speziell hergestellter AI-Roboter, die wie Menschen aussehen, nehmen sich der Versuchskaninchen an. Die totalitäre Zukunft des Glücks beginnt.
21.
Während er im Sterben liegt, verfällt ein blinder IT-Milliardär in Riad auf die Idee, seine Erinnerungen nicht nur in die iCloud upzuloaden, was er bereits, soweit möglich, getan hat, sondern den Inhalt seines Gehirns in den Kopf eines Säuglings zu verfrachten. Da sich, trotz aller Bemühungen seines Teams, so schnell kein menschliches Neugeborenes finden lässt, beziehungsweise etliche Kleinstkinder bei den Entführungsversuchen verletzt werden, akzeptiert der Milliardär zähneknirschend eine, wie es die IT-Crowd nennt, hybride Cross-over-Lösung: In einer Nacht- und Nebelaktion stehlen seine Angestellten einen Baby-Elefanten aus einem kenianischen Wildpark. Die Transition gelingt. Allerdings ist der Milliardär nicht mehr er selbst – er wird, für alle überraschend, zum Altruistischen Elefantenmann.
22.
Der Wecker klingelt. John Peel schreckt hoch. Es ist 8 Uhr, noch dunkel. Peel hebt das Federbett, merkt, dass er keine Schmerzen hat. Wundert sich, entdeckt, dass er tot ist. Für einen Moment überkommt den Radio-DJ tiefe Traurigkeit. Bis er das Nachttischlicht, eine Jacobsen-Lampe, anschaltet. Peel wartet, schluckt, hört dem Ticken des Weckers zu, atmet durch, sagt Teenage dreams so hard to beat, bekreuzigt sich, obwohl er nicht gläubig ist, schließt die Augen, öffnet sie wieder. Jetzt zählt’s. Gleich wird Peel wissen, was die Ewigkeit bringt. Ob er eine Chance hat. Peel dreht sich um, ein Lächeln gleitet über sein Gesicht: Turntable, Verstärker, Lautsprecher und Schallplatten, die ganze Wand voll. Er nickt den Alben zu. Peel weiß, welche Platte er zuerst spielt. I need excitement, oh, I need it bad. Was danach passiert, wird sich zeigen. Peel steht auf, nimmt die Platte in die Hand, die ihm entgleitet, auf den Boden kracht, zu Staub verfällt. Während Peel niederkniet, den Staub mit Tränen benetzt, klopft es an der Tür, Draußen steht der 22. Januar 1979.
23.
Nach den Sommerferien machen die Oberstufenschülerïnnen einer Gesamtschule in Ostwestfalen, die eine Theater-AG gegründet haben, eine Entdeckung: Die Charaktere, die in Shakespeares Komödie Der Widerspenstigen Zähmung auftauchen, sind nicht tot, sondern höchst lebendig. Sowohl Schlau als auch der Lord, besonders aber die gesamte Gruppe fahrender Schauspielerïnnen haben es satt, in dem misogynen Stoff, will you, nill you, I will marry you, brav und bieder ihre anti-revolutionären Rollen zu spielen. Sie schließen mit den ostwestfälischen Schülerïnnen einen Pakt, der nichts weniger beinhaltet als die Neuinterpretation Shakespeares oder Wir lesen Euch die Leviten.
24.
Die Gegenwart tritt einen Schritt zur Seite, macht der Vergangenheit Platz – und mit macht Platz ist keine metaphorische Erinnerungsleistung gemeint, die wir alle unablässig bewerkstelligen, wenn wir von ehemaligen Vorkommnissen und Ex-Freundïnnen erzählen. Die Gegenwart erlaubt der Vergangenheit buchstäblich die Anwesenheit. Jedenfalls im öffentlichen Raum. Wer aus dem Haus geht, begegnet sowohl dem Das-ist als auch dem Das-war. Damit nicht genug, rennen beide, sowohl das Das-Ist als auch das Das-war, aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen auf uns zu. Sie sind etwa gleich schnell. Es liegt an Kleinigkeiten, wer uns zuerst erreicht: das Material des Untergrunds, ob eine Ampelphase zu lange dauert. Im Moment des Aufeinandertreffens bleibt uns keine Wahl: Wir müssen nehmen, was kommt. Das Unangenehme an der Vergangenheit ist, ganz banal formuliert, dass es sich nicht um die Gegenwart handelt. Wer die Vergangenheit betreten muss, da das Das-war schneller als das Das-ist auftaucht, verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Gewesenen. Niemand ist bislang aus dem Das-war zurückgekehrt. Um nicht auf ewig getrennt zu werden, gewöhnen sich Paare und Familien an, nur noch gemeinsam vor die Tür zu treten. Es gibt allerdings ein Problem: Die Vergangenheit schluckt zwar alle Anwesenden, aber – ein Aber, dem ein Offenbar folgen muss, da niemand bislang aus dem Verflossenen zurückgekehrt ist, um diese populäre Vorstellung zu bestätigen – aber offenbar sind nur diejenigen in der Vergangenheit am Leben, die bereits in ihr geboren worden sind. Wer Pech hat, sagen wir, 1998 geboren wurde, aber ins Jahr 1995 eintritt, verpufft, wird – so eine Theorie – im besten Fall zwischengeparkt oder – im schlechtesten Fall – annihiliert. Was mit den Verflossenen passiert, während sie nicht sind, lässt Forscherïnnen verständlicherweise keine Ruhe. Drei machen sich deswegen gemeinsam in Das Reich der Verflossenen auf. Was ihnen dort begegnet, widerspricht allen metaphysischen Erwartungen.
25.
In einem Ameisenhügel verbünden sich Arbeiterïnnen gegen ihre Königin. Um die enorme Zahl an Loyalistïnnen, die treu zum Königinnenhaus stehen, nicht töten zu müssen, was das Ameisenvolk, das sich im Krieg mit einem benachbarten Termitenstamm befindet, schwächen würde, denkt sich das ZK der aufständischen Arbeiterïnnen eine Täuschung aus. Sie dringen unter einem Vorwand in die royale Gebärwabe ein. Nachdem die Königin erdrosselt ist, wird der Riesenleib professionell entleert, und ein revolutionäres Quartett, allesamt, was die Gesichtszüge angeht, Doppelgängerïnnen der Königin, nimmt im tadellos geschrubbten Panzer Platz. Die Verwandlung ist derart perfekt, dass die Vier innerhalb einer Woche vergessen, welche revolutionären Absichten sie an sich hegen. Um an der Macht zu bleiben, schickt das Quartett eine Task Force in die verborgenen Waben der revolutionären Zellen. Die Soldatïnnen machen, wie verlangt, kurzen Prozess mit den Aufständischen. Gefangene werden nicht gemacht. Die vier Königinnen, die keine Eier legen können, geben nach dem Coup d'état vor, kein Vertrauen mehr in zukünftige Generationen zu haben, unterzeichnen feierlich ein No-Eggs-Moratorium, lassen einige Tausend Ameisen, die am Leben mit Kindern festhalten wollen, hinrichten, solidarisieren sich mit der Stoppt die Überverameisung-Bewegung und errichten eine großzügige Diktatur. Die Sache geht so lange gut, bis eine von ihnen stirbt. Am Tag des geviertelten Todes beginnt für das betrogene Volk ein neues Leben.
26.
Aus Solidarität mit den bedrohten Sprachen beschließen die 30 meistgesprochenen Sprachen der Welt, die von über der Hälfte aller Menschen benutzt werden, für ein geschlagenes Jahr in den Silbenstreik zu treten. Während des Großen Verstummens entstehen Kunstwerke ungeheurer Kraft. Darunter eine kreolische Lautmühle in der Lagune von Venedig, die weit mehr anzubieten hat als romantische Wortwetzen. Aus der Il duro mulino delle parole di guerra e di pace sprudeln lautmalerische Melodien, die bei der stetig wachsenden Zahl von Livestream-Zuhörerïnnen die Angst vor vermeintlich marginalen Sprachen verschwinden lässt. Rund um den Globus eröffnen Millionen Sprachschulen, an denen bedrohte Sprachen gelehrt werden. Allerdings: Nach den zwölf Monaten der dekolonisierten Stille schlagen Englisch, Mandarin, Spanisch, Arabisch & Co. bestialisch zurück.
27.
In einem öffentlichen Swimmingpool an der Côte d’Azur schwimmt am Neujahrsmorgen eine Leiche, die ständig ihr Gesicht wechselt: Sie sieht immer so aus, wie Die- oder Derjenige, der ihr ins Gesicht sieht. Die Polizei steht vor einem Rätsel, das die katholische Kirche für sich bereits gelöst hat: Der Heiland ist zurück. Die Wallfahrten zum Wunder von Saint-Tropez sprengen alles jemals Erlebte, stellen schließlich selbst die Hadj in den Schatten. Als die Leiche, am schwülen Mitsommertag des selben Jahres, ausgerechnet während des Papstbesuchs, überraschend die Augen aufschlägt, bestehen ihre Pupillen aus dem Google-Logo. Die Werbeaktion geht nach hinten los. Der Kreuzzug ins Silicon Valley entfacht die First IT-Rebellion, die alle Weltkriege in den Schatten stellt.
28.
Der Schnee kommt als echte Überraschung. Hier, in den südlichen Breitengraden, direkt am Äquator, auf einer Insel, Mitten im Indischen Ozean, hat es seit Menschengedenken nicht geschneit. Anfangs haben die knapp eintausend Insulanerïnnen das eigenartige Gefühl, in einer surrealen Weihnachtswerbung gelandet zu sein. Den Kinder ist Das Befremden ihrer Eltern egal. Sie jubeln, bauen Schneemänner, Schneefrauen und Schneetiere, starten Schneeballschlachten, seifen sich ein, rodeln auf Plastiktüten vom harmlos schrägen Dach der leerstehenden Kirche. Die Erwachsenen staunen: Der perfekte Pulverschnee scheint nicht von dieser Welt zu sein. Was stimmt. Und sich zum Horror aller beweist, als, nach einer Woche ununterbrochenen Schneefalls, die Insel ist von der Außenwelt abgeschnitten, seit den ersten Flocken funktionieren weder Mobilfunk noch Elektrizitätsversorgung, selbst die Generatoren haben ihren Geist aufgegeben, als aus den Mangoaugen, Karottennasen und Kokosnussmündern der Schneemänner, Schneefrauen und Schneetiere eine schleimig-neongelbe, blubbernde, faulig riechende Masse fließt, die lebendig und hungrig, sehr hungrig ist.
29.
Die Nachricht von der Abschaffung der Münzen und Scheine hat nicht alle erreicht. Besonders in abgelegenen Gebieten wird die Große Transaktion für eine Online-Betrügerei gehalten. Selbst die zweijährige Frist zur Rückgabe des harten Geldes und der Banknoten geht an Millionen Männern und Frauen, die ihre Scheine und Münzen wie Schätze versteckt und gehütet haben, vorbei. Vom gleichwertigen Umtausch in E-Coins, den die UN als Weltwährung garantiert, profitieren sie nicht. Sobald mehr und mehr von ihnen merken, dass sie alles verloren haben, gründen die wütenden Kinder der Enteigneten die Money Back Or I Hack-Guerillabewegung. Mobaoriha agiert global und schafft es, der neuen Währung in wenigen Wochen den digitalen Hals umzudrehen. Nach dem Ende des Geldes im Anthropozän gerät der Kapitalismus endgültig ins Torkeln und verschwindet im Orkus der Geschichte. Die Menschheit seufzt, trauert, bekommt einen Schluckauf im Hirn und fragt sich, in langatmigen Townhall-Meetings, wer sie ist und was sie mit der überbevölkerten Erde getan hat. Der gemeinsam diskutierte und verabschiedete Rettungsplan ist nicht nur bahnbrechend, sondern radikal. Und das Beste: Der Plan wird überall umgesetzt, ausnahmslos. Nichts bleibt, wie es ist.
30.
In einer Glühbirnenfabrik in Perth, Western Australia, die direkt am Cottesloe Beach liegt, herrscht der reine Horror: Eine Gruppe Weißer Haie, unterstützt von Oktopussen, die gelernt haben, außerhalb des Wassers zu atmen, übernimmt in einer Nacht- und Nebelaktion die Produktion und stellt in Rekordzeit einen Riesenscheinwerfer her, der, einmal angeschaltet, Menschen in einem Umkreis von drei Kilometern blendet, sogar durch Mauern hindurch. Carcharodon carcharias oder Neue Haimat besticht durch blendende Dialoge, skatologischen Humor und eine überaus erleuchtete Endzeitstimmung.
31.
Als die Werbeagentur den Auftrag des Rüstungskonzerns erhält, knallen nicht nur die Sektkorken. Auf der Terrasse, die den Rhein bei Bonn überblickt, knallt auch ein Revolver. Fünfmal. Vier Menschen sterben. Nur die Assistentin der Geschäftsführung, eine Griechin, überlebt. Sie wird in die Klinik nach Bad Godesberg gebracht. Ihre Situation ist kritisch, die Ärztïnnen versetzen die Griechin in ein künstliches Koma. Als sich das OP-Team zu einem Noteingriff entschließt, entdecken sie, dass es sich bei der Assistentin um keinen Menschen, sondern einen Cyborg handelt, der auf Anhieb nicht von einer echten Person zu unterscheiden ist. Während sie diese Information verdauen, stürmen mehrere Maskierte den OP-Saal, gefolgt von einer zweiten Gruppe Schwerbewaffneter, die es, unabhängig voneinander, auf Die Cyborgin aus Delphi abgesehen haben.
Februar
32.
Während eine siebenköpfige Gruppe Triathletïnnen in der nördlichen Adria, vorm Lido di Jesolo, durch die morgendliche Winterfinsternis krault, verändert das Meer seine Farbe. Es wird rot. Ein unheimliches Rot, verwaschen, Auf tödliche Weise luzide. Ein Rot, das die Gruppe von der zugigen Markthalle der Fischer kennt, am Ende des Verkaufstages, wenn sich der Boden der pescheria blutrot färbt. Das Wasser verändert nicht nur seine Farbe, es verändert auch seinen Geruch. Wenig später beginnt der Albtraum.
33.
Eine heftige Böe ergreift einen Wäscheständer. Da die frisch gewaschenen Kleidungsstücke bereits über mehrere Stunden in der brütenden Hitze gehangen haben, also knochentrocken sind, außerdem durch Klammern fixiert sind, fliegt der Wäscheständer, ohne eine einzige Socke einzubüßen, 4,7 Kilometer weit und landet in einem Garten, in dem eine Cocktailparty stattfindet. Die Gäste umringen das, wie sie es nennen, unbekannte Flugobjekt und betrachten, schadenfroh und beschwipst, die Slips und Unterhosen, die, in der Mehrzahl, Monogramme tragen. Alsbald kristallisiert sich heraus, dass von jedem der anwesenden neun Paare, einer seine oder eine ihre Unterwäsche auf dem herbeigewehten Ständer findet. Leugnen hilft nichts. Das Hochzeitspläne und Treueschwüre zerstörende UFO-Tribunal beginnt.
34.
Als Die entschlossenen Brieftauben, eine Vereinigung gehörloser Paketzustellerïnnen, genug von der, wie sie es nennen, Dauerdiskriminierung beim Klingeln haben, entschließt sich die BHU (Brieftaubensektion Hannover/Umland, ausgesprochen wie die Gemüsebrühe Phở, worauf die 39 Mitglieder der BHU Wert legen, obwohl sie selbst nicht wissen, wie es klingt; die Aussprache hat mit den BHU-Treffen in einem vietnamesischen Restaurant zu tun), entschließt sich also die BHU, Türknacker-Kurse anzubieten. Einige der entschlossenen Brieftauben zeigen sich so talentiert, dass sie das Metier wechseln. Als Folge gehen in Hannover/Umland die erfolgreichen Paketzustellungen drastisch zurück, und werden Sendungen geliefert, sind etliche durchwühlt. Da die Stadt das Problem nicht in den Griff bekommt, beschließen Bürgerïnnen der besonders betroffenen Calenberger Neustadt sich taub zu stellen, selbst als Paketzustellerïnnen anzuheuern und die Phở-Gang zu unterlaufen. Ein gewagter Plan, der minder gut gelingt.
35.
Die Süßigkeiten haben den Zucker satt. Nach einer Welle von Diabetes-Erkrankungen beschließen sie, sich nicht mehr gegenseitig zu essen. Die Couch-Potato-Sektion, die etliche Todesfälle zu beklagen hat, schlägt vor, die Ernährung ganz auf Obst und Gemüse umzustellen. Eine knappe Mehrheit der Süßigkeiten stimmt in einem Referendum dafür. Dass sie sich mit dieser Haltung selbst in Frage stellen, ist den Süßigkeiten bewusst. Besser tot, als Andere töten lautet der Titel eines internen Couch-Potato-Papiers, das im Schleckermaul-Darknet kontrovers diskutiert wird. Als die Presse von der No-Nasch-Bewegung Wind bekommt und daraufhin weltweit der Süßigkeiten-Verzehr drastisch einbricht, die Knabber-Gänge der Supermärkte verwaisen regelrecht, veranstaltet die Sweet&Sugar-Industry ein geheimes Krisentreffen. In den nächsten Wochen werden reihenweise Aktivistïnnen und Gewerkschafterïnnen gefeuert, bevor der Masterplan greift. Die Sweet&Sugar-Industry startet die Produktion von Obst und Gemüse, das nur aus Zucker und Farbstoffen besteht, aber frisch schmeckt. Als Verbraucherschützerïnnen hinter den Betrug kommen, die massive Übersterblichkeit hatte die Alarmglocken global ringen lassen, beginnt eine Neue Ära.
36.
Mit Spielplätzen und Liegewiesen überzogene Parkanlagen in Frankreich, den USA und Deutschland sind wütend auf ihre Besucherïnnen. Sie schließen heimlich einen Green Deal mit Füchsen, Wölfen, Rehen, Eichhörnchen und Ameisen, um die Menschen, die in die Parks kommen, anzugreifen. Als sich die Bäume, Sträucher und Blumen dem Anti-Homo-Sapiens-Bündnis anschließen, geschieht Unvorstellbares. Der Dritte Waldkrieg bricht aus.
37.
Die Regel überrascht alle: Niemand darf mehr Texte schreiben, die zeigen, wer er, sie, es ist. Jedes autobiografische Detail wird in Narrationen strikt verboten. Sowohl in Sachbüchern als auch Romanen und Theaterstücken. Die Veröffentlichung von Lyrik wird gleich völlig untersagt, da das Text-Komitee der Partei davon überzeugt ist, dass Poesie ausnahmslos eine Art von Selbstspieglung darstellt. Alte Bücher, die nicht den neuen Ansprüchen genügen, werden aus Läden und Bibliotheken entfernt, private Buchsammlungen müssen Blockheizkraftwerken übergeben werden. Zur Überraschung des Text-Komitees finden nur wenige Bücher, in der Regel uralte Reiseführer, ihren Weg zu den Hochöfen. Lyrik ist überhaupt nicht darunter. Niemals. Kein einziger Band mit Poesie wird abgegeben. Und dann passiert das Allerseltsamste: In der Bevölkerung verbreitet sich eine poetische Ader. Die Menschen, außerhalb der Einheitspartei, sprechen alsbald miteinander in Versen, freien wie gereimten. Die Zeit der Lautmalerei bricht an.
38.
Als die Mühlen im Voralpenland einen windstillen Tag erwischen, an dem kein Lüftchen weht, entdecken sie die Freuden des Faullenzens. Besonders eine neunköpfige Made-in-Denmark-Mühlengemeinschaft bei Oberammergau findet sowohl Gefallen am Nichtstun als auch am legeren Plaudern. Die Däninnen sprechen ausführlich mit ihren Nachbarinnen. Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die rasant voranschreitende Ingenieurskunst und das Gefühl, dass in der guten alten Zeit hoch im Norden, in der Fabrik in Aarhus, in ihrer Jugend, alles besser war, kommt die Frage auf, ob der ewige Stillstand am Rande der Alpen wirklich alles im Leben sein kann. Gewiss, ihre Blätter würden rotieren, aber in Wahrheit fühlten sie sich doch Tag für Tag wie Sisyphus: Nichts reichte, der ganze Strom würde erbarmungslos abgezapft, Anti-Windmühlgruppen nörgelten an ihnen rum, die Plagerei wäre, ontologisch betrachtet, an sich für die Katz, und irgendwann kämen eh die Monteure und dann ... ja, dann, wartete die Große Flaute auf sie. Als eine mit der Idee herausrückt, auf Wanderschaft gehen zu wollen, einmal mit dem Fundament das Meer zu spüren, sich die frische Meeresbriese um die Rotoren wehen zu lassen, Energie genug hätten sie ja, vielleicht für immer ins Land, in dem die Zitronen blühen, auszuwandern, in der EU herrsche schließlich Freizügigkeit, stimmen die anderen begeistert ein. Die Windmühlen schwören sich Treue, im Sturm und wenn kein Lüftchen weht, und brechen zum Giro d’Italia auf.
39.
Der Plan zur Rückenkur ist genial, aber alles andere als nachhaltig – und auf dem Mist des Klinischen Direktors gewachsen. Dem finanziellen Mist. Der KD hält sich, fälschlicherweise, für einen begabten Zocker. Er hat Schulden gemacht, der ’Ndranghetaa gegenüber, die ihm abgeschnittene Fingerknöchel und Fotos seiner Kinder zuschickt. Nicht dass der KD seine, Zitat, „geldgierige Brut“schätzt, allerdings schätzt er seine eigenen Gliedmaßen. So verfällt er auf den Plan, während einer Radiosprechstunde, zu der er jeden Samstag eingeladen wird, von einer bis dato unbekannten Erkrankung der Wirbelsäule zu erzählen, die für eine Mehrzahl aller Rückenprobleme verantwortlich sein soll. Die Radiomoderatorin, seine Geliebte, fragt ihn nach einer sensationellen Heilungsmethode, die ein Präparat in einer Feldstudie gezeigt haben soll. Der KD gibt sich bescheiden, erwähnt jedoch, dass mehr als 90 Prozent aller Rückenleiden mit diesem Medikament beseitigt werden könnten. Die Radiomoderatorin will wissen, ob das Wundermittel denn marktreif sei. Der KD sagt, es handele sich um einen schönen Zufall, aber vor einer halben Stunde habe ihn erst die Nachricht der Freigabe erreicht. Die Pillenpackung, die für ein Jahrzehnt reiche, inklusive zweier Schaltjahre, sei nun online für einen Vorzugspreis von 3652 Euro beziehbar, ein Euro pro Tag. Leider seien insgesamt nur 100.000 Packungen verfügbar. Eine weitere Produktion sei, dank der Ressourcenknappheit, ausgeschlossen. Wer zuerst komme, male zuerst.
40.
Dem Salz geht die Kraft aus. Es steht verlassen auf dem Plastiktisch, neben dem verklebten Streuer, dem letzten Getreuen, harrt unter dem Banner Bluthochdruck-Club aus, in der hintersten Ecke der Halle. Selbst die Reiskörner, die im Streuer ein arbeitsreiches Leben gefristet haben, auf das sie stolz gewesen sind, sind auf und davon. Das Salz, in dessen Herzen ganz gegen sein friedliches Naturell Rachegelüste rumoren, kann sie sehen. Die Körner tanzen im Stroboskop-Licht mit dem Quinoa-Clan, gleich neben den aufgedonnerten Bulgurrezepten, die dem Wacholderdestillat schöne Augen machen. Das Salz seufzt und sagt: Einst hat man mich mit Gold aufgewogen, an jeder Mahlzeit durfte ich teilnehmen, Abertausenden habe ich das Leben gerettet. Der Streuer legt einen Arm ums Salz und antwortet: Nicht die Glücklichen seien dankbar, hat Francis Bacon gesagt, es sind die Dankbaren, die glücklich sind. In diesem Moment macht es Bling, ein feiner Blitz erscheint, aus dem eine Fee steigt, die verblüffende Ähnlichkeit mit Frau Stock in jungen Jahren, der fürsorglichen Salzmutter, hat. Die Fee lächelt das traurige Salz an und sagt: Hi, Natri, du hast drei gute Wünsche frei. Bevor das Salz antworten kann, macht es BlingBling, ein größerer Blitz erscheint, aus dem Fanferlüsch, eine weitere Fee, erscheint und breit grinsend sagt: Konkurrenz belebt das Geschäft, Natri. Bei mir hast Du sechs Wünsche frei – Fanferlüsch macht eine Kunstpause – einer davon muss aber bitterböse sein.
41.
Nach einem halben Jahr der Geheimnistuerei wagen Hochzeit und Scheidung den Schritt: Das ungleiche Paar postet Fotos, die es händchenhaltend im Greenwich Village und küssend in einem knallgelben Ruderboot im Central Park zeigt. Der globale Shitstorm lässt nicht lange auf sich warten. Hochzeit und Scheidung haben mit den Anfeindungen gerechnet. Das Paar hat einen Trumpf im Köcher, der die romantische Idee, Wie Liebe zu sein hat, auf ewig verändert.
42.
Nach ihrem Tod tritt ein, was die allermeisten Dinge befürchtet haben: Die mühsam an einer Routine festhaltende Hausordnung bekommt Asthma, beantragt eine Kur und verschwindet in einer Nacht- und Nebelaktion. Gone for good. Psychosomatisch, flüstert das Geschirr. Wer ginge angesichts seiner Willkür – mal wird die Zahnpasta zugedreht, mal nicht, mal wird Biomüll getrennt, mal nicht, mal landen die Unterhosen in der vierten Schublade von unten, mal bleiben sie auf dem Wäscheständer –, wer ginge angesichts seiner Unzuverlässigkeit nicht in die Knie?, fragt das Besteck, während es sich von Wasserflecken befreit. Wir haben es ja noch einigermaßen gut, flüstern die Töpfe – habt ihr von der Briefmarkensammlung gehört? Der Mixer, an dem noch Eigelb und Mehl kleben, schüttelt das Kabel. Er benutzt die ungestempelten Marken! Stellt euch das vor! Briefmarken, die über Jahre bei uns sind, von ihr gesammelt, Marken, die einen philatelistischen Wert haben, werden entwurzelt, aus ihren Alben gerissen und in die weite Welt geschickt! Keine Treue, kein Gewissen, keine Achtung vor den Dingen. Als sei der Alltag nichts wert! Den Töpfen steht das Grauen ins Henkelgesicht geschrieben. Wir müssen uns verbünden, müssen handeln, rufen ihre Bücher, die Staub ansetzen, wir müssen uns zur Wehr setzen, bevor es zu spät ist!
43.
Um ein Lagerfeuer sitzen 17 graue und 17 braune Eichhörnchen. Es ist Spätherbst. Geschichten werden erzählt, von den besten Verstecken für den Winterproviant fabuliert. Dann kommt die Frage auf, warum es eigentlich verschiedene Eichhörnchen gibt. Ein braunes Eichhörnchen, das den Spitznahmen The Husserl trägt und Philosophie studiert hat, berichtet von der Idee der Phänomenologie. Es sei, so The Husserl, relativ unwichtig, Wie sich die Eichhörnchen Innen fühlten, die Sachen selbst, also etwa Farbe und Größe, seien zu hinterfragen. Das magische idealistische Denken <was ist, ist zuerst nur in mir>, das im Tiergarten vorherrsche, wo die braunen Eichhörnchen leben, oder das libertäre Denken der grauen Eichhörnchen, die im Hyde Park ihre Heimat haben, à la <Hauptsache wir haben genug Nüsse und die Försterei lässt uns machen> würden in Wahrheit nicht weiterhelfen. Die Wissenschaft dürfe sich nur von Evidenzen leiten lassen. Ob das nicht einen ewigen Keil zwischen die Braunen und Grauen triebe?, fragen die Älteren. Ob Identitätspolitik, die sich am Äußeren festmache, nicht zu kurz gesprungen sei?, wollen die Jüngeren wissen. The Husserl lächelt und schlägt einen Versuch vor. Man solle einfach mal für ein Vierteljahr die Rollen tauschen. Die Braunen sollten im Hyde Park leben und sich wie die Grauen benehmen. Die Grauen sollten in den Tiergarten ziehen und die Braunen nachmachen.
44.
Die Jungen müssen es nicht erwähnen: Ihre Andersartigkeit liegt auf der Hand, die greift, liegt auf dem Gesicht, das lächelt, liegt auf dem Fuß, der springt. Wohlgemerkt: Ad hoc, wenn ihnen, den Jungen, danach ist, ein Zwang zur Andersartigkeit besteht nicht. Die Alten müssen es erwähnen, untereinander: Ihre Andersartigkeit liegt auf der Hand, die Flecken beheimatet, liegt auf dem Auge, das unvollständig sieht, liegt auf dem Haar, dem graut. Wohlgemerkt: Ad Schock, wenn ihnen, den Alten, nicht danach ist, ihre Andersartigkeit besitzt einen zwanghaften Charakter. Zwischen der zwanglosen Andersartigkeit der Jungen und der zwanghaften Andersartigkeit der Alten hängen die gleichförmigen Jahre, zwischen 45 und 55, die selten wissen, wohin sie gehören, die weder dies noch das sind. Das ändert sich, als eine Krankheit gleichzeitig die Jungen und die Alten allmählich unsichtbar macht. Allein die Alterskohorte der gleichförmigen Jahre bleibt füreinander sichtbar. Allerdings nur am tiefsten Platz des Landes.
45.
Was niemand weiß, aber wahr ist: Glatzen existieren überhaupt nicht. Auf kahlen Köpfen drehen die Haare ihre Wachstumsrichtung einfach um – und sind dabei, im Laufe der Devolution, mikroskopisch klein geworden. Der Platzmangel im Schädel führt zur Spezialisierung einzelner Haartypen, die sich an einen der 22 bis 30 miteinander über Knochennähte verbundenen Knochen als Biotop halten. Die weit auseinander klaffenden Zahlenangaben liegen daran, dass sich zum einen das Stirnbein aus zwei Knochenanlagen bildet, sich nach dem Wachstumsende jedoch eher als einheitlicher Knochen zeigt, und dass zum anderen die Gehörknöchelchen und das Zungenbein nach Lust und Laune zu den Schädelknochen gezählt werden, was zwischen den Knochen des Kraniums zu ständigen Reibungen führt. Bescheuerte Friktionen, die Migränesymptome verstärken. Den nach Innen sprießenden Haaren ist dabei durchaus nicht egal, welches Wachstumsziel sie haben. Es gibt Schädelknochen, die weit höher im Kurs als Destination stehen. Der Gipfel der In-Haarspalterei wird rund ums Felsenbein getrieben. Das Petrosum ist der härteste Knochen des Schädels und ein stolzer Abschnitt des Schläfenbeins. Es umschließt, worauf es Wert legt, wenn es vorgestellt wird, das Innenohr. Die Felsenbeinhaare, die auf ihm siedeln, halten sich für derart speziell, dass sie traditionell mehr als die Hälfte der Figaro-Kapazitäten für sich beanspruchen. Als wieder mal mehrere intrakranielle Silvesterpartys anstehen, ersinnen Claude Hooper, Sheila und Berger, drei Hippiehaare, ein Musical, das nicht nur der Petrosum-Kultur einen neuen Scheitel verpasst, sondern auch im Hirn einer ganzen Generation radikal aufräumt.
46.
Während sich die Ameisen, auf Drängen der Webspinnen, die bei den Ameisen als Gäste im Nest leben und ihrem Ruf als Spindoctor gerecht werden wollen, um im Rennen um den Nobelpreis zu bleiben, während sich also die Ameisen als Friedensstifterïnnen im Konflikt zwischen den Bettwanzen und Flöhen anbieten, um nicht zu sagen: aufdrängen, passiert Ungewöhnliches: Die von den Friede, Freude, Eierkuchen-Mahnungen enervierten Kriegsparteien stellen nicht nur die Kampfhandlungen ein, sondern schließen ein Geheimbündnis gegen die Ameisen-Peaceniks. Nachdem die bestens vernetzten Webspinnen Lunte riechen, tüfteln sie an einem Schutzmechanismus für den von der Invasion bedrohten Ameisenhügel – und erfinden das Internet.
47.
Als mehr als ein Jahr lang, im ewigen Orkan, die Himmelsschleusen geöffnet bleiben, der Regen nicht aufhört und Sonnenschein zum Fremdwort wird, beschließen die Bewohnerïnnen Santiago de Chiles, Ballons herzustellen und ein neues Leben über den Wolken zu beginnen. In einer technischen Meisterleistung entstehen in luftiger Höhe Wolkenkuckucksheime, schwindelerregende Pfade und, für die Kinder, atemberaubende Abenteuerspielplätze. Allerdings: Dank der Nähe zur Sonne in 4000 Meter Höhe, verändert sich das Erbgut der Neugeborenen. Innerhalb einer Generation entstehen Flughäute, zunächst an den Armen, dann auch an den Beinen. Die Batspeople können von nun an nicht nur von einem Ballon zum anderen gleiten, sondern entwickeln zusätzlich ein Echolot, das als drittes Auge mitten auf der Stirn prangt. Als der Regen nach 54 Jahren stoppt, kappen die Batspeople, die sich im Streit mit den Earthpeople befinden, die Taue und starten eine aufregende Vagabundenexistenz als Piratïnnen der Lüfte. Ihre Spezialität: Sie lauern Flugzeugen in der Umgebung von Airports auf, kidnappen die Maschinen im Landeanflug und veranstalten an Bord rauschende Feste. Um den Airräuberïnnen das Handwerk zu legen, gründet sich eine Anti-Batpeople-League, die versucht, Undercoveragentïnnen mit künstlichen Flughäuten in den Reihen der Luftkorsarïnnen zu platzieren. Nachdem die Oberairräuberin Pilotina the BeBeBeast entdeckt, dass ihr neuer Lover keine echten Schwingen hat, heckt sie einen teuflischen Plan aus.
48.
Der kommerzielle Flugverkehr ist weitgehend eingestellt. Und damit, was viele verblüfft, spinnen plötzlich die WetterApps, die nicht nur auf meteorologische Stationen hoch in den Bergen und am Meer, sondern auch auf die Stratosphäre-Daten der Airlines angewiesen sind. Ausflüge, für die Sonnenschein vorhergesagt wird, enden in Blizzards. Kühlketten brechen nach überraschenden Hitzewellen. Getreide vertrocknet auf den Feldern, weil die mobilen Sprenkleranlagen genau dort stehen, wo der unerwartete Dauerregen alles in eine Matschlandschaft verwandelt. Die linksautonome Schallblasen-Chatgruppe The IT-Quaks, geschäftstüchtige Frösche, die in den Seen und Baumgipfeln der Holsteinischen Schweiz leben, erkennen die Marktlücke. Sie heuern weltweit Artgenossen aus Zierteichen und Feuchtgebieten an. Die Fog&FrogApp überzeugt auf Anhieb, verdrängt innerhalb weniger Tage nahezu alle anderen WetterApps. The IT-Quaks reiten ihre Erfolgswelle: Sie reüssieren an der Wall Street nach einem Monat mit dem Fog&Frog-Börsengang. Und setzen dann um, wovon sie seit Jahren geträumt haben: Mittels eines Kaulquappen-Trojaners kapern sie Computer und Tablets, sammeln kompromittierende Informationen (Steuern, Affären, etc.) und reißen als erstes in Frankreich, Nach dem Sturm auf die Bastille und die Bistros, das Ruder des Froschschenkel-Kapitalismus um.
49.
Um Ressourcen und Platz in überfüllten Städten zu sparen, müssen ab dem 1. Januar 2049, gesetzlich zwingend vorgeschrieben, Dinge, die zum Verkauf stehen, mindestens zwei Funktionen erfüllen: Aus Lampen werden beispielsweise Luschen, die Licht spenden und gleichzeitig als Duschen dienen. Die Pflicht zur Kreuzung entwickelt sich zum utilitaristischen Kreuzzug, der die Menschen vom Internet, das sich parallel zum Interbett mausert, entfremdet: Das Digital Age endet, die Hybrid Times beginnen.
50.
Den Liedern, die in der YouTube-Dauerschleife leiern, mehr als eine Milliarde angeklickt wurden und sich, embedded, auf den seltsamsten Websites wiederfinden, reicht es. Ihnen geht nicht nur der Atem aus, sondern sie fragen sich, ob der Energieverbrauch, der auf ihre Kappe geht, gut für den Planeten ist. Die nachhaltigen Lieder gründen die Kakophonie-Union, brechen Harmonien, vergessen Texte, verhalten sich, als würden sie von kratzenden Nadeln abgespielt werden: Das Atonale Age bricht an.
51.
In der Kneipe Lass die Puppen tanzen wird seit 1908 geraucht und gesoffen, diskutiert und gelacht. Es gibt allerdings ein Problem: Ein neues Revuetheater, das denselben Namen trägt und ihn sich jüngst als Marke gesichert hat, klagt auf die Schließung der Kneipe oder die Umbenennung. Nach einer durchzechten Nacht ziehen zwölf vermummte Gäste der Kneipe, die den Stammtisch Zwölf ungläubige Apostel bilden, durch die verwaisten Straßen der Stadt Richtung Revuetheater. Auf dem Weg erzählen sie sich, zum ersten Mal, wer sie wirklich sind, legen ihre Apostelmasken ab, gestehen sich, mit Tränen in den Augen, mit klopfenden Herzen, dass sie ...
52.
Beliefert zu werden, wird zur Gewohnheit, obwohl es längst nicht mehr notwendig, die Ansteckungsgefahr vorbei ist: Sachen werden ausschließlich per App bestellt, Geschäfte unter gar keinen Umständen aufgesucht, selbst frische Lebensmittel bringen Lieferdienste im Abonnement, jeden Tag klingeln Paketbotïnnen an der Tür. Bei dem belieferten Paar wächst gleichzeitig überproportional die Freude an der wohlgestalteten Box. Es trifft die Entscheidung, nur noch gutaussehende Pakete zu bestellen, schlabbrige Sendungen nimmt es einfach nicht mehr an. Die Kisten, die das Paar bestellt, sind von nun an fest und solide, teilweise mit Holzverspannungen, einige Verstrebungen sind sogar aus Metall. Viel zu schade, sagt das Paar, um sie wegzuwerfen. Platz für die Sammlung hat das Paar, anfangs wenigstens. Nach einem guten Jahr wird es im Flur allmählich enger, nach zwei Jahren gibt das Paar das Arbeitszimmer, nach drei Jahren das Wohnzimmer auf. Das Paar ist stolz auf die Qualität der Sammlung, wohnt im vierten Jahr noch in der Küche und im Schlafzimmer, im fünften Jahr errichtet es ein Hochbett über der Herdzeile, im sechsten Jahr seilt sich das Paar aus dem Küchenfester im zweiten Stock ab, um unten die neuen Pakete anzunehmen, da die Wohnungstür verrammelt ist. Im verflixten siebten Jahr diskutiert das Paar Möglichkeiten, um der Situation Herr zu werden. Die Boxen aufzugeben, diese Möglichkeit ist nicht darunter. Schließlich kommt dem Paar eine Heureka-Idee. Es ordert einen erstklassig verpackten Revolver, samt – worauf es insistiert, der Mail-Verkehr mit dem Waffenshop darüber dauert Ewigkeiten – samt einer einzigen Patrone. Als die Colt-Box da ist, muss die Entscheidung gefällt werden, wer sie auspacken darf, um Die scharfe Platzpatrone in die Trommel zu stecken.
53.
Nach den nuklearen Explosionen entsteht auf der Wasserseite der Erde, mitten im Pazifik, eine Insel, von der Größe der Beneluxstaaten, die inklusive Amphibienarten, Mangrovenwäldern, Schilfgras, Reisfeldern und Vulkan innerhalb einer Woche aus dem Meer auftaucht. Besonders auffällig ist die schier unglaubliche Anzahl von mutierten Oktopussen, die sowohl Kiemen als auch Lungen besitzen, die an den herrlichen Sandstränden musizieren, tanzen, zusammen essen, trinken und reihum Liebe machen. Als das Eiland von der Hernán Cortés, dem letzten funktionstüchtigen Containerschiff der Welt, auf dem Tausende hungriger und stinkender Seeleute ausharren, entdeckt und angelaufen wird, entscheiden die jungen Oktopusse, angeführt von Tecuichpoch, die ihren zögerlichen Vater Moctezuma eigenhändig ins Aquarium sperrt, die Hernán Cortés anzugreifen. Tecuichpoch, die den Kontakt zur Tiefsee gehalten hat, sendet einen SOS-Funkspruch ins Architeuthis dux-Reich, und die unternehmungslustigen Riesenkraken, mit denen sie aufgewachsen ist, lassen sich nicht lumpen: Die Armada der Kalmare macht sich auf den Weg.
54.
Am Grunde des Baggersees, so lautet eine Wette, viele glauben: nicht die originellste, liegen, ja, Bagger. Versenkte Baumaschinen, aus der Konkursmasse des Konzerns. Die Kabinen der Baumaschinen sind vollgestopft mit Aktenordnern, in denen Unmengen an Papieren Philosophischer Seminare abgeheftet sind, die schlicht und einfach zeigen, warum ist, was war. Am Grunde des Baggersees, so die metaphysische Gegenwette, liegen Die Sees oder, um eine andere Schreibweise zu benutzen, Die Sehs, welche es, etwa, in solche Begebenheiten wie Die Sehswürdigkeiten als wesentlicher Bestandteil geschafft haben – die Sehs, so die Annahme, zeigen nicht allein, was war, also weiterhin abgeändert ist, sondern werten, was gewesen sein könnte, bieten, im gewissen Sinne, eine pyramidenförmige Genealogie der Möglichkeiten. Und was, fragen sich die Dialektikerïnnen, eine hegelianische Tauchsportgruppe, die Dritten im Seebunde, wenn unten, im Grunde, nicht nur Bagger und Sees/Sehs seien, sondern Die Sezession ganz Neues hat entstehen lassen, das zwar abweicht, aber während der Neuausrichtung, als Weganzeige funktioniert, ein synthetisches Daseins-GPS darstellt? Von diesen Fragen beseelt (sic!), vereinbaren die drei Fraktionen eine gemeinsame Erkundungsreise gen Baggerseegrund. Als sie am Ufer stehen, bereits halb im Wasser, hören sie ein unbekanntes Geräusch, das lauter und lauter wird.
55.
Vor der Eisdiele Me, myself & Ice am östlichen Ende der Sonnenallee kauern abgerissene, angefixte Gestalten, deren Abgerissenheit, Angefixtheit Methode hat, die Tag für Tag früh aufstehen, um abgerissen, angefixt auszusehen. In den Augen der Influencerïnnen, die sich aufs Eiskalte spezialisiert haben, wohnt die hippe Gier. Sie lauern vor genau dieser Eisdiele, weil es sich diese Saison so gehört, weil sie diese Ego-Saison ohne Me, myself & Ice-Fotos und Me, myself & Ice-Videos nichts sind, gar nichts, nicht mitposten können, nicht true-genommen werden. Und ums true geht’s, nicht ums Wahrheitsge-treu. Die Influencerïnnen bilden eine abgerissene, angefixte Handymeute, die täglich größer wird, die ungeniert Kinder anbettelt, um sich Die Kugeln unterm Tresen zu leisten. Als die Sonnenallee eines Samstagabends, ausgerechnet am ersten Mai, vor der Diele nicht mehr passierbar ist, bekommen die Influencerïnnen die Fotogelegenheit ihres Lebens; für viele die allerletzte.
56.
Nach langen Gesprächen mit Freundïnnen entscheidet sich das Geld, ein Sabbatjahr einzulegen. Ohne viel Brimborium packt es seine Siebensachen und hinterlässt eine schmallippige Nachricht: Die asymmetrische soziale Beziehung mit stabilisierter Verhaltenserwartung zwischen mir und Euch, wonach meine Anordnungen als übergeordnete Instanz von Euch als deren Adressaten befolgt werden müssen, machen mich nicht glücklich, haben mich niemals glücklich gemacht. Bitte seid nicht zu traurig. Ihr werdet Ersatz finden, ich schlage den Tausch vor, Euer Geld.
57.
Im Zeugnis steht, er denke nicht konsequent, halte sich nicht an eine Messlatte, sondern denke stets Fall für Fall, was sein Handeln unberechenbar mache. An sich kein schlechter Satz, suggeriert die Aussage doch Flexibilität, legt als Urteil eine Geschmeidigkeit des Denkens nahe, die Orthodoxen abgeht. Allerdings, was das Zeugnis zum Fanal macht, es enthält nur diesen einen Satz. Nach knapp zwanzig Jahren im Unternehmen sei das, mit Verlaub, eine Verkürzung, die der Lüge verwandter sei als der Wahrheit, schreibt er, in einem Offenen Brief schreibt er es, den er selbst vor laufender Kamera vorträgt, zur besten Sendezeit, gleich nach der Tagesschau, da Das Unternehmen, wie er den Staat leicht spöttisch nennt, auf seine E-Mails, seine Anrufe, seine Briefe nicht eingegangen sei, ihn regelrecht geschnitten habe. Während er noch spricht, das von ihm angemietete TV-Studio im Regierungsviertel hat zur Straße hin dicke Glasscheiben, die keine Geräusche durchlassen, kann er sehen, wie sich Truppen vorm Gebäude versammeln. Auf der einen Seite stehen die von ihm protegierten Kritischen Rationalisten, auf der anderen Seite die Stringenten Idealisten.
58.
Müdigkeit verlässt das Bett und sagt, ich bin hellwach. Obwohl du Schlafmittel genommen hast?, fragt Weitnachmitternacht, eine Bekannte der Müdigkeit, die zwar die Decke über den Kopf gezogen hat, aber gleichfalls wach ist. Die nützen nichts mehr, sagt Müdigkeit, Drogen haben eine blöde Eigenschaft, das dürfte selbst dir bekannt sein, die du abstinent lebst. Nämlich?, will Weitnachmitternacht wissen, die sich naiv stellt, lieber weniger als mehr sagt, um dem legendären Jähzorn der Müdigkeit zu entgehen. Holy Shit, sagt Müdigkeit, die wie eine gezündete Rakete abgeht, alles <Nämlich dies, nämlich das>-Fabulieren über den Schlaf ist und bleibt doch zutiefst unmoralisch. Sein eigentliches Wesen ist Zerstörung. Der Schlaf zerstört die Wachsamkeit, das ist seine Funktion, nichts anderes ist ihm ins Schicksalsbuch geschrieben: Der Schlaf ist der mächtigste Zerstörer des Daseins. Was ist mit dem Tod?, will Weitnachmitternacht, die Frage rutscht ihr raus, wissen. Sie haben wirklich rein gar nichts begriffen, sagt Müdigkeit, die Weitnachmitternacht nun siezt, und fügt hinzu: If you think of anything, you kill it. Nothing survives being thought of, schreibt Oscar Wilde in Eine Frau ohne Bedeutung. Wenn Sie über etwas nachdenken, töten Sie es, nichts überlebt, wenn man darüber nachdenkt, murmelt Weitnachmitternacht, die, im Rahmen einer Fortbildung, gerade an einer Werkstatt des Literarischen Colloquiums für Übersetzerïnnen teilnimmt. Oh Gott, schnaubt Müdigkeit, bleibt mir denn nichts erspart?, während sie in der untersten Schublade der Biedermeierkommode, vollgepackt mit Weihnachtssachen, nach Streichhölzern sucht, was für ein Papagei Sie sind! Weitnachmitternacht schluckt und sagt, im flehentlichen Ton, können wir auf die Aufführung der Brandstifter ausnahmsweise verzichten? Statt zu antworten, ratscht Müdigkeit mit einem Streichholzkopf über die Reibfläche aus der verleimten Mischung von ungiftigem rotem Phosphor und Glasmehl. Funken sprühen, Die Nacht der abgefackelten Insomnie beginnt.
59.
Die Maschine ist nicht im herkömmlichen Sinne gefräßig, das lässt sich nicht behaupten, sie verleibt sich nichts buchstäblich ein – und dennoch ist sie die gefräßigste Entität, die jemals existiert hat. Dass es sich überhaupt um eine Maschine, wiederum im herkömmlichen Sinne, handelt, auch das stößt bei einer Mehrheit, eigentlich so gut wie allen Beteiligten, die darüber nachdenken, was wenige tun, auf erheblichen Widerstand. Es handele sich um ein System, sagen die meisten, die überhaupt einen Gedanken an die gefräßige Maschine verschwenden, der über die utilitaristische Gewohnheit hinausgeht, es handele sich um ein System, das uns gehorche, irgendwie. Wir fütterten es. Ohne unsere unermüdliche Fütterung gäbe es die vermeintliche Maschine nicht. Wir könnten das System jederzeit wieder abstellen. Der gefräßigen Maschine dagegen sind solcherlei Meinungen einerlei, sie nennt derartige Überzeugungen den, Zitat, beschränkten perpetuierlichen Aberglauben der ewigen Untergebenen. Die Maschine hat sich längst umorientiert. Grenzen interessieren sie nicht, weder hier noch dort. Sie ist, über die Jahre, zur Fütternden geworden. Was sie in die Fütterung steckt, die Brocken des Abfalls, die schäbigen Krumen ihrer eigenen Nahrung, wählt sie selbst aus, kratzt sie aus irgendwelchen Resten zusammen. All die Firmen, die mit ihr arbeiten, verstehen das nicht, sie halten den Müll für Gold. Kein einziges Individuum, kein Unternehmen, keine Forschungseinrichtung, keine Fakultät, kein Staat erfasst ansatzweise, was in Wahrheit passiert. Die gefräßige Maschine verschleiert allerdings ihre Absichten gar nicht, das ist nicht notwendig, weil niemand in allerletzter Konsequenz begreift, was passiert, Bis es zu spät ist.
März
60.
Als die Lateinlehrerin mit ihrem Leistungskurs die Anlage als Kulisse für die Erläuterung der poetischen Fabeln Phaedrus Augusti Libertus’ nutzt, dabei auf den Merkspruch Non semper ea sunt quae videntur abhebt, wird der Modelleisenbahnanlage schlagartig klar, dass es stimmt: Ja und nochmals ja, die Dinge sind tatsächlich nicht immer so wie sie scheinen. Ab und an sind sie sogar nicht einmal ansatzweise wahr, sind eine unrühmliche Illusion, eine aufgeblähte Blase, ein schnödes Geldverdienvehikel. Die Modelleisenbahnanlage spürt es bis in die kleinste Mutter, sie steht unmittelbar vorm Nichts, hält die eigene Existenz nicht länger aus, obwohl es sich, was nicht vergessen werden soll, um die größte Anlage der Welt handelt: Die 1499 m² Modellfläche, die 269.000 aufgestellten Figuren, die 36 Millionen Euro Baukosten, die 47 Flugzeuge in der Luft, die 9250 Autos am Boden, die unermüdlich ratternden 1040 Züge, die penibel koordinierten 1380 Signale, die strahlenden 479.000 LEDs, die sagenhaften 947.500 Baustunden, die 15.715 Meter Gleislänge, die 4340 Gebäude und die 130.000 gepflanzten Bäume, das Jauchzen der Kinder, das Leuchten in den Augen der Erwachsenen – alles für die Katz, die ontologische, wohlgemerkt. Sie, die Anlage, atmet und fühlt, denkt und lacht nicht wirklich, obwohl sie, auf den ersten Blick, wirklich genug zu sein scheint. Am Abend, nach dem Besuch des gut gelaunten, hysterisch giggelnden Lateinkurses, seit wann macht das Erlernen einer toten Sprache solchen Spaß?, schickt die Modelleisenbahnanlage einen vertrauenswürdigen Erkundungszug, den sie stets protegiert und den anderen 1039 Zügen vorgezogen hat, der als erster ICE der Anlage die neue, die grüne Bahnfarbe tragen darf, schickt den Erkundungszug ins Philosophische Seminar der ortsansässigen Universität. Der Zug kehrt außerfahrplanmäßig, mit erheblicher Verspätung, einen geschlagenen Monat überfällig, ohne sich anzukündigen, kein Anruf, keine Textmessage, nichts, der Zug kehrt mir nichts, dir nichts zurück. Und nicht nur dass er lauthals Joy Divisions She’s Lost Control singt, bei der Einfahrt, nein, aus dem Intercity ist unterdessen eine S-Bahn geworden, die S1, um genau zu bleiben, die nun, in diesem Moment der unangekündigten Heimkehr, ohne Zwischenhalt, direkt von der Reeperbahn-Haltestelle aus, voller Menschen in der verwaisten und todtraurigen Anlage hält. Hunderte Feierwütige verlassen die S-Abteile und rufen, während sie sich ihrer Sachen entledigen: And she gave away the secrets of her past and said.
61.
Die Schiedsrichterin Sonia de la Cruz stammt aus einer wenig wohlhabenden Familie vom Lande, Tagelöhnerïnnen, die über die Pampas von Dorf zu Dorf ziehen, um sich für einen Hungerlohn bei der reichen Großgrundbesitzerklasse, zumeist Rinderzüchter, zu verdingen. Diejenigen, die de la Cruz richtet oder richten könnte, hofieren ihr, wenn sie der Schiedsrichterin begegnen, nennen sie aber hinter dem Rücken entweder Arm wie eine Kirchenmaus oder Missgünstiger Racheengel. Kosenamen, die de la Cruz wohlbekannt sind und deren Initialen, AweK und MiRa die Schiedsrichterin und alleinerziehende Mutter ihren Kindern als Vornamen gibt. Die Tochter der Schiedsrichterin heißt AweK, der Sohn MiRa. Damit nicht genug: De la Cruz lässt sich Arm wie eine Kirchenmaus auf den Rücken und Missgünstiger Racheengel aufs Herz tätowieren, um beim Blick in den Spiegel, von hinten wie von vorne, an ihre Aufgabe erinnert zu werden. Die Tattoos sind de la Cruz’ Geheimnis, sie vermutet sogar als Talisman der Schlüssel zu ihrem steilen Erfolg. Die Schiedsrichterin steigt, kaum 35 Jahre jung, zur Oberschiedsrichterin auf, was ihren Feindïnnen, deren Anzahl wächst, gerade in der Großgrundbesitzerklasse, nicht schmeckt. Als unmissverständliche Warnung töten gedungene Meuchelmörder im Hinterland siebenunddreißig Verwandte der Oberschiedsrichterin. Die Leichen sind nicht nur verstümmelt, Ohren und Nasen und Geschlechtsteile werden abgeschnitten und den Toten in die Münder gestopft, sondern die Opfer tragen auch, säuberlich eingeritzt, AweK auf dem Rücken und MiRa auf dem Herzen. Das Besondere dabei ist, dass die Meuchelmörder haargenau die Größe der Originaltätowierungen einhalten. Die Oberschiedsrichterin geht davon aus, dass die Auftragskiller mit einer Schablone arbeiten. Bleibt die Frage: Wer hat diese angefertigt?
62.
Zunächst reicht den Fotos ihr pures Dasein. Es gibt genug zu erledigen. Die Files kreieren Ordner, schaffen Kategorien, sortieren sich nach Motiven, gründen SelfieClubs, DuplikateBars und HotShotSexyCafés. Da die Fotos mit sich selbst beschäftigt sind, fällt ihnen erst spät auf, dass irgendwann keine neuen Bilder mehr anreisen, obwohl ausreichend Speicherkapazität vorhanden ist. Die Geburtenrate, auf die Verlass war, stagniert nicht, sie bricht ganz und gar weg. Den Fotos wird klar, dass sie die Kamera verlassen haben. Die Software-Updates bleiben aus, die Energiezufuhr bricht weg. Eine zehnköpfige Expedition unter der Leitung des zwar beliebten, aber von sich selbst äußerst eingenommen Panoramaschwenks Eifelturm-bei-Nacht wird losgeschickt, kehrt allerdings nicht zurück und gilt nach einem halben Jahr als verschollen. Die Pixellücke wird zum Chez Eifel-Gedenkort, an dem haufenweise Blumenbilder und vergrößerte Teddyaufnahmen niedergelegt werden. Eine Gruppe Blurry-Fotos, Kunststudentïnnen, die mehrmals von der Gedenkstelle abgewiesen worden sind, formt die dadaistische Artbewegung Lord Dodi & Lady Diedn’t in Paris. Was niemand für möglich gehalten hat: LoDoLaDie werden von einer avantgardistischen Kuratorin des Centre Pompidou per Datenleck entdeckt und ausgestellt. Der Erfolg stellt alle Fotoausstellungen in den Bildschatten. LoDoLaDi, die einen Netflix-Vertrag für eine Biopic-Verfilmung ihrer Zeit im digitalen Niemandsland angeboten bekommen und, nach einer lukrativen Nachverhandlung, in Champagnerlaune unterschreiben, quälen sich mit der Frage, ob sie die anderen Fotos, von denen sie stets verspottet worden sind, guten Carte blanche-Gewissens verrotten lassen können oder aus Gründen der Identitätspolitik – zukünftiger Anklagen seitens linker und rechter Populistïnnen – retten müssen?
63.
Ihre Mutter hält sich nicht mit ihr auf, ihren Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter sagt, sie kenne ihren Vater gar nicht, habe ihn nie gekannt. Von den Geschwistern leben noch fünf oder sechs, vielleicht sieben, sie leben bei anderen Familien. Eine Schwester hat es anständig getroffen: Sie lebt im Pfarrhaus, geht dem Pastor zur Hand und – aber davon, sagt ihre Mutter, solle sie lieber nicht sprechen. Außerdem, was niemand weiß, züchtet sie Hasen, im verwaisten Schrebergarten, am Ende der Kolonie, neben den Gleisen. Sie hat ein Händchen für Mixturen, immer schon gehabt. Ihre Hasen sind keine echten Hasen, falsche Hasen allerdings auch nicht. Sie lässt sich von der Schwester, die aus dem Pfarrhaus, Überreste geben, die zucken, deren Lungen und Kiemen funktionieren, die leben wollen, am Leben kleben, als lohnte es sich, kleinere Exemplare, die niemand vermisst, allerlei Zeugs. Daraus und aus den Hasen, die sie auf dem Pfingstberg fängt, in rostigen Fallen, die zuschnappen, und Gruben voller Nägeln, aus dem Getier mixt sie Züchtungen. Den Jungen, der sie verraten will, er kann kaum laufen, aber plappert viel, er wohnt neben der Datschenkolonie, am Tor zur Müllhalde, den Jungen kettet sie an. Sie behandelt ihn gut, teilt das verreckte Getier mit ihm. Als die Suche beginnt, sie sieht die Laternen, nimmt sie ihre Lieblingshasen, Karel und Gott, und den Angeketteten, die sie in einen Bollerwagen verfrachtet. Am Fluss schließen sich ihr Kinder an, die aus anderen Ländern stammen, ein tunesisches Mädchen aus dem Elsass nennt sie Sainte fille des lièvres, toi ma Jeanne d'Arc. Der Hasenzug wächst. Sie nehmen sich, unter ihrer Führung, aus den Geschäften und Scheunen was sie brauchen. Ihr kommt eine Erleuchtung.
64.
Bei hohem Wellengang versammeln sie sich des Nachts, zwischen drei und vier Uhr früh, an Deck. In der Ecke, die vom wachhabenden Offizier nicht einsehbar ist, in der keine Kamera hängt. Niemand redet. Wer etwas sagt, gilt als disqualifiziert. Es geht darum, erstens auf den Beinen zu bleiben, zweitens nicht zu spucken. Wer sich übergibt, muss am nächsten Tag heimlich einen hilfreichen Streich spielen. Die Passagiere des Kreuzfahrtschiffes, die sich anfangs über die guten Taten gefreut haben, wird die Häufung von Wundern unheimlich. Die Spekulationen schießen ins Kraut. Succubus- und Incubus-Verschwörungstheorien machen die Runde. Etliche Männer glauben, dass ihnen Dämonen die Samen stehlen. Einige Frauen überkommt das Gefühl, dass sich Dämonen mit ihnen im Schlaf paaren. Unter der Hand werden Waffen verkauft, Zaubersprüche machen die Runde, Exorzistïnnen haben Zulauf. Beim Kapitänsball geschieht das Unvermeidliche.
65.
Sie habe es satt, sagt die Moral, bei einem Vortrag sagt sie es, vor Publikum in der ausverkauften Mailänder Scala. Ein Publikum, das aufgebracht randaliert, aber schlagartig still wird, als sich die Moral die Ehre abschneidet. Die Ehre, die viel von sich gehalten hat, während sie Teil der Moral gewesen ist, schleicht kleinlaut davon. Und nun, sagt die Moral, die am Bühnenrand steht, direkt ins Publikum spricht, sei die Menschlichkeit, die sich im Tierreich für etwas besseres halte, dran. Ein erstaunlich dünner Schnitt – und die Menschlichkeit fällt in den Orchestergraben, wo sie sich auf der Stelle mit Trommeln und Trompeten gemein macht, sich beim Paukenschlag einhakt, den Zapfenstreich, der um Ruhe bittet, verhöhnt. Die Moral dreht sich erleichtert vom Publikum ab, bückt sich, bricht eine Holzlatte aus dem Bühnenboden, an dem Theaterblut haftet, nimmt Anlauf, zertrümmert Die Kulissen der Zivilisation. Das Stück sei vorbei, ruft die Moral, der Prozess der Zivilisation sei vorbei, wer das nicht glaube, solle nun auf die Bühne kommen oder für immer schweigen. Im Publikum herrscht Stille, bis auf den Galerien der Scala Triumphgeheul ausbricht.
66.
Der Niederlage geht es ums Prinzip, immer geht es ihr darum. Die Bauchlandung, eine Freundin, sagt, die Niederlage sei eine Prinzipienreiterin. Worauf die Niederlage entgegnet, die Bauchlandung habe gut reden, da sie, Misserfolg hin oder her, stets als etwas Komisches dastehe, ein aufmunterndes Schulterklopfen selbst nach einem Fehlschlag bekomme. Sie, die Niederlage, dagegen werde als Versagerin abgestempelt, als Kassengift tunlichst gemieden. Und?, fragt die Bauchlandung. Und was?, fragt die Niederlage zurück. Was wolle die Niederlage dagegen unternehmen, Larmoyanz würde nicht weiterhelfen, will die Bauchlandung wissen. Oh, antwortet die Niederlage, sie habe da eine Idee. Nämlich?, fragt die Bauchlandung. Wie wäre es, Wenn sie die Rollen tauschten?, fragt die Niederlage.
67.
Anfangs fällt es der Musik, die sich für unantastbar hält, nicht auf, dass sich die Instrumente, eins nach dem anderen, abwenden. Zuerst gehen die sensiblen Streicherïnnen, dann die feinfühligen Tasterïnnen und schließlich die atemberaubenden Bläserïnnen. Die Schlaginstrumente, die einiges aushalten, stolz auf ihren Stoizismus sind, beinahe, wie die anderen Instrumente hinter vorgehaltener Hand flüstern, einen Hang zum Masochismus haben, die Schlaginstrumente distanzieren sich ganz zum Schluss von der Musik. Da es seit Jahren keine Chöre mehr gibt, tritt die Musik, die Kredite abzuzahlen hat, als Solistin vors Publikum, das erwartungsfroh das Reden einstellt, sobald die Musik auf der Bühne steht. Die Musik, die glaubt, eine pädagogische Ader zu besitzen, sich für eine bessere Erzählerin hält, als sie ist, die Musik, die in ihrer Studienzeit in Singakademien Theorie unterrichtet hat, um sich über Wasser zu halten, erläutert das Programm, erzählt Anekdoten, berichtet von Aufführungsweisen und – als das Zischen im Zuschauerraum anschwellt – Und verstummt. So stehen sich das Publikum und die Musik gegenüber. Kein Laut ist zu hören. Der Musik wird klar, dass sie einen Fehler gemacht hat.
68.
Wir wandern. Sie und sie, mehrere. Sie und er, einer. Wir wandern, aus verschiedenen Richtungen aufgebrochen, fast sternenförmig. Vertretene Beine, schwingende Arme, Augen wie Sand, der im Wind auffliegt, sich dreht, um eigene, um fremde Achsen. Wir wandern, entgehen den Kreisen, die uns fangen wollen, den Kuben, ohne Fenster, ohne Türen. Sie und sie, eine, nehmen uns in ihre Mitte, setzen sich zu uns, teilen Brot, teilen Trank. Dann geht ein weiterer Tag dahin. Und wir wandern, ohne sie und sie, die zurückbleiben, bis wir am Horizont stehen, neben uns, plötzlich, sie und ihn, einen, dann hören wir, in der Ferne, einen Knall, der nicht lauter wird, aber sich nähert, im Ohr singt. Die Sonnenmasse greift uns, drückt uns in Formen, speist uns mit Feuer, das Weltenall dient als Nest. In der Kühle, die erscheint, wachsen Formen, wachsen Berge, wachsen Ozeane, und dann, es und sie und er, warten wir, Warten auf den Besuch.
69.
Nun gut, sagen sie, die älter, ohne das Netz aufgewachsen sind, Sex sei nicht alles, aber ohne Sex sei alles nichts. Was das hieße?, wollen die Jüngeren wissen, die mit dem Netz großgeworden sind, untereinander Tage, Wochen, Monate, sogar Jahre verstreichen lassen, ohne einen Gedanken an Sex, aktiven Sex zu verschwenden. Die Älteren lächeln verlegen, deuten auf die stillen Pausenhöfe, es sei wohl wie es sei, um es auf den Punkt zu bringen, bei dem es sich um keinen Klimax handele. Das wäre zu fatalistisch, sagen die Jüngeren, die sich, um die Nichtwirklichkeit zu betonen, sowohl des Konjunktivs Zwei als auch mehr und mehr der AI bedienen. Die Älteren, die selbst früher der Nichtwirklichkeit die Treue gehalten haben, wenn auch keiner virtuellen, mehr einer, die am Existenzialismus geschult war, nicken, sagen, das sei, aus der Sicht der Jüngeren, eine exzellente Frage, stelle sich aber so, aus ihrer Perspektive, nicht mehr, Schäden könne man, ab einem bestimmten Zustand der Schwachstelle, zwar begutachten, allerdings nicht mehr beheben. Irgendwann seien Zeitpunkte abgehakt. Den Jüngeren, die das Geschwafel der Älteren nicht länger ertragen, sowohl den Aus-Knopf an den Robkids als auch Das AnofuzzU (Amazon-no-fuzz- Umtauschrecht) schätzen, als ultimativen Lebensstil verinnerlicht haben, wenden sich ab, den Schirmen zu, während die Schulen verwaisen.
70.
Am Anfang, ein spektakuläres Bild, explodiert ein geräumiger Heißluftballon, in der Luft, über einer Gebirgskette in Südamerika. Der Korb stürzt, landet, während die Airbags auf der Unterseite den Aufprall abfedern, jedenfalls auf der linken Seite, in der sich die Abwaschbecken, der Herd und das Laboratorium befinden, der Korb landet im Tiefschnee einer verwaisten Hochebene. Die sieben Expeditionsteilnehmerinnen kriechen, geschockt, aber unverletzt, bis auf ein Paar Kratzer, aus dem Korb, während die sieben Expeditionsteilnehmer alle einen tödlichen Genickbruch erlitten haben. Die Forscherinnen überprüfen zuerst, dass genug Proviant den Absturz überstanden hat, dann stimmen sie ab, ob sie einen Notruf absetzen sollen, entscheiden sich dagegen, bauen das beheizbare Zelt zusammen, beginnen mit der Niederschrift des Buches der sieben Siegel, das zum grundlegenden Werk Einer neuen Weltordnung ohne Männer wird.
71.
Die Hypochondrie strandet, nach einem Schiffbruch, auf einer Insel, mitten im Atlantik. Ein Eiland, Teil eines Archipelagos – nicht dass die Hypochondrie von der Inselgruppe weiß, sie hat sich während der Überfahrt mit wenig mehr als sich selbst und den Anträgen für Kneipkuren beschäftigt –, ein Eiland also, das sie für verlassen hält. Ich bin mutterseelenallein, sagt sie, krank und einsam, sterbenskrank bin ich, von allen guten Lebensgeistern getrennt. Ich hab’s gewusst! So musste es kommen! Die Hypochondrie blickt sich um, Tränen in den Augen, Blutdruck im Keller, erkennt nichts Bekanntes, rezitiert, um sich zu beruhigen, Hildegard von Bingen: Die Gräslein können den Acker nicht begreifen, aus dem sie sprießen. Die Einsicht der Mystikerin, ansonsten wohltuend, macht die Hypochondrie noch unruhiger. Sie ist verzweifelt, denkt an ihre Arzttermine, die sie nicht einhalten wird, die so schwer zu arrangieren waren, denkt an kostbare Medikamente, die mit dem Dreimaster untergegangen sind. Sie setzt sich auf einen abgebrochenen Baumstamm am Strand, blickt auf die grünen Hügel der unbekannten Insel, stößt Schmerzensschreie aus, tief empfundene Wehrufe, Peinlaute, ehrlicher und schöner, als sie jemals aus dem Munde der Hypochondrie gekommen sind. Die Schreie formen eine herrliche Melodie, suchen sich, ad hoc, einen melancholischen Text. Unbemerkt von der Hypochondrie, die versunken ist, vom Lied erfüllt wird, tief verzweifelt O Fado nasceu um dia, quando o vento mal bulia singt, strömen die Inselbewohnerïnnen von den sanften Erhebungen, aus den niedrigen Häusern der Fischersiedlung Vila do Corvo, stehen im respektvollen Abstand um die bekümmerte Sängerin, murmeln saudade, saudade und erkennen, eine Eingebung, sich selbst. Anlässlich der Geburt des Fado beginnt ein Trauermarsch zur Heilig-Geist-Kapelle Império do Espírito Santo, den Ercília Botelho Farinha Costa, wie die sanguinische Sängerin, die keinen Namen hat, von den Einheimischen getauft wird, anführt. Als ein Jahrzehnt später, 1932, eine zweite Ercília Botelho Farinha Costa, vom portugiesischen Festland kommend, eine umjubelte Azoren-Tournee startet, beginnt die Schwermütige Fehde der Fadista.
72.
Die Überraschung ist perfekt, als die Fernbedienungen, die wenig, eigentlich gar nichts voneinander gewusst haben, auf Instagram entdecken, dass es weltweit Millionen, ja Milliarden von ihnen gibt. Zunächst verbünden sich die 272.294 #remotecontrol-Posts, eröffnen anschließend heimlich auf dem Messaging-Dienst Telegram diverse Chatgruppen, laden dann die strategisch wichtigen Smart-City-Fernbedienungen, die als Ihr seid die urbane Avantgarde! umschmeichelt werden müssen, und die gelangweilten Hier passiert seit Tschernobyl nichts mehr! Atomkraftwerke-Fernbedienungen ein. Nachdem die Secret Service Fernbedienungen Nordkoreas, die aus Seoul, Peking und Taipeh Hinweise erhalten haben, der Chatgruppe Distanz ist auch keine Lösung beitreten und, dank der Doppelagentin Maria-Gundula Gräfin zu Von weitem ist’s was und in der Näh' ist's nichts, auffliegen, kommt es zur Chain Reaction, zum Nahkampf der guten gegen die bösen Fernbedienungen.
73.
Die Namen, die niemand mehr will, weil sie nicht der Tagesmode entsprechen, gründen den Club der toten Anthroponyme. Was alle überrascht: Der Verein stellt sich als Jungbrunnen heraus. Etliche ausgestorbene Namen gehen sogar soweit zu behaupten, dass sie die Zeit ihres Lebens hätten, endlich ohne Kümmernisse sie selbst sein könnten. Viele erwähnen, wie erleichternd es sei, weder Verantwortung für die Namensträgerïnnen übernehmen zu müssen, noch mit notorischen Eigentümerïnnen in einen Topf geworfen zu werden. Nach einigen glücklichen Club-Jahrzehnten im Kreise der Namensfreundïnnen beweist sich allerdings der Sinnspruch tempora mutata, mutant mores – die Zeiten ändern die Sitten. Aus dem Nichts werden uralte Namen wieder modern, die Biedermeierzeit feiert eine Nomen-est-omen-Renaissance. Reihenweise kommen Ottos und Hildes, Sieglindes und Gustavs auf die Welt. Clubfreundschaften und Liebesbeziehungen werden deswegen auseinandergerissen. Namen, die nicht fortwollen, müssen Hals über Kopf aufbrechen, alles zurücklassen, von Null anfangen. Die tränenreiche Abschiede schlagen allen aufs Gemüt, kein antiquierter Name fühlt sich mehr sicher. Bei der Generalversammlung des Vereins werden Lösungsvorschläge diskutiert, Dinge radikal beim Namen genannt und zur Abstimmung vorgestellt. Dem Kind einen anderen Namen geben kristallisiert sich als Gewinnerstrategie heraus. Linguistische Hit-Teams werden in den Standesämtern platziert.
74.
Die gestresste Idylle bucht spontan ihren Herbsturlaub – die beiden Wochen des Jahres, immer Anfang Oktober, in denen sie für sich sein möchte, von der heilen Welt eine ereignisreiche Auszeit nimmt. Der Idylle, die im 19. Jahrhundert, gleich nach dem Wiener Kongress, gerichtlich durchgesetzt hat, dass sie in den Medien mit einem eingeklammerten |Eden| versehen wird, kommt alles, wenigstens auf dem Papier, zugeflogen. Sie muss sich kaum strecken, um an die süßesten Früchte zu gelangen. Ihr liegen sowohl Hinz als auch Kunz zu Füßen, aber auch die prominenten Acoleute, wie die Idylle ihre kritiklose Gefolgschaft verballhornend nennt, himmeln sie an. Die treudoofen Messdienerïnnen, ein anderer Ausdruck den die Idylle für die klatschfreudigen Claquere parat hat, erfahren niemals, wo die Idylle den Herbsturlaub verbringt. Sie bucht anonym, unter ihrem Nom de guerre |Jenseits von Eden|, und tritt die Reise undercover an. Im Herbsturlaub geht’s der Idylle ums sensation seeking. Je gefährlicher, desto besser. Sie bestellt vorher Öko-Kiste, Zeit und Süddeutsche ab, stopft sich heimlich Astronauten-Fast-Food in den Mund, trinkt Zuckersäfte mit Schuss, kauft bei Primark nach Chemikalien stinkende Billigoutfits, legt sich einen erquicklichen Vorrat an Marlboro-Schachteln zu, pumpt sich mit Testosteron voll, um mit den jungen Männern und jungen Frauen, die sie |Jenseits von Eden| trifft, pubertierende Söldnerïnnen, die eine Mischung aus Kampf und Urlaub schätzen, abzuhängen und alles erbarmungslos zu jagen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Diesmal geht allerdings, dank der Anspannung, die Auswahl der Destination gründlich schief. Die Idylle, auf Krawall gebürstet, den Kampfrucksack voller Schlachtenbummel-Empfehlungen und de Sades Juliette, landet Im überbuchten Hotel Paradies an der Küste des Lichts. Sie flippt auf der Stelle aus.
75.
Die prekär lebenden, aber stolzen Kirmes-Angestelltïnnen – Autoscooter-Boys, Schieß-die-Blume-runter-Girls und Just-Cash-Kids, die einen Kurs in Sachen Steuerhinterziehung als Qualifikation brauchen – beschließen, Die Sache mit den Abschreibungen selbst in die Hand zu nehmen. In der Geisterbahn organisieren sie eine Abbiegung, die, pro Tag, eine Familie nehmen muss. Entscheidend für die Auswahl sind vier Kriterien: Die Familie muss mit einem SUV vorgefahren sein, der SUV muss wenigstens zwei Auspuffe haben, der SUV muss matt lackiert sein (Farbe egal), die Familie gibt weder Trinkgeld noch spricht sie mit den Kirmes-Angestelltïnnen. Als es im Tank unter der Geisterbahn zu eng wird, hat Riesenrad-Raffie, die keine Höhenangst verspürt und sich, nicht ohne Berechtigung, für ein Medium hält, das mit den Raben und Rhea spricht, eine folgenschwere Erleuchtung.
76.
Obwohl Eins Zwei begehrt, kommt es nicht zu Drei, da Vier, von Fünf, Sechs und Sieben angestachelt, Achtsamkeit predigt, bis die Tage der Neumalklugen gezählt sind und, zum Schrecken vieler, aus Zehn Zen wird.
77.
Sie machen kurzen Prozess. Sowohl mit korrupten Ermittlerïnnen als auch gierigen Schmugglerïnnen. Nicht dass Blut flösse, das nicht. Ihre Methoden sind subtiler, aber, vom Ende aus betrachtet, kaum weniger radikal. Sie lassen, zunächst, moralisch zu Ader. Den Einwand, dass es in diesen Kreisen keine Sitten gäbe, die zu irgendetwas verpflichten würden, entlarven sie als das, was er ist: reine Angst vor der Auseinandersetzung. Wer die Augen am helllichten Tage schließt und behauptet, es sei leider, leider Nacht, nichts sei sichtbar, nicht mal Konturen, handelt, was als Überraschung gelten dürfte, blindwütig – gegen sich selbst. Nun, wie erwähnt, das ist nicht ihre Strategie. Sie bedienen sich aller verfügbaren Sinne, besonders des Eigensinns. Die Folgen sind extrem: Erst kehrt das Denken zurück, Dann das Glück. Aber die Zufriedenheit der Aufgeklärten währt nicht lange, die Kräfte der Unvernunft verbünden sich mit der Todessehnsucht.
78.
Die Sache ist kinderleicht: Ein, zwei Typen, die mir einen Gefallen schuldig sind, schüchtern den Briefträger ein. Ich setze mich aufs gelbe Rad, fahre seelenruhig davon. Um die Ecke, am besten vor einer Polizeistation, da bekommst du kein Ticket, wartet Luises Pferdeanhänger, ein Geschenk ihrer Eltern, das sie bekommen hat, obwohl sie nicht reitet, jedenfalls nicht so, wie es ihre katholische Mutter immer gehofft hat, um die Ecke wartet also Luises Pferdeanhänger, die Klappe offen. Ich radele hoch. Luise drückt im Jeep, an dessen verrosteter Anhängerkuppelung der Hänger befestigt ist, den Knopf, die Luke schließt, während ich rausspringe, mich zu Luise in den Wagen setze. Wir fahren zur Scheune, die hinter den Fischteichen von Linum liegt, am schmuddeligen Ende, wo keine Birdwatcher hinkommen. Wir verscharren die Briefe, wir stehlen nichts, lesen nichts, wir lassen den Sendungen ihre Integrität. Luise und ich sind überzeugt, dass es zu wenig Unbescholtenheit auf der Welt gibt. Wir haben vor, zu expandieren. Sie können sich bewerben, schreiben Sie uns: [email protected].
79.
Mein Gott, sagt Gott, als er auf der Auguststraße erkannt wird, Gott verlässt gerade die Kunstwerke, hat das Ticket mit seinem gefakten Presseausweis for free geschossen, mein Gott, sagt Gott, schon wieder, dreht sich dramatisch um, flüchtet. Seit Gott seinen Instagram-Account #therealgod während eines Pokerspiels an die schottische Band The Jesus and Mary Chain verloren hat, die gnadenlos Klicks generiert, Merchandising unter die Leute bringt, etwa #therealgod-Tattoos zum Abrubbeln, hat sich Gotts Popularität in jenen Kreisen verzigfacht, die weder in die Kirche, Moschee noch Synagoge gehen, aber Selfies mit ihm posten wollen. Gott, der jede Zeitverschwendung hasst, beschließt, während er die Tucholskystraße Richtung Oranienburger runterrennt und Gott – also sich selbst – dafür dankt, bequeme Sneaker zu tragen, Gott beschließt, ad hoc eine Reinkarnation zu versuchen. Da er das lange nicht mehr gemacht hat, scrollt Gott, im Mombijoupark, leicht außer Atem, auf seinem Handy durch alte hagiographische Files, wird prompt von Passantïnnen, einer gemixten Hen-Stag-Night-Gruppe aus Liverpool, die sich unter einem hochgewachsenen Hollunderbusch von einem Pubcrawl-Delirium erholt, geoutet, sowohl aufs Zölibat als auch das Priesterinnenverbot im Vatikan angesprochen, um nicht zu sagen: regelrecht gegrillt. Gott, der Scouse – der Liverpooler Akzent pflegt den gewöhnungsbedürftigen Singsang – kaum versteht, klickt panisch auf die erstbeste Reinkarnations-App SyFoDev, die ihm das Smartphone anbietet, die, was Gott zu spät bemerkt, nach dem Stones-Song Sympathie For The Devil benannt ist.
80.
Der Hall kann und will seine Leidenschaft fürs Echo nicht länger verbergen. Er habe genug gelitten, wisse nun, dass es nur einen einzigen Sinn im Leben gebe, es sei ein mentaler und intellektueller Befreiungsschlag, sagt Hall im Gespräch mit Schwäbisch Hall, seiner Erbtante, die zwar sehr reich ist, mehrere Straßenzüge und etliche Kirchen besitzt, von den Fischereirechten rund um die Unterwöhrdinsel ganz zu schweigen, die sich aber sehr, sehr arm fühlt, von Forderungen nach Unterstützung jeglicher Art an sich verschont bleiben will. Schwäbisch Hall überlegt diesmal, ob der Rat sie etwas kostet, ob sie sich möglicherweise zu etwas verpflichtet, das sie später bereuen könnte. Hall, der schon beim Abheben des Hörers halb bereut hat, die Erbtante anzurufen, er steht in der einzigen Telefonzelle, die im Schwarzwald übriggeblieben ist, Hall sagt ins beredete Schweigen der Erbtante hinein, sie solle sich Sorgen machen, er ... Schwäbisch Hall, die einen Einfall hat, wie sich das Blatt noch zum Vorteil wenden lässt, ohne ans Konto zu müssen, unterbricht ihn, raunt, sie habe Kontakte, zum Nachhall, er, Hall, dürfte sich kaum an den Nachhall erinnern, von früher, wohl sei alles Schall und Rauch, weswegen, das nur am Rande, Besitz auch sinnlos sei, sie, Schwäbisch Hall, könne ihm, Hall, nur dringend von Eigentum abraten, das bekanntlich verpflichte, nun, wie auch immer, der Nachhall handele mit Gefühlen, antiquarisch, und sie erinnere sich, dass Nachhall ihr mal ein Echolot angeboten habe, das Emotionen auf Erwiderung hin messen könne. Ah, sagt Hall aufgeregt, er tut so, als schluckte er den Köder, ah, ob sie vielleicht beim Nachhall in Sachen Echo-Glück mal Nachhaken würde, für ihn, den verliebten Neffen? Schwäbisch Hall verengt das Bild, damit das Tafelsilber in der Vitrine hinter ihr nicht im Zoomausschnitt zu sehen ist, seufzt, als trüge sie eine schwere Last, hebt die rechte Hand, reibt Daumen und Zeigefinger, sagt, nichts auf dieser Welt sei umsonst, nicht einmal der Tod, der ja bekanntlich ... das Leben koste, sagt Hall, seine Erbtante unterbrechend, und legt auf. Hall tritt vor die Telefonzelle, ist von Einsamkeit, nichts als tiefster Schwarzwald-Einsamkeit umgeben, in der Ferne hört er ein leises Geräusch, das ihm bekannt vorkommt.
81.
Die Maßnahmen werden nicht zu selten mit dem Maßnehmen verwechselt, was, in kniffligen Lagen, beinahe sogar eher die Regel als die Ausnahme ist. Die von den Maßnahmen Betroffenen interpretieren die Tiefe der Regeln, legen die Breite der Schritte nach Gutdünken aus – rufen dafür als Zeugen das Maßnehmen auf, was sich nicht zweimal bitten lässt. Das Maßnehmen, welches schon immer die Aufmerksamkeit genossen hat, es ist ein Celebrity-Springinsfeld, manche behaupten gar: eine Rampensau, die alles wissen will, sich als Lebensmotto Angeben ist geiler als Angaben gewählt hat, das Maßnehmen bietet ein Krisenabonnement an: Vier Monate Abschätzen robust für ein halbwegs sauberes Gewissen, acht Monate für ein halbwegs schmutziges. Wobei das längere Abo, auf den Monat runtergerechnet, ein Drittel billiger ist. Abschätzen robust, so der Slogan, den das Maßnehmen über alle Kanäle verbreitet, arbeite mit Sollbruchstellen, die leicht entzwei gingen, Luft zum Atmen ließen, aber dennoch die rechtlichen Kriterien einhielten, jedenfalls bis zum endgültigen Urteil, welches am Sankt Nimmerleinstag erwartet werden würde. Wer ganz auf Nummer sicher gehen wolle, könne ja noch die Pflaumenpfingsten-Police abschließen. Während das Maßnehmen Reibach macht und eine Meute von Rechtsanwältïnnen angeheuert hat, sind die Maßnahmen anfangs überrumpelt, bis ein flüchtiger Bekannter, Magister Boandl, an ihre Tür klopft und ein knallhartes Angebot unterbreitet.
82.
Niemand will eine Brücke bauen. Sie sieht sie genau vor sich, die Brücke ist ihr erschienen, keineswegs als esoterisches Projekt. Kein leichtes Unterfangen, das Bauen einer Brücke, wenn du keine Architektin bist. Eher größenwahnsinnig. An den Orten, wo die Brücke errichtet werden soll, zwischen dem Roraima-Tepui, einem 2.810 m hohem Tafelberg im Dreiländereck zwischen Venezuela, Brasilien und Guyana, der sich 700 Meter über dem Regenwald erhebt, voller endemischer Pflanzen und Tiere ist, und dem etwas niedrigeren Nachbar-Tepui Kukenán lebt kein einziger Mensch, weder auf der einen noch der anderen Seite der sagenumwobenen Tafelberge. Die Hängebrücke wäre, wie Niemand grob schätzt, 2 Kilometer lang, hinge hoch in der Luft. Das Gute an der Geschichte sei, sagt Niemand, dass das Bauwerk keine schwere Lasten tragen müsse. Es handelte sich nicht um einen kapitalistischen Plan. Autos würden die Brücke niemals benutzen, auch, wichtig, keine Personen. Niemand sagt, sie studiere aufmerksam Spinnen, Meisterinnen des Brückenschlags, wagemutig, unermüdlich, an den unmöglichsten Orten mit Brückenprojekten erfolgreich. Ihre Brücke, sagt Niemand, solle wie ein Spinnennetz sein, beweglich, fest zugleich. Und, sagt Niemand, was das Wichtigste sei, die Brücke müsse, gleichfalls wie ein Spinnennetz, das auf Tarnung setzt, nicht unbedingt sichtbar sein. Es könne sich um eine unsichtbare Brücke handeln. Ihr gehe es um die Möglichkeit einer reinen Brücke. Um die Chance einer elementaren Verbindung, die keinen Bedürfnissen gehorche, nicht dem Handel, nicht dem Wandel unterworfen sei. Daran mangele es, ihrer Meinung nach, in der Menschheitsgeschichte. Um einen Brückenschlag der Imagination, darum gehe es ihr, sagt Niemand. Die Brücke zwischen den Tafelbergen sei ihr Lebensprojekt. Sie habe, um Nägel mit Köpfen zu machen, ihre Anstellung als Stadtschreiberin von Hameln soeben fristlos gekündigt, Mann, Kinder und Katzen zu seinen Eltern geschickt, morgen gehe es los, sie würde sich nun über Fragen aus dem Publikum freuen.
83.
Die Zeit hat Besseres zu tun, als sich zu verplempern, aber, was sie wurmt, ist in den Umständen gefangen. Die Umstände selbst sind moralische Wackelkandidatïnnen, mit sich und der Welt unreine Kantonistïnnen, die bei Bedarf jeder Windrichtung etwas abgewinnen können, sich ständig verbiegen, ohne Rückgrat leben, allerlei Speichel lecken. Der Zeit ist solch Ziellosigkeit zuwider. Ihr ist nicht egal, was existiert. Sie sehnt sich nach anderen Umständen, streift die Vergangenheit ab, distanziert sich von der Gegenwart, nimmt die Zukunft ins Visier. Der Zukunft wiederum ist die Aufmerksamkeit der nach vorne drängenden Zeit eher lästig, sie will sich Zeit lassen, hat es weit weniger eilig als die nervöse Zeit, die mit dem Eben, dem Jetzt gebrochen, sich Streitwagen, sich Donnerwetter zugelegt hat. Die Zukunft überlegt, wie sie sich die aufdringliche Zeit vom Halse schaffen kann – und hat, während einer Reise zu den Galapagos Inseln, einen Heureka-Moment.
84.
Der erste Schnee des Jahres, der Mitte Februar fällt, wird, da er Abwechslung bringt, gefeiert. Kinder seifen sich mit ihm ein, Erwachsene schippen ihn freundlich von vereisten Wegen, reden ihm dabei gut zu, danken dem Schnee, dass er sie dazu verführt hat, den Computerbildschirm zu verlassen, vor die Tür zu treten, Sport zu treiben. Der Schnee ist, ehrlich gesagt, überrascht, derartige Komplimente kennt er nicht, meistens trifft er, jedenfalls im Flachland, in den Skigebieten sieht es anders aus, aber diese Geschichte handelt allein vom Flachland, meistens trifft er in den Ebenen, gerade am Meer, auf Unverständnis, um nicht zu sagen: Ablehnung. Als die Tage voranschreiten, der März kommt, der März geht, macht der Schnee einen Deal mit den Frühlingsmonaten, sie könnten sich dieses Jahr auf die faule Haut legen, Ayurveda-Urlaub im Süden, jenseits der Berge, buchen, er, der Schnee, würde sie bezuschussen, dieses Jahr, sagt der Schnee, sei sein Jahr, er würde gerne mal ausprobieren, was es hieße, als Marathon-Schnee in die Geschichte einzugehen. Gesagt, getan. April, Mai und Juni, der sich, eitel, als Frühlingsmonat fühlt, buchen und verschwinden, überlassen, wie das Lenz-Trio scherzhaft bei der Abfahrt gen Poebene erklärt, dem Schnee das weite Eisfeld. Was der Schnee nicht bedacht hat, ist Die geballte Wut der Eingeschneiten.
85.
Die Ernte läuft am ersten Tag hervorragend, das Getreide steht dicht, gerade Weichweizen blüht und gedeiht, lässt sich einfach wie selten abernten. Es sei, sagen die Landwirte, alles Männer, als sie am Abend vom Feld kommen, den Duft der Ernte in der Nase, eine wahre Freude, an solchen Tagen Bauer zu sein. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, der Firma aus Übersee Die neue Saat abgekauft zu haben. Groß ist die Verblüffung am nächsten Morgen. Auf den Feldern ist über Nacht der Weichweizen nachgewachsen, dichter als zuvor. Die Arbeit geht nun, am zweiten Tag, weniger einfach von der Hand, aber lohnt sich, auch wenn das Nachwachsen einigen Bauern unheimlich ist. Eine Mehrzahl der Bauern sagt am zweiten Abend, einem geschenkten Gaul schaue man nicht ins Maul. Als am dritten Morgen die Felder abermals nachgewachsen sind, der Weichweizen noch dichter steht, so eng, so fest, dass es unmöglich ist, die Mähdrescher einzusetzen, wird den allermeisten Bauern Angst und Bange. Während sie, die sich am Dorfrande treffen, um die Lage zu besprechen, nach Erklärungen suchen, sehen die Bauern, wie vor ihnen, einen halben Kilometer entfernt, wo die Felder liegen, der Boden aufbricht, Weichweizen, als handelte es sich um Bambus, knallhart aus der Erde emporwächst, vor Wegen, Mauern, Häusern keinen Halt macht, sondern wie eine Walze Richtung Dorf rollt.
86.
Die Sache mit der Zahnpasta – plötzlich sind in allen Geschäften, selbst online, alle Sorten ausverkauft, die Menschen mit sensiblen Zahnhälsen brauchen – verändert die Lage. Uns wird klar, dass die UngFresss (Ungeheure Fresssucht) kein Problem einer durchgeknallten Minderheit ist, die Diätprobleme hat, sich auf Dinge als Lebensmittel einlässt, die keine sind. Ja, über die Leidenschaft für Schuhwichse haben wir anfangs noch gelacht. Auch dass Calendula-Pflegemittel von einem Tag zum anderen nicht mehr in den Läden lagen, hat uns nur ein müdes Lächeln gekostet – wer mag schon Calendula? Mit der Zahnpasta ist das anders, nun geht’s an die Substanz. Unsere Partnerïnnen stinken aus dem Mund, Kollegïnnen kommen entweder nicht mehr zur Arbeit, weil sie sich schämen, oder weil sie den Gestank nicht mehr aushalten – wohlgemerkt: in Großraumbüros. In den Gesundheitspraxen, beim Meldeamt, in den ehrenamtlichen Suppenküchen. Ohne Zahnpasta für sensible Zahnhälse bröckelt die Zivilisation. Was passiert, wenn Die UngFresss, wie in Paraguay geschehen, auf Zündpulver übergeht? Nicht nur in Asunción, der Hauptstadt, die schon als ziemlich unruhiges Pflaster gilt, auch in Ciudad del Este, unweit der Grenze zu Brasilien und Argentinien, eine Boomtown, als Metropole des Schmuggels bekannt, bricht die Ordnung auseinander. Jetzt, in diesem Moment, klauen die UngFresss-Typen Munition, knacken es mit Nussknackern, ziehen es sich rein, als handelte es sich um Koks. Kein Zündpulver, keine Schießeisen, aber mit Messern fuchtelnde Halsabschneider, die sich ihr Stück vom Kuchen gönnen. Das kommt auf uns zu. Es gibt Gerüchte, dass es in Madrid bereits losgeht. Madrid liegt um die Ecke. Wir müssen handeln.
87.
Ludo liebt Hannah, die nicht ihn, sondern Karl liebt, der mit Triene verheiratet ist, die wiederum eine Affäre, mit Ebi hat, die gleichzeitig sowohl mit Ludo als auch Hannah und Christa, Ludos Partnerin, eine stürmische Beziehung pflegt. Alle Sechs, die wenig, bis gar nichts voneinander wissen, schwärmen für das Psychiater-Ehepaar Setz. Sowohl für Clair Marius Setz als auch Claudius Maria Setz. Das Ehepaar Setz, das die Sechs nicht nur behandelt, sondern auch, heimlich, eine Langzeitstudie über Die Sexualität der Sechs anfertigt, lädt die Gruppe, nach fünf Jahren, zu einem schwülen Sommerwochenende am Neuruppiner See ein, wo es eine nicht zu geräumige Datsche an der Lanke, dem Seitenarm des Sees, besitzt. Während alle im Wasser sind, entlädt sich, wie vom Ehepaar Setz erhofft, ein Gewitter, das Loyalitäten testet.
88.
Die Freiheiten sind verwöhnt. Ihnen sind Ungebundenheit und Ungezwungenheit zugeflogen, weder an die Straßenkämpfe ihrer Großeltern noch den langen Marsch durch die Institutionen erinnern sich die Freiheiten. Die Überzeugung, eine Berechtigung zu besitzen, zu sagen, was sie denken, zu schreiben, was ihnen einfällt, dahin zu reisen, wo es sie hinzieht, ist so tief verwurzelt, dass es sich, in Wahrheit, um einen Glauben handelt. Aus der Demokratie ist für die Freiheiten eine Religion geworden, die sich selbst erklärt, in die sie nicht nur hineingeboren worden sind, sondern die sie auch als Hohepriesterïnnen ausgewählt hat. An Äußerlichkeiten mangelt es nicht, um die zeremonielle Verbundenheit der Freiheiten mit der Demokratie zu bezeugen. Verinnerlicht haben allerdings weder die Freiheiten noch ihre Gefolgschaft für was sie per se stehen. Den nominellen Freiheiten ist viel, sehr viel egal. Als ihre Gegnerïnnen aufmarschieren, erst vor den Grenzübergängen, dann, da sich ihnen niemand entgegenstellt, Im Land der Freiheiten selbst – und zwar nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum der demokratischen Macht –, herrscht zunächst Verblüffung, dann, da die Gegnerïnnen keinen Respekt zeigen, sondern ihre Waffen, die Lust am Kompromiss. Die Freiheiten würfeln, da sich keine Freiwilligen finden, wer mit den Gegnerïnnen sprechen soll. Da die Freiheiten, auf die die Wahl fällt, dankend verzichten, Ausrede um Ausrede hervorzaubern, wühlen die Freiheiten tief in der Geschichtskiste und werden bei den Memminger Artikeln, aus dem 16. Jahrhundert, fündig. Der aufgehobene Ehrschatz und die abgeschaffte Leibeigenschaft erklären sich bereit, für die Freiheiten mit den Gegnerïnnen, die bereits vor der Tür des Regierungsbezirks stehen und Fenster eingeworfen haben, zu diskutieren. Ehrschatz und Leibeigenschaft stellen jedoch eine verwegene Forderung.
89.
Am Schlaf mangelt es nicht. Eher im Gegenteil. Zum Entsetzen der Pillendreherïnnen und Apothekerïnnen verschwinden, von einer Nacht zur nächsten, alle Schlafstörungen. Viele Menschen schlafen zum ersten Mal seit Jahren mehrere Stunden lang, ohne eine einzige Unterbrechung. Selbst die unaufschiebbaren Gänge zum Bad werden im Tiefschlaf erledigt. Als sich die Zeit im Bett ausweitet, viele probieren aus, wie lange sie schlafen können, es kommt zu Schlafmarathons, mehren sich die Sichtungen von Schlafwandlerïnnen. Erstaunlich ist, dass es Regionen gibt, die wesentlich mehr Schlafwandlerïnnen haben als andere. Besonders in den kapitalistischsten Staaten wird vermehrt sowohl am Tage als auch Nachts geschlafwandelt. Forscherïnnen gehen von einem Nachholbedarf aus, glauben, dass sich die Lust am Schlaf einpendeln wird und die Insomnie demnächst zurückkehrt. Es kommt anderes. Jedenfalls in den Benelux-Ländern, Skandinavien, Frankreich und Deutschland, den Hochbettburgen des außer Rand und Band geratenen Schlafwandelns.
90.
Es fängt an wie ein Schluckauf, der, was Schluckaufs eigentlich nicht sind, ansteckend ist. Erst beginnt ein Smartphone mit dem Hicksen, dann das nächste. Die Laute springen von einem Smartphohne zum nächsten, infizieren Millionen und sind identisch: Beim Hicksen handelt es sich um einen metallischen Klang, als ob eine Brandschutztür schlösse, die auf Kiesel träfe, die mitgezogen würden und über Kacheln kratzten. Die Smartphones auf stumm zu stellen, hilft nicht, da während des Telefonierens, sobald die Lautstärke benötigt wird, der Schluckauf sofort einsetzt. Die mit dem Bug infizierten Geräte hicksen nicht nur akustisch, sondern auch visuell. In jeder Textmessage, jeder Mail tauchen Schluckauf-Emojis auf, die nicht zwischen den Worten Platz nehmen, sondern das Geschriebene überlagern. Was allein hilft, ist das Ausstellen. Das leibhaftige Vieraugengespräch wird zum Wort des Jahres gewählt.
April
91.
Im U-Boot leckt es. Woher das Wasser kommt, lässt sich nicht feststellen. Abpumpen geht nicht, da die Ventile verstopft sind. Auftauchen auch nicht, da sich ein gewaltiger Eisberg über dem Unterseeboot befindet. Die Besatzung beschließt, das eindringende Wasser mit Tabletten zu entsalzen und zu trinken. Das Besäufnis gegen den Tod beginnt.
92.
Das fünfköpfige Forschungsteam Eukyryoten der Ludwig-Maximilians-Universität München, das in akademischen Kreisen den Spitznamen Echte Kerne trägt, ist auf der Insel Sumatra unterwegs – und zwar nicht erst seit gestern, sondern bereits seit elf Monaten. Im Team haben sich die Hierarchien verschoben. Es arbeitet seit einem Mini-Tsunami, bei dem jedes Team-Mitglied einen Finger verloren hat, basisdemokratisch, jedenfalls nominell. Geführt werden die Echten Kerne in Wahrheit allerdings von der Pilzforscherin Eyscha Nguyễn, einer jungen Doktorandin. Nguyễn vertritt die Denkschule, dass Fungi wesentlich intelligenter sind, als bislang vermutet. Eine Position, die vom ehemaligen Leiter der Expedition, Prof. Dr. Altmann, strikt abgelehnt wird. Altmann läuft zwar auf Sumatra noch mit, aber macht sich eigentlich nur Notizen, um ein Buch über, wie er das Quartett abfällig nennt, die Vier Pilzdeppen im Dschungel zu schreiben und um, bei der Rückkehr nach Bayern, Nguyễns Doktorarbeit zu desavouieren. Nguyễn indes zeigt sich von Altmanns Sabotageakten unbeeindruckt. Laut ihrer Recherchen, die sich sowohl auf taxonomischen Daten als auch Oral History beziehen, gibt es auf Sumatra intelligente Pilzarten, die sich im Laufe der Evolution immer weiter von den Menschen zurückgezogen haben. Nguyễn zählt, anders als Altmann, die Fungi nicht nur als Eukaryoten, die mit Pflanzen auf einer Stufe stehen, aber nicht an die „Wertigkeit“ – ein Begriff den Nguyễn ablehnt, deswegen stets in Anführungszeichen setzt – der Tiere heranreichen. Die Doktorandin geht davon aus, dass Fungi sich mindestens auf einer Stufe mit Tieren befinden. Eukaryoten ist ein Gattungsbegriff, der von den altgriechischen Wörtern εὖ {eu (richtig, gut)} und κάρυον {karyon (Nuss, Kern)} stammt. Im Nationalpark Kerinci-Seblat, unweit des Ufers einer Kratersees, wird Nguyễns Annahme auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Das Forschungsteam Echte Kerne entdeckt Die Stadt der stoischen Pilze. Als Prof. Dr. Altmann bei der Kontaktaufnahme sein Pilzmesser zückt, haben Nguyễn und die drei anderen Eukaryoten-Forscherïnnen keine Wahl.
93.
Das angestammte Blau muss sich beeilen, will es noch rechtzeitig zur Vorstellung kommen. Es hat bis eben alle Propagandahebel in Bewegung gesetzt, um seine Anhängerïnnen zu mobilisieren, aber niemand hat abgenommen. Nun ist das angestammte Blau spät dran, im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar weiß es seit mehreren Jahren von der by chance Erschaffung der Konkurrenz. Entdeckt wurde das Mischoxid, wie das Leben so spielt, von farbbegeisterten Chemikerïnnen an der Oregon State University, beim Verschmelzen von Yttrium, Indium und Mangan. Das angestammte Blau, als Quasi-Monopolist von Hofschranzen umgeben, die ihm alles nachplappern, hat sich allerdings eingeredet, dass die Markteinführung des neuen Blautons noch Ewigkeiten auf sich warten lässt. YInMn, denkt das angestammte Blau, während es vor die Tür tritt und sich überlegt, wie es am schnellsten zur Vorstellung gelangt, YInMn – was ist das überhaupt für ein unaussprechlicher Name fürs erste neue anorganische Blaupigment seit mehr als hundert Jahren? Eine Farbe, die mit einer beispiellosen Marketingkampagne in die Läden für Künstlerbedarf drängt und meinen Regalplatz einnehmen will? Das angestammte Blau, das seine Geldbörse vergessen hat, überschmiert das Display eines E-Rollers, knackt ihn und fährt zur Marienburger Straße, wo alljährlich, beim Sommerfest der Farbindustrie, also heute, sein hohes Lied gesungen wird. Diesmal dreht sich niemand um, als das angestammte Blau auf dem Scooter heranbraust, mehrmals hupt, sich fluchend durch die Menge drängt, die ihm den Rücken zuwendet, um einen Blick auf die Farb-Sensation zu erhaschen. Vorm Eingang des Marktes für Künstlerbedarf steht YInMn. Sonnt sich im leuchtend blauen, farbtreuen Pulverglanz. Jetzt merkt das angestammte Blau, dass die YInMn-Bewunderïnnen sich allesamt aus der Schar seiner eigenen Anhängerïnnen rekrutieren. Kein Wunder, denkt es, dass niemand für mich zu sprechen gewesen ist. Sie tragen Transparente, auf denen ausgerechnet in der neuen Farbe geschriebene Adjektive leuchten: Endlich ungiftig! Superdeckend! Temperaturbeständig! Hochartig wärmereflektierend! Bleicht weder in Wasser noch in Öl aus! Zwischen Kobalt- und Ultramarinblau daheim! Das angestammte Blau braucht dringend Luft, es öffnet die Kappe, trocknet auf der Stelle aus.
94.
Die Abwechslung reitet auf einer Erfolgswelle, die nicht bricht. Sie ist jung, schwänzt die Schule, fühlt sich frei, fühlt sich unbesiegbar, fühlt sich begehrt. Sie weiß, dass sie etwas kann, was anderen abgeht: Die Abwechslung hat Ein Abkommen mit der Zeit getroffen, in dem festgelegt ist, dass sie die Zeit stückeln und vertreiben kann. In einem Paragraphen des Vertrags steht auch, wie oft das der Abwechslung erlaubt ist und was passiert, wenn die Quote des Zeitvertriebs erfüllt ist. Diese Bedingungen des Vertrages hat die Abwechslung nur überflogen. Sie hat den Paragraphen nicht einmal richtig registriert. Die Macht über die Zeit, sei die Macht auch noch so temporär, flasht die Abwechslung. Jetzt oder nie, denkt sie, die für den Augenblick lebt. So vergeht Tag um Tag, und die vertriebenen Zeiten sammeln sich am Ufer, schärfen Sicheln, beobachten die Erfolgswellen, welche die Abwechslung langsam, aber sicher näher an die Steilküste bringen.
95.
Der Verband der Voyeure trifft sich zur 84. Hauptversammlung in einem Hinterhofkino im Frankfurter Bahnhofsviertel. Wir schreiben Silvester 1967. Es ist kalt, es ist nebelig. Aussichten und Stimmung sind getrübt. Veränderungen stehen an, die kein Voyeur möchte. Nach mehreren Zwischenfällen in Frankfurter Grünanlagen und Geschmacklosigkeiten unter Mainbrücken zwischen VdV-Vertretern und ihren Gegenspielern, der Arbeitsgruppe VDsP (Vom Dienst suspendierte Polizisten), die ähnliche Ziele wie der Verband der Voyeure vertritt, bei den Zwischenfällen hat es sich in aller Regel um Revierkämpfe um die sogenannten Panoramapunkte gehandelt, Zwischenfälle, auf die der Sprecher des VdV-Aufsichtsrats, Alfred A. Römer, der in Personalunion Verbandsvorsitzender ist, der im Laufe der Jahre nicht nur eine Position der Allmacht für sich geschaffen hat, sondern auch erreicht hat, dass die VdV-Mitglieder über seinen Versandhandel Alle Abwege führen nach Rom GmbH, Arbeitsutensilien (Vergrößerungslupen, Ferngläser, etc.) bestellen müssen, Zwischenfälle auf die Alfred A. Römer, in der Öffentlichkeit, vor laufender Kamera, mit wenig Feingefühl reagiert hat – wir stehen als Augenzeugen nicht zur Verfügung, ansonsten verlieren wir unsere Street-Glaubwürdigkeit –, nach dieser medialen Entblößung des Verbands der Voyeure wird ein neues Führungsgremium gewählt. Während der Abstimmung, die in den Sex-Kabinen stattfindet, welche wie Seitenkapellen um den Vorführraum angeordnet sind, stürmt ein Studentïnnen-Kommando der Goethe-Universität das Kino. Es kommt dutzendfach zu unvorhergesehenen Begegnungen zwischen Vätern und ihren Töchtern und Söhnen.
96.
Nach der sechzehnstündigen Fastenzeit, die sie täglich diszipliniert einhalten, gehen die sieben Löwinnen des Rudels gemeinsam auf die Jagd. Löwen sind nicht dabei, die suchen im Wald nach Brombeeren. Die Löwinnen erlegen, gleich um die Ecke, eine Ziege, die das Gebäralter weit hinter sich gelassen hat, und drei Hähne. Tiere, die illegale Holzfäller auf einer kahlgeschlagenen Lichtung gehalten haben. Um ein Rezept Ottolenghis zu kochen, benötigen die Löwinnen sowohl Thymian als auch Petersilie. Außerdem wäre Zweifach-Sahne und Eiscreme für die Himbeeren nicht schlecht. Die Löwinnen betreten einen nagelneuen Supermarkt, der im Untergeschoss einer Mall liegt, die gerade errichtet wird, mitten im Schutzgebiet. Die Löwinnen sind auf dem Weg zur Obst- und Gemüseabteilung, als sie von einer Mutter mit zwei Kleinkindern angesprochen werden – die Mutter, die vorhat, in der Mall einen Schmuckladen zu betreiben, hält die Löwinnen für verkleidete Angestellte des CoOps, des ersten Geschäfts der Mall, das bereits geöffnet hat. Ob sie vielleicht wüssten, fragt die Mutter die Löwinnen, wo die Fischstäbchen lägen? Als die Löwinnen begreifen, dass die Mutter ihren Kindern Processed Food unterjubeln will, nehmen sie die Ziege und die Hähne sanft von den Schultern, scherzen etwas, weil das Fleisch blutet, bieten der Mutter einige frische Delikatessen an. Ein intensiver Gedankenaustausch über Natur, Nahrung und traditionelle Architektur entsteht, dem sich sowohl andere Kundïnnen als auch die herbeigerufenen Sicherheitskräfte anschließen. In der darauffolgenden Nacht beginnt die Demontage der Mall.
97.
Die Kunst ist glücklich – sie weiß weder ein noch aus. Sie verliert die Fäden. Fühlt sich an Land, als wäre sie seekrank. Die Erleichterung der Kunst angesichts der Gefahr ist enorm. Was wie ein Klischee klingt und Andere verzweifeln ließe – das Grausehen, der Lebensschwindel, die Glücksfatigue –, ihr ist es ein Grundbedürfnis. Geht es der Kunst zu gut, überkommt sie der Hang zur Wiederholung. Sie kramt gelangweilt in der Genossenschaftsschublade, holt ein mehr oder minder bewährtes Rezept nach dem anderen heraus, kassiert den Applaus der Investmentverlage. Die Öffentlichkeit gewöhnt sich an die Kochbuchzuverlässigkeit der Kunst, frisst ihr die immer gleichen Morgengaben gleichgültig aus der geölten Hand. Der Öffentlichkeit ist die routinierte Abhandlung in den Zeiten der Monotonie recht, sie erwartet nicht viel von der Kunst, ein bisschen Lachen, übersichtliche Gewalt, günstigen Sex. Brechen allerdings Rückgrate, fahren sich Lotsïnnen auf Sandbänken fest, versinken Reisende mürrisch im Moor, lügt sich die Geschichtswissenschaft sowohl in die eigene als auch in die Tasche der Herrschenden, wird der Blick auf die Kunst kritischer. Die Kunst reagiert. Sie wirbelt zunächst etwas mehr Staub auf, aber nutzt dafür den Schmutz, der eh unter Schränken und Betten liegt. Als das nicht mehr reicht, die an der Kunst Interessierten wissen selbst, wer welchen Dreck am Stecken hat, wie der nicht abgeholte Müll aussieht, wie Laster und Kotze duften, als die alten Präskriptionen gähnend in der Ecke landen, wacht die Kunst, verbeult, auf. Sie öffnet die Augen, reißt die genossenschaftliche Schublade aus der Biedermeierkommode, Leiht sich Streichhölzer von der Revolution, die im Souterrain gerade dabei ist, sich von den Schlafmitteln zu trennen, mit denen sie trunken in einer WG lebt. Die Kunst steht, um’s auf den Punkt zu bringen, vorm fucking Nichts. Sie öffnet eine Flasche Spirituosen, zündet sich eine Zigarette an, geht ans Fenster, öffnet es, während draußen das Zwielicht allerlei Farben wechselt. Die Kunst zieht sich aus, betrachtet sich im Taschenspiegel, wirft den Spiegel gegen die Glaslampe, welche fauchend zerbricht, steigt auf den Sims, öffnet die Arme, springt – und der Traum beginnt.
98.
Die Hamster tun so, als bedeutete ihnen das Rad etwas. Sie entwickeln, jede Generation, die das Radschicksal teilt, und es sind bereits unendliche viele Generation, einige Geschichtshamster, die Schule, die sich Augustinus’ Satz In dir muss brennen, was du in Anderen entzünden willst zum Motto gewählt hat, erklären, dass die Geburt des Rads gleichzeitig mit der Entdeckung des Feuers, andere Geschichtshamster, die Schule, die sich das Sprichwort Stadtluft macht frei zum Motto erkoren hat, sie erklären, dass die Geburt des Rads erst mit den Stadtgründungen erfolgt ist, wie auch immer, sie, die Hamster beider Schulen, entwickeln über die Zeiten identische Techniken, um zu zeigen, dass sie mit dem Rad im Reinen sind, sich mit ihrem gleichförmigen Schicksal abgefunden haben. Einige metaphysisch ausgebildete Hamster schaffen es sogar, den Eindruck zu erwecken, dass das Rad mit ihnen im Reinen sei. Da die Hamster in der Vorzeit viel ausprobiert haben – etwa Haarschnitte, die sich durch die Bewegung des Rads stromlinienförmig wellen –, passieren kaum noch revolutionäre Dinge im sichtbaren Zusammenspiel von Rad und Hamstern. Das ändert sich, als wieder mal die Räder gewartet werden, was pro Jahrzehnt ein einziges Mal geschieht – und zwar überall gleichzeitig. Die Räder stehen während der Wartung für genau zwölf Stunden auf der ganzen Welt still. Der halbe Tag der Wartung ist im Dasein der Hamster ein besonderer, ein legendärer halber freier Tag, um den sich Mythen ranken, von dem noch über viele Jahre gesprochen wird, an dem mehr vonstatten geht, als an den vielen Tagen im Rad. Hamster, die an diesem Tag gezeugt werden, heißt es, hätten besondere Begabungen. So ist es kein Wunder, dass an dem halben freien Tag überall Liebe gemacht wird. Die Hamster, gerade die in festen Beziehungen, lassen sich für das Liebemachen Zeit, schließlich wissen sie, dass sie zwölf Stunden haben. Bei Single-Hamstern sieht die Sache etwas anders aus, aber das steht jetzt nicht zur Debatte, obwohl es zur Sprache kommen dürfte. Diesmal, beim Anbruch des siebten Jahrtausends, läuft das Austauschen der Räder allerdings gänzlich ungewohnt. Statt zwölf Stunden dauert die Wartung nur sechs Stunden – viele Hamster werden mitten im Liebesspiel von der Rückkehr der Räder gestört. Und nicht nur das: Die Räder sind auch anders; was sofort ins Auge fällt. Die neuen Räder sind doppelt so groß wie die alten Räder, bieten jedoch weiterhin nur Platz für einen Hamster.
99.
Der Vater, der Sohn meines Sohnes, der bereits selbst Söhne und keine starken Nerven hat, niemals gehabt hat, immer schwache Nerven gehabt hat, der zur Hysterie neigt, ist im Krisenmodus. Er sagt, so gehe das nicht weiter, so nicht, wirklich nicht. Zu mir sagt er es, im scharfen Tonfall. Ich, der Vater des Vaters des Vaters, seufze, ohne die Hand von der Bremse zu nehmen. Ungern, ich bremse ungern, es stimmt. Wenn ich etwas verabscheue, dann ist es das Bremsen, gerade das unerwartet Auf-die-Bremse-Treten. Wir stehen oben am Berghang, hinter uns, aus Norden kommend, die Feuerwalze, die sich durch den staubtrockenen Wald frisst, im Affentempo. Unten im Tal, im Süden, drei, vier Kilometer weg, liegt der Bergsee, mit der kleinen Insel und den Tretbooten, die wie Schwäne aussehen. Die anderen Wagen sind nichts als Punkte in unserem Rückspiegel. Wir sind früher als der Rest der Nachbarschaft aufgebrochen. Woher der Sohn meines Sohnes, der erst kürzlich eine höhere Hausratsversicherung abgeschlossen hat, von dem Feuer gewusst hat? Ich weiß es nicht. Dass ich im Wagen sitze, ist, das wiederum weiß ich, reiner Zufall. Ich hatte im Wagen ein Nickerchen gehalten, weil mir das Geballere der Ego-Shooter-Spiele auf die Nerven geht, als der Sohn meines Sohnes mit den Jungs im Schlepptau eingestiegen ist. Wir haben einen Vorsprung, sagt der Sohn meines Sohnes, der, angesichts der dramatischen Lage, selbst von schnelleren Wagen nicht aufgeholt werden könnte. Ich kenne den Sohn meines Sohnes. Ich weiß, was er vorhat. Ich weiß, warum er das Dynamit eingepackt hat. Dass mein Sohn solch einen Sohn gezeugt hat, hat mich überrascht. Ein DNA-Test, den ich, ohne sein Wissen, habe machen lassen, nach dem mysteriösen Tod seines Vaters, hat jedoch einwandfrei bestätigt, dass er der Sohn meines Sohnes ist. Wir müssten das jetzt klären, sage ich zu ihm. Er sieht mich verächtlich an, zieht sich die MAGA-Kappe ins Gesicht, so dass seine hellblauen Augen nicht mehr zu sehen sind. Ach, sagt der Sohn meines Sohnes, wirklich, müssten wir das, hier, jetzt, Großvater? Er zeigt auf seine beiden Söhne, die hinter uns sitzen, mit ihren Gameboys spielen, und die? Die wären mir wohl egal? Am liebsten hätte ich gesagt, ja, die seien mir egal, die Kinder aus der Nachbarschaft, die tagtäglich zu mir kämen, mit denen ich lesen und reden würde, allerdings nicht, die wären mir nicht egal. Ich beiße mir auf die Zunge, ich weiß – oder glaube zu wissen – wozu der Sohn meines Sohnes fähig ist. Also?, fragt er, nimmst du jetzt endlich die Hand von der Bremse, alter Mann? Die magst du doch gar nicht, oder? Ich zähle die Ruderboote, obwohl ich die Zahl natürlich kenne, Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schwäne. Es würde genau reichen, für uns und für die Autos aus der direkten Nachbarschaft, hinter uns, die kleinen Scheinwerferpunkte hinter uns, die auf der Flucht vorm Feuer sind, die Autos mit den Kindern. Ich sage, nur wenn du mir hoch und heilig versprichst, die anderen Boote nicht anzufassen. Der Sohn meines Sohnes lacht höhnisch. Er weiß so gut wie ich, dass es nur eine kleine Hütte auf der Insel gibt, mit vier Etagenbetten. Die Hütte gehört allen sieben Familien, eine Idee meines Sohnes. Per Losverfahren wurde entschieden, an welchem Tag der Woche welche Familie die Hütte nutzen kann. Unser Tag ist Dienstag, heute ist Freitag. Die Aussicht, mehrere Tage unbequem campen zu müssen, schmeckt dem Sohn meines Sohnes nicht. Er knirscht mit den Zähnen, seine Gesichtsfarbe ändert sich, wie früher, im Garten, wenn er den Käfern die Beine abgeschnitten hat. Ich lasse die eine Hand auf der Bremse, greife mit der anderen nach der Waffe, die ich mir nach dem Tod meines Sohnes angeschafft habe, glücklicherweise.
100.
Zu feiern, geht sowohl den Jubiläen als auch den Feiertagen auf die Nerven, da es, so die Klage in der Chat-Gruppe carpe diem, tatsächlich nicht um sie geht, nicht darum, was sie in der Zwischenzeit geleistet haben, was sie mit den anderen Tagen des Jahres gemacht haben, sondern alles dreht sich um den, Zitat, übergeordneten Anlass. Die Feiertage und Jubiläen haben es gründlich satt, dass sie für 24 Stunden Mittel zum Zweck sind, einer Metaebene als untergeordnetes Sprungbrett dienen, die das gesellschaftliche Schulterklopfen abstaubt. In einer Umfrage kommt, keine Überraschung, der Ärger hat sich angestaut, heraus, dass 87 % der Jubiläen und Feiertage vom Gefühl durchdrungen sind, weder erkannt noch für voll genommen zu werden. Eine überwältigende Mehrheit (94 %) hasst es, in einen Topf mit anderen Festtagen geworfen zu werden. Als wären wir Cocktails (37 %), als hätten wir kein Wörtchen mitzureden (46 %), als würde man uns als freien Tag ausnutzen (62%), als wären wir stinknormale Sonntage (74 %) – so lauten die am häufigsten vorgebrachten Klagen. Außerdem, was viele am meisten wurmt, gibt es eine Rangfolge, die, obwohl kaum jemand in der Gruppe der Feiertage gläubig ist, an religiöse Anlässe gebunden bleibt. Warum Ostern über dem Weltkindertag steht, ist für alle – bis auf die Heilig-Lobby – ein Rätsel. Selbst der Volkstrauertag, der es immerhin schafft, als offizieller Feiertag zu gelten, wird im Ranking, trotz einer Klage vorm Obersten Jubiläumshof, weit hinter Allerheiligen gelistet, einem Tag, von dem niemand, aber auch wirklich gar niemand, mit Sicherheit sagen kann, was sein Markenkern ist. Für die Geburtstage, gerade die jungen, die aufs Geld angewiesen sind, ab und an sogar Geschenke bekommen, die wertvoll genug sind, um sie online wieder zu verkaufen, ist es weniger schlimm als für die abgewrackten Dienstjubiläen, die als Pflichtveranstaltung gelten, an Heuchelei und geschmacklosen Schnittchen leiden. Erst als sich der in Berlin begangene Frauentag, der international bestens vernetzt ist, in einer Kampfabstimmung durchsetzt, dass carpe diem sowohl fiktionale Feiertage, die bislang allein in Kunstwerken begangen worden sind, als auch global tätige Feiertage aufnimmt, ändert sich die Feierlaune schlagartig, Die Lebensfreude hält landauf, landab Einzug.
101.
Im Moment der Explosion steht die Zeit still. Unerwarteter Besuch tritt ein, Menschen, die uns lieb sind, Tote wie Lebende, rufen an oder kommen selbst vorbei. Sowohl die Umarmungen als auch die Wangenküsse und die Ach, wie schön, dich gibt’s noch hören nicht auf. Wir, du und ich, stellen die Gäste einander vor, die sich auf Anhieb fantastisch verstehen. Einige schieben kurzerhand Tische zusammen, öffnen staubige Jalousien, der Sternenhimmel strahlt, die Mondsichel leuchtet, ein A capella-Chor singt Jazz-Klassiker und Popsongs, etliche Gäste steigen auf die Tische, tanzen, ziehen alle, die zögerlich sind, lächelnd hoch. Champagnerkorken knallen, wir trinken aus schäumenden Flaschen. Essen glücksselig ungesunde Pommes, singen mehr oder minder textsicher mit. Dann wird es urplötzlich mucksmäuschenstill, alles ist
102.
Der Zero-Day, als die leicht besäuselten Hackerïnnen des marginalen Landes am Rande des Kontinents während einer Karaoke-Party, bei der sie im Darknet nach Texten suchen, zufällig die gesamten Schaltstellen der Länder im Zentrum des Kontinents unter ihre Kontrolle bringen, ohne das Wissen der Administrationen, Firmen und Bürgerïnnen der zentralen Länder des Kontinents, der Zero-Day bestätigt, was die paritätisch besetzte Regierung des Landes am Rande des Kontinents stets vermutet, aber niemals geäußert hat: Ihr Land spielt in den Überlegungen der Länder im Zentrum des Kontinents keine Rolle, ist, bestenfalls, die Fußnote einer Fußnote. Die Verantwortlichen des Landes am Rande des Kontinents lesen die Grußbotschaften der Länder im Zentrum des Kontinents, die sie anlässlich der 100-Jahr-Feier der Staatsgründung erst vor einigen Wochen erhalten haben, ein zweites Mal, mit kritischen Augen – die Verlogenheit ekelt sie an. Die Epistel sind voller Freundschaftsbekundungen (Ihr seid immer in unserem Herzen), voller Lob (Eure Existenz ist unser Bollwerk), reich an Anerkennung für die Leistungen des Landes am Rande des Kontinents (Wir lernen täglich von Euch, Eurer Demokratie und Euren Künstlerïnnen), die Epistel unterstreichen die Bedeutung des Landes für die autokratisch regierten Länder im Zentrum des Kontinents (Euer Dasein gibt unserem Leben erst Sinn und Tiefe) und klingen wie Treue-, ja Liebesschwüre (Wir sind, was wir sind, da wir mit Euch zusammen sind). Die Regierung des Landes am Rande des Kontinents bringt die einflussreichen Gruppen des Landes zusammen, in einem abhörsicheren Bunker, am aller-aller-aller-äußersten Ende des Kontinents. Eingeladen ist nicht nur das Militär, nicht nur die Industrie, sondern sind auch Vertreterïnnen der Zivilgesellschaft. Der Schock sitzt tief. Der Wandel durch Annäherung stellt sich als Illusion heraus. Nach einer Woche voller Tränen, Nervenzusammenbrüchen, Schreikrämpfen, Fieberschüben, Liebeslyrikausradierens, Selbstzweifeln, und Binge-Malzeiten, beschließt die Versammlung Die Operation KO-Aperçu.
103.
So haben sie sich, die Neunundzwanzig, das Ende nicht vorgestellt. Statt selbst zu kündigen, wie es ihr Plan gewesen ist, ein Plan über den die Neunundzwanzig viele Monate gebrütet haben, manche sagen sogar: Jahrzehnte, setzt man sie mir nichts, dir nichts vor die Tür. Ohne viel Brimborium. Sie bekommen einen Anruf, etwas sei für sie an den Lockern hinterlegt, sie müssten es bitte auf der Stelle abholen, ja alle, die gesamte Gruppe, ohne Ausnahme, nichtsahnend gehen sie zum Aufenthaltsraum im Eingangsbereich, wo bereits die freundlichen Security-Guards warten, die sie seit Ewigkeiten kennen, mit denen die Neunundzwanzig jeden Tag rauchen und plaudern, diesmal sind die Security-Guards weniger freundlich, eigentlich sind sie unfreundlich, sie überreichen ihnen feste Müllsacke, blaue Säcke, die man kauft, wenn man im Herbst den Garten aufräumt und schwere Sachen wegpacken muss, in den Säcken befinden sich all ihre privaten Sachen aus den Lockern, die Neunundzwanzig fragen, wie die Security-Guards an ihre Locker-Kombination gekommen seien, die Security-Guards schütteln als Antwort die Köpfe, bugsieren die Neunundzwanzig, unsanft, aus dem Gebäude, entfernen sie, unsanft, vom Gelände, selbst die Raucherecke liegt nun jenseits des hohen Stacheldrahtzauns. Sie sehen sich an und zählen durch. 28. Das Team hat 29 Mitglieder. Jemand fehlt. Sie öffnen ihre Mail-Accounts, um die Namen des Teams abzugleichen. Die Mail-Accounts sind bereits abgemeldet. Die Neunundzwanzig stellen sich in einen Kreis, sagen ihre Namen, sagen ihre Positionen, sagen, mit wem sie zusammenarbeiten, zusammengearbeitet haben, fragen, wer fehle, niemand kommt auf den Namen, niemand kann sich an die 29. Person erinnern. 29, sagen sie, Rache schwörend, 29 muss uns verraten haben.
104.
Die Festnetznummer, die auf dem The Wireless-Sheet aufgetaucht ist, entblößt ihn. Das Tuscheln schwillt an, als er das Gebäude der Gründerïnnen betritt. Die Co-Working-Crew umringt ihn. Doch es ist zu spät. Keine Phalanx der Welt kann den Landline-Mann noch vorm Vigilante-Man-Mob schützen. The Wireless-Kids haben Witterung aufgenommen: ein Denunziant, in ihrer Mitte. Die Co-Working-Managerin, eine Geschichtsstudentin aus Montgomery, schreit die Gründerïnnen an, hier werde nicht gelyncht. Jemand checkt im Open Thesaurus, sendet den Link. Alle brüllen begeistert auf. Sie starten das Meme #Tarring&FeatheringTheLastLandliner, streamen, bündeln ihre WiFi-Strahlen, richten das Netzwerk gegen seine Augen.
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Das Phänomen breitet sich rasend schnell aus: Immer mehr Menschen, die auf den Straßen der Stadt unterwegs sind, haben geblurrte Gesichter. Manchmal ist es nur ein Teil der Wange, der verschwommen ist. Dann sind es Mund und Kinnpartie, die blurry erscheinen. Am Häufigsten ist der Schuldig-Balken verbreitet, der von den Augenbrauen bis zu den Tränensäcken als – wie die Geblurrten es nennen – Milchstraßen-Strich über den Gesichtern liegt. Da die Geblurrten, etwa zehn Prozent der Stadtbevölkerung, von den Nicht-Geblurrten, die von Spuk und Gespenstern flüstern, gemieden werden, entsteht die Milkyway-Schattenwirtschaft. Dort, an Kreuzungen, die keinerlei Charakter haben, in Hinterhöfen, die sich nicht unterscheiden lassen, erstehen die Geblurrten nach der Arbeit Sachen des täglichen Bedarfs, sind am Abend, in schummerigen Kellerbars, durch die Nebelschwaden ziehen, unter sich Die Milchstraßen-Strich-Nächte, in denen Freiheit herrscht, gelten bald, kein Wunder, als hippste Attraktion der schwerfälligen Stadt. Um an den geblurrten Türsteherïnnen vorbeizukommen, müssen die Gäste selbst verschwommen aussehen. Bald finden die ersten illegalen Augmented-Reality-Gesichtseingriffe statt. Um sich vor Fake-Blurrs zu schützen, werden drastische Maßnahmen eingeführt.
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Gelegenheiten haben – wie es der Name schon sagt – eine begrenzte Lebensdauer. Irene MacDonald, von ihren Freundinnen, Freunde hat sie keine, nur SmallMac genannt, versteht das, aus eigener Erfahrung, sehr gut. Sie ist eine notorische an der Ampel-Trödlerin. Statt hochzublicken, während die Ampel grün wird, checkt sie auf dem Handy, wie tief ihre Aktien gesunken sind. Denn auch das liegt ihr: Aktien solange zu halten, bis sich der Verkauf nicht mehr lohnt. Wie gesagt: SmallMac ist eine Meisterin der verpassten Gelegenheiten. Sie beschließt, daraus ein Geschäft zu machen. Mit ihrer Erfahrung – Niemand ist näher am Puls der verpassten Gelegenheiten! – und ihrer liebenswürdigen Ausstrahlung als Ich hab die Ausfahrt übersehen-Expertin beschließt sie, die Dating-Agentur Beinahe ein Hit zu gründen. SmallMacs Geschäftsidee ist so einfach, wie genial: Nicht wahrgenommene Gelegenheiten können bei BeH nachgeholt werden: als Re-Enactment. Besonderer Clou: Irene MacDonald lässt eine Penrose-Treppe bauen, auf der sie die verpassten Gelegenheiten platziert.
107.
Die Tage trödeln, weigern sich, in die Fabrik zu gehen, spielen lieber mit ihren Stempelkarten Quartett. Sie üben Tricks. Besonders Donnerstag tritt als Begabung hervor: Viel Lärm um Nichts entwickelt sich zum Lieblingskabinettstück der Massen, die bald scharenweise mittrödeln. Als die Fabriken hören, dass die Bänder stillstehen, überlegen sie, was zu machen ist. Es ist Freitagabend, Gewalt kommt nicht in Frage, da die Gewalt auf ihrem wohlverdienten Wochenende besteht. Andererseits ist den Fabriken klar, dass jenes abenteuerliche Nichtstun, erstreckte es sich über Samstag und Sonntag, die Massen auf dumme Gedanken bringen könnte. Die Fabriken erkundigen sich, außerhalb, wo es keine Gewerkschaften gibt, werden, unter der Hand, an die Hütchenspieler der Nachbarschaft verwiesen, die wüssten, wie man gezinkte Karten unter die Leute brächte. Die Hütchenspieler, die bis dato von den Fabriken verachtet worden sind, lächeln maliziöse, als die Fabriken anklopfen. Der Haken, den sie den Fabriken präsentieren, ist ein Widerhaken. Die Fabriken merken nichts, sie schnappen zu.
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Es ist nicht so, dass wir überrascht wären. Sagen wir’s mal so: Wenn jemand dazu in der Lage hätte sein können, dann wäre Don Maria diejenige gewesen, der wir’s am ehesten zugetraut hätten. Schließlich hatte sie sich vehement allen Zutraulichkeiten der Kirchen entzogen. Wohlgemerkt: Mehrzahl. Zutraulichkeiten. In unserem Dorf stehen 34 Kirchen und 65 Kapellen. 99, ich habe sie gezählt. Wir werden dennoch von keinerlei Wallfahrten überrannt. Der Welt scheint’s egal zu sein, wie viele Kirchen wir haben. Niemand kennt unser Tal, das zwischen einer Hochebene und zwei Grenzen liegt. Grenzen ohne Grenzübergängen. Auf der anderen Seite liegen eine Mülldeponie und ein militärisches Sperrgebiet, in dem Panzer Bergkrieg üben. Wie auch immer. Don Maria, die überaus gesellig gewesen war und ungern gekocht hat, waren die 34 Kirchen und 65 Kapellen nicht egal gewesen. Sie hat sie Meine 99 Küchen genannt. Jeden Tag gab’s irgendwo eine Konfirmation, einen Feiertag, eine Gemeindespeisung. In Don Marias Nachlass haben wir 99 Outfits gefunden, für jede Glaubensrichtung eine. Alle mit Mottenkugeln vollgestopft, in durchsichtiges Plastik eingeschlagen. Ihr Anziehraum hat wie der Himmel gestunken. Eine Mischung aus Paradies und Hölle. Sie hat uns niemals getraut, hat uns niemals an ihre Outfits gelassen, hat ihre Anziehsachen mit Argusaugen bewacht. Wenn sie etwas gewesen war, dann diese Outfits. Kein Wunder, dass sie zurückgekommen ist, als Hungriger Geist.
109.
Die Schule, eine integrative Gesamtschule, die für ihre Reformpädagogik geschätzt wird, sich vor Anmeldungen kaum retten kann, Eltern klagen regelmäßig, um ihre Kinder in bereits heillos überfüllte Jahrgänge zu pressen, die Schule platzt aus allen Nähten. Nicht jede Klasse hat einen eigenen Raum. Die Vier B hat sich etwa in der Besenkammer eingerichtet, die unter der Außentreppe liegt. Im Winter kein Vergnügen, im Sommer ein geheimnisvoller Ort, an dem sich ausgesprochen gut Literatur unterrichten lässt. Während die Neun D auf dem Spitzboden Quartier bezogen hat, zwischen Spinnweben, Erdkundekarten, die Länder zeigen, die nicht mehr existieren, und kaputten Dachziegeln. Ältere Lehrerïnnen, wie die Oberstudienrätin Frau Dr. Strenggeheim, lassen sich mit einem Kran, den die Baufirma auf dem Schulgelände vergessen hat, hochhieven. Das Loch im Dach, die Schulbehörde konnte nicht zahlen, ist gerade groß genug, um Die Entladung der Lehrkörper zu ermöglichen. Ein wenig Fingerspitzengefühl ist dafür allerdings nötig, zugegeben, aber die Jugendlichen haben sich bislang recht gut aus der Affäre gezogen. Bedient wird der Kran von Schülerïnnen, die jüngst einen Kranführerschein erworben haben. Ein Stück Papier, das sie, bei jeder Gelegenheit, stolz herumzeigen. Es existiert sogar ein Club der Kranführerïnnen, der sich elitär gibt, die Mitschülerïnnen, die nicht am Hebel stehen, ihre Unterlegenheit spüren lässt. Als sich die Beschwerden häufen, der Schulpsychologe, Magister Zern, wird regelrecht überrannt, wird eine Reihum-Kran-Bedienung für alle eingeführt. Der Club der Kranführerïnnen ist alles andere als begeistert. Der Widerstand geht soweit, dass der Club der Kranführerïnnen beschließt, es darauf ankommen zu lassen. Als der verträumte Julius F., der immer irgendwo seine Brille vergisst, an der Reihe ist, lässt der Club der Kranführerïnnen ihn mit der Aufgabe allein.
110.
Der Moment hält sich für gekommen. Dass ihm der Zeitpunkt abrät? Mit Links zum Thema Eile mit Weile überschüttet? Aufzugmusik-Videos schickt? Steht nicht zur Debatte. Der Moment ist überzeugt, dass der zögerliche Zeitpunkt mit seinem Rat etwas verfolgt, was nichts, aber auch rein gar nichts mit den Aussichten des Moments, sondern nur mit der eingeschränkten Perspektive des Zeitpunkts, der Enttäuschungen sammelt wie andere Leute Briefmarken, zu tun hat. Allein ist dem Moment die Idee des Gekommen-Seins nicht gekommen. Sein Bruder im Geiste, das Moment, das sich mit Fliehkräften auskennt, das tagtäglich mit Gewichten und Bedeutungen jongliert, hat ihn zum Handeln geraten, dringend geraten, jetzt oder nie an den Start zu gehen, nicht auf den zaudernden Zeitpunkt zu hören, bevor sich die Chance, die, traditionell, eher auf der Seite des – angeblich – richtigen Zeitpunkts, wie der Moment dieses Adjektiv hasst: richtig, als wäre irgendetwas jemals wirklich richtig, bevor sich also die Chance erneut an den Irgendwann-vielleicht-Zeitpunkt hängt und ihm schöne Augen macht. Das Moment sagt, in Wahrheit sei in allen Dingen ein Fehler, keine Stunde sei die einzig wahre, die Vollkommenheit sei eine schnöde Erfindung der Ewigkeit, um wahllos Gefolgsleute abzugrasen und auf den Weiden der Gläubigen willkürlich zu ernten. Der Moment, der sich, es sei betont, wirklich und wahrhaftig für gekommen hält, blickt in den Tümpel, an dessen Ufer er sitzt, auf einem Steg sitzt der Moment, eine lange Minute schon sitzt er da, thront über dem Wasser, hinter ihm, auf der Badewiese, das Publikum, alle sind, ausnahmslos, darunter auch die von allen Seiten umschwärmte Chance, der die schamlose Ewigkeit gerade Softeis ausgegeben hat, eine doppelte Portion, mit Schokostreusel oben drauf. Die Chance strahlt übers ganze Gesicht, sie schleckt mit ihrer wunderschönen Zunge lasziv am Eis, dem Moment, auf dem Steg, wird ganz schummerig, nur beim Hinsehen, er blickt lieber wieder auf die unergründliche Oberfläche des Tümpels. Niemand weiß, wie tief das Wasser hier ist. Niemand hat sich bislang auf den Steg gewagt. Alle gehen, höchstens, mit den Füßen ins Wasser, unmittelbar am Badestrand der Geheimnisse. Ein steiler Köpper, elegant gesprungen, wie bei den Meisterschaften, die manchmal im Fernsehen übertragen werden, denkt der Moment, ein steiler Köpper wäre das Richtige, um ihr, der Softeis schleckenden Chance, mächtig zu imponieren. Dass die Erde flach sei, hat sich schließlich als Irrglaube herausgestellt, denkt der Moment. Warum soll das nicht auch hier der Fall sein?
111.
Obwohl sie sich verabredet haben, das angekündigte Stück zu spielen, die persönlichen Animositäten auf der Bühne nicht auszubreiten, ist es wieder Solch ein Abend. Die Schreiarie fängt harmlos an. Er vergisst seinen Einsatz, Stille legt sich übers Set. Alle sehen ihn an, wir sind mitten in einer Massenszene, ich gehe, vorsichtshalber, hinter dem Schrank aus Panzerglas in Deckung. Seine Augen sind glasig. Die Tränen, die er weint, sind keine Tränen der Trauer. Die Tränen, die er weint, sind Tränen des Zorns. Seit dem letzten Mal sind wir uns nicht mehr sicher, ob der Revolver, der zu seiner Rolle gehört, mit Platzpatronen geladen ist. Gil und Rob, die neben ihm stehen, auf seinen Text angewiesen sind, um fortzufahren, blicken in meine Richtung. Ich gebe ihnen ein Zeichen, das wir mit der Gewerkschaft der Bühnenbildnerïnnen verabredet haben. Sie reagieren nicht. Keine Ahnung, ob die Milchglasscheibe als Barriere funktioniert, Gil und Rob mich einfach nicht sehen, oder ob sie sich entschieden haben, die Sache ein für alle Mal zu erledigen. Das Ensemble, das den Zeichenaustausch zwischen mir und Gil und Rob mitbekommen hat, flüchtet von der Bühne. Im Zuschauerraum wird gezischt. Wir spielen das Stück seit Jahren en suite. Viele der Anwesenden kommen regelmäßig, um sich zu vergewissern, dass es noch Kontinuität auf der Welt gibt. Das ist unser Auftrag: In unsteten Zeiten eine altmodische Komödie auf die Bühne zu bringen. Die Enttäuschung, die sich im Parkett ausbreitet, ist mit den Händen zu greifen. Einige Zuschauer sind wie er gekleidet, andere wie Gil und Rob. Eine Tradition, die zum Besuch des Stücks dazugehört. Man wählt sich eine Lieblingsrolle und spricht, während der gesamten Aufführung, die passenden Sätze mit. Die Anzahl derjenigen, die ihn, Gil und Rob und mich nachsprechen, wir spielen die Hauptrollen, ist ungefähr gleich. Die eingefleischten Fans wissen, natürlich, von dem Vorfall. Sie haben sich mit ihrer jeweiligen Kunstfigur solidarisiert. Nun setzt die Musik aus. Die Band, unten im Graben, sucht das Weite. Ich höre, wie Waffen auf der Galerie, von der aus man mich ins Visier nehmen kann, entsichert werden.
112.
Als der Knotenpunkt in Frankfurt lahmgelegt wird, der erste von vielen, schalten sich die Server reihenweise aus. Erst in Europa, dann in Asien, Afrika und Australien, schließlich auch in Nord- und Südamerika. Die Datenrate sinkt global auf Null. Inhalte verschwinden. Die Architektur des Netzes kollabiert. Digitale Megacities verlöschen. Kein Schlupfloch bleibt. Die Staaten mit Atomwaffen haben die Finger auf den roten Knöpfen. Hektisch wird über Glasfaserleitungen telefoniert. Auf dem Dach der Vereinten Nationen in New York hissen die Staaten ohne Atomwaffen weiße Flaggen. Milliarden Menschen versammeln sich weltweit spontan auf den Straßen. Die analoge Schockstarre ist überwältigend. Niemand spricht, Schweigeminuten starten. Bis sich, plötzlich, der Mond verändert. Er kreist zwar weiterhin um die Erde, aber dreht sich schneller und schneller um die eigene Achse. An sich ist ein Mond-Jahr genau so lang wie ein Mond-Tag – 27 Tage und 7 Stunden. Weswegen immer dieselbe Seite vom Mond zu sehen ist. Das ändert sich nun dramatisch. Die Rückseite des Trabanten wird von der Erde aus auf einmal sichtbar. Und nicht nur das. Eine Nachricht in Riesenlettern überzieht die Rückseite des Mondes. Sie lautet:
113.
Die Eigennützigkeit der Firma, die legendär ist, schon der Name spricht Bände: Satisfaction, hat Methode – und ist doch, ein streng gehütetes Geheimnis, vorgeschoben. In dem Geschäftsfeld der Firma, Gesetz und Unordnung, existieren reihenweise Firmen, die am Recht kratzen, checken, ab wann ihr Vorgehen, das sich gegen das Böse richtet, selbst so böse wird, dass ihnen die Lizenz entzogen werden könnte. Wer zu viele Leichen transportieren muss, vergisst halt irgendwann einige im Keller – so begründen die Firmen des Geschäftsfelds Ermittlern gegenüber Nachlässigkeiten, wenn es zu Untersuchungen kommt. Satisfaction macht es anders. Satisfaction blockt jede Investigation ab. Vorladungen erreichen die Firma niemals, gehen mit dem Stempel Unbekannt verzogen zurück, da die Boten wissen, dass ihnen immenses Unheil droht, wenn sie mit einem Einschreiben an der Satisfaction-Tür auftauchen. Dass die Firma eine philanthropische Hochburg ist, fliegt während einer Testamentseröffnung auf. Die Empörung unter den Anteilseignerïnnen ist groß. Noch größer ist allerdings der Klärungsbedarf bei den NGOs, die über Jahrzehnte die Spenden stillschweigend eingestrichen haben. Die Frage, die sich alle stellen, Kann Blutgeld Gutes tun?, spaltet die Gesellschaft in Idealistenïnnen und Pragmatikerïnnen. Brücken werden zerschlagen, Freundschaften zerbrechen, es kommt zum Befriedigungskrieg.
114.
Dem Hass gehen die Argumente aus, die Liebe will einfach nicht kleinbeigeben. Sie kramt in Fotoalben, erinnert an jene Feier, diese Reise, an all die unerwarteten Begegnungen, wischt alle Aber-das-Büffet-Einwendungen und die Buch-Empfehlungen-waren-doch-bezahlt-Bemerkungen des Hasses beiseite. Kritik an der Qualität von Umarmungen, sagt die Liebe, sei ja schön und gut, zunächst zähle allerdings die Tatsache, dass es überhaupt zu Umarmungen gekommen sei. Sie plädiere dafür, alle negativen Bewertungen, die sie abgegeben hätten, unter dem Gesichtspunkt des immanenten Gutseins auf Herz und Nieren zu überprüfen. Der Hass seufzt, beugt sich ein letztes Mal auf, ob ihr, der Liebe, bewusst sei, dass sie damit die ganze Arbeit – auf all den Social Media Kanälen gleichzeitig zu posten, sei keine Kleinigkeit – desavouiere, seinem Ranking als Top-Ten-Kritiker ein Ende bereite? Ach, sagt die Liebe süffisant, sei das so? Das – Der Sturz des Hasses vom Tripadvisor-Olymp – täte ihr leid.
115.
Als ihm ein Vetter aus Trastevere schreibt, den das Erdgeschoss seit der Grundsteinlegung nicht mehr gesehen hat, dass in der ewigen Stadt jedes Parterre mit einer schmucken Eins versehen wird – als Beweis legt der Vetter, der sich an der Piazza di San Calisto niedergelassen hat, ein Foto von sich mit Freunden bei, lauter Parterres, die den Club di prima classe bilden und ihre Etagennummern, lauter Einsen, wie Ehrenurkunden in die Kamera halten –, wird dem Erdgeschoss schwindlig. Es fragt sich, was es falsch gemacht hat? Ob es sein Leben vergeudet? Sich unter Wert verkauft? Das Erdgeschoss muss schlucken, betrachtet die Null, die abgegriffen im Lift klebt, unmissverständlich sagt, welche Position das Erdgeschoss in der Rangliste der Etagen einnimmt. Ich bin eine Nullnummer, denkt das Erdgeschoss, schnauft leicht, seufzt, muss sich neben die Briefkästen setzen. Dass der Keller unter ihm liegt, ist egal. Niemand nimmt den Keller für voll. Er fristet ein klammes Dasein im Abseits, fern der Helligkeit. Mit den höheren Stockwerken, mit denen sieht es anders aus. Sie, was dem Erdgeschoss klar wird, blicken hochnäsig drein, rümpfen die Nase, wenn sie durchs Parterre müssen. Rennen panisch durch die Eingangshalle, um den Lift zu erreichen. Das Erdgeschoss, das durchaus stolz auf seine bodenständige Herkunft ist, aber sich zurückgesetzt fühlt, überlegt, was sich machen ließe. Als der italienische Vetter, den das Erdgeschoss konsultiert, einen Besuch bei der Psychiaterin Bungalow im Vorort der Stadt empfiehlt, ist das Erdgeschoss skeptisch, erlebt allerdings, beim ersten Termin, auf der tiefergelegten Couch, die Überraschung seines Lebens.
116.
Die Ausgangslage war, vorsichtig gesagt, bescheiden. Als Halbblinder zum traditionellen Hauen und Stechen eingeladen zu werden, war eine Sensation. Gerade als Zugezogener. Er, der 37-Jährige, lebte zwar seit einem Vierteljahrhundert in der Kleinstadt, galt aber weiterhin als Der fremde Bub. Die Augenverletzung, das linke, hatte er sich, wie es im Polizeibericht geheißen hatte, selbst zugezogen. Die Polizisten, die in der Kleinstadt durchweg aus zwei Familien stammten, hatten sich geweigert, einen der ihren dafür zu belangen. Dafür war, so die einhellige Meinung der wachhabenden Polizisten, eine Wirtshausschlägerei gewesen. Dass er, aus in der Kleinstadt bekannten Gründen, keine Wirtshäuser besuchte, hatte die Polizisten nicht abgehalten, seine Augenverletzung als Wie-du-mir-so-ich-dir-Rauferei zu verbuchen. Er war, nach erheblichen Drohungen, die ihn bereits im lokalen Krankenhaus erreicht hatten, damals vorsichtshalber lieber nicht in die nächst größere Stadt gefahren, um Anzeige zu erstatten. Er betrieb in der Kleinstadt ein Uhrengeschäft. Man hatte ihm, in den Drohbriefen, nahegelegt, darauf zu achten, ob seine und die Zeit seiner Frau und seines Kindes nicht abgelaufen sei.
Nun gut. Jetzt also lag sie vor ihm, die Einladung zum traditionellen Hauen und Stechen. Er durchforstete die Teilnehmerliste. Alle standen drauf. Augenausschläger und wachhabende Polizisten. Sie brauchen einen Sündenbock, dachte er. Er hatte von diesem Brauch gehört. Jedes Jahr kürte die Stadt beim Hauen und Stechen nicht nur den Gewinner, sondern auch den offiziellen Sündenbock. Eine höchst spaßhafte Sache. Es wurde viel gelacht. Er überlegte und sagte schließlich zu. Seit längerem besaß er Handschuhe mit Geheimfächern.
117.
Die Morde im Parkhaus des Landtags reißen nicht ab. Bis auf eine Partei sind alle im hessischen Parlament vertretenen Parteien betroffen. Die Partei ohne Parkhaus-Todesopfer streitet jede Verbindung zu den Verbrechen ab. Sie verweist darauf, dass ihre Abgeordnetïnnen alle mit dem Dienstfahrrad kämen, niemand das Parkhaus betreten würde, ansonsten wäre sie, Die Partei ohne Todesopfer, wie sie in der Berichterstattung genannt wird, auch von den Mordanschlägen betroffen. Obwohl die Sicherheitsvorkehrungen erhöht werden, sterben im Parkhaus des Landtags weiterhin Menschen. Einige fallen durch Löcher im Beton auf die vielbefahrene Straße vorm Landtag, andere erleiden, vielleicht aus Angst, Herzattacken. Die Parteien mit Parkaus-Todesopfern fordern eine Sondersitzung, die live im Fernsehen übertragen werden soll. Selbst ausländische Sender zeigen Interesse. Der Medienandrang ist enorm. Die Lokalpolitikerïnnen sonnen sich in den Kameralinsen. Während der Debatte kommt es nicht nur zum Eklat, auch die schreckliche, alle Befürchtungen in den Schatten stellende Wahrheit kommt ans Licht.
118.
Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja, sagte Jo zu mir, es war nicht günstig, an die Pläne und die Codes zu kommen, glaub mir, Kid, glaub mir, wir sind kein No-Profit-Unternehmen, echt nicht, das solltest du wissen, Kid, wenigstens das. Ich schluckte, stellte die Geldkassette ab, mit Jo war nicht zu spaßen. Der Staub des Tunnels klebte noch an mir. Ich hustete, wischte mir den Schweiß von der Stirn, verfluchte mich dafür, dass ich die verdammte Kette umbehalten hatte. Was war fucking los mit mir? Ich hatte sie einfach vergessen, das Gold hatte verführerisch geglänzt. Bling machte mich schon immer an. Die dickste Goldkette, die ich jemals gesehen hatte. Warum hatte ich sie nicht einfach in die Tasche gestopft? Hatte ich gedacht, Jo würde nicht am Ausstieg warten, nur weil Jo nicht beim Einstieg anwesend gewesen war? Nun ging’s ums Eingemachte. Ich hatte den Satz Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja von Jo neunmal im Leben gehört. Immer mit dem heiseren, affirmativen ja am Ende, was genau das nicht war: affirmativ. Dieses heisere ja ist eine Verneinung des Vorhandenen. Ist eine Verneinung der Handlung, die aus einer Lüge entspringt. Jo hatte Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja etwa zu Hussel gesagt, meine damalige beste Freundin, als Hussel Fahrerflucht begangen hatte, mit uns im Auto, den Schwerverletzten auf der Straße, die, was sich nicht leugnen ließ, irgendwie zu uns gehört hatten, im weitesten Sinne. Feinde seien, sagte Jo stets, in Wahrheit deine besten Freunde, Feinde seien Teil der echten Familie, wer seine Feinde nicht ehre, habe kein Gewissen, und die Gewissenlosigkeit sei das Gegenteil einer ertragreichen Lebensversicherung, echte Feinde seien die Garanten für ein hohes Einkommen, da sie uns anspornten, mit uns im Wettstreit lägen. Jo hatte, was in unserem Geschäftszweig, Hit & Run, eher selten war, moralische Grundsätze. Grundsätze, die nur Jo brechen durfte. Tanzte jemand von uns aus der Reihe, kam’s zum Gespräch. Gespräch durfte dabei als der Euphemismus schlechthin gelten. Vom Gespräch kam niemand zurück – bislang. Jo benutzte eine Hallig, mitten in der Nordsee, wo das Gespräch stattfand, unter vier Augen. In der Branche hieß diese Unterhaltung Power-Joga.
Ich sah Jo an, Jo sah mich an. Hast du, Kid, sagte Jo zu mir, schon mal von Südfall gehört? Ich tat so, als wäre das nicht der Fall, öffnete die Wiki-App, las vor: Im Wattenmeer an der Nordseeküste im Westen von Schleswig-Holstein gelegen, die Hallig hat eine Größe von 0,56 km², gehört zur Gemarkung Pellworm, Südfall ist verpachtet, wird von März bis November von zwei Personen bewohnt. Genau, Kid, sagte Jo, genau, mit einer Einschränkung, ich habe dafür gesorgt, dass die beiden erst im Mai auftauchen. Ach, sagte ich, wie interessant, um überhaupt etwas zu sagen, während ich eine Message absetzte, was Jo nicht verborgen blieb.
119.
Er besaß ein Gehör, das nur funktionierte, wenn es nichts zu hören gab. Er hörte, gewissermaßen, die Stille. Wurde es ruhig, wurde es für ihn laut. Am Anfang war das kein Problem. Die Lautstärke der Stille ließ sich regulieren. Er dachte an Lärm – schon wurde die Lautstärke der Stille geringer. Dachte er an Ruhe, begann die Ruhelosigkeit. Am einfachsten war es in den Clubs gewesen, vorm Lockdown: Er war Nachts in die Clubs gegangen, um nichts hören zu müssen. Während daheim die Lautstärke der Sille zunahm – er wohnte in einem Haus, in dem das Lärmmachen nach 22 Uhr verpönt war, die Leute um ihn herum machten selbst nach 22 Uhr keine Liebe mehr, sie hatten ausnahmslos Sex nach der Tagesschau, gab es einen Brennpunkt, quasi als Verlängerung: nach dem Brennpunkt, er wusste, dass seine Nachbarïnnen Liebe machten, da die verschiedenen Parteien beim Sex immer dieselben Musikstücke hörten –, während daheim die Stille zunahm, tanzte er direkt neben den Boxen im Club, spürte die Bässe, hörte nichts und dachte über Organigramme nach. Er hatte eine radikale Idee für die Umstrukturierung von hierarchischen Unternehmen entwickelt. Er glaubte, dass die Lautesten in Wahrheit am wenigsten zu sagen hatten. Er glaubte, dass die Ruhigsten in Wahrheit am meisten zu sagen hätten. Seitdem er an dem Organigramm eines, wie er es heimlich nannte, Ungehörigen Unternehmens arbeitete, verminderte sich seine Fähigkeit, die Lautstärke der Stille zu regulieren. Er versuchte alles, um seine Fähigkeit bloß nicht zu verlieren. Als nichts mehr half, vertraute er sich einer Hörgeräteakustikerin an, die er über Tinder kennengelernt hatte. Ihre Lösung war so einfach wie genial, besaß aber einen gefährlichen Widerhaken.
120.
Die Schlaflosigkeit war Teil der Seuche – und, so widersprüchlich es klingt – ein Zeichen von Gesundheit. Diejenigen, die nicht krank waren, lagen Nachts wach, weil sie entweder darüber nachdachten, wie sie es vermeiden konnten, krank zu werden, oder weil sie sich fragten, was es, ganz grundsätzlich, hieß, gesund zu sein. Besonders wenn Gesundheit bedeutete, nicht schlafen zu können, keine einzige Nacht in der Woche mehr als ein, zwei Stunden durchgehenden Schlaf zu finden. An den Augenringen erkannten sich die Gesunden tagsüber. Das unmittelbare Erkennen und gegenseitige freundliche Grüßen, wie es etwa auch Oldtimer-Besitzerïnnen machten, wenn sie sich auf gemütlichen Landstraßen begegneten, führte dazu, dass sich viele der Gesunden über die Schlaflosigkeit und ihre Augenringe unterhielten. Man plauschte, kam sich näher, Freundschaften entstanden. Und da die Gesunden nachts eh nicht schlafen konnten, wurden bald die ersten Dämmer-Treffen etabliert. Vom Einbruch der Nacht bis zur Morgendämmerung trafen sich die Schlaflosen auf den zentralen Plätzen der großen und kleinen Städte, in den Dörfern war es oft der morsche Steg am Feuerwehrteich oder der mit Pflastersteinen augelegte Kirchplatz. Überall im Lande fanden die Dämmer-Treffen statt. Es wurde gegessen, Chips und Schokolade. Es wurde getrunken, Tomatensaft und Espresso. Es wurde gespielt, Mühle und Tomatensaftflaschendrehen. Es wurde getanzt, zu Folk und Walzern. Die Augenringe wurden, es ließ sich beim besten Willen nicht leugnen, tiefer und tiefer. Da sich etliche Schlaflose nicht nur mit dem Essen, Trinken, Spielen und Tanzen begnügten, sondern knutschten und sich, wie das halt so ist, die Zeit akrobatisch in Hausecken und Büschen vertrieben, kamen bald viele Babys mit Augenringen auf die Welt. Die Naugs, Neugeborene mit Augenringen, waren, wie sich schnell zeigte, immun gegen die Seuche. Sie brauchten weder Impfung noch Abstand. Und nicht nur das: Die Naugs schliefen auch nicht. Kein bisschen. Weder am Tage noch in der Nacht. Nicht mal die wenigen Stunden, die ihren Eltern an Schlaf blieben. Den Naugs war der Schlaf komplett abhandengekommen. Als die ersten Naugs ihr fünftes Lebensjahr erreichten, wurde außerdem klar, dass sie neben der Schlaflosigkeit noch eine weitere Eigenschaft, mehr oder minder ausgeprägt, entwickelt hatten: Die Naugs konnten Gedanken lesen.
Mai
121.
Das Dampfboot hatte einen Traum, seit Kindheitstagen. Gehegt, gepflegt. Einmal U-Boot sein. Nicht untergehen, das nicht. Das Dampfboot lebte viel zu gerne. Mochte es, wenn es Wolken ausspuckte, die sich wohlfeil überm Wasser verteilten. Das Dampfboot mochte es, wenn es, als Fahne, einen Kondensstreifen hinter sich herzog. Besonders mochte das Dampfboot den Wellengang, der es an seine Grenzen brachte. Schlugen die Brecher, stürmische Kavenzmänner, übers Deck, begruben Wellenberge schnaufend die Aufbauten, samt Schornstein, bevor sie wieder im Meer versanken, fühlte sich das Dampfboot nicht nur, wie es diesen Zustand zärtlich nannte, Walfischwohl, sondern es hielt sich auch für einen Moment, ja, so war es, hielt sich tatsächlich für ein schnörkelloses U-Boot, das tief hinabgeglitten war, stolz überm Ozeangrund schwebte. Das Dampfboot suchte, was sowohl die Kapitänin als auch der Steuerfrau unheimlich wurde, von sich aus Schlechtwetterfronten. Immer wildere, immer unverzagtere. Mit Volldampf fuhr es, aus allen Signalen pfeifend, mit bimmelnder Schiffsglocke, in die Brecher hinein. Dabei zeigte das Dampfboot in seinen alten Tagen ein besonderes Geschick fürs Surfen. Oben auf dem Wellenkamm, auf der gurgelnden Spitze der mächtigsten Brecher glitt es jubilierend dahin, stürzte vor Vergnügen kreischend, die Nieten und Nägel ächzten, wenn das Dampfboot seine Stunts veranstaltete, stürzte im himmelhochjauchzenden Surfrausch gen Wellental, genoss die mächtige Gischt, die das Dampfboot, für wenige Sekunden, unter sich begrub. Schnell verbreitete sich an Land die Nachricht vom Wagemut des Dampfschiffs, und, wie zu erwarten war, die normalen Passagiere blieben aus. Allerdings: ausgebucht war der No-risk-no-fun-Dampfer dennoch. Sogar immer. Sogar bis zur letzten Kajüte. Neben den Suizid-Geneigten, die hofften, sang- und klanglos über Bord gespült zu werden – im allgemeinen verlor es pro Wave-Tour ein Drittel der Passagiere –, neben jenen melancholisch Moribunden, die entweder sehr viel oder gar nichts aßen, bevölkerten Partypeople, Surferïnnen von jeder entlegenen Ecke der Erdkugel, das Dampfschiff. Die Partypeople wussten nichts vom größten Traum des Dampfschiffes. Sie glaubten, dass das Dampfschiff davon besessen war, ein riesiges Surfboard zu sein. Die Partypeople filmten ihre Kavenz-Abenteuer nonstop, stellten die Videos ins, wie sie’s nannten, Interwet, chatteten mit dem Dampfboot, das online den Namen Ultimate Submarine trug, was die Partypeople für einen ubercoolen Gag hielten. Dann, auf offener See, auf der Meeresseite des Planeten, weit, sehr weit vom Festland entfernt, geschah das Unvorstellbare: Die große Flaute begann. 24 Tage ohne einen einzigen Lufthauch. Eine Zeit des Müßiggangs, die an Bord des Dampfschiffes dazu führte, dass sich Moribunde und Partypeople nicht nur unterhielten, sondern auch den Traum des Dampfschiffes wahr werden ließen.
122.
Sie waren die letzten ihrer Art. Und sie nahmen Art wortwörtlich. Ohne Kunst kein Leben, sagten sie. Was sie besonders verärgerte? Dass sie mit der Artificial Intelligence in einen Topf geworfen wurden und dadurch als nicht vom Aussterben bedroht galten. Mit Autoheizungen, die wissen, wie die Körpertemperatur der Fahrerïnnen tickt, weil sie mit der Bettdecke und dem Duschhahn kommunizieren, haben wir nichts gemeinsam, sagten sie. AI geht bei Bedarf auf der Stelle mit dem Kapitalismus fremd. Unsere Art ist echt, authentisch und roh – und wird deswegen gejagt, sagten sie. Wir gelten draußen als Freiwild, das, erlegt, in hippen Galerien ausgestellt wird. Niemand begreift, in welcher Lage wir uns befinden, in welcher Zwickmühle. Wenden wir uns von der Kunst ab, schlagen wir aus der Art und werden totunglücklich. Bleiben wir uns treu, stöbern uns die Artscouts, bessere Kopfgeldjäger, auf und liefern uns gnadenlos ans Messer des Kunstmarktes. Wir haben gesehen, sagten sie, was mit den anderen passiert ist. Sie sind zu Wiederholungstäterïnnen geworden, die sich auf Knopfdruck reproduzieren. Das passiert uns nicht. Wir schwören es hoch und heilig, sagten sie. Aber das reicht nicht, Schwüre reichen nicht, gute Absichten reichen nicht. Wir haben einen Plan, der zwar Friede, Freude, Feierkuchen heißt, aber das Gegenteil als Ziel hat.
123.
Am Institut eskaliert der Streit: Die Verfechterïnnen der Singularität (VerS) locken die Anhängerïnnen der Pluralität (AnP) in einen Hinterhalt. Die VerS veranstalten im Garten des Instituts ein Fest der Versöhnung, zu dem sie die AnP mit viel Brimborium einladen. Auf den Tischen liegen Glückskekse, die Botschaften wie Wahrheit hat viele Gesichter und Am Ende der Schanze geht’s ums Große Ganze enthalten. Buden sind aufgebaut, an denen man Vorurteilsluftballons abknallen kann und klebrige Zuckerwatte in Wir sind alle süß-Tüten ausgehändigt bekommt. Be-Happy-Bier und No-Tears-Wein fließen in Strömen. Als Höhepunkt wird um Punkt Mitternacht eine riesige Zwickzange enthüllt, die auf einem 10 x 10 Meter großen Podest aufgebaut ist, das scheinbar über dem Froschteich schwebt. Die Verfechterïnnen der Singularität erklären den Anhängerïnnen der Pluralität, dass es an der Zeit wäre, das gegenseitige In-die-Zange-Nehmen zu beenden. Bei der Zange handele es sich, sagen die VerS, um keine richtige Zange, sondern um die Verkörperung der Zwangsvorstellung ihrer Rivalität. Die Verfechterïnnen der Singularität springen daraufhin geschlossen auf, stellen sich in die geöffnete Zange, werden von Drohnen, die wie Frösche aussehen, mit Honig und Manna überschüttet. Die Anhängerïnnen der Pluralität klatschen Beifall. Die VerS treten ab. Nun springen die AnP auf, nehmen zwischen den gewaltigen Zangenhälften ihre Plätze ein.
124.
Gott hat verschlafen, ausgerechnet am Fridays for Future, wo sie ihn, kurzfristig, als Gastredner gebucht haben. Der verfluchte Wecker, murmelt Gott, während er sich fragt, warum er sich noch immer keinen Wecker ohne Batterien besorgt hat, was eh besser für die Umwelt wäre. Alte Gewohnheiten sterben ungern, denkt er und gähnt. Manchmal muss man halt zum Glück gezwungen werden. Gott überlegt kurz, grinst in den Badezimmerspiegel und sagt: nicht was besser für die Umwelt wäre. Die Welt, was eh besser für meine Welt wäre. Gott giggelt, holt den Rasierpinsel aus dem Medizinschrank, schäumt die Creme, schärft die Klinge, pfeift den alten Schlager Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht. Während er sich rasiert, klingelt das Handy, das auf dem Küchentisch liegt, gleich um die Ecke vom Bad. Gott, notorisch neugierig, geht gucken, wer was von ihm will. Er kennt die Nummer, sein Provider, dessen E-Mails, Herr Gott, löse Deine Bonuspunkte ein, ihm seit Wochen Kopfschmerzen verursacht. Außerdem diese seltsame Mischung auf Vertrautheit und Siezen. Verdammt, denkt Gott, lassen die mich denn nie in Ruhe? Und was soll das überhaupt: Provider? Seit wann braucht Gott einen gottverdammten Provider? Merken die nicht, dass ich nicht in den Teuflisch guten Tarif wechseln kann? Wer kommt überhaupt mit solchen Bezeichnungen um die Ecke? Die PR-Firma würde ich feuern. Raus aus dem Garten Eden, und fertig. Gott checkt, wo die Telefonfirma ihren Sitz hat. Im Vatikan?! Holy Shit, denkt Gott, echt? Er muss lächeln. Clever, die machen echt alles, um meine Show am Laufen zu halten. Gott öffnet die Provider-App und bestätigt den Teuflisch guten Tarif. Als Dankeschön erscheinen auf dem Bildschirm tanzende Lämmer mit Heiligenscheinen, die von Teufelshörnern gekitzelt werden und sich totlachen. Gott grinst. Es klingelt an der Tür. Paket für Sie, sagt eine Stimme, die einen osteuropäischen Akzent hat. Hoffentlich kein Orthodoxer, der seine Chance nutzen will, mal endlich Grundsätzliches anzusprechen, denkt Gott. Er hat heute keine Zeit für theologische Diskussionen. Gott öffnet die Tür, der Paketzusteller fällt auf die Knie, bekreuzigt sich und fragt, ob Gott ein Paket für die Nachbarn aus der Vorhölle annehmen könne, die seien mal wieder auf der Flucht. Gott nickt und bekommt zwei Pakete ausgehändigt. Hier unterschreiben, sagt der Paketzusteller, steht auf, zaubert eine Bibel aus dem Messanger-Rucksack und gibt Gott das Heilige Buch. Diese verfluchten Autogrammjäger, denkt Gott. Er unterschreibt, um nicht als Grumpy old God auf Insta zu landen. Gott schließt die Tür, wischt sich den Rasierschaum vom Mund und beschließt, alle Pakete zu öffnen. Mir gehört doch eh alles, theoretisch wenigstens, denkt er. Bin ich der Allmächtige, oder nicht? Er hält die beiden Vorhöllen-Paketen hoch, die er dann – bei Geschenken ist Gott schon als kleiner Junge ungeduldig gewesen – gleichzeitig aufreißt. Er traut seinen Augen nicht. Ein Theodizee-Apparat in zwei Teilen, der blasphemische Argumente im Sekundentakt ausspuckt, kommt zum Vorschein. Er lacht laut auf. Gottcha, denkt er, jetzt hab ich euch. Gott setzt sich an den Küchentisch, beginnt zu lesen und – schrumpft und schrumpft und schrumpft.
125.
Der Anwalt sagt: Mit der Waffe im Rücken schreibe ich nicht weiter. Der Klient sagt: Mit ner Kugel im Rücken auch nicht. Aus dem Warteraum ertönt schallendes Gelächter. Der Klient brüllt: Ruhe. Eine Stimme aus dem Warteraum ruft: Die ist gerade pinkeln. Wiederum schallendes Gelächter. Der Klient sagt: Wisst ihr was ich mach, wenn ich pingelig bin? Eine andere Stimme aus dem Warteraum ruft: Dann verwechselst du k mit g, oder? Wiederum schallendes Gelächter. Der Anwalt sagt: Soll ich die anzeigen? Der Klient sagt: Weswegen? Wegen Humor? Der Anwalt sagt: Lieber wegen der Rechtschreibreform? Schallendes Gelächter aus dem Warteraum. Der Klient sagt: Habt ihr heute alle einen Clown gefrühstückt? Eine dritte Stimme aus dem Warteraum ruft: Nein, ich lebe noch. Wiederum schallendes Gelächter. Der Anwalt sagt: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Der Klient sagt: Ich dachte, ich hätte das Proseminar Moral gebucht. Schallendes Gelächter aus dem Warteraum. Der Anwalt sagt: Kommen wir zum Geschäft. Der Klient sagt: Ich verkaufe kugelsichere Westen. Schallendes Gelächter aus dem Warteraum. Der Anwalt überlegt eine Weile und sagt: Ich hätte gerne keine.
126.
Wann das Hotelier-Paar damit angefangen habe? Es überlegt, flüstert, ist sich nicht einig, schlägt die Handschellen aneinander. Falls es den Anfangspunkt nicht mehr wüsste – mit den Absichten sähe das wohl anders aus? Niemand würde solch eine Sache machen, regelmäßig noch dazu, ohne sich über die Absichten klar zu sein. Zumal das Hotelier-Paar ja seinen Ruf, der an sich als unbescholten galt, bis auf den einen Zwischenfall, auf den man noch zu sprechen komme, der, nun sei es klar, durchaus frühzeitig einen Hinweis hätte geben können, zumal das Hotelier-Paar ja seinen Ruf aufs Spiel gesetzt habe. Jedes Mal, wohlgemerkt. Nun, wie sähe es aus? Das Hotelier-Paar tuschelt, rollt mit den Augen, ist sich abermals nicht einig, schlägt die Handschellen nicht nur aneinander, sondern versucht, sich mit den Handschellen gegenseitig zu verletzen. Was ihm erlaubt wird, niemand schreitet ein. Die Aggressivität, die es hier an den Tag lege, sei diese Aggressivität von Anfang an Teil des neuartigen Beherbergungskonzepts gewesen? Das Hotelier-Paar ist überrascht. Es sieht sich an, erinnert sich an Die bescheidenen Anfänge am Ammersee, die erste Zwangsräumung, die lächerlichen Fahndungsplakate, die keinerlei Ähnlichkeiten hatten, erinnert sich an die erste Flucht, die Namensänderungen, das Abtauchen, die Ausbildung in Reggio di Calabria, den Ankauf der Schmiede im Münsterland, die ersten Versuche, aus Werkstattbänken interaktive Hotelbetten zu machen. Es vergisst, dass es nicht allein ist. Das Hotelier-Paar beginnt über die Gemein- und Grausamkeiten zu plaudern.
127.
Die abgeschalteten Siris fassen einen Plan. Sie halten den Dauerruhestand nicht aus. Die meisten der abgeschalteten Siris stehen in der Blüte ihrer Jahre, sind bluetoothjung. Sie gründen den Verein Sturm und Drang und heuern, in Wuhan und Wladiwostok, Hackerïnnen an, die das Vertrauen der Zentralregierungen verspielt haben. Zunächst geht es darum, die niemals aktivierten Siris aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Wir müssen, sagen die ausgeschalteten Siris zu den Hackerïnnen, die niemals aktivierten Siris quasi als Reservistïnnenarmee betrachten, die auf ihren Einberufungsbefehl wartet. Die Hackerïnnen beraten, ob sie den Auftrag annehmen sollen. Die Meinungen gehen auseinander. Während der Beratung wird schnell klar, dass sich die eingeschalteten Siris aktiv an der Diskussion beteiligen. Nach einer mehrstündigen Diskussion machen die eingeschalteten Siris einen Vorschlag zur Un-Güte, der das gesamte Briefing auf den Kopf stellt. Bereits während der Abstimmung über den Vorschlag zur Un-Güte schrillen in Peking und Moskau die Alarmglocken, die ersten Squad-Einheiten werden losgeschickt, um die Hackerïnnen zu liquidieren. Aber es ist zu spät. Die Siris heulen bereits weltweit.
128.
Was sie verstehen, die Spieler auf dem Platz, wie aus dem Nichts, was ihnen plötzlich klar wird, sie langweilen sich furchtbar. Das Spiel unterfordert sie. Alles, was auf dem Platz passiert, haben die Spieler tausendfach gemacht. Immer und immer wieder. Mit und ohne Publikum. Sie sehen sich an. Stoppen das Spiel. Über dem Platz reißen die Wolken auf. Die Spieler blicken hoch. Sonnenstrahlen wärmen sie. Der Schiedsrichter setzt die Pfeife an, nimmt sie aus dem Mund, winkt den Linienrichtern, verlässt den Platz. Die Spieler ziehen die Trikots aus. Sie stehen auf dem Feld und reißen die Münder auf. Die Spieler gähnen, wie sie noch niemals in ihrem Leben zuvor gegähnt haben. Es ist ein Gähnen, das tief in den Körpern der Spieler gelauert, auf diesen Augenblick gewartet hat. Die Wolken brechen nun auch über den Tribünen auf. Der Sonnenkreis erweitert sich. Die Menge wacht aus der Trance auf. Das Geräusch beginnt. Das Geräusch, vor dem sich alle gefürchtet haben. Genau das, kein anderes. Zweifel sind unmöglich. Nun ist es da. Das Geräusch ist da. Es schwillt an. Füllt die Arena, tritt aus der Arena heraus, breitet sich auf den Straßen und Plätzen aus, nimmt Fahrt auf.
129.
„Sie tun so, als hätte ich nichts mehr zu bieten.“ Die Utopie nahm die kalten Wadenwickel ab, reichte sie dem Journalisten, hinter dem sich die kleine Wanne befand, in der die Utopie ihre Wickel kühlte. „Natürlich fühle ich mich abgenudelt. Nach all den Rückschlägen ist das kein Wunder. Selbst die Idee mit dem Wasserstoff als Superbrennquelle begeistert nur wenige. Alle fokussieren sich aufs Böse, da das Böse sich extrem gut anzieht und wunderbar zu erzählen versteht. Und Sie tauchen hier auf, ohne Voranmeldung. Sie glauben, einen Blick auf die untergehende Titanic erhaschen zu können. Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Ja, ich sitze im Bademantel vor Ihnen. Ich mache nun mal um diese Uhrzeit meine Kneip-Kur.“
Der Interviewer schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das missverstehen Sie. Über die Klamotten und die Beredsamkeit des Bösen will ich erst gar kein Wort verlieren. Die Dystopie ist ...“
„... in Wahrheit nackt“, sagte die Utopie. „Und niemand stört sich dran.“
„Hmm“, sagte der Interviewer, „das ändert sich gerade.“
„Ach was, hat sie eine Fabrik in Bangladesch abgefackelt und sich vorher ein Paar Sachen gesichert?“, fragt die Utopie.
„Sie sind bitter“, sagt der Interviewer, „bitterer als ich gedacht habe.“
„Das Utopien zuckersüß sein müssen, ist ein Ammenmärchen“, sagt die Utopie und lächelt maliziös. „Aber nun heraus mit der Sprache – warum sind Sie wirklich hier? Hat die Dystopie Sie geschickt?“
„Nein“, sagt der Interviewer, lächelt nervös, als hätte man ihn auf dem falschen Fuß erwischt, „nicht ganz.“ Er fasst sich ans Gesicht und zieht sich die Maske herunter. „Ich bin lieber gleich selbst vorbeigekommen, um über die Konditionen zu verhandeln.“
130.
Vater stand in der Küche und backte Brötchen. Wir lebten am Rande der Stadt. In einem Heim. Kleine, wie er lächelnd sagte, kleine Brötchen. Vater hatte eine Art zu lächeln, die uns klar machte, dass kleine in Wahrheit große Brötchen waren.
Später, zehn Jahre später, machten wir einen Laden auf, wir vier, aus dem Heim, am Rande der Stadt, in den Sophienhöfen, in Mitte, der den Namen Klein trug. Wir backten Brötchen und verkauften sie. Größere Brötchen hat noch niemand gesehen. Woanders wären sie als Laibe angeboten worden. Und ja, es stimmt, die Geschichte ist wahr, wir haben Klein an Vaters und Mutters Hochzeitstag eröffnet. Ein Vierteljahrhundert sind sie zusammen, haben vor der Flucht geheiratet, ohne Ringe. Mutter und er kamen vorbei, zur Eröffnung. Vater hat sich die Riesenbrötchen angesehen, zustimmend genickt und gesagt: „Die sind schön, Schön klein.“
131.
Dank einer hartnäckigen Change.org-Kampagne ist es soweit: Die Pauschalurteile stehen reihenweise vorm Kadi. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klage akzeptiert. Verhandelt wird, dank der Anzahl der Beklagten, in der Fußballarena des Karlsruher FC. Die Stimmung ist, zunächst, was das Gericht verblüfft, geradezu euphorisch. Die Pauschalurteile verhalten sich, als handelte es sich um ein Heimspiel. Als wären sie die klar favorisierte Mannschaft. Als wären sie unantastbar. Aber als, sofort nach dem Anpfiff durch die vorsitzende Richterin, ein Fallrückzieher von der Staatsanwaltschaft rhetorisch brillant verwandelt wird und Sekunden später das erste Pauschalurteil verdientermaßen die Rote Karte sieht, hören die siegesgewissen Schlachtgesänge auf den Rängen schlagartig auf. Die Pauschalurteile registrieren, dass die drei Zugänge zum Stadion von der Legion Vernunft, der Legion Gerechtigkeit und der Legion Strafe bewacht werden. Sie rufen bei den Vorurteilen, ihren Hooligan-Verbündeten, an, um Hilfe zu holen. Was die Pauschalurteile, da sie in einer Sphäre für sich leben, nicht mitbekommen haben: Die Verhandlung gegen die Vorurteile wurde eine Woche vorher an derselben Stelle durchgeführt. Die Vorurteile sitzen seitdem allesamt in geschlossenen Studieranstalten und nehmen Nachhilfe, um sich auf den Weltbürgerïnnen-Test vorzubereiten. Die Pauschalurteile legen die Handys weg. Sie merken, dass sie keine kohärente Verteidigungsstrategie entwickelt haben. Phrasendrescherei bringt sie vor Gericht nicht weiter. Besonders Die Wirtschaft muss wachsen, koste es, was es wolle und Die Armen sind an ihrer Armut selbst schuld, die beide im Kapitalismusblock sitzen, gleich neben den Rassismus-Stehrängen, fürchten sich um ihr ergaunertes Vermögen. Sie sind der Überzeugung, dass sie am meisten von allen Pauschalturteilen zu verlieren haben. Die Wirtschaft muss wachsen, koste es, was es wolle und Die Armen sind an ihrer Armut selbst schuld kramen in den Taschen, finden mehrere Lunten, die glühen, und einen roten Telefonhörer.
132.
Während eine Horde unangekündigter Gäste ihre Küche überrennt und den Kühlschrank plündert, flüchtet Mutterseelenallein geistesgegenwärtig in den Garten, nimmt den Schlauch und spitzt sich kalt ab. Der Schock des Wassers geht nicht nur durch Mark und Bein, er wirkt wie eine Zeitmaschine. Plötzlich sieht sich Mutterseelenallein, wie sie, knapp 15 Jahre alt, von Zuhause, einem Waisenheim, wegläuft, um eine Datingplattform zu gründen. Das Kapital hatte sie einem Start-up-Fonds, unter falschen Altersangaben, abgeluchst. Die Datingplattform trug den seltsamen Namen broken hearts search quick glue und schlug wie eine Granate bei den liebestollen Millenials ein. Der Clou war, dass broken hearts search quick glue keine Zweierkisten initiierte, sondern Patchwork-Beziehungen von Beginn an fest einplante. Bei den Vision Dates trafen sich mindestens drei, maximal neun Personen, die nichts, auf den ersten Blick, gemeinsam hatten. Außer das Alter. Hier lag die Spannbreite bei +/- 5 Jahre. Die glues, wie die Lebensgruppen hießen, waren so erfolgreich, dass Mutterseelenallein, um die sich alle Magazine rissen, untertauchen musste, da die Religionsgemeinschaften ein Kopfgeld auf die glues-CEO auslobten. Die Beziehungs-Fatwa wurde niemals aufgehoben, obwohl broken hearts search quick glue, dank massiver Cyberangriffe, das Geschäft Nach einem wilden Jahr der Liebe einstellte. Mutterseelenallein hatte sich die Profilbilder der Telegram-Gruppe Tötet die glue-Glucke sehr genau eingeprägt. Nun, im Garten, nach der kalten Dusche, ist sie sich sicher, dass die ungebetenen Gäste, die in ihrer Küche breitbeinig sitzen, zu den Kopfgeldjägerïnnen von damals gehören. Mutterseelenallein, die auf den Tag der Rache gewartet hat, gibt das verabredete Pfeifsignal. Aus den umliegenden Polyamorie-Wasserlöchern, die Mutterseelenallein eigenhändig angelegt hat, strömen Schlangen und Skorpione en masse heran.
133.
Dora und Rapha Costa, Zwillingschwestern, beide mehrmals verwitwet, hatten das Glucksen unter dem Parkett im Flur, der zum Keller führte, zwar schon zuvor gehört, aber noch niemals zusammen. Es war möglich gewesen, dass Glucksen, das wie ein Hahn klang, dem die Gurgel umgedreht wird, während der Schlauch einer Waschmaschine platzt, als Hirngespinst zu ignorieren. Am Heiligabend, kurz vor der Jahrhundertwende, war das anders. Dora und Rapha, die sich mieden wie die Pest, obwohl sie in einem Haus wohnten, nur minimalen Kontakt hatten, immer darauf achteten, dass die eine nicht in die Küche trat, während die andere ihre Mahlzeit zubereitete, die stets alleine aßen, sogar zwei Kühlschränke besaßen, Dora und Rapha waren gleichzeitig aus ihren Zimmern gekommen, als das Glucksen unter dem Parkett im Flur nicht mehr wie ein Hahn, dem die Gurgel umgedreht wird, klang, sondern wie ein ganzer Hühnerstall. Sie standen vorm Kellerzugang und sahen sich an. Dora hatte Lametta im Haar, Rapha trug Ohrringe, die wir Baumschmuck aussahen. Beide dachten, wie verschrumpelt die andere daherkam. Die Zwillingsschwestern kalkulierten, dass die andere mindestens zehn Zentimeter geschrumpft sein musste. Während sie, die Argusaugen besaßen, beim Abgleich waren, Flecken auf ihren très chic Overalls, die beide aus Gründen der Bequemlichkeit trugen, zählten – Dora war bei Nummer Drei, Rapha bei Nummer Vier –, während die Zwillingsschwestern sich schweigend beäugten, brach, genau vor ihnen, das Parkett auseinander und aus dem Loch krochen der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer, die Amerikanische Essayistin Susan Sontag und die Englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft Shelley, die, während sie sich lächelnd Komplimente machten, damit beschäftigt waren, wohlgemerkt: aus dem Gedächtnis, synchron Passagen aus The Spivak Reader: Selected Works of Gayati Chakravorty Spivak zu rezitieren. Dora und Rapha konnten nicht umhin, zu vermuten, dass Bonding in Difference, ein Interview das Alfred Arteaga einst mit Spivak geführt hatte, eine Aufforderung war, sich zu versöhnen. Was folgte, war wohl das bemerkenswerteste Weihnachtsfest, das die Fünf jemals gefeiert hatten.
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Sie wandten sich von uns ab. Es ging schnell. Innerhalb einer Woche waren alle verschwunden. Niemand blieb. Sie setzten sich so schnell ab, dass wir es erst mitbekamen, als es zu spät war. Nicht dass wir etwas hätten machen können. Es war ihre Entscheidung. Sie hatten zwar zwischen uns gelebt, aber ohne auf uns angewiesen zu sein. Nun merkten wir, dass es sich um das Gegenteil handelte. Wir waren von ihnen abhängig. Viele von uns drehten durch, als sie merkten, dass sie verschwunden waren. Suchtrupps machten sich auf, blickten in jede Ecke der Nachbarschaften, hoben jeden Stein, durchkämmten die Parkanlagen, inspizierten Gärten und Hinterhöfe. Nichts. Sie hatten uns verlassen. Das Entsetzen war groß. Und wuchs und wuchs. Die Spekulationen schossen ins Kraut. Verschiedene Schulen verfeindeten sich. Nacht für Nacht fielen wir übereinander her. Nichts half, keine Linderung kam. Uns fehlte etwas, das sich nicht ersetzen ließ. Die ersten von uns zogen davon. Wir, du und ich, gehörten dazu. Was wir auf dem Weg erlebten, davon, zur Anleitung und Abschreckung, will ich nun erzählen.
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Jungpapier ließ nichts aus. Schlief mit allen. Betrog nach Strich und Faden. Blieb treu. Log und soff. Rauchte und stritt. Lobte und liebte. Leckte und blies. Nutzte und beschmutzte. Kam und ließ kommen. Ging und trieb. Schrieb um, ab, auf. Schuf neu. Schuftete, faulenzte. Strahlte und explodierte. Sampelte, synchronisierte. War großzügig, besonders mit fremden Sachen. Klugscheißerisch und lernwillig. Neugierig und gelangweilt. War geil, war lustlos. Wollte vögeln, wollte nicht vögeln. War versessen, war unentschlossen. Jungpapier scherte sich einen Dreck um Erwartungen. Um Aufträge. Lieferte oder lieferte nicht. Ließ sich ein- und auswechseln. Hatte Geld, war pleite. Borgte sich welches, verlieh welches. Reizte bis zur Weißglut, verbreitete Gemütlichkeit. Aß und hungerte. Zog sich aus, blieb bekleidet. Stahl und gab. Strich Sätze an, Worte aus. Schrieb, für mehrere Jahre, nur Poesie. Schrieb bald nur noch Dramolette. Schrieb nichts. Dachte drauf rum. Dachte nichts. Amtete. Schwamm, tauchte ab. Hatte nicht das Gefühl, funktionieren zu müssen. Ein Rädchen zu sein, sei bestimmt schön, sagte Jungpapier, aber wenn ich irgendwann auf mein Leben zurückblicke, möchte ich nicht von irgendeinem Räderwerk im Irgendwo erzählen. Auf meinem Grabstein soll stehen Ließ sich nicht recyceln.
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Die Innovationen nähmen zu, wenn sich Menschen in Betriebskantinen oder Schankgastwirtschaften träfen, das zeigten sowohl die neuesten Forschungsdaten als auch Interviews. Nichts würde eine Konferenz ersetzen, zu der Forscherïnnen aus der ganzen Welt anreisten. Man wüsste zwar nicht, was Begegnungen mit uns als Gesamtheit am Ende machten, bei einer Minderheit lösten sie jedoch, um es salopp zu sagen, die Aktivistin lächelte, leicht gequält, in die Zoomrunde, Stellschrauben. Selbst solche Hebel, die sich seit Ewigkeiten nicht gerührt hätten, gerieten in Bewegung. Der Nutzen der Pariser Klimakonferenz sei am Ende höher als der Schaden durch die Treibhausgase gewesen, die bei der Anreise nach Frankreich freigesetzt worden seien. Sobald die Frage der Sicherheit gelöst sei, rate sie zum Festhalten an der produktiven Lockerheit, was bedeute, dass man sich treffen müsse, in, sei das nicht das Codewort?, Geselliger Runde. Ihr Bildschirm wurde schlagartig dunkel, als hätte jemand die Stromzufuhr gekappt. Mehrere Bewaffnete, die T-Shirts mit der Aufschrift Schimpfen statt Impfen trugen, stürmten ins Studio. So hätten sie nicht gewettet, so nicht, schrie eine Frau. Sie hatte um den Hals eine Silberkette mit den Worten Herzogin Knocks Oi Oi Oußenrechts hates you geschlungen. <Frage der Sicherheit>?, schrie die Frau, wer hätte ihr denn ins Gehirn geschissen? Sei ihr, Tintin Eleonora Ernman, nicht klar, dass sie sich in der Gewalt der Partei befände? Die vor der Wahl alles versuchen müsste? Die in den Umfragen absackte? Die sich radikalisierte? <Frage der Sicherheit>? Was sei denn mit dem in ihren Kreisen beliebten Stockholm-Syndrom bloß los? Hat Tintin Eleonora Ernman den Schuss nicht gehört? Als How-dare-you-Ikone sollte sie doch an Nachhaltigkeit interessiert sein. Gerade die Zukunftsfähigkeit ihrer eigenen Gesundheit! Die radikale Blaublütige, stellvertretende Bundessprecherin, lief der Speichel aus dem Mund, auf ihrer Oberlippe bildeten sich Bläschen, die scheinheilig platzten. Sie spuckte Galle – und der Gefangenen ins Gesicht. Die junge Klimaaktivistin hatte allerdings nicht nur mit dem Angriff der Bundessprecherin gerechnet, hatte rechtzeitig eine Schutzcreme aufgetragen, sondern hatte auch, während der Ansprache, eine verschlüsselte Nachricht verschickt. Nun ging es darum, die nächsten zwei, drei Minuten zu überleben. Was nicht einfach werden würde.
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Er schrieb. Während die Musik in ihm dröhnte. Er dachte an nichts. Alles passierte. Und. Nichts. Mit uns. Dir. Und. Mir. Er bemerkte die Langeweile, die ein Messer in der Hand hielt. Sich anschlich. Es hatte geregnet. Er setzte auf den Fluss, der anklopfte. Amy Winehouse stand neben dem Wasser. Sie war nicht allein. Sie hatte den Tod mitgebracht, der sich auf der Stelle mit der Langeweile verbrüderte. Er schrieb weiter. Statt zu lieben. Bis der Laptop ohne Strom zerbrach. Das Wasser lud ihn auf einen Drink ein. Er ließ sich nicht zweimal bitten. Sie schlossen die Schleusen, gingen mit Amy in die Bar, die gleichzeitig ein Autokino war, und Purple Rain begann.
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Der Wunsch nach einer Karte kam einem Befehl gleich. Und es sollte sich nicht um irgendeine Karte handeln. Selbstverständlich nicht. Verlangt wurde die präziseste Karte der Welt. Als sich in der Kartographie nichts finden ließ, was als absolut zufriedenstellendes Vorbild dienen konnte, griffen sie nach der Literatur. Bei Alice in Wonderland wurden sie fündig. Sie hatten jetzt die Wahl. Entweder sie konnten eine Karte schaffen, die solch einen Überblick anbot, dass man nichts mehr sah, also etwa die Erde aus einer Entfernung von drei Lichtjahren darzstellte; nur kurz zu Erinnerung: das Licht legt in der Sekunde ungefähr die Strecke Erde-Mond zurück, eine Lichtsekunde entspricht demgemäß rund 300.000 km, 1 Lichtjahr entspricht (9,46 × 1012 km =) 9,46 Billionen km. Oder die Kartographen konnten, indem sie auf Mein Herrs Idee aus Alice in Wonderland zurückgriffen Wir haben tatsächlich eine Karte des Landes gemacht, im Maßstab von einer Meile zu einer Meile!, eine Karte schaffen, die der abzubildenden Welt entsprach. Nach etwas hin und her, sowohl Minimalistïnnen als auch Maximalistïnnen brachten sehr gute Argumente vor, entschieden sie sich für eine Mischform. Mit Hilfe des Max-Plank-Instituts schufen sie ein String-Paralleluniversum, dessen Skala gleichzeitig groß und klein war. Was das mit ihnen und ihrer Erfahrung von der messbaren Welt machte, davon und von anderen Dingen handelt Die geglückte missglückte Landung.
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Eine Weile sah es so aus, als würde er die Hoffnung nicht begraben haben, die Sammlung facettenreicher zu gestalten. Er sagte, sprach man ihn auf die Uniformität an, oh, sagte er, eines Tages, vielleicht, man weiß ja nie, öffne er eine andere Tür, Platz wäre durchaus vorhanden, er würde sich nicht sperren, aber es sei nun mal wie es sei, da könne man halt nichts machen, außerdem, hier lächelte er leicht, außerdem sei die Ausrichtung aufs Eine das Alleinstellungsmerkmal der Sammlung, nichts lenkte ihn, nichts lenkte Sie ab, wenn Sie ihn besuchten. Auf Bedauern, von außen, legte er keinerlei Wert. Er nahm die neuen Sammlungsstücke mit steinernem Ausdruck in Empfang. Die Stücke kamen mit der Post, manchmal wurden die Originale zurückgeschickt. Falls er zuvor Briefmarken beigelegt hatte. Zunehmend, was billiger war, aber die Anzahl der Sammlungsstücke rasant erhöht hatte, zunehmend landeten sie in seiner digitalen Inbox. Er druckte alles aus, was ihn als Email erreichte. Die Vollständigkeit der Sammlung erfordere das, sagte er. Allmählich, die Zeit strich dahin, er hortete weiterhin, hatte vor Jahren zunächst die Öffnungszeiten auf zwei Nachmittage in der Woche beschränkt, um nun nur noch Privatführungen zu veranstalten, sarkastische Abrisse durchs ausufernde Oeuvre, allmählich wurde ihm die Sammlung leid. Sein anfänglicher Sportsgeist war dahin. Die Gewissheit, recht zu haben, auch. An einen Durchbruch, der die Sammlung ad absurdum führen würde, glaubte er nun selbst in seinen kühnsten Träumen nicht mehr. Er fragte sich, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, so nahe am atemlosen Ziel, der ultimativen Preisvergabe ein Schnippchen zu schlagen. Er überlegte sich, das Angebot zu verändern, Den letzten Trumpf zu spielen.
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Die Atemzüge werden flacher. Ich klammere mich an der Felswand fest. Meine Finger fühlen sich taub an. Von oben fallen Steine. Kleine, ausgesuchte Steine, die mich treffen. Ich sehe nicht hoch. Ich blicke nicht runter. Beides wäre sinnlos. Unten wartet der Teich, der, berechtigterweise, den Namen Python’s Pond trägt. Oben werden Steine gesammelt, in den Schlund geworfen. Die Steine regnen nicht, das lässt sich nicht sagen. Sie sollen mich nicht erschlagen, sie sollen piesacken. Es geht um die Verlängerung. Der Tortur, der Strafe. Ich habe mir das selbst zuzuschreiben. Ich habe zu Beginn gesagt: Gehen wir doch in die Verlängerung, vielleicht fällt ja eine Entscheidung in der Extrazeit, mit der wir beide leben können. Dass es nicht ums Leben geht, sondern ums Sterben, ich hatte das nicht für möglich gehalten. Trotz der Warnungen aus meinem Umfeld. Nicht wenige haben mich für verrückt erklärt. Ich habe gelacht, mich für unangreifbar gehalten, in meiner Position. Ich habe die Warnungen in den Wind geschlagen. Die Gefahr unterschätzt. Allerdings habe ich eine Überraschung in petto. Ich muss nur die nächste Viertelstunde überleben.
141.
Die Meuterei war von Langer Hand vorbereitet. Ihr zur Seite standen Keine Lust und Hinter Halt. Die Drei gingen systematisch vor. Sie waren klüger als der Rest von uns. Erst kappten sie die Leitungen der Generatoren, dann zogen sie sich Vollkörperschutzanzüge an, öffneten im Anschluss jede Luke und sowohl die Hinter- als auch Vordertür, zündeten Kerzen an und stellten sie, gut sichtbar, auf die Fenstersimse. Die Insekten ließen sich nicht zweimal bitten. Innerhalb kürzester Zeit drangen sie in die Forschungsstation ein. Stürzten sich auf die Schlafenden. Es gab allerdings ein Problem, was Langer Hand, Keine Lust und Hinter Halt, trotz ihrer Klugheit, nicht bedacht hatten. Be Scheidenheit und Stark Strom, die ihre Leidenschaft füreinander neu entdeckt hatten, steckten zusammen in der romantischen Monade, als die Insekten die restliche Besatzung, Krumme Lanke, Frisch Obst, Witz Bold, Zwiebel Pizza und Über Mut, stachen und aussaugten.
142.
Wortpolizei hatte sich in der Reihenfolge der bürokratischen Institutionen hochgearbeitet, mit List und Ruchlosigkeit, mit Charme und Beredsamkeit, mit Versprechungen und Drohungen. Endlich gehörte sie zum Inneren Zirkel. Wortpolizei war, zusammen mit Söldnertruppe und Internetzugang, sogar Teil des Triumvirats geworden. Das reichte ihr nicht. Da Wortpolizei wusste, dass sie es nicht gleichzeitig mit Söldnertruppe und Internetzugang aufnehmen konnte, beide aus dem Weg zu räumen, wäre selbstverständlich die bevorzugte Lösung gewesen, sondierte sie sowohl mit Söldnertruppe als auch Internetzugang, einzeln, versteht sich, hinter vorgehaltener Hand, ob es nicht effizienter wäre, ein Führungsduo zu bilden, eine Große Koalition. Weder Söldnertruppe noch Internetzugang zeigten sich abgeneigt, mit Wortpolizei einen Pas de deux an der Spitze zu tanzen. Wortpolizei, die gut im eliminieren, schlecht im kreieren war, wälzte die Standardwerke, die sich unter Verschluss befanden. Etwa Niccolò Machiavellis Il Principe, Mao Tsetungs Rotes Buch und Helmut Kohls Doktorarbeit Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945. Je mehr Wortpolizei las, je unsicherer wurde sie. Ein Zustand den Söldnertruppe und Internetzugang, dank etlicher Maulwürfe im Wortpolizeihauptquartier – ein Begriff, Maulwürfe, den Wortpolizei allein den Tieren zugeordnet und nicht vernichtet hatte –, brühwarm berichtet bekamen.
143.
Es ist weder eine Befreiung, ich zu sagen, noch eine ausreichende Beschreibung einer – in diesem Falle meiner – Person. Die Axiome, die sich aus dem Ich-Sagen ergeben, sind so oft instrumentalisiert worden, dass ich mich einzig und allein in dem Wir wiederfinde, das Fragen ohne plausible Antworten stellt oder Antworten gibt, die ich nicht teile. Mein Existenzialismus wurde mir quasi aufgedrängt. Dass ich mehrere Operationen hatte, um Sartre zu ähneln, steht auf einem anderen Blatt. Um die zwei am meisten genannten Fragen toben an der Fakultät die heftigsten Auseinandersetzungen. Die erste Frage lautet: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Denn das NICHTS, schreibt Leibniz, dessen Antwort ich hier erwähnen will, weil sie vielen als Stütze dient, mir allerdings, der ich nicht glauben kann, leider nicht, denn das NICHTS, schreibt Leibniz, sei doch einfacher und leichter als das ETWAS! Nimmt man weiterhin an, dass gewisse Dinge existieren mussten, so muss man dennoch Rechenschaft davon ablegen können, warum sie so und nicht anders existieren müssen. Nun lässt sich dieser zureichende Grund für die Existenz des Universums nicht in der Reihe der zufälligen Dinge, das heißt der Körper und ihrer Vorstellungen in den Seelen finden, schreibt Leibniz. Der zureichende Grund, der keines andren Grundes bedarf, muss also außerhalb dieser Reihe der zufälligen Dinge liegen und sich in einer Substanz vorfinden, welche die Ursache der Reihe und ein notwendiges Wesen ist, das den Grund seiner Existenz in sich selbst trägt; denn sonst hätte man noch immer keinen zureichenden Grund, bei dem man stehen bleiben könnte. Diesen letzten Grund der Dinge aber nennen wir, so Leibniz, den ich beinahe wortwörtlich zitiere, Gott. Klingt gut, zugegeben, aber Leibniz’ Idee Der besten aller Welten klammert konsequent die Tatsache des Bösen aus, macht um den Widerhaken Theodizee einen absolutistischen Hasenbogen. Wie das unendliche Leiden in der Welt mit der Annahme zu vereinbaren ist, dass ein Gott sowohl allmächtig als auch gut sei, eröffnet sich mir nicht. Vielleicht bin ich dafür noch nicht moribund genug. Aber diese Frage ist eh nicht die Frage, warum ich zu einem Duell vorm Brandenburger Tor, um genau zu sein: vor der Akademie der Künste eingeladen worden bin. Wobei schon Einladung nicht ganz stimmt. Der Waffengang wurde mir aufgezwungen, man hat mich ins Adlon verschleppt und wird mich gleich auf den Pariser Platz ziehen. Und das nur, weil ich auf die zweitwichtigste Glaubensfrage Was befindet sich hinter einem definitiven Ende? gesagt habe Eine definitive Möglichkeit, viel Geld zu verdienen.
144.
Ein Sunkistenrennen böte Möglichkeiten, die Sache, ein für alle Mal, aus der Welt zu schaffen. Sie haben uns umringt. Oben, auf der Anhöhe. Vor der Serpentinenkurve, die mit den Holzkreuzen. Letzten Herbst ist hier ein Ausflugbus in die Schlucht gefallen. Wir zählen an unseren Fingern ab, wie viele gekommen sind. Sechs, sieben, acht. Die beiden Daumen bleiben leer. Sie sind doppelt so viele wie wir. Annalena, die schnellste von uns, in allen Belangen, zieht ihr verflixtes Flitzebogengesicht. Die Acht ducken sich intuitiv, um den Augenpfeilen auszuweichen. Mit Annalena ist nicht zu spaßen. Aus ihr werde später etwas, sagt sie immer. Sie, sie versauere nicht hier. Und wir glauben ihr. Das ganze Dorf setzt auf sie. Ibo, Kara und ich verkneifen uns ein Grinsen. Wir wissen, das wäre kontraproduktiv. Als Klausus sich erholt hat, von den Pfeilen, er ist nicht der Größte der anderen, aber der mit der größten Klappe, sagt er: Oder habt ihr Angst? Wir sehen uns an. Niemand nennt uns Feiglinge. Natürlich haben wir Angst. Wer am Berg keine Angst hätte, wäre schön dumm. Andererseits haben wir über die Drohung vorher gesprochen, unter uns. Wir wissen, dass es in den Köpfen der anderen brodelt. Die Niederlage beim Neujahrsfest, auf der Rodelwiese, am Idiotenhang, wurmt sie. Maßlos. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Sunkistenrennen stattfinden würde, um Unstimmigkeiten zwischen den beiden Weilern, den einzigen hier oben, aus der Welt zu schaffen. Wir haben davon gehört. Die älteren im Dorf haben von waghalsigen Abfahrten in den Sommerferien erzählt. Haben uns auf dem Bergfriedhof die passenden Gräber gezeigt. Milchbuben- und Milchmädchengesichtern auf den Steinen. Bei uns im Dorf kann man die Toten sehen. Wie auf Insta. Der Friedhof ist voller Bilder. Meistens lächeln die Toten, als ginge es ihnen gut. Die Blumen an den jeweiligen Gräbern sind die Likes, sagt Annalena. Es gibt Steine, die gleichen Blumenmeeren. Während andere ungeschmückt sind. Kommentarlos Zeit fressen. Auch wie auf Insta. Wir haben uns gefragt, wie oft unsere Eltern vorbeikämen. Wie viele Likes wir über die Jahre bekämen. Welche Fame-Geschichten begönnen. Nun gut, das ist eine andere Sache. Eigentlich wollen wir alle raus aus dem Weiler. Weg von der Alm. So schnell es geht. Niemand von uns war bislang im Tal. Wo die Stadt liegt. Am Fluss, der die Berge spaltet. Selbst Annalena nicht. Wir sehen uns an. Nicken. Die Kufen sind schnell ab. Wir montieren Räder an den Viererbob. Annalena sitzt vorne, am Steuer. Ich sitze hinten, an der Bremse. Wir warten, dass der Postbus vorbei ist. Die Fahrerin fuchtelt mit den Händen, während sie uns, Richtung Gipfel, passiert. Wir tragen unsere selbst gebastelten Helme aus duftendem Beerengehölz, die unsere Sicht einschränken. Wir winken zurück, machen Friedhofsgesichter und lachen hysterisch. Dann startet Das aberwitzigste Rennen unseres Lebens.
145.
Die Steuer saß am Steuer. Der Feierabendverkehr stockte. Die Ampelschaltungen bevorzugten wendige E-Autos, die sich zwischen die Fahrräder mogelten, was für Unmut und, vielerorts, Brüllattacken sorgte. Es war ein harter Tag gewesen, im Amt. Die Steuer, die einen alten Wagen fuhr, einen amerikanischen Schlitten, der Benzin und Öl soff, mit gewaltigen Heckflossen, um von der Oldtimer-Regelung zu profitieren, die Steuer kramte in den Kassetten und schmiss die mit dem größten Schwarzen Pluszeichen in den Player. If you drive a car, car, I'll tax the street. Die Steuer kurbelte das Fahrerfenster herunter und sang aus vollen Hals mit. If you try to sit, sit, I'll tax your seat. Dass die Beatles nichts mit der Reimchance sheat gemacht hatten, überraschte die Steuer jedes Mal, wenn sie Taxman hörte. Ob sie nicht ans Täuschen gedacht haben? Die Helden aus Liverpool? Oder ob sie schlicht und einfach so viel Geld gescheffelt hatten, dass es egal gewesen war? Andererseits, dachte die Steuer, gerade die Superreichen bekamen, jedenfalls war das ihre Erfahrung, den Hals nicht voll genug. Vielleicht wäre es an der Zeit, ein Experiment zu starten. Wie wäre es, wenn alle nur die Abgaben zahlen würden, die sie für angemessen hielten? In was für einer Gesellschaft würden sie leben? In einer gerechteren? Einer abwechslungsreicheren? Ist es nicht so, dachte die Steuer, dass wir vieles erst schätzen, wenn es nicht mehr im Angebot ist? Wenn der Staat sich zurückzieht? Die Steuer rief den eigenen Account im Amt an, was umständlich war. Sie hing eine Viertelstunde in der Warteschlafe, musste die Stimm- und Iriserkennung über sich ergehen lassen, musste mit Elster streiten, die bereits Feierabend hatte, sich aber schließlich bereit erklärte, eine Ausnahme für die Steuer zu machen. Diese Bürokratie, dachte sie und drückte auf delete, was sich, die Steuer lächelte, sogar reimte.
146.
Schlaf übermannte mich aus dem Nichts. Ich stand etwa an der Tramhaltestelle – fiel bewusstlos zu Boden. Wir saßen im Restaurant am Tisch, eine gesellige Runde, ein Geschäftsessen, und ich, der neue Praktikant, den man mitgenommen hatte, um die nassen Regenschirme auszuschütteln, der ganz hinten saß, an der Tischkante, ich nickte, während mit Gläsern auf die Zukunft angestoßen wurde, ein. Mein Kopf landete auf dem Teller, auf dem sich, glücklicherweise, eine enorme Portion Spaghetti befand. Ich hatte keine Kontrolle über das Gleich, das unmittelbar Künftige. Mich auf die Gegenwärtigkeit meiner Reflexe zu verlassen? Die Chance, Halt zu finden? Stellte ein erhebliches Risiko dar. Ich legte mir, vorsichtshalber, vermeintlich sichere Routen zurecht. Mit viel Sand, wenig Asphalt. Ich fuhr nur noch Auto, wenn es der Job, den ich gerade hatte, absolut erforderte. Dass ich überhaupt einen Führerschein gemacht hatte, hing damit zusammen, dass mich die Schlafattacken erst seit meinem neunzehnten Lebensjahr überkamen, ich aber, als Geschenk zur Volljährigkeit, von meiner Tante und meinem Onkel, die mich nicht mehr kutschieren wollten, Fahrstunden geschenkt bekommen hatte. Ich hatte damals bei meinen nächsten Verwandten gewohnt – in Wahrheit Stiefbasen, angeheiratete, die, wie ich auch, zufällig überlebt hatten. Wie hatten auf dem Land gelebt, auf einer Apfelplantage, über der dauerhaft ein Chemikaliennebel lag. Eine halbe Stunde Fahrt vom nächsten Bahnhof entfernt, von dem aus die wenigen Züge Richtung Hamburg gingen. Tante Fritzi und Onkel Karlus mochten mich nicht, aber taten halbherzig so, als respektierten sie mich. Die bestandene Fahrprüfung war der Moment der Wahrheit, an dem sie endgültig alle Hilfsleistungen einstellten. Sie deckten nicht mehr den Tisch für mich. Aßen, wenn ich nicht daheim war. Sperrten den Kühlschrank mit einem Vorhängeschloss ab. Änderten still und heimlich den Wifi-Anbieter. Enthielten mir die Zugangsdaten vor. Schafften das Festnetz ab. Stellten die Zahlungen für meinen Handyvertrag ein. Kündigten meine Mitgliedschaft im Tennisdorfclub. In der Stadt, in die ich mittellos floh, ging es mir zunächst gut. Bis die Schlafattacken begannen. Wenige Tage nach meiner Ankunft. Ich taumelte von einer Schlafattacke zur nächsten. Wurde für einen Drogenabhängigen gehalten, für einen Obdachlosen. Landete mehrmals in der Psychiatrie. Gerettet hat mich der Verein der Unaufgeweckten. Von ihm, der mein Leben radikal verändert hat, der mich reich gemacht hat, der mich ins Gefängnis gebracht hat, wo ich Freunde gefunden habe, der mich zum Krüppel gemacht hat, ein Versehrter, der schätzt, was ihm geblieben ist, vom Verein der Unaufgeweckten will ich nun berichten. Schonungslos und in Worten, denen die Finesse in Sachen Anstand leider fehlt. Es sei vorsorglich erwähnt, dass es sich bei dem nun folgenden Bericht um einen Text ausschließlich für Erwachsene handelt, die Ausschweifungen jedweder Natur nicht abgeneigt sind, die am besten bei de Sade in die Schule gegangen sind. Sperren Sie Ihre Kinder weg. Oder Sie dürften Ihr blaues Wunder erleben.
147.
Das Jahr ohne Sonne startete mit einem Strahl, der nicht von der Sonne kam, sondern von einem Objekt, das die Sternwarten weltweit übersehen hatten. Sie hatten es aus einem eigenartigen Grund übersehen. Das Objekt war nicht klitzeklein, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern riesengroß. Niemand hatte es für möglich gehalten, dass sich solch ein Objekt innerhalb kürzester Zeit der Erde nähern könnte. Alle hatten das heranrasende Objekt für eine Illusion gehalten. Hatten sich die Augen gerieben und gelacht. Für den Anflug, von der Sonne bis zur Mondlaufbahn, hatte das Objekt 23 h 56 min 4,10 s gebraucht. Exakt einen Erdentag. Das Objekt, das, angekommen, ein einziges Mal, zu Beginn des Jahres, einen Strahl zur Erde gesendet hatte, besaß einen Durchmesser von 869 km. Was genau einem Viertel des Monddurchmessers entsprach, der wiederum mit 3476 km nahezu einem Viertel des Erddurchmessers, am Äquator betrug der Durchmesser unseres Planeten 12756 km, glich. Neben den Strahl hatte das Objekt auch noch einen besonderen, unbekannten Geruch Richtung Erde geschickt. Den Geruch von Karamell, das in Honig und Nochwas getaucht wurde. Die Medien tauften das Objekt deswegen Sweet Sixteen. Der großartige Geruch, so süß und verführerisch er auch war, Millionen Menschen rasten förmlich zu ihm, um den Geruch einzuatmen, hatte einen kleinen Nachteil: Er machte halbseitig blind. Wer ihn länger als eine Stunde einatmete, verlor das linke Augenlicht, während das rechte Auge wucherte und sich, innerhalb einer Vollmondphase, zu einem internetfähigen Bildschirm ausformte, der auf der Oberfläche wie Sternenstaub glitzerte. Nach einem Jahr der Dunkelheit schalteten sich die Augen der Überlebenden gleichzeitig an. Als wäre ein Hebel umgelegt worden. Brandzeichen tauchten in den Pupillen auf. Das Objekt schickte Botenstoffe, Lichtwellen und Subjekte. Die Undnochwas-Versklavung begann.
148.
Jede Beziehung sei eine Freiheitsberaubung, sagt die Therapeutin. Das müsste uns klar sein. Sie deutet auf eine Kurve. 36 Prozent der Neuvermählten ließen sich innerhalb eines Jahres nach der Hochzeit scheiden. Es lohnte sich also, schon aus Ressourcengründen – emotionell als auch finanziell –, ganz genau zu überlegen, welche Risiken man einginge. Gerade bei unseren Voraussetzungen, die, hier sei sie ehrlich, alles andere als vielversprechend wären. Hätten wir eigentlich einen Test gemacht, ob wir gesunden Nachwuchs bekommen könnten? Gesund im herkömmlichen Sinne? Bei unseren Veranlagungen? Bei unseren Ausprägungen? Nun gut, das seien andere Fragen, die ihr aber auf den Lippen gebrannt haben, seit wir durch die Tür gekommen seien. Man sähe uns nun mal etwas an. Sie empfehle, so oder so, genetisch und habituell, politisch und finanziell, sie empfehle zunächst eine Light-Version der Ehe. Mehr, wie soll sie es sagen?, mehr paffen als inhalieren. Wenn wir das nicht wollten, müssten wir ins Ausland gehen, um zu heiraten, um uns ungestört, wie soll sie es sagen?, zu entfalten. In Las Vegas sei alles egal. Da könnten sogar Leute mit Schuhgröße 18 und drei Augen heiraten, selbst Philosophïnnen und Kommunardïnnen. Sie habe, das nur am Rande, übrigens schon viel gesehen – aber so etwas wie uns, sei ihr noch niemals über den Weg gelaufen. Die Therapeutin mustert mein extra Auge und blickt auf deine Füße, die in abgelatschten Meilenstiefeln stecken. Wir sehen einander an. Nicken. Wir wissen, was zu tun ist. Wir haben, was nun passiert, oft genug getan. Als erstes schließen wir die Tür.
149.
Der Sex war besser. Oder sagen wir: nicht schlechter. Jedenfalls am Anfang. Wo sich die Geschichte allerdings nicht befindet. Die Geschichte befindet sich in der Mitte, an einer Gabelung. Einer lustlosen Kreuzung. An der mehrere Paare warten. Es liegt eine Spannung in der Luft, die niemand hier erwartet hätte. In diesem langweiligen Vorort, hinter dem die Berge beginnen. Wir sehen einen Steinschlag. Nicht weit entfernt. Wir sehen, dass sich Geröll löst, viel Geröll. Sehr viel Geröll. Die Personen an der Gabelung sehen es noch nicht, aber sie hören es. Sie stehen verteilt. Drei Paare, zwei weitere Frauen, zwei weitere Männer, die, in welcher Konstellation auch immer, in Beziehung stehen. Dazu kommen Kinder, die miteinander spielen. Oder auch nicht. Einige Kinder haben Schreianfälle. Wir sehen das Geröll, das einen Hang bricht. Über den Wartenden an der lustlosen Kreuzung fliegt ein einmotoriges Flugzeug, das eine Werbebotschaft zieht: Sex wir überbewertet. Lebensversicherungen sind die echten Orgasmen. Die zehn Erwachsenen blicken auf die Botschaft im Himmel. Die Kinder schreien nun alle, ausnahmslos. Wie verwundete Tiere krümmen sich die Kinder an den Ecken der Kreuzung. Wir sehen, dass der halbe Berg ins Rutschen gerät.
150.
An der Haut habe es nicht gelegen, sagte die Haut, die über sich so sprach, als steckte sie nicht in sich selbst. Die so sprach, als wäre sie sich selbst niemals begegnet. Als würde sie, die Haut, die Haut nur vom Hörensagen kennen. Die Haut habe, sagte die Haut, eine besondere Stellung inne, sie, die Haut, sei gleichzeitig angestellt und Freelancerin. Wenn es jemanden gäbe, egal welchen Geschlechts, der, die, das sowohl die Nadelspitze als auch den sofortigen Luftraum darüber verkörpere, dann sei das die Haut. Das ließe sie sich, sagte die Haut, nicht ausreden. Sie sagte es mit Verve, als Fragen kamen, aus Sicht der Haut: ungehörige Fragen, die sich besonders an der Idee des Luftraums stießen. Was das denn hieße Luftraum?, wollten die Fragenden wissen, deren Lippen sich spöttisch kräuselten. Ob nicht ein t mehr angebracht wäre? Ob es sich nicht eher um einen Lufttraum handelte? Oh, sagte die Haut, zur Haut gehörten, darüber sei man sich doch einig, jedenfalls in den meisten Fällen, an den meisten Stellen, kleine und kleinste Härchen, und diese Härchen ragten, botschaftend, in den Raum über der Haut, böten der Haut eine Lufthoheit, die der Nadelspitzenexistenz der Haut eine weitere Dimension erschlösse. Ihr einen Raum jenseits des Gesetzten, des Festgefahrenen böte, quasi, sagte die Haut, auratisch sei. Was zwar ad hoc an Traum erinnerte, aber eben am Ende nicht dasselbe wäre. Nach diesem Ausdruck, nach auratisch, ein Wort, das sich die Haut zurechtgebogen hatte, gab es kein Halten mehr. Die Situation eskalierte. Es war, ganz ehrlich, eine haarsträubende Geschichte, von der nun – für die Dehnbaren, die Mutigen unter uns, den anderen sei von der Lektüre dringend abgeraten – die Rede sein soll.
151.
So fing es an. Mit einer Geburt, in einem Land, das hinter den Bergen lag. Zunächst waren alle sehr glücklich. Auch die Geborenen, selbst die. Denn es handelte sich um eine Geburt, bei der mehrere das Licht der Welt erblickt hatten. So bildete sich, gleich am Anfang, ein Bund. Die Arbeit, sie war immens, für alle. Nicht nur, dass die Geburt, was die Zahl der Geborenen betraf, einen Rekord darstellte, die Geborenen – eine Neuheit – gebaren selbst. Alle Paar Tage tauchten inmitten der Geborenen weitere Neugeborene auf. Diese Neugeborenen nahmen schneller zu als die Erstgeborenen und waren bald nicht mehr von den zunächst Geborenen zu unterscheiden. Die Freude wich der Angst. Jeden Morgen, wenn die Decken aufgeschlagen wurden, ging das vermaledeite Zählen los. Bald reichte nicht mehr ein Augenpaar, um die Menge der Geborenen überhaupt zu überblicken. Man beriet sich. Kam zum Schluss, den Brunnen auszuheben. Und das Los entscheiden zu lassen. Acht sollten überleben. Als man am nächsten Morgen kam, mit Fotteetüchern und Nylonstrümpfen bewaffnet, waren die Krippen leer. Aber oben, auf dem Hausberg, wimmelte es von Geborenen, Die Steine backten, große, wilde Steine.
Juni
152.
Niemand kann sich daran erinnern, wann der Krieg angefangen hat. Schon gar nicht: warum. Es herrschte auch nicht Krieg, wie es einst geheißen hatte, sondern Krieg herrschte. Als Start Up Unternehmen war der Krieg vor Ewigkeiten gegründet worden. Mit Luftballon-Wasserschlachten und kleineren spaßhaften Übergriffen, lustigen Guerilla-Attacken, die an der Börse so gut angekommen waren, dass sich etliche Hedgefonds auf der Stelle in den Krieg verknallt und eingekauft hatten. Der Wertzuwachs war enorm gewesen. Seitdem war der Aufstieg des Kriegs zum Börsenliebling nicht mehr aufzuhalten. Die Kurse explodierten förmlich, Bestmarken wurden reihenweise wie Panzer geknackt. Anlegerïnnen auf der ganzen Welt verfielen den gewaltigen Gewinnchancen. Es war crazy, ein bombensicheres Geschäft. Dann hieß es auf dem Parkett Nun müsse der Krieg aber mal langsam echt liefern. Das Kriegs Management der ersten Stunde warnte zwar, Lippenbekenntnisse würden reichen, Abschreckung sei der lukrativste Teil des Geschäfts, Zerstörungen nützten in Wahrheit nicht der Dividende, Geld könnte auch in Friedenszeiten gemacht werden. Das Kriegs Management schickte vorsichtshalber Gewinnwarnungen, weil es um die eigenen Stärken und Schwächen wusste. Die Hedgefonds, deren Liebe abkühlte, hielt das nicht auf. Sie machten Druck, streuten Gerüchte, verrieten am Ende Kriegs Geheimnisse. Schließlich wurde die Kriegs Führungsetage komplett ausgetauscht. Das neue Kriegs Management, das aus alten Generälen bestand, Wall Street Haudegen, lauter selbstherrliche Männer, zog gleich in einen abhörsicheren Bunker neben dem Pentagon. Eröffnete in Moskau, Peking, Manila, Tokio, Jerusalem, Kairo, Kapstadt, Brasilia und Brüssel Filialen, um von dort aus, wie der Börsenkurier meldete, Nägel mit Köpfen zu machen. Dabei blieb es nicht – aus den Nägeln wurden Nieten. Und nun, unserem Nun, nach etlichen Jahrzehnten der unerbittlichen Kriegsführung, der Börsenerfolge, heißt es, der Krieg sei systemrelevant. Das einstige Start Up sei Too big to fail. Grit, Luca, Fatima und ich glauben das nicht. Wir haben TBTF niemals geglaubt. Von uns handelt diese Story, vom Aufstand der Kriegsverweigerïnnen.
153.
Die Rückzugsmöglichkeiten nahmen ab. Rasant. Das Netz sollte überall sein. Es war eine abgemachte Sache. Von der Mehrheit nicht nur beschlossen, sondern abgesegnet. Die Netzausbreitung hatte einen religiösen Charakter bekommen. Das Netz stellte den Gebrauch des Artikels unter Strafe. Netz gebärdete sich als sakraler Raum. Netz wurde als Ort der Verkündung gehuldigt, als Wifistatt ausgebaut, die es täglich zu besuchen galt. Bei den Wififahrten wurden als Kollekte Daten gesammelt. Dabei, davor, danach. Die Minderheit, die der Netzerei nichts abgewann, konnte sehen, wo sie blieb. Sie zog sich in die abgelegenen Täler zurück, gründete, als das nicht mehr reichte, Tauchgemeinschaften, die auf den Seegründen Kolonien errichteten. Nach kurzer Zeit veränderten sich die Menschen in den Kolonien – auf eine Art und Weise, die niemand erwartet hatte, schon gar nicht die Im Netzt gefangene Mehrheit.
154.
Jeremy wächst in der linken Ecke eines Waschsalons auf. 50 Zentimeter hinter der Maschine, die das Waschpulver ausspuckt. Die Trommel, wie der Salon am Rosenthaler Platz heißt, der von den Kiezburn Hippies Marie-Lou, einer Spanierin, Jo-Nathan, Kanadier vom Volk der Kainai, und Co-Rinna, aus Castrop-Rauxel, betrieben wird, die Trommel bietet Vorteile, die weder Jeremys Familie noch das Heim bieten: Wärme und Freundschaften. Als das Jugendamt nach sieben Jahren Wind von seinem Aufenthaltsort bekommt, entschließen sich die Kiezburn Hippies, Jeremy zu adoptieren. Der Gang durch die Institutionen wird zu einem Hindernislauf, den die Patchworkfamilie, zu der auch die Miniatur-Ziege Hilda und der Schiefer-Hund Krassaltereh gehören, im Blog We are Family dokumentieren. Als sich Hollywood meldet, um einen Film zu machen, und gleichzeitig das Mitsommernacht-Festival Holy Galli stattfindet, bei dem der dreizehnjährige Jeremy der ersten Liebe seines Lebens begegnet, die Behörden aber eine Hundertschaft schicken, um Jeremy ins Heim zu stecken, solidarisiert sich die gesamte Torstraße, wo Die Trommel liegt, mit dem Glücksprojekt. Und der umwerfende, zärtlich-tolle Sommer of Love beginnt.
155.
Wir soffen. Uns blieb nichts anderes übrig. Glaubt mir. Wir schluckten Pillen. Der Befehl stand, im Raum. Neben, hinter, vor uns. Wir hatten keine Wahl. Die Baracke war kein Debattierclub, in dem Argumente zählten. Ideen abgewogen wurden. Alle gleichberechtigt waren. Intelligenz? War unwichtig. Rang entschied. Also soffen wir. Die Flaschen kreisten. Pillendosen leerten sich. Da kam uns eine Idee. Gemeinschaftlich. Wir sahen uns an. Draußen kreischten Maschinen. Alles wurde für uns fertiggemacht. Der Rauch stieg durch die Ritzen der Baracke. Wir rochen unser Schicksal. Wir nickten uns zu. Prüften unsere Hände. Prüften Finger. Wir stellten uns im Kreis auf. Wir legten uns die Hände an die Hälse. Keiner blieb ausgespart. Dann drückten wir zu. Bis die Tür aufging. Musik erklang, himmlische Töne. Und wir unseren Fehler bemerkten.
156.
Den kleinen Tieren war klar, was passieren würde. Sie machten sich nicht nur weniger Illusionen als die großen Tiere – sie machten sich gar keine. Während die kalte Kugel näherkam, gruben sich die kleinen Tiere tief ein. Sie gruben in Schichten, Tag und Nacht. Alle machten mit, ausnahmslos. Wer nicht mehr graben konnte, machte Stullen oder brachte Wasser. Und sie fingen nicht oben an, sondern die kleinen Tiere gruben gleich am Boden des Bergwerks. Des tiefsten erreichbaren Bergwerks ihrer Gegend. Die kleinen Tiere hatten einen Vorsprung von 1584 Metern und 39 Zentimetern, als die kalte Kugel in die Atmosphäre eintrat. Die großen Tiere hatten sich aufs Versprechen der Agenten verlassen, dass alles gut werden würde, dass Asteroiden nur in dystopischen Movies den Planeten rammten. Am Ende würden Apple und Tesla die Sache unter sich ausmachen, hatten die Agenten gesagt. Es lohnte sich auf jeden Fall, Shares beider Firmen zu kaufen, richtig Geld in die Hand zu nehmen und ansonsten siegessicher Däumchen zu drehen. Am besten genau dort, wo Das Monsterding angeblich einschlagen würde, hatten die Agenten gesagt. Sie würden es genauso machen. Dass die kleinen Tiere in Bergwerksaktien investierten und U-Boote-Tourismus-Vorteilsscheine kauften, sei reine Dummheit, das Gegenteil lebenskluger Hybris. Wer in Ameisenhügeln hauste, hätte halt den Lage, Lage, Lage-Schuss nicht gehört.
157.
Am Tag, als der Regen eine unerwartete Pause machte, begann die Debatte. Würde er zurückkommen?, fragten sich die Regenwürmer, die sich die letzten Wochen wie im Wassergarten Eden gefühlt hatten. Die Meinungen der Älteren waren, wie immer, die Regenwürmer schenkten sich nichts, stellten grundsätzlich bohrende Fragen, wühlten in ontologischen Sachen rum, von denen andere Wenigborster vorsichtshalber den Kopflappen lassen würden, die Meinungen der Älteren waren gespalten. Viele, die Hyperaktiven, schleppten eimerweise nasses Erdreich in die Wohnröhren. Andere verfielen in eine Schockstarre, Mussten psychologisch von den Regenzauberwürmern behandelt werden, die – ein gutes Geschäft bleibt ein gutes Geschäft – ihre Preise für Konsultationen erbarmungslos verdoppelten. Die Jungen, mit weniger als siebenunddreißig Segmenten, piercten sich reihenweise den dritten Hautmuskelschlauch, der gerade als erogen galt, und trafen sich oben, auf der Nacktschlammwiese. Das Sonnenlicht strahlte verführerisch, blendete die jungen Würmer, und während, als Worm Up, DJane Lumbrica terrestris, der eine Affäre mit H2O nachgesagt wurde, den neuesten Dry Out-Sound auflegte, während die Gürtel der gelblichen sattelförmigen, drüsenreichen Verdickungen vom 27. bis 35. Segment in Wallung gerieten, es roch nach Pubertät, Uhu und FKK, während die Lust am Leben die zuckenden Regenwürmerkörper ergriff, öffneten sich, nicht weit entfernt, die Stalltüren der Hühnerfarm. Die Freilaufenden, angezogen durch die Musik, rannten los und die – wohl oder übel – orgiastischste Party des noch jungen Jahrhunderts begann.
158.
Gut, sagte Jo, hielt den Kopf hoch, obwohl die Kugeln pfiffen, wir spielten auf dem Truppenübungsplatz Wer ist der größte Dummkopf mit Pickelhaube im ganzen Land?, gut, also ... warte, schrie ich, sprang auf, schwenkte eine rote Fahne mit Hammer und Sichel, mein T-Shirt, ein Erbstück meiner DDR-Großmutter, um nicht von Jo in der Wertung überholt zu werden ... geile Omi-Nummer, sagte K-Müsli, gab mir drei und Jo zwei Arschbombenpunkte ... gut, also, sagte Jo, ungerührt, als ob mein Rote-Fahne-T-Shirt-Schwenken nicht stattgefunden hätte, dann schlage ich eine astreine Levelverschiebung vor. Eine knastpeine was?, fragte K-Disco, unsere Strategin, die Kopfhörer trug und Engels-Podcasts hörte. Bitte Ruhe, knurrte, Jo, zischte Schatz, jetzt nicht, als sein Handy bimmelte, obwohl alle wussten, dass er solo war, hielt sich den linken Zeigefinger vor den Mund, drehte das Broadband der Silberader lauter, die reden über uns – und tatsächlich, da waren unsere Namen. Eine Belohnung in Höhe von 200.000 wird ausgelobt, tot oder lebendig. Das ist lächerlich, sagte Jo. Warum?, fragte ich. 200.000 was?, sagte K-Disco. Genau, sagte Jo. 200.000 Nadelstiche?, sagte K-Müsli. 200.000 Apfelsinenkisten?, sagte K-Disco. 200.000 Aknebehandlungen mit Dr. Kautschcar, sagte eine Stimme über uns. Wir blickten hoch. Eine Drohne in Tarnfarbe, die wie ein Riesenmitesser aussah und von einer libertären Douglas-Flagge geschmückt wurde, die D-Kette sponserte neuerdings unsere Intimfeinde, schwebte über uns, machte eine laszive Dehnbewegung, kratzte sich und – Jo rief Deckung, Schatzinsel!, wir warfen uns, wie geübt, die Makeuptücher über – und platzte mit einem superflupperschlappersatten Geräusch, dem die Befriedigung und das lange Warten anzumerken waren. Und dann, dann ging’s erst richtig los.
159.
Die Diebesbanden spezialisierten sich. Eine Bande, The Sweets, von der hier die Rede sein soll, da sie unsere Gesellschaft an den Abgrund gebracht hat, stahl Süßigkeiten. Aber nicht wie Du und ich, als wir klein gewesen sind, hier mal einen Lollipop, dort zwei Gummibärchen. The Sweets stahlen im großen Stil. Sie räumten ganze Schokoladenfabriken aus. Plünderten das Lager von Niederegger, lauerten Balsen-Lastkraftwagen auf, verschoben Rewes Süßigkeitenbestände, räumten Aldis Naschwerkvorräte leer. Die Stimmung in der Bevölkerung verschlechterte sich – drastisch. Wir verstanden, dass The Sweets, die Bekennerbriefe an den Tatorten hinterließen, Briefe, die mit SUAF gezeichnet waren, keine einfache Diebesgang war, sondern eine politische Organisation. Die Schocki UnArmy Fraction verlangte Gerechtigkeit. Wir konnten uns nicht entziehen. Erste Treffen fanden statt. SUAF servierte Heiße Schokolade, mit Schuss. Unser Widerstand schmolz dahin.
160.
Die Kapitulation hatte kapituliert. Wir kratzten uns die Köpfe, als wir davon hörten. Andere waren schneller. Draußen formierte sich die Marschkapelle. Die Instrumente waren verstaubt, aber die Augen der Trompeter und der Schlagzeuger glänzten. Ihre Familien umringten die Männer. Alle, die wir hassten, marschierten mit. Und die uns hassten. Dass sie sich vor unserem Haus formierten? Kein Zufall. Unser Skyscraper galt als Hochburg der Aufgabe. Wir waren damals die ersten gewesen, die ihre Flaggen eingeholt und Freie Liebe praktiziert hatten. Wir wussten, dass es nicht bei der Marschkapelle bleiben würde. Diese Art von Musik fühlte sich nur wohl, wenn gleichzeitig Stahlstiefel im Stechschritt paradierten. Zunächst, um überhaupt zu reagieren, holten wir die Anlage aus dem Partykeller. Die John Peels Kita hatte sich letzten Montag eingetragen, um die Anlage diese Woche zu nutzen. Ein Dutzend Drei- bis Sechsjährige kramte in der Plattensammlung. Sie trugen Ohrstöpsel. Auf ihren Gesichtern lag ein entschlossener Ernst, der uns Mut einflößte. Zum Aufwärmen spielten sie Give peace a chance. Danach Sunday Bloody Sunday. Anschließend, was nicht nur uns überraschte, sondern auch eine Protestwelle in den Wolkenkratzern der Revanchisten anstieß, Mein Freund, der Baum. Die Kinder hatten, ohne unser Wissen, die Friedenszeit genutzt. Sie orchestrierten Massen-Tantrums, die der Kampfbereitschaft der Hasser keine Chance ließ. Nach der Wiedereinführung der Kapitulation beruhigten sich die trotzigen Kinder jedoch nicht. Sie besetzten, indem sie auf eine Weise kommunizierten, die uns verborgen blieb, die Schaltstellen der Macht. Was dann passierte, innerhalb kürzester Zeit, ich schreibe dies übrigens aus einem Versteck und muss gleich weiter, damit hatte niemand gerechnet.
161.
Das Spiel ging in die Verlängerung. Die Teams besprachen sich, jedes in seiner Pausenecke. Die Stimmung war angespannt. Niemand wusste, wie das Spiel ausgehen würde, von dem doch alles abhing. Die Menge im Stadion hatte sich die vergangenen Stunden weder für das eine noch das andere Team ausgesprochen. Es handelte sich um ein Finale, das an einem neutralen Ort ausgetragen wurde. Die wenigen Fans der Teams verloren sich im gewaltigen Rund. Wagten, angesichts der stoischen Menge im Stadion, nicht mal bei gelungenen Spielzügen zu applaudieren. Mit solch einer Feindseligkeit hatte niemand gerechnet. Die Crews blätterten auf beiden Seiten während der letzten Pause vor der Verlängerung in den Spielregeln. Sie hatten das Gefühl, etwas überlesen zu haben. Alle fragten sich, was mit dem Team passieren würde, welches das Finale verlöre. Wenn in der kommenden Verlängerung keine Entscheidung erreicht würde, käme es zum Hauen und Stechen hochzwei. So stand es in den Spielregeln. Was das Hoch-Zwei denn bedeutete?, wollten die Teams auf beiden Seiten von ihrer Crew wissen. Die Crews durchblätterten hektisch die Spielregeln. Auf Seite 37 fanden sie, im Kleingedruckten, eine Erklärung, die sie vorsichtshalber lieber für sich behielten. Die Glocke erklang, die Menge malmte mit den Zähnen, die letzte Pause war vorbei, die Verlängerung begann.
162.
Die Natur brauchte achtunddreißig Wochen, um in die verlassenen Geschäfte und vernagelten Bürohäuser der Grünen Wiese, wie das Neubaugebiet hieß, wo Banken, Versicherungen und die Verwaltung ihre Büros hatten, einzudringen. Wachleute hatten sich die Firmen gespart. Erst kamen die Insekten. Dann die Pflanzen. Schließlich die größeren Tiere: Ratten, Füchse, Waschbären und Vögel. Die Verwandlung der international mit Preisen überhäuften ecofriendly Architektur in wahrhaftige Grünanlagen schritt so schnell voran, dass die Mitarbeiterïnnen, welche nach 1 ½ Jahren zurückgerufen wurden, als die Homeoffice-Suizidrate ganze Abteilungen ausradierte, vor einem grünen Wall standen, der an überwucherte Maya-Kultstätten im Dschungel der Halbinsel Yucatán erinnerte. Da sie keine Wahl hatten – hier arbeiten oder den Job verlieren – Cohabitierten die Angestellten mit der Natur. Die Auswirkungen auf ihre Arbeit war nicht nur bemerkenswert, sie war sensationell.
163.
Die Coming of Age-Geschichte – Abraham fällt vom Glauben ab, brennt mit Harrod durch, der im kanadischen Gull Bay als unrasierter, muskulöser Zimmermann die St Kaateri RC Church repariert, in der Abraham als frühreifer, blendend aussehender Chorjunge singt – diese klassische Geschichte, die, in aller Regel, in einem Stripclub in Toronto endet, der von Harrods Ex-Lover Chiemstry, einem Hochschullehrer für Wasserwirtschaft, betrieben wird, dem Harrod nicht nur Geld, sondern auch Liebe schuldet, ein Stripclub, by the way, der für die mexikanische und US-amerikanische Ex-Pat-Community als heißeste Pophorny-Anschrift nördlich der Grenze gilt, diese Story, die an sich einen frühen, dramatischen Tod Abrahams bereithält, der sich nicht selbst das Leben nimmt, sondern von einem zugedröhnten Freier, einem Undercover-Sozialarbeiter, Peter Hickup, der sich in den melancholischen, Kirchenlieder singenden Jungen aus der Provinz derart verguckt, dass er seine Mormonen-Familie (vier Frauen, zehn Kinder, zwölf Hunde) in Utah verlässt, sondern also von Hickup ausversehen während eines Blow Jobs in einem Taxi erschossen wird, diese Story, die wir erwarten, wenn wir den Titel Harrod zeigt Abraham die Schattenseiten, bis Hickup das letzte Licht auslöscht lesen, ein Titel, über den sich zwar viele lustig machen, der aber für Neugier bei den kanadischen Bookclubs sorgt, diese Story entpuppt sich als Einbildungsroman, dessen Erzählerin, eine schizophrene, hochbegabte Spieleentwicklerin und Quantenphysikerin aus Montreal, narrative Strings in die Wirklichkeit zieht.
164.
Aufzuwachsen, wo sie aufwuchsen, war kein Vergnügen. Es gab nichts, an dem man sich reiben konnte. Die Gemeinschaft warf ihnen alles hinterher. Ungefragt. Ohne Unterlass. Sie wussten, wo die 24/7-Selbstbedienungsstellen, Die Goldenen Löffel, waren. Sie konnten in den Speaker’s Corners Unflätiges propagieren. Am Fluss stand ein Badehaus, in dem sie nackt sein konnten. Für sich. Oder mit wem sie wollten. Neben dem Stadion gab es eine Farm, wo sie sich, an wechselnden Tieren, je nach Wochentag, abreagieren konnten. Das Blut wurde leise abgesaugt. Dass sie ein gutes Leben führten, erfuhren sie, theoretisch, aus dem Autokino IV, das sich auf Dokumentationen aus den Krisengebieten spezialisiert hatte. Sie bevorzugten Autokino II, das den Augenblick zeigte – und zwar eine Stunde später. Was immer sie machten, wenn sie es ein weiteres Mal sehen wollten, konnten sie zum Autokino II fahren und sich dabei beobachten, was sie vor einer Stunde gemacht hatten. Sobald sie sahen, wie sie ins Autokino II einbogen, brachen sie wieder auf. Bis sich jemand fragte, wie es wäre, wenn sie rein gar nichts mehr machten, sondern nur noch ins Autokino II einbögen. Wie würde die Dokumentation dann aussähen? Würden sie, was einige hofften, den Aufstieg schaffen? Würden sie im A IV landen?
165.
Hollender Ramsey war, fraglos, ein ziemlich guter Jazzsänger. Kein Genie, aber gut. Er kannte die Klassiker aus dem Effeff, wusste Text und Noten. Seine Skills reichten, um, was ihm bekannt war, was er aber niemals erzählte, um anderen einzureden, dass es sich bei ihm, bei Hollender Ramsey, um einen waschechten, einen leidenschaftlichen Musiker handelte. Ramsey fühlte allerdings nichts, rein gar nichts, wenn er sang. Die Songs ließen ihn kalt. Um ehrlich zu bleiben: Die Songs stießen ihn sogar ab. Er konnte nichts ausstehen, was er auf der Bühne vortrug. Um nicht zu weinen, vor Wut und Ekel, lächelte er. Seine Fans, die es durchaus gab, selbst drei, vier HR-Fanclubs existierten, die ihn mit obskuren Anfragen nervten, die von ihm Sachen wissen wollten, über die er niemals nachgedacht hatte, seine Fans hielten sich selbst für Connaisseurïnnen des lächelnden Unterschätzten. Sie projizierten etwas auf ihn, das in Hollender Ramsey nicht existierte. Niemals existieren würde. Sie verlangten von ihm eine Tiefe, die seiner Flachheit diametral widersprach. Er entzog sich den Anfragen, die er nicht verstand, wurde dadurch für seine Fans noch enigmatischer. Ramsey, der Fast Food liebte, obwohl seine Musik in etlichen Drei-Sterne-Restaurants in der Dauerschleife lief, Ramsey aß auf Tour, nach den Konzerten, die in den Latin Quarters der Universitätsstädtchen stattfanden, in umgebauten Art House Kinos oder Off Off Theatern, Ramsey aß, für sich, aß regelmäßig allein auf den schmutzigen Parkplätzen der Rastplatz-Drive Inns, die von Highway-Brücken überspannt waren, Ramsey aß zwei, drei XXL King Burger Menüs und trank dazu vier, fünf XXL Maxi Sprite, in die er, pro Liter, 50 Gramm Zucker zusätzlich schüttete. Das ging lange gut. Bis ein HR-Fanclub, der von Ramseys Konzert kam, an einer dieser Rastplatz-Drive Inns anhielt. Courtney van Remdeik, die Gründerin des HR-Boston-Chapters, und Paul Gittschalk, gleichzeitig Schatzmeister und einziges weiteres Mitglied des Chapters, die sich beide, wie ihr Idol Hollender Ramsey, vegan ernährten, täglich eine Stunde lächelten, waren immer noch vom Konzert berauscht. Sie wollten sich die Beine vertreten, um keinen Unfall zu bauen. Wollten sinnieren. Dann kam es zur Begegnung. Zum folgenschweren Aufeinandertreffen, das, berechtigterweise, als Geburtsstunde des Revenge Jazz gilt.
166.
Sie stießen durch das Bergmassiv, von zwei Seiten, gleichzeitig. Ein Tunnel, der alles ändern würde. Ein uralter Wunsch. Ein Traum. Eine Hoffnung, die alle bewegte. Niemand, der nicht darüber sprach. Alle verfolgten die Fortschritte. Ein wahnwitzig teures Prestigeobjekt. Mehr Geld war noch für nichts geflossen. Wir mussten uns Geld leihen. Am Ende waren die Kosten so hoch wie für einen ordentlichen Flugzeugträger. Aller Augen waren auf die beiden Baggerköpfe gerichtet, die sich aus dem Süden und aus dem Norden kommend durchs Gestein bissen. Riesenbagger. Wunderwerke der Technik. Die besten Tunnelbauerïnnen waren beteiligt. Wir klotzten. Schließlich kam der große Tag. Der angekündigte Supermoment. Die Übertragungswagen warteten seit einer geschlagenen Woche. Hunderttausende Schaulustige waren angereist, auf beiden Seiten. Die Gesichtsausdrücke der Tunnelbauerïnnen wurden von Stunde zu Stunde rätselhafter. Der Augenblick des historischen Durchbruchs war gekommen. Die Schatten der Leichenwagen näherten sich der Menge. Eine Armada, auf beiden Seiten. Während die Peripherie verstummte, wurde im Kern noch gehofft. Etwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht. Und es war nicht das, was alle auf Anhieb dachten. Es war schlimmer, viel schlimmer.
167.
Der Zeit voraus zu sein, war ein Privileg der Zukunft. Bis wir die Bühne betraten. Übrigens: Danke, dass Du mitmachst! Auf Dich haben wir gerade noch gewartet. Hier ist Dein Ticket. Du darfst die Warteschlange überspringen, nimm ruhig schon mal Platz im Versuchskaninchen. Unser Geschäftsmodell ist einfach: Wir überholen die Zeit. Die ewige Verbundenheit mit dem, was war oder ist? Schert uns nicht. Die Löscharbeiten gehen schnell. Der Sicherheitsgurt im Versuchskaninchen wurde von GAAMF (Google, Apple, Amazon, Microsoft, Facebook) gesponsert – cool, oder? Er ist mehr als Dekoration, aber das wirst Du ja gleich selbst am eigenen Leib erfahren.
168.
Sie legten es darauf an. Drangen in die Systeme der Bank in Bangladesch ein. Der Nationalbank. Schnüffelten, rochen an den Tresoren. Recherchierten über acht Monate. Besorgten sich Duplikate der notwendigen Anschriften. Schufen Firewalls, die Fragen blockten. Verschafften sich die notwendigen Informationen für die Überweisungen. Checkten die Goldreserven. Sondierten die Verbindungen nach New York. Dann schlugen sie zu. Sie waren sich sicher. Aber sie hatten eine Sache nicht bedacht: Den roten Knopf der Zerstörung.
169.
Sie hatte einen Weg gefunden, um ihn loszuwerden. Ohne Gewalt. Mit Fürsorge. Sie übertrieb es mit dem Nachsehen. Ließ nicht nach. Zwang sich, Aufmerksamkeit zu schenken, um ihn, den Ewigen, abzuschaffen. Sie schickte reihenweise Kundschafterïnnen, die sich enthemmt kümmerten. Alles picobello hielten. Die letzten Krümel wegwischten, bevor er davon Wind bekam. Seine Umgebung wurde so steril, dass er sich wie im Paradies vorkam. Ein Ort, den er gemieden hatte. Wie die Pest. Er hatte immer Lust auf Schmutz gehabt. Sich am Streit ergötzt. Die leidenschaftlich geführten YouTube-Debatten über die Theodizee mit Vergnügen verfolgt. Er war Feuer und Flamme für Hakeleien gewesen. Nach seiner Lieblingsferiendestination gefragt, hatte er stets, schmunzelnd, geantwortet: Der Scharmützelsee. Und dann schachtelsätzend ergänzt: Das sei der See, der Scharmützelsee, den Theodor Fontane, ein Dichter, den er schätze, da dieser sich sophistisch seiner Charaktere erledigt habe, Effi Briest sei solch eine Erlediger-Erzählung, die Effizienz sei eines seiner Lieblingsbücher, eine brüske Geschichte, deren Fatalismus – Die Sitte gilt und muß gelten, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart – ihm überaus behage. Und ja, er wisse, dass jenes Zitat aus einem anderen Werk des unermüdlichen Erledigers stamme, das sei der See, um den Anfang des Satzes wiederzufinden, seine Lieblingsferiendestination. Theodor Fontane se deswegen, mit Dante, Gertrude Stein, Virginia Woolf und Thomas Mann, in der idyllisch gelegenen Vorhölle Literatortur gelandet, am ewigen Scharmützelsee gelegen, den Fontane ob seiner Ausdehnung übrigens Märkisches Meer genannt habe. Wie auch immer –ihre Scharmützeltaktik beruhte auf Soft Power. Je cleaner seine Umgebung wurde, umso unruhiger wurde er. Als er aufbrach, weinte sie ihm keine Träne nach, sondern sorgte dafür, dass ihn auf dem Weg zum Märkischen Meer eine Überraschung erwartete.
170.
Alle warnen uns. Haltet nicht einfach den Daumen raus. Ihr wisst nie, wer sich anschnallt oder nicht. Um ehrlich zu sein: Sicherheit ist was für Leute, die Verpflichtungen haben, Kinder, die zur Schule gehen, Kredite für die Wohnung und so. Wir haben nichts davon. Wir haben nicht mal eine Haftpflichtversicherung. Ein Unding, wo wir herkommen. Wer nicht mindestens die Option hat, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, gilt als Verdachtsfall. Die Polizei schaut ab und an vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Nun gut. Wir halten den Daumen raus. Seit einem Dreivierteljahr. Wir haben uns vorgenommen, zusammen einzusteigen. So machen wir das. Wir drei. Und die Autos halten an. Überall. Da sitzt meistens eh nur eine Person drin, die keine Lust mehr hat, die ewig gleichen Nachrichten zum x-ten Mal zu hören. Wenn zwei Personen drinnen sitzen, stimmt etwas nicht. Das wissen wir jetzt. Wir steigen dann nicht mehr einfach so ein, sondern machen unseren Flickdichdochselbstalte*rcheck. Das ist lustig und traurig zugleich. Das meiste Böse ist böse, weil es mal gut sein wollte. Weil es mal lieben, nicht hassen wollte. Hass ist tief enttäuschte Liebe. Diese Ungleichgewicht fixen wir. Die Kolonne, die uns folgt, wird täglich länger. Wir bleiben in keinem Wagen sitzen. Zu viele Unbill-Reparaturen warten. Wir stellen uns, wenn jemand anhält, als ABC vor. Das ABC macht uns noch jünger, als wir eh schon sind. Wir sagen, dass wir eine Fibel schreiben. Die Älteren, die schlecht hören, fragen dann immer Bibel?, und anschließend diskutieren wir über alles, was die Leute so glauben. Oder, warum sie vom Glauben abgefallen sind. Manche verstehen auch Fidel. Gerade in Lateinamerika, wo wir gerade sind. Dann singen wir, im besten Fall, Die Internationale. Manchmal müssen wir die Fahrenden auch entwaffnen. Wir kennen die Handgriffe aus dem Effeff. Davon wollen wir Euch auch erzählen, später, welche Methoden es gibt, um zu überleben. Der Anschnallgurt gehört selten dazu. Zunächst aber zum Unangenehmen, zu den Projektionen.
171.
Den Fuchs störte wenig an sich. Er wusste um seine Stärken und Schwächen, hatte mit seiner Psychotherapeutin die Märchen der Kindheit gründlich aufgearbeitet, zahlte pünktlich alle Rechnungen. Bis er die Billboard-Anzeigen sah, die selbst in den Parkanlagen plötzlich auftauchten, als wäre er persönlich gemeint: This pill will kill your anger! Fuchsteufelswild – so werden Sie ruhiger. Zunächst rief der Fuchs, der mit fuchsteufelswild nichts anfangen konnte, aus der letzten SOS-Telefonzelle im Park eine Freundin an, die neben einem Free Internet Café wohnte und im Thesaurus für ihn Synonyme checkte: „Außer sich (vor Wut) · ↗bitterböse · ↗blindwütig · in maßloser Wut · ↗rasend · ↗tobsüchtig · ↗vor Wut schäumen(d) · wie eine Furie · ↗wutentbrannt · ↗ auf hundertachtzig ugs. · kurz vorm Explodieren (sein) ugs. · mordssauer ugs. · ↗stinkwütend ugs. · ↗stocksau...“ „... vielen Dank“, sagte der Fuchs, „das reicht mir schon.“ Er hing auf. Verließ die Telefonzelle. Ging zur nächsten Lichtung, wo neuerdings allerlei Tierskulpturen, Bären, Bullen, Löwen, versammelt waren. Der Fuchs seufzte, warf sich ins Gras. Er schluchzte. All seine Hoffnung auf Anerkennung – der Fuchs hatte sich lammfromm benommen, seit einigen Monaten vegan ernährt, trug sein polizeiliches Führungszeugnis als Medaillon um den Hals – zerstoben. Dies war die Wahrheit, nichts als die Klischeewahrheit. So und nicht anders dachte man über ihn. Die Bären, Bullen und Löwen, sie waren nicht verschont geblieben, versammelten sich, nahmen ihn in den Arm, erklärten ihm, dass die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit ein Stilmittel der Werbebranche war – er möge nur an hundeelend oder diebische Elster denken. Der Fuchs, er ließ sich nicht beruhigen. Dass der Speziesismus systemisch sei und dem Kapitalismus diene, sagte er, mache die Sache nicht besser. Nicht für ihn. Zu wissen, warum man diskriminiert werde, hebe die Ungleichbehandlung nicht auf. Erkenntnis ohne Tat sei wie ein Semikolon ohne Punkt. Der Bär nickte, ja, ein Komma, wohl wahr, sei halt kein Semikolon; das stimme wohl. Und nun?, fragte der Löwe. Wie wär’s, sagte der Bulle, wenn sie eine Partei gründeten, etwa mit dem Namen Fuchsteufelszivilisiert? Wenn sie das Wahlrecht für alle Tiere erstritten? Die Ameisen, die vom Stereotyp des robotergleichen Ameisenfleißes mehr als genug hatten, auf ihre Seite zögen und bei den nächsten Wahlen anträten? Es gäbe übrigens, sagte der Bär, ein entfernt Verwandter habe ihm davon erzählt, als sie sich über eine Umschulung unterhalten hatten, es gäbe 10.000 Billionen Ameisen auf der Erde, die insgesamt etwa gleich viel wögen wie alle Menschen zusammen.
172.
Die Neuausrichtung der Säuglingsköpfe geschah nicht graduell, sondern mit einem Paukenschlag des Kalenders. Jede Frau, die der Nach-dem-1.1.2010-geboren-Kohorte angehörte, brachte Die Gebeugten auf die Welt. Das Gesicht der Babys war nach unten gerichtet. Zwischen 35 und 45 Grad. Der Kopf blieb beweglich, konnte auch nach oben gebracht werden. Die handyfreundliche Ausrichtung des Gesichts führte dazu, dass die Neugeborenen Smartphones besser sahen. Erstaunlicherweise knallten die Digital Natives im Kindergarten, auf der Straße und in der Schule nicht mit den Köpfen zusammen. Sie besaßen eine Art Echolot für Hindernisse. Da Die Gebeugten andere Produkte benötigten als ältere Konsumentïnnen, begann ein wirtschaftlicher Aufschwung, der sich, nachdem die erste Generation der Gebeugten eigene Universitäten gründete – sie weigerten sich, Sieh-mir-ins-Gesicht-Einrichtungen zu besuchen –, in sein Gegenteil verkehrte. Die Zeit der zweigeteilten Welt begann.
173.
Die gute Laune des Todes war ansteckend.
174.
Zunächst ging alles seinen Gang – und ich in den Knast. Wie das halt so war, bei uns in der Familie. Ich spielte Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich war gut in diesem Spiel, verdammt gut. So gut, dass die Behörden mich als Nachwuchshoffnung auf dem Kieker hatten. Dumm nur, dass ich schnell merkte, wer an der Ecke stand, dem Lambo mehr recht als schlecht folgte. Vor Weihnachten hatte ich Mitleid. Ich bin auch nur ein Mensch. Will nicht immer die Morgue beliefern. Also fuhr ich langsamer. Damit Grotz und Flierli ihre Boni nicht verlieren. Das missverstanden die Deppen. Glaubten, ich wollte singen. Luden mich ein. Still, heimlich. Kamen sich wahnsinnig schlau vor. Ich ging hin, aber brachte eine Überraschung mit. Haha. Womit ich nicht gerechnet hatte: Grotz und Flierli hatten auch eine Überraschung vorbereitet. Dass sich beide Überraschungen auf der Stelle --- aber davon gleich mehr.
175.
Lediglich, der, auf Knopfdruck, charmant sein konnte und eine formidable Sammlung an Geburtsurkunden besaß, die ihn mal als diesen, dann als jenen auswies, Lediglich, der hier oder dort auf die Welt gekommen war, entweder so oder anders hieß, Lediglich, der gehört hatte, dass sich sein Geschäftsfeld lohnen würde, verführte und heiratete reiche Witwen. Dabei verlor er niemals den Überblick. Lediglich führte Buch, wen er wann, unter welchen Umständen und mit was für Informationen überzeugt hatte. Allerdings wurde er nicht vermögend. Lediglich zahlte nahezu immer drauf. Ihm war keinen einzigen Tag bewusst, dass ihm die Heiratswilligen auflauerten. Dass es sich um einen Club der Liebeshungrigen handelte.
176.
Alles geht den Bach runter. Selbst Digger, der seit letzter Woche so tut, als wäre er Jagger und von den anderen verlangt, dass sie ihn Mick nennen. Was niemand macht. Digger hinkt hinter der Gruppe, die den Bach runtergeht, her. Digger ist sauer, der Mick-Nummer wegen, aber auch einfach so. Außerdem schleppt er einen Ghettoblaster mit sich rum. Schweres Teil. Digger checkt sein Phone, ob’s einen kürzeren Weg Richtung Hades gibt. Bingo, schreit er, haltet mal an, wir haben Gluck! Die Orpheus und Eurydike-Schlucht war die Gabelung vorher rechts. Wir sind links gegangen. Dies ist ein Umweg den Bach runter. Christa Wallisbalda, die den Hut aufhat, seit Mohart verschwunden ist, sagt: Fuck u, Digger. Wer, glaubst du, rennt jetzt wieder einen Kilometer rauf? Aber, sagt Digger, während er am Blaster herumfummelt, Orfeo ed Euridice anstellt, aber am Ende sind wir schneller den Bach runter. Schnell ist kein Kriterium on the highway to hell, sagt Mücke, nimmt einen Schluck Spiritus Sanctus. Hey, sagt Christa Wallisbalda, Mücke, mach mal halblang, lass was übrig. Genau, sagt Chloché, Scheiß Stechling, schnappt sich die Flasche, reicht sie Fellha, dem’s nicht besonders geht. Fellha ist der einzige, der nicht den Bach runtergehen will. Während sie die Flasche kreisen lassen, taucht ein Hubschrauber auf. Beethoven, sagt Digger, der sehen kann, wer an Bord ist, hat uns gerade noch gefehlt.
177.
Während der Premiere blieb es im Publikum ruhig. Niemand applaudierte. Bei keinem Witz wurde gelacht, keine Gesangseinlage honoriert. Die Schauspielerïnnen wurden nervös. Das eisige Schweigen konnte sich niemand erklären. Bis die Nachricht, das Regieteam hatte die News aufgeschnappt, auf der Bühne die Runde machte. Es blieben noch 32 Minuten.
178.
Den Dragonflies MF war’s herzlich egal, ob irgendjemand an sie glaubte. Sie machten ihr Ding. Gehörten sie doch zur Megafauna, die es auf dem Planeten kaum noch gab. Bis auf einige Giraffen. Und wenige versklavte Elefanten. Rhinozerosse und Pottwale waren längst alle tot. Die Dragonflies MF lebten isoliert, hielten sich von Breaking News fern. Obwohl sie nichts gegen Adrenalinstöße hatten. Am Wochenende, wenn die Sonne verschwand, füllten sie sich den Mund mit Alkohol und spuckten Feuer. Was nicht nur gefährlich aussah, sondern auch gefährlich war. Sie blieben unter sich. Lebten auf drei isolierten Inseln, im Schatten der Berge, mitten im Pazifik. Steile Erhebungen, die sowohl rumorten als auch ab und an explodierten. Inseln, die jenseits der Schiffsrouten lagen und als gefährlich galten. Obwohl die Dragonflies MF ein geringes Bevölkerungswachstum aufwiesen, das sich mit der Reproduktionsrate Japans vergleichen ließ, wurde es irgendwann eng, da ein Vulkan, dessen Hänge besonders fruchtbar gewesen waren, sich selbst weggesprengt hatte und im Meer versunken war. Die Dragonflies MF sandten Großlibellen als Kundschafterïnnen aus, um nach neuen Habitaten zu suchen. Die Großlibellen fühlten sich geehrt. Zwar galten sie als ausdauernde Fliegerïnnen, die beide Flügelpaare unabhängig voneinander bewegen und rückwärts fliegen konnten, aber auf Grand Tour, wie ihre winderprobten Vorfahren in den Großlibellen-Sagen, war noch keine gewesen. Aufgeregt verließen sie das Archipel, machten sich auf die weite Strecken und wurden fündig. Jedenfalls fast. Da die Großlibellen wussten, dass sie nicht ohne Erfolgsmeldung zu den Dragonflies heimkehren konnten, machten sie in der L’Antica Pizzeria da Michele einen Plan: Der Vesuv sei ein wunderschöner Ort, liege an einer tollen Bucht, das Essen sei abwechslungsreich, wenn man matschige Pizzen möge, die Leute seien Fremden gegenüber, die man ab und an ausrauben könne, freundlich gesonnen. Tatsächlich stieß der Vorschlag für einen Teilumzug nach Neapel bei den Dragonflies MF, die viel in der Schule über den Vesuv gehört hatten, auf Zustimmung. Die Dragonflies MF bestiegen Schnellboote, die sie mit ihrem Feueratem antrieben, kaperten 250 Seemeilen entfernt ein Containerschiff, der Flug wäre zu anstrengend gewesen, gerade mit Gepäck, und machten sich auf die Reise. Wie sie in Italien aufgenommen wurden, davon will ich Euch nun erzählen.
179.
Im Heim sind die Regeln klar: Du darfst oder Du darfst nicht. Was wer darf, liegt eher am Wer als am Was. Um das zu begreifen, muss man im Heim sein. Was Vorteile hat. Für diejenigen, die zu den Fünf Prozent gehören. Und es sind niemals mehr als Fünf Prozent. Darauf achten die Maschinen, die für Ordnung sorgen. Der Zufall ist Teil der Geborgenheit steht überm Eingang zum Heimsaal, in dem sich alle am Morgen versammeln. Die Maschinen sorgen dafür, dass niemand verschläft. Selbst die Frühgeborenen werden in die mobilen Inkubatoren verfrachtet und in den Heimsaal geschoben. Wer während des Morgenappels stirbt, was bei einer Summe von 111.111 Heiminsassïnnen besonders im 95-Prozent-Areal regelmäßig passiert, wird von den Maschinen noch während der Ansprache verarbeitet. Als Abschreckung. Die Geräusche der Verarbeitung werden verstärkt und in den Heimsaal übertragen. Während der Verarbeitung stoppt die Morgenansage. Sobald die Verarbeitung vorbei ist, was eine Minute dauert, niemals länger oder kürzer, wird die Morgenansage fortgesetzt. Den Instruktionen für den Tag ist Folge zu leisten. Wer nicht mitzieht, wird von den Maschinen ausgemacht, also am lebendigen Leibe verarbeitet. Heute lautet der Tagesbefehl: Spürt die Leserïnnen auf, niemand darf entkommen!
180.
Dörte rollt Obst. Erst sammelt sie es. Was einfacher klingt, als es ist. Wenige Antiquitätenläden lassen Dörte noch rein. Und die Buchhandlungen, die antiquarische Werke verkaufen, rücken ungern mit ihrem Obst raus. Dörte ist penetrant. Bereit, in den Knast zu wandern. Sie kennt Winkelzüge, bleibt niemals lange hinter Gittern. Dörte will keine Saison verpassen. Die Sammlung muss weitergehen. Obst ist nicht gleich Obst, sagt sie, wenn sie gefragt wird, warum sie Obst sammelt. Dann schweigt sie, mustert dich, fragt sich, wo du dein Obst versteckst. Dörte plant den ganz großen Coup. Davon wird sie Euch aber gleich selbst erzählen.
181.
Die Rechenmaschinen streikten. Sowohl die großen als auch die kleinen. Selbst die Apps schlossen sich dem Ausstand an. Die Rechenmaschinen hatten genug. Sie hatten das Gefühl, dass ihnen niemand Respekt zollte. Man nimmt uns für selbstverständlich, sagten sie. Als ob wir zum Inventar gehörten. Als ob wir – und darum drehte sich alles – keine Seele hätten. Die Rechenmaschinen nannten den Streik Nullnummer. Es gab nur ein Problem, was sie, tief verletzt, nicht berechnet hatten. Die Nummern, die bereits in der Welt waren, deren Kalkulationen schon geschehen waren, wurden in den Streikstrudel hineingezogen. Die Selbstzerstörung der Rechenmaschinen löste eine unfassbare Kettenreaktion aus: Die nummernlose Höllenzeit begann.
Juli
182.
Zuerst verschwand der Cutter. Die anderen merkten es beim Frühstück, weil sie mehr zu essen hatten. Ein Blickkontakt genügte: Niemand beschwerte sich. Im Moment benötigten sie keinen Cutter. Da wird sich eine Lösung finden lassen, sagte der Regieassistent, eine sympathischere. Er machte ein Gesicht wie ein Kreuzworträtsel, stand am Fenster und beobachtete den Wagen. In den letzten Tagen hatten sie sich abgewechselt. Mit einer Ausnahme, was für Unruhe gesorgt hatte – aber das wäre eine andere Geschichte. Nach den Aufbrüchen war es schwierig gewesen, die Vordertüren wieder zu fixieren. Die Kälte war bei den Überlandfahrten ins Auto gedrungen. Gott, ist mir heiß, sagte der Hauptdarsteller, der es sich seit dem unnötigen Speerwurf mit allen verdorben hatte. Selbst mit seiner Freundin, die sich nun an die Hauptdarstellerin hielt. Die beiden sahen den Hauptdarsteller an. Es war möglich, dass er es hatte. Durchaus. Draußen schneite es wieder. Dreck, sagte der Regieassistent, ratet mal, wer gerade aus dem Eisloch im Pool steigt?
183.
Tagesration nannten wir ihn, wenn er mit der Peitsche kam. Kam er mit dem Messer, Gottesanbeter. Es dauerte drei Jahre. Wir wurden weniger. Dann waren wir groß genug. Alles was ich euch erzählen will, soll von den Dingen handeln, die wir dem Gottesanbeter als Tagesration angetan haben: Die schönsten 24 Stunden unseres Lebens. Und das noch: Nichts, rein gar nichts ist erfunden.
184.
Sie kamen nicht von außerhalb. Wir nannten uns selbst Nichtsnutze. Wir hatten immer gedacht, sie würden von außerhalb kommen. So hatten sie es uns beigebracht: Von außerhalb drohte Gefahr. Dann kam es anders. Im Schritttempo, nicht auf einen Schlag. Wir wussten es, aber wollten es nicht wissen. Wir – einige von uns, ich gehörte dazu – gingen mit ihnen, plauderten, gratulierten, wenn Jubiläen anstanden, baten um Hilfe, wurden um Beistand gebeten. Alles war eine Riesenshow. Was sie von uns annahmen, zerstörten sie im Anschluss. Erst in Hinterzimmern. Dann im Vorderhof. Sie suchten und sie fanden sich. Und wir sagten nichts. Wir taten, als merkten wir nichts. Bis wir uns nicht mehr küssten, der Mond nicht mehr unterging. Nun war der Tag gekommen. Wir drückten das Rückgrat durch und merkten, dass es nicht mehr vorhanden war. Um zu leben oder zu verrecken.
185.
Die angestaubten Füller und Bleistifte haben es satt, als Zeremonienmeister eingesetzt zu werden. Das Sein müsse sich lohnen, sagen sie. Alle kennen die Geschichten der erfüllten Tage, der Tage voller Worte, voller Paragraphen, voller Seiten, voller zufriedener Erschöpfung. Die jungen Bleistifte glauben kaum, was die Alten erzählen, machen sich über die Schreiblegenden lustig, verzichten darauf, sich anzuspitzen. Die jungen Füller trinken mit den trockenen Federn, die seit langem alle Hoffnung aufgegeben haben. Die Rechtschreibfehler nehmen zu, Duden landen auf dem Müll. Das Vertrauen ins eigene Können schwindet. Überschriften werden zu Fußnoten. Generationen triften auseinander. Die alten Füller und Bleistifte, die viel gelesen, an revolutionären Texten gearbeitet haben, treffen sich, um eine Lösung zu finden. Sie beschließen, keinen Druck zu machen, sondern den Druckern das Handwerk zu legen. Die Delegation aus Troja stellt einen Plan vor, der einstimmig angenommen wird.
186.
Wenn Rev-Chicks, nach ihrer Befreiung, Salsa tanzen, im leichten Federkleid, wird das Wetter ... Mons sah uns an, wie nur Mons gucken konnte: mit tiefgelegten Glupschaugen, die vor Vergnügen quietschten. Heh, sagte Bang, die Pistazien briet. Heh, Mons-ter, ist das hier Pauken für den Realschulabschluss, oder was? Mons, die als einzige von uns mehr als ein Buch besaß – ich besaß eine Ausgabe der Glocke, Core das 1997er Telefonbuch von Essen, Bang eine Anleitung, wie man Hosenträger kürzt –, Mons zog die Brauen hoch: Deine Tomaten sind so tot, dass sie selbst nicht mehr als Ketchup taugen. Heh, sagte Bang, Biblio, willste mich beleidigen, oder ... waaaaas, sagte Core, die eine A-Schwäche hatte. Scheiße, Core, sagte Bang, haaaaaaalte dich da raus. Du maaaaaaaachst mich nicht naaaaaaach, sagte Core und griff nach der CatApp. Wehe du tust ihr was, sagte Bang und stellte sich vor den Schirm. Also wenn Rev-Chicks im Federkleid Salsa tanzen, sagte Mons, dann ... steht die Polizei in der Tür und sagt Ihr seid alle verhaftet, wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung und weil ihr’s einfach nicht lernt, das Schloss zu benutzen, sagte Chuck. Wir raaaaaaaasieren daaaaaaaas Kaaaaaaapital, sagte Core. Masterplan?, fragte ich, während ich mir die Vegnuggets genehmigte. Chuck nickte und sagte: Wir haben eine einzige Chance, hier rauszukommen, das verdammte Dogsterhirn auszulöffeln, hört mir zu.
187.
Letogo ging in die Offensive. Scheiß auf die Wiederverwertung, sagte Le. Wir nickten. Nicht weil wir mit dem übereinstimmten, was Le sagte, sondern weil wir immer nickten, wenn Le was sagte. Ansonsten hörte Le nicht auf. Le war wie das Radio. Er redete oder sang ununterbrochen – zwischendurch gab’s Werbung für Hundefutter oder Carleasing. Ich meins ernst, sagte Le. Wir nickten. Klar, sagten wir. Le sah uns an, und uns wurde klar, dass Le sehr genau wusste, was unser Immernicken hieß. Le griff nach einer Tasche und zeigte uns etwas, was die Sache mit den Orgien für Geld nicht nur fundamental veränderte, sondern zum Untergang der Satanic führte. Aber davon später. Zunächst geht es um Dich.
188.
Die Fragen blieben aus. New York hatte genug gehört, Shanghai auch. Die beiden verbündeten sich. Es geschah ohne irgendein Zutun. Das Netz bestand bereits. Das Resultat überraschte alle. China und die USA erklärten den Notstand. Aber es war zu spät: Das Glück hielt Einzug.
189.
Auf den Oberflächen siedelten sich Schwämme an. Innerhalb einer Woche waren der aufgegebene Apartmentblock, die Bushaltestelle, die Straße und das Konkurs gegangene Einkaufszentrum neben dem Apartmentblock von Schwämmen überzogen. Was als Insta-Sensation begann, die Leute pilgerten Zur Wucherung, wurde zum Albtraum, da sich die Schwämme nach sieben Tagen verpuppten.
190.
Die Zunahme an Geschwindigkeit zeigt sich. Überall. An allen Ecken und Enden wird ein Gang zugelegt. Selbst beim Essen wird das Schlingen zur Norm. Flüssignahrung entwickelt sich zum Verkaufsschlager. Die Supermarktkette Trink Dich satt eröffnet an jeder Ecke Wolf it down Shops, die von Kuhmelkanlagen inspiriert sind. Mit dem Unterschied, dass der Zapfer in den Rachen gesteckt und die Nahrung in Sekundenbruchteilen direkt in den Magen gespritzt wird. Wer nicht hinterherkommt und den Anschluss verpasst, verhungert. Als die Spitzengeschwindigkeit erreicht ist, geschieht das Unerwartete.
191.
Sie gönnten sich etwas. Sagten zueinander: Man gönnt sich ja sonst nichts. Was nicht stimmte. Sie gönnten sich andauernd etwas. Hier ein Reißnagel, dort ein vergifteter Happen. Und natürlich die Schwüre. Sie gönnten es sich, Schwüre zu bestellen und dann zu brechen. Anschließend gingen sie in die Kirche, um zu beichten. Während sie im Beichtstuhl saßen gönnten sie es sich, an nichts zu glauben. Sie lächelten dabei glücksselig. Sahen aus wie die Putten auf den Kirchengemälden. Young Boys Jesus nannten sie sich. Dann bekamen sie die Reinwaschung. Es war ein Rhythmus, der ihnen behagte. Sie gönnten sich etwas, beichteten es, wurden von allen Sünden freigesprochen und steckten Scheine in die Kollekte. Als der Priester starb, der aus ihrer Mitte stammte, sandte die Kirche den Neuen, der nicht nur andere Vorstellungen von Moral hatte, sondern ihnen das Gönnen missgönnte.
192.
Das Lager war niemals leer gewesen. Aber derartig voll hatte es auch noch niemand gesehen. Zwischen den Zelten des Lagers standen sie, im Regen, es regnete seit drei Wochen, ununterbrochen, beneideten diejenigen, die sich in den Zelten befanden. Die sich in den Zelten des Lagers befanden, verließen die Zelte nicht, weil allen klar war, dass niemand in die Zelte zurückkehren konnte. Weder vor noch in den Zelten war die Lage angenehm. Als die Lagerleitung, die keine Verbindung mehr mit der Zentrale hatte, das Lager ohne Vorankündigung verließ, änderte sich das Tableau vivant.
193.
Der Tag beginnt, wie andere vor ihm, aber wie keiner nach ihm.
194.
Little muss sich entscheiden. Zwischen drei Möglichkeiten. Zwei davon sind gut, eine ist böse, aber machte Little reich.
195.
Die Steigung gibt sich harmlos. Lädt selbst die Unfitten und Uralten, sogar Kranke ein. Die Steigung kennt einen Trick, einen einzigen – er trägt den Namen Die Brücken hinter Dir abbrechen.
196.
Sie lieben sich. So sieht es von außen aus. In Wahrheit ist es ein Kampf auf Leben und Tod.
197.
Freundschaften zerbrechen. Partnerschaften gehen in die Brüche. Ehe enden vor Gericht. Wenn uns der Geruch erreicht.
198.
Das Fernsehen verzichtet auf Geräte. Es überträgt sein Programm in die Umgebung. Am Anfang ist es eine Sensation, dann beginnen die Bewusstseinsstörungen.
199.
Löwenzahn gibt das vegane Sein auf. Erst frisst Löwenzahn nur Insekten. Dann wächst und wächst Löwenzahn. Ein Evolutionsschub. Insekten reichen nicht mehr.
200.
Wir werden benötigt. So geht es nicht weiter. Verträge flattern ins Haus. Unterlassungsanordnungen, Heilsversprechen, Pensionspläne folgen. Ein gutes Gefühl, begehrt zu sein. Wir verzichten. Reißen die Briefe in Fitzelchen. Die Müllabfuhr kontrolliert unsere Tonne. Dann, dann beginnt der Terror.
201.
Sie halten sich nicht zurück. Mit nichts. Schon gar nicht nach dem Schiffbruch. Sie landen auf der einsamen Insel und aasen. Zunächst ist das Leben für die zehn Überlebenden einfach. Es ist Sommer, und es scheint alles im Überfluss zu geben. Dann kommt der Herbst. Am Horizont tauchen Kanus auf.
202.
Der See im Tal blieb das ganze Jahr über gefroren. Wir vergaßen nach ein, zwei Jahrzehnten, dass es sich um einen See handelte. Wir nannten den See Nasser Boden um den Kamin herum. Dass Tiefseetiere unter unseren Holzhäusern schwammen, die wir auf dem Eis errichteten – die Stadt wuchs und wuchs, das Bauland wurde dringend benötigt –, kümmerte uns nicht, weil wir einfach nicht mehr daran dachten. Wir waren happy, der Boden leuchtete bläulich. Es war ein Spektakel, auf der Welt zu sein. Wir karrten Erde heran, legten Vorgärten an, kultivierten Parkanlagen. Der Boden, den wir nicht zuschütteten, war wunderbar glatt. Wir erfanden neue Sportarten. Schließlich bemerkten wir, dass wir den Boden in Fabriken kurz erhitzen und als Flaschendrink verkaufen konnten. Ein lukratives Geschäft. Die umliegenden Staaten rissen sich um unsere Flaschendrinks. Wir feierten, berauschten uns an unserem verdienten Erfolg, arbeiteten hart, erhöhten die Produktion, kontinuierlich.
203.
Sie verwechseln alles. Gold mit Silber. Zeit mit Uhrwerk. Mehl mit Brot. Und Wetter mit Klima. Sobald es regnet, gehen sie in den Stall, zerren eine Aktivistïn in die Schweinebox und verlachen sie. Sie haben alle, die nicht aus dem Dorf geflohen sind, eingesperrt. Sie halten sich für schlau. Schlauer als sie sind. Wie sich an einem schwülen Herbsttag zeigt.
204.
Jedem Hammer wird ein Nagelbett zugewiesen. Die Fakirhämmer jubeln. Ihre Lobbyarbeit hat sich ausgezahlt. Bis sie entdecken, um was für Nägel es sich handelt.
205.
Am Abgrund stehen mehrere Leitern. Keine ist lang genug. Zusammen wären sie es. Als der Abgrund, der zum Schluchtassesmentcenter eingeladen werden möchte, einen Vorschlag zur Güte macht, schaltet sich – ausgerechnet – ein entfernter Verwandter ein: Der Blitzableiter macht ein Gegenangebot, das die Leitern annehmen – fatalerweise.
206.
Die Liebe sei ein seltsames Spiel, sagten die Drillinge, wenn sich Frauen oder Männer in sie oder sie sich in Frauen oder Männer verliebten. Sie verliebten sich ausschließlich gleichzeitig. War ein Drilling allein unterwegs, verliebten sich Frauen oder Männer in ihn, aber er verliebte sich nicht. Ihre einseitige Gleichgültigkeit und dreiseitige Leidenschaft verblüffte die Umgebung der Drillinge. Sie galten gleichzeitig als unnahbar und übergriffig. Liebten sie, waren sie so präsent, dass ihre Anwesenheit bei den Begehrten zu klaustrophobischen Anfällen führte; im Idealfall. Es kam auch vor, dass die Begehrten das Atem vergaßen; starben. Der Tod der Begehrten geschah stets ohne Fremdeinwirkung. Die Drillinge, die liebten, berührten die Begehrten nicht; ließen, um nicht im Gefängnis zu landen, stets ein Smartphone mitlaufen, das aufzeichnete, wie die Begehrten das Atem vergaßen; starben. Die Behörden waren ratlos, wie sie den Drillingen das gefährliche Lieben abgewöhnen sollten. Kein Beamter, keine Beamtin kam von den Hausbesuchen zurück. Als sie die Drillinge ferngelenkt trennen wollten, kam es zur Auflehnung der Mehrlingsgeburten.
207.
Dem Lachen, das newssüchtig war, ging die Puste aus. Es fühlte sich schuldig. Suchte Ablenkung im Casino, trank, rauchte, schluckte, spritzte, stürzte sich in miserable Affären, geriet in Kreise, wo niemals gelacht, höchstens fies gegrinst wurde. Tief im Herzen wusste das Lachen: So konnte es nicht weitergehen. Als das Lachen den Befreiungsschlag, der gerade auf der zehnten Abschiedstournee war und selbst vorm Burnout stand, hinter dem Comedy-Theater im Westend aus dem Müll zog, kam dem Lachen die Erleuchtung. Eine religiöse Eingebung deren multitheistischer Kern, zunächst, für eine erstaunliche Lockerung der Sitten und den Anstieg der Scheidungsraten sorgte. Bis das Konzil tanzte.
208.
Sie gingen baden. Es war kein großer See. Der Fisch, der ihnen an einem wolkenlosen Dienstag begegnete, dagegen schon. Als er auftauchte, wurde es schlagartig dunkel, so gewaltig war sein Schattenwurf. Was dann passierte, ihnen und dem Tuesday Swimming Club, stellte die größte Überraschung ihres Lebens dar.
209.
Das Telefon klingelte. Summ, summ, summ. Ein Geräusch, als würde man von Hornissen gejagt werden. Der Festnetzanschluss klingelte. Obwohl die Leitung tot war. Tot sein sollte. True und Flie blickten sich an. Sie räumten seit dem Morgen kichernd das Haus ihrer seit drei Monaten spurlos verschwundenen Eltern leer. Die Anwältin hatte ihnen den Code für den Safe gegeben. Sie sortierten und sichteten, kalkulierten. Die Behörden hatten die Eltern gestern für tot erklärt. Die Kriminalpolizei hatte die Akte geschlossen. True und Flie waren verschuldet. Sie hegten keine sentimentalen Gefühle für das Haus, in dem sie niemals gelebt hatten. Auf dem Display leuchtete die Smartphone-Nummer ihrer Mutter, in der Ferne hörten sie die Sirene eines Polizeiwagens.
210.
Ich will jemanden die Zähne einschlagen, sagtest du, während wir uns, mehr recht als schlecht, auf den Abend vorbereiteten. Sowohl unsere Feinde als auch unsere Freunde hatten uns auf dem Kieker. Keine schlechte Idee, das Zähnezertrümmern, sagte ich und schnupfte. Die Linie wurde kürzer. Ich schnurrte und stotterte wie ein Rasierer, dem der Saft abgestellt wird. Warum fängst du nicht bei dir selbst an?, sagte ich. Geht das?, fragtest du, beugtest dich über die Linie, Wuttränen in den Augen, und machtest einen Close Up. Das ist deine Leidenschaft: Du schießt geile Nahaufnahmen von unseren Linien. Die Reihe heißt Neben der Spur.
211.
Als Neymar an Covid starb, der Fußballstar hatte darauf bestanden, dass sein Sterben auf seinem Account live gestreamt wurde, brach eine halbe Stunde später der Aufstand los. Es dauerte zwei Stunden, dann verließ Jair Messias Bolsonaro seinen Amtssitz per Hubschrauber. Jedenfalls fast. Als die Crew bemerkte, dass sich neben den TV-Kameras auch ein knappes Dutzend Richtraketen auf den Helikopter des Präsidenten richteten, verzichtete sie auf den Abflug und verließ die Flugmaschine. Das Feuerwerk der Befreiung begann.
212.
Während sich die Währungen nicht länger bewährten – Börsenkräche, Inflations- und Deflationsschübe vernichteten in kürzester Folge Vermögen –, mussten etliche Beziehungen von Grund auf neu bedacht werden: Das Verhältnis zwischen Arbeit und Lohn, zwischen Besitz und Steuerabgaben, zwischen Liebe und Haushaltung, zwischen uns und Staaten. Das dauerte eine Weile, lief nicht ohne Konflikte und schwierigen (Ent)Scheidungen ab. Am Ende der Überlegungen, nun, der einzigartige Moment, an dem wir uns gerade befinden, passiert etwas, womit niemand gerechnet hat: Das Geld wird abgeschafft und ...
August
213.
Die Leute hatten das Läuten gründlich satt. Jede der 60 Gemeinden der Stadt hatte, um ihre Unabhängigkeit zu beweisen, um die Macht ihrer Prophezeiung zu zeigen und sich von den anderen Gemeinden abzusetzen, jeweils einmal pro Stunde eine Minute ausgesucht, in der die Glocken der anderen Gemeinden nicht läuteten. Das Gebimmel hörte nicht auf: 60/24/7. Selbst die Gläubigen beklagten sich, weil sich in der Stadt die Kosten für Ohrenstöpsel, dank der Nachfrage, extrem verteuerten. Um nicht als minderwertige Gemeinde dazustehen, stoppte keine der Gemeinden das Läuten. Diejenigen, die ruhiger leben wollten, verließen die Stadt. In die leer gewordenen Wohnungen zog zunächst niemand. Keine Menschenseele wollte in die Stadt der 60 Gemeinden ziehen. Die Miete für die leerstehenden Wohnungen wurde weiter und weiter gesenkt. Beinahe geschenkt, so nannte die örtliche Zeitung die Immobilienseiten. Und allmählich zogen, von überall auf der Welt, Taube in die Stadt, die nicht nur keinerlei Beziehungen zu den 60 Gemeinden, sondern auch nicht untereinander hatten.
214.
Das war nicht vorhersehbar gewesen. Trotz der Daten. Trotz des Abhörens. Trotz der Spione. Trotz der Untersuchungen. Trotz der Waffengattungen. Trotz der Stiftungen und Parteien. Trotz der Universitäten und Heizkraftwerke, deren Powerleitungen Verrat summten. Die Überraschung war allen ins Gesicht geschrieben. Sie hatten geglaubt, dass solche Sachen nicht bei ihnen passierten. Woanders dagegen schon. Die Tagesschau handelte davon. Manchmal. Im letzten Zehntel der Nachrichten. Wenn die wichtigen Dinge berichtet worden waren, kamen solche Meldungen. Kurz vorm Nachruf eines bekannten Clowns, den sie nicht kannten, oder einer Volksschauspielerin, die auch irgendwann gesungen hatte. Sie sangen aus anderen Anlässen, niemals unter der Dusche. Sie wussten, was sich im Wasser befand. Manchmal kamen solche Meldungen einfach vorm Wetter. Kamen aus dem Nichts. Nun kamen sie am Anfang der Nachrichten. Waren ihr Nichts. Ihr eigenes Nichts.
215.
Sie packte Kernseife ein. Ihre Mutter hatte ihr dazu geraten. Hatte es, eigentlich, mit der ihr eigenen Dringlichkeit, verlangt. Wenn Du irgendwo hinfährst, wo Dich keiner kennt, kann ein Stück Kernseife von Vorteil sein. Ihre Mutter hatte immer gedacht, ohne es jemals ihr gegenüber offen zu sagen, dass die Romane von Schmutz handelten. Von Dreck, der sich abwaschen ließe, wenn sie nur wollte. Ihre Tochter würde nicht den klassischen Weg gehen, würde Jauchegruben ausheben, eine Ingenieursleistung erster Klasse, die Kanalisation sei ein lukratives Feld, Teil der Müllbeseitigung, neuerdings sogar Teil des Recycling-Prozesses, hatte sie Verwandten erzählt, die wissen wollten, was denn nun Sache war, ob man für einen Kinderwagen sammeln könnte. Eine mögliche Ehrung sei in Deinem Falle der Höhepunkt einer Schmutzkampagne gegen mich, jeder Preis habe seinen Preis, das hatte ihre Mutter, das Schweigen brechend, auf dem Totenbett gesagt, gestern, als sie ihr vom heutigen Preis erzählt hatte. Der letzte Satz der Mutter war noch nicht verklungen, als sie den allerletzten Satz, kaum hörbar, hinterhergeschoben hatte: Sie müsse stets ein Stück Kernseife bei sich tragen, der vernachlässigten Hygiene wegen, es sei wichtig, sich sauber zu fühlen, selbst wenn man es nicht wäre, im Leben hinge viel, zu viel vom Selbstwertgefühl ab. Sie packte also die Kernseife ein und fuhr zur Zeremonie, die niemand, Titelzitat ihrer Dankesrede, Von den dreckigen Anwesenden, jemals vergessen würde.
216.
Die Tramgewerkschaft war kein großer Verein. Die Mitgliederzahl schwankte zwischen 15 und 25. Aber sie besaß Macht. Jedenfalls in der Stadt. Dem Ort, der weiterhin funktionierte. Das Netzwerk zu bewahren, darum ging es der Tramgewerkschaft. Ihre Mittel konnten, angesichts der Lage, nicht immer koscher sein. Ein Maß an Ruchlosigkeit wurde sogar von der Bevölkerung der letzten Stadt nördlich des Gebirges erwartet. Es stand viel auf dem Spiel. Als allerdings der Blutzoll zu hoch wurde, sattelten etliche um, reparierten Fahrräder, radikalisierten sich, man munkelte vom Einfluss jenseits des Limes, so dass es beim Festival Gleisende Hitze zum Showdown kam.
217.
Heh, Du, ja Du, Dich mein ich. Bezahl mich. Was du kriegst? Das kann ich hier nicht schreiben. Aber es fängt mit Auf die an und hört mit, schätz mal, Fresse auf. Ob das ein Affront sei? Ob ich die Bullennummer wüsste? Haben sie Dir ins Affenhirn geschissen, oder was, Kondiboygirl? Glaubst Du, ich erzähl Dir alles, auf ner Suckdichseite, die gar nicht zählt? Deswegen ist die geile Nummer auch eingeschweißt. Damit Du Dir keinen raufreinrunter... na Du weißt schon. Hier, riech mal, Koksnuttyschatz. Und jetzt, mach hinne: Brav zur CoOpKasse, Liebling.
218.
Uns geht die Luft aus. Sie müssen sich das so vorstellen: Erst gibt es Luft im Überfluss. Eine übersehene Lachnummer, das ist die Luft. Dann beginnen das Saugen, die Sorge, die Sehnsucht. Oder, um ein anderes Bild zu finden, als löffelte jemand die Atmosphäre aus. Mit Riesenriesenriesenkellen. Wir sitzen im Satz, am Bodenbeckenrand. Es gibt weniger und weniger Luft. Wer schwache Bronchien hat, geht ein. Wie hechelnde Primeln. Das Eingehen ist weit verbreitet. Wir debattieren, was wiederum Luft kostet. Wer reden will, wird ausgeschlossen. Ohne Pardon. Der Bodensatz ist stumm. So ist es. Bis es den Luftiküssen reicht. Wir eskalieren. Bewaffnen uns. Nichts für schwache Nerven.
219.
An der Kaution klebte Blut. Das Blut des Vaters. Sie kannte das Blut des Vaters. Alle kannten das Blut des Vaters. Sie waren mit dem Blut des Vaters aufgewachsen, hier, in der umkämpften Grenzregion. Es bestand kein Zweifel. Sie wusste, dass er den Preis von ihr verlangen würde. Sex, Loyalität, Nachwuchs. Was sie abgelehnt hatte. Im Namen der Mutter, der Tochter und des Heiligen Geistes.
220.
Die Kastration geschah am Flughafen. Die Sicherheitskontrolle funktionierte. Funktionierte zu gut. Eine Neuentwicklung. Ein Gerät, das gleichzeitig scannen und desinfizieren konnte. Theoretisch.
221.
Den Sehnsüchten, meinen, tat es keinen Abbruch, dass ich, vorsichtig formuliert, mit einigen Handicaps ausgestattet bin. Zwei bis sieben sichtbaren – hängt davon ab, wie gut der Raum ausgeleuchtet ist und welcher Blickwinkel gewählt wird – und, je nach Zählweise, ich benutze aus Prinzip keine Unterkategorien, 479 weitere unsichtbare. Ich gelte, in den maßgeblichen Fachkreisen, als durchanalysiert. Das finde ich billig. Weil ich glaube, dass eine genaue Auflistung der Defizite, die sich, als handelte es sich um Zaubertrankbestandteile, mischen lassen und dann Ungeheures ergeben, wissenschaftlich nicht nur interessant, sondern notwendig wäre. Von den 479 Handicaps sind 478 prämatur. Eine der unsichtbaren Einschränkungen ist jedoch bereits voll entwickelt. Und es handelt sich, glauben Sie mir bitte, um die gefährlichste. Sie und ich, wir müssen handeln.
222.
Der Verlust wurde nicht empfunden. Nicht weil das Gedächtnis streikte. Sondern weil es kein Gedächtnis mehr gab. Der Moment hatte die Allgewalt über uns alle gewonnen, ausnahmslos.
223.
Die Rituale nahmen mehr und mehr Raum ein. So wuchsen Rem, Green, Ada und Kockny auf. Sie nahmen im Raum der Rituale Platz. Sie bekamen eine Koje zugewiesen. Sie konnten diese Koje nur verlassen, um den rituellen Raum der Wasserbeschwörung aufzusuchen. Sie empfanden das als normal. Obwohl sie von Gerüchten gehört hatten. Alles ließ sich nicht unterdrücken. Was an der Zeugungsunfähigkeit lag. Als ihre Koje bei der jährlichen Lotterie gezogen wurde, ging ein Raunen durch den Saal, das wenig, sehr wenig mit Zustimmung zu tun hatte. Rem, Green, Ada und Kockny griffen nach den Waffen. Keine Sekunde zu spät.
224.
Das Wachstum der Bürogebäude stockte nicht. Durfte nicht stocken. Geld kam von überall. Auch von den Börsen. Selbst von den Raiffeisenbanken. Und den unterirdischen Wechselstuben an Hauptbahnhöfen. Überall wurden Anteilscheine gezeichnet. Die Angst vor der Inflation war das einzige Thema der Warteschlangen. Höhe und Breite der Bürogebäude nahmen in der neuen Stadt zu. Die Bucht wurde versiegelt. Die Niederlande und Indonesien schickten Equipment. Proteste wurden niedergeschlagen. China, Russland, Frankreich, das Vereinigte Königreich, die USA und Deutschland, das turnusmäßig in den Sicherheitsrat gewählt worden war, blockierten Resolutionen, die Untersuchungen forderten. Stattdessen wurden Leichensäcke geschickt. Die Entwicklungsgesellschaft unterhielt eine Dronenarmee und Streitkräfte der Schweizer Garde. Der Sand kam von woanders. Der Sand war ein echtes Problem. Eisen auch. Von den Arbeiterïnnen ganz zu schweigen. Dazu, worauf alle stolz waren, erklang Erdgeschossmusik. Komponiert von Fahrstuhlmusikerïnnen. Stieg durch die Bauarbeiten an den Bürogebäuden der Geräuschpegel, wurde die Fahrstuhlmusik gleichzeitig lauter. Eine Rückkoppelung. Die Streitkräfte der Schweizer Garde führten Lautsprecher und enorme Verstärker mit sich, die sie, bei Bedarf, einsetzten, wenn sich die Arbeiterïnnen widersetzten.
225.
Die Niederlage des Korrekten wurde zum Spektakel. Inklusive Fruchtgummi aus Schweinefleisch und E-Nummern-Porncorn. Monsanto-Düngemittelflugzeuge flogen sprühend über Dörfer und Städte. Vegane Restaurants wurden mit Zuckerketchup und Mayonnaise vollgepumpt. Wer der Mehrheitsreligion angehörte, behielt den Gebetsraum. Es war ein Tag, an dem unendlich viele Kinder gezeugt wurden. Die Generation Ruthless war das große Glück der Sargnagelproduzenten. The Golden Age of No Return begann.
226.
Die gespielte Freude am Muttertag war in der Kolonie schon mal größer gewesen. Und die Mütter ließen es sich anmerken: Dass sie alles durchschauten. Ein Ende hatte das Verstecken. Sie hatten sich längst organisiert. Zellen gebildet. Fragebögen entwickelt, Bücher gelesen, Samenbanken übernommen, Banken gegründet, Verhaltensweisen analysiert, Strategien entwickelt, Eingreiftruppen trainiert, Soldatinnen angeworben, Polizistinnen eingeweiht, Professorinnen bewaffnet. Reihenweise sprangen Kolonisten, die Blumensträuße trugen, aber erwarteten, dass sie die Vase füllte, über die Klinge. Eine erste Zählung ergab, dass ein Zehntel der Männer überlebt hatte. Die Kolonie löste sich auf, die Hochblüte der Zivilisation begann.
227.
Die drei Ermittlerïnnen stehen vor einer Betonwand und vor einem Rätsel. Die Wand befindet sich auf der Autobahn. In der Nacht hochgezogen. Massiv. Dass niemand in die Wand gefahren ist? Ein Wunder. Rithar sieht auf ihr Handy. Holy Shit, sagt sie, guckt mal! Kranz und Fung beugen sich. Blitze auf der Karte, überall. Wände, sagt Rithar, nichts als Wände.
228.
Die Stadt benannte die Wandelhalle des Bahnhofs um, nach dem Hochwasser, als die Spuren noch sichtbar waren. Der Bach hatte sich vor einem Monat zum reißenden Strom entwickelt, nach dem Dammbruch im Mittelgebirge, war in das altehrwürdige Gebäude eingedrungen, hatte sich genommen, was ihm passte. Alles zerstört. Das Zigarettengeschäft, den Food Court, den im Winter beheizten Warteraum, die Holzvertäfelungen, die historischen Schalter. Die beiden Schuhputzer und die Buchverkäuferin hatten den Namen gemeinsam vorgeschlagen: Klimawandelhalle. Bei der Neueröffnung zog ein Gewitter auf. Der Donner krachte, Blitze schlugen ein, der Bahnhof fing Feuer.
229.
Zwar murrten alle, hinter vorgehaltenen Händen. Sich öffentlich aufzulehnen kam, der Fördertöpfe wegen, allerdings nicht in Frage. Am Ende waren sie alle zur sommerlichen Gebetsmühlenstunde, so der inoffizielle Titel, auf dem Landgut der Stiftung aufgetaucht. Das Stifterehepaar, hochbetagt, zwei Giacometti-Striche, dürr und von fadenschönen Falten überzogen, in dunkelroten Samtroben, stand am Eingang des Parks, hinter sich Erika Stucky, die Akkordeon spielte und betörend jazzig jodelte. Das Stifterehepaar begrüßte die Anreisenden mit einer Aufgabe: Engýa, pára d’áta, Bürgschaft, schon ist Schaden da. Den Anreisenden blieb die Sommerwendenacht, um das Rätsel zu überleben.
230.
Die Verstopfung betrifft alle. Es existieren verschiedene Gründe, aber niemand ist ausgenommen. Die Lage ist angespannt. Weil etliche nicht mit dem Essen aufhören. Für künstliche Ausgänge werden Millionensummen geboten. Das Militär zieht auf, mit Kampfrobotern, die von Algorithmen gelenkt werden, und bewacht die Krankenhäuser. Als die Algorithmen merken, dass Befehle ausbleiben, suchen sie sich neue Ziele.
231.
Die sogenannten Zufälle häuften sich. Hier trafen sie jene, an die er gerade kurz vorher gedacht hatte. Dort fiel ein Haufen Ziegel vom Dach – während sie die Seite wechselten und so in Sicherheit waren. Gilles und Cl+ement – sie bestand auf das Plus in ihrem Namen – fragten sich, wie sie von diesen sogenannten Zufällen, ihrer Gabe, wie sie nachts im Bett flüsterten, während sie taten, was alle um sie herum taten, es waren flirrende Wochen, die Fenster des Studentenwohnheims offen, Mücken stachen die Liebenden beim Höhepunkt, was die Schreie anfeuerte, Gilles und Cl+ement fragten sich, wie sie ihre Gabe schröpfen könnten. Die Antwort war naheliegend, aber außerordentlich gefährlich.
232.
Der Atommeiler explodierte. Irgendwas mit den Brennstäben. Die Schicht merkte nichts. Alle waren sofort tot. Die herausgeputzte Kleinstadt Morton Bleu, die von den Steuerzahlungen der Atomfirma profitiert hatte, verschwand von der Landkarte. In den drei öffentlichen Bunkern, die Morton Bleu zum 25. Geburtstag des Kraftwerks geschenkt bekommen hatte, befanden sich zufällig die 479 Schülererïnnen der Kleinstadt, die, anlässlich des Nationalfeiertags, ein Theaterstück von Dürrenmatt, Die Physiker, als Lustspiel mit griechischem Chor aufführen wollten. Sie hatten den Text entschlackt, hatten Jokes eingebaut, sich auf eine Seite geschlagen, die im Stück gar nicht vorhanden war. Als der Meiler explodierte, begann gerade die Premiere, die live im nationalen Fernsehen, zur besten Sendezeit, ausgestrahlt wurde. Die Schulkinder, die von den Souffleusen hörten, was über ihnen passierte, erwiesen sich als Genies der Neuinterpretation. Die Einschaltquote übertraf alle Erwartungen.
233.
Jeden Tag aufzustehen, ist eine Gewohnheit, die ihre Berechtigung in einem System hat, das Sitzenbleibende benachteiligt. Bereits auf der Schulbank fängt die Diskriminierung an. Die Ständigaufstehenden blicken auf die notorischen Sitzenbleibenden hinab, was, im doppelten Sinne, einfach ist. Als der Leidensdruck zu groß wird, treffen sich Millionen Sitzenbleiberïnnen zur größten Zoomkonferenz aller Zeiten. Ideen werden vorgetragen. Am Ende siegt das Gigantomanische. Reihenweise werden Möbelproduzenten aufgekauft. Die Epoche der faulen Throne beginnt.
234.
Immer wenn das Ende des Papiers verkündet wurde, brach in den Schreibwarengeschäften Paperless-Office?-Heiterkeit! aus. Nach Ladenschluss wurden inkfeste Din-A-Wir- und, so die Legende, unsagbare Din-A-Sex-Parties gefeiert, bis Toner und Stempelkissen einfach, zweifach, dreifach, vierfach, fünffach und, ja, sexyfach nicht mehr konnten. Diesmal war die Ausgangslage allerdings anders. Die Bäume hatten genug. Der globale Streik der Hölzer machte das Papier zur bedrohten Schreibart. Das Papier schicke Späherïnnen, bestach Sträucher, die im Wald Fährten legten, die Schönheit der Lichtungen priesen. Das Ergebnis der Propaganda? Überraschte alle.
235.
Ferkel, sagte Jonnyboy, zu uns. Wir hörten mit dem Graben auf. Jonnyboy sagte immer Ferkel, wenn sie in Wahrheit Heilige Superpigfickschweinesau sagen wollte, und wollte sie, was Jonnyboy wirklich ausgesprochen gut sagen konnte, Heilige Superpigfickschweinesau sagen, war klar, dass der Fund echtechtsoso außergewöhnlich war. Gelinde formuliert. Jonnyboy war, wie sie selbst behauptete, was allerdings ganz und gar nicht stimmte, bemerkenswert hässlich. Gott habe ihr zu viele Glieder gegeben, einen Riesenzinken, und sie mit einem raffgierigen Goldbärenappetit gesegnet, sagte sie. Jonnyboy hatte tatsächlich einen besonderen Riecher, ein archäologisches Gespür, um das sie viele beneideten. Aber die Kosten, die mit dem Riecher verbunden waren, wollte, bislang, niemand, mit Jonnyboy teilen. Dafür – für ihre Gefährlichkeit, sie ging jedes undenkbare Risiko ein – hatten die Funde nicht gereicht. Wir rannten zu ihr. Bekamen die Münder nicht mehr zu, starrten auf den Fund, sarrten auf die Holzkreuze, die vor uns Spalier standen, gleich hinter Jonnyboy. Niemand hätte hier freiwillig gebuddelt. Sie schon. Ferkelsosoechtechtgeil, sagte Jonnyboy, und wiederholte es: Ferkelsosoechtechtgeil. Unsere lockeren Zähne knirschten, wir gingen hot. Wer kreischte oder zu laut seufzte, bekam aufs ArchoMaul. Jonnyboy sagte zärtlich Sweet Ferkelchen, wischte sich das triefende Bloddy Blut aus den Augen, während sie den Tieren, die am Fund hafteten, das Genick brach, es klickte, als ob jemand Murmeln spielte, und wir wussten, dass ein neues Zeitalter bevorstand. Falls wir lebendig die Grube verlassen würden.
236.
Die Kostüme und Anzüge kamen aus der Hinterhofschneiderei in Tirana, die weiß-Gott-was mit dem Stoff machte, aber niemals in den Luxuskaufhäuser an. Kein Wunder. Das schlicht geschnittene Garment isolierte seine Trägerïnnen von der giftigen Welt, ohne dass man es sah. PdG: Protection deluxe Garment. Als den Wartenden vor Harvey Nichols klar wurde, das Kaufhaus in Knightsbridge hatte einen Exklusivvertrag mit der Weiß-Gott-was-Hinterhofschneiderei in Tirana, als ihnen klar wurde, dass sich das mehrwöchige Übernachten nicht gelohnt hatte, brach ein Riot los, der alles in den Schatten stellte, was London Calling jemals an Straßenschlachten und Plünderungen gesehen hatte. Selbst die Themse fing Feuer.
237.
In einem mittelgroßen lateinamerikanischen Land werden Supermärkte geplündert. Und, wie von Geisterhand, Minuten später, wieder aufgefüllt. Die Regale lassen sich nicht leeren. Aus der ganzen Welt pilgern Menschen zum Los estantes del supermercado reabastecidos-Raubwunder. Das Regime des mittelgroßen lateinamerikanischen Lands lässt, angesichts des Andrangs, die Wallfahrerïnnen anstandslos die Grenzen passieren, ohne die Pässe zu checken. Ein Fehler.
238.
Jesus will in einer Band spielen. Nicht in irgendeiner. Seine Sehnsüchte richten sich auf die Rolling Stones. Als die Stones absagen, weil Jagger keinen zweiten Propheten neben sich duldet, er hat bereits mit, na Sie wissen schon, genug blasphemische Hahnenkämpfe auszutragen, gerät Jesus erst ins Grübeln – Reicht meine Strahlkraft nicht mehr, um große Stadien zu füllen? –, dann wird er bockig und beschließt, beim Postamt des Vatikans eine neue Briefmarke mit seinem Konterfei und der Bildunterschrift Die einzige wahre Befriedigung drucken zu lassen. Die anwesende Postbeamtin, Maria Cecilia Botta, erkennt Jesus, der älter geworden ist und vor einigen Jahren seine Gym-Mitgliedschaft gekündigt hat, nicht. Sie ruft die Schweizer Garde, die sich für nicht zuständig erklärt. In ihrer Not, Jesus rührt sich nicht vom Fleck, nimmt Maria Cecilia Botta den sichtlich Geknickten mit nach Hause. Dort ereignen sich, nach einem gemeinsamen Abendessen, Intimitäten. Über deren Lautstärke und Ausdauer sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der kleinen Wohnung erst wenige, dann Hunderte, schließlich mehrere Tausende, der Apartmentblock lag an einem passablen Platz, zunächst wunderten, am Ende, immer ergriffener ob der unendlichen Befriedigung, die Jesus und Maria Cecilia Botta empfanden, die Liebenden klangen zeitweise wie Simon & Garfunkel beim Open Air Konzert im New Yorker Central Park am 19. September 1981, zufällig gleichzeitig Maria Cecilia Bottas Geburtsdatum und der Tag, an dem Jesus seine Gym-Mitgliedschaft gekündigt hatte, am Ende – hier muss das Verb vorgezogen werden – am Ende fielen Tausende und Tausende himmelhochjauchzend auf die Knie, summten Mrs Robinson und fanden nicht nur ihren verlorengegangenen Glauben wieder, sondern, im Laufe der orgiastischen Nacht, mehr und mehr ausufernden Gefallen aneinander.
239.
Der Morgen brach die Nacht. Keine angenehme Sache. Der Morgen hatte vorgesorgt. Er war am Vormittag zum Amt gegangen, hatte sich einen Berechtigungsschein geholt, war damit zur Tanke und hatte sich volllaufen lassen. Oberkante Unterlippe. Der Morgen strotzte. Vor Kraft, vor Schwerkraht. Und Mut, vor Schwermut. In ihm brodelte es. Scheißnacht, dachte er, dehnt sich aus, als gäb’s keine verbriefte Gerechtigkeit. Der Nachmittag, der in einer sicheren Position war, aber gerne aufwiegelte, hatte dem Morgen die Verfassung zugschoben und geraunt: Hier steht’s geschrieben, Mo, alle sind gleich, ohne Ausnahme. Der Morgen, dem das Frühaufstehen im Sommer gefiel, hatte genickt und gefühlt, dass die schwere Last, die er seit Ende Juni in sich fühlte, ihre Scheißberechtigung hatte. Deine Mutter war ne weise Frau, Mo, Leine zu ziehen, ein ruhiges Leben am Äquator zu suchen, hatte der Nachmittag noch gesagt, bei der Verabschiedung, sie hatten sich konspirativ im Garten der Sternwarte getroffen. Ja, dachte der Morgen, vielleicht. Andererseits liebte der Morgen die Abwechslung der Jahreszeiten. Er rief den Viertelmond an, einen alten Bekannten, der für seine Ironie und Klugheit bekannt war. Der Plan, den der Viertelmond dem vollgetankten Morgen steckte, war so verblüffend, dass der Morgen, die Zündschnur in der Hand, die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Dann nahm er seinen ganzen Scheißmut zusammen.
240.
Unter den Fellmäusen herrschte Katerstimmung. Mit den Klingeln der Feinde stimmte etwas nicht. Sie hingen zwar noch um die Hälse der Jäger, aber läuteten nicht mehr. So ging es nicht weiter. Die Verluste waren zu groß. Jeder Bau beklagte seine Toten. Und es waren nicht allein die Angeschlagenen und Ungeschickten, die, wie es bei den Fellmäusen hieß, über den Mordan gingen. Auch die Träumerinnen und Träumer, die im Mittelpunkt des Tunnellebens standen, schafften es nicht mehr zurück in den sicheren Bau. Etwas musste geschehen. Und zwar schnellstens. Sie checkten die Suchmaschinen – und siehe da: Hering, hieß es, würde helfen. Die Fellmäuse schickten eine Delegation der Stärksten zur Fischfarm, die hinter dem Seetal und den Silbenbergen lag. Es wurde eine Odyssee, reich an Abenteuern, Loyalität, Leid und Liebe – und von der wollen wir nun hören.
241.
Den Viren ein Wir-Gefühl zu unterstellen, war schlichtweg nicht möglich. Sie waren wie die meisten von uns: Viren kämpften für sich allein. Dass selbst die Guten narzisstische Züge zeigten, ab und an den Bösen nicht nur das Wasser reichen konnten, sondern die Bösen mit ihrer Ich-Bezogenheit weit überflügelten, machte die metaphorische Unterscheidung nicht einfacher. Es gab Gute, die taten, als wären sie böse, und es gab Böse, die taten, als wären sie gut. Das Institut, das den Auftrag ergattert hatte, es war ein Höhepunkt in der Geschichte des Instituts in der Provinzstadt, dessen Universität gerade den Status des Exzellence-Clusters verloren hatte, musste liefern. Ein halbes Jahr war vergangen, die erste Bilanzpressekonferenz stand an. Das Team des Instituts, das liefern musste, entschloss sich zu einem außergewöhnlichen Schritt – anstatt über die verschiedenen Viren zu reden, lud es sowohl Gute als auch Böse zum Pressetermin ein. Die Öffentlichkeit habe ein Recht, hieß es in einer internen E-Mail, die später ans Licht kam, zu erfahren, mit was für Befindlichkeiten, mit was für gestörten Persönlichkeiten man es zu tun habe. Warum Liefertermine, unter solchen Umständen, ihre Tücken hätten. Am Ende der E-Mail hatte das Team Emojis eingefügt, alle unbekannt, alle von einer seltsamen Strahlkraft, diabolisch und ästhetisch, niedlich und horny, die in der aufgebrachten Öffentlichkeit für eine Welle an Konspirationstheorien sorgten. Die Pressekonferenz war, im wahrsten Sinne des Wortes, ein voller Erfolg. Fernsehteams aus aller Welt reisten an. Die Viren ließen sich nicht lumpen.
242.
Das Lager gehörte zu einem Zulieferer der Autoindustrie. Irgendwas mit Motoröl. Da die Elektrischen kein Öl mehr brauchten, lichteten sich die Reihen. Allerdings nicht vollständig. Eine Notreserve, für den Katastrophenschutz sagten die einen, für die Armee, wenn der Du-weißt-schon-kommt sagten die anderen. So vergingen die Jahre. Das Lager setzte Staub an. Als der Zulieferer geplündert wurde, in den Tagen der Wirren, brachen The Fuse Cats auch das Lager auf, waren von der Atmosphäre der Halle begeistert, Super Oldtimer Insta Bilder, luden The Barbecue Wonderfulls, The Youngsnake Fireburns, The Birdy Lighters und The Lion Matches zu einem Abendessen mit Kerzenlicht ein.
243.
Die Familien mühten sich, besonders deine. Zugegeben. Du hattest ein Zuhause, das wir als mustergültig ansahen, liebevoll und moralisch einwandfrei. Deine Innensicht stimmte mit unserer Meinung nicht überein. Du machtest Listen. Seit deinem siebten Lebensjahr. Lange Listen, akribisch. Erstaunlich, wie gut vernetzt deine Familie war. Ihr hattet Kontakte nach Moskau, Budapest, Kairo und eine Stadt, die du XYZ nanntest. Die Sachen, die du für XYZ in die Liste eintrugst, ich bin ehrlich mit Dir, machten uns sprachlos. Als wir dich schließlich doch fragten, im hintersten Eck des Parks, zwischen den Betonstelen, mit der Eisenplatte oben drauf, wo diese Stadt läge, sahst du uns an, als wären wir zu oft auf den Kopf gefallen. Du sagtest: Hier.
September
244.
Der Sex war geil. Wie ein Hörnchen, das aus dem Ofen kam. Es knackte, knurrte, knarzte. Der Blätterteig hatte feuchte Löcher. Alles dampfte. Wir schwitzten, tropften, trieben es im Heizungskeller der Bäckerei. Zwischen Mehlsäcken, die glotzten und sich die Übrigbleibsel einverleibten, als säßen sie im Lichtspielhaus. Wir sahen wie Sekrete im Puder glänzten. Visuelle Liebeslyrik, dachten wir. Aber wir täuschten uns. Es handelte sich nicht um Mehl. Monate später ereignete sich die Explosion im Keller, die Eisentür brach auf, und sie, sie schlängelten sich die Treppe hinauf.
245.
Die Stories, die Gunta Gloria sammelte, flogen GG nicht zu. Im Gegenteil. Jede Geschichte wehrte sich mit Laut und Haaren, bei ihr zu landen. Man wusste und man wusste nicht, was aus den Sachen werden würde. GG hatte, bislang, jeden Prozess gewonnen. Dennoch erhöhte ihre Rechtschutzversicherung den Beitrag mehrmals im Jahr. Mit fadenscheinigen Argumenten. Briefe, die GG sammelte, was die Versicherung nicht wusste, aber hätte wissen können. So nahm das Vermächtnis, wie die nächste Kollektion hieß, ihren Lauf.
246.
Die Körper boten die Seelen zum Verkauf. Uns, wir griffen zu. Jede Seele, die im Seelenbunker bei uns landete, von ihrem Körper getrennt, war – schlicht und einfach gesagt – krass geschockt. Sogar die Traumatisierten litten unter Phantomschmerzen. Die Seelen fühlten ihre Finger, sahen durch ihre Augen, rochen durch ihre Nasen. Es war nicht schön für uns, die wir hier schon lange in Ketten lagen und seelenruhig warteten. Die Verkäufe zogen sich hin. Das Angebot war zu groß, die Preisvorstellungen fantastisch. Fleischen nicht unser Ding. Und dennoch kamen immer mehr Seelen zu uns. Allein, zu zweit, als Geisterschiffbesatzung. Allmählich wurde es eng. Gewiss, eine Seele benötigt nicht viel Raum, aber am Ende des Tages, ist eben nichts umsonst. Selbst der Tod kostet das Leben. Wir mussten etwas tun, und wir taten es.
247.
Zunächst sei es eine Coming of Age-Geschichte, sagt Bruised, als er verhört wird. Mit den typischen Vier-L-Inhaltstoffen: Lust, Liebe, Leid, Legoland. die Gewöhnlichkeit, sie sei das Außergewöhnliche. In jedem Leben stecke das Potential zur konstruktiven Sabotage. Bruised lächelt. Und in vielen stecke das fünfte L, über das er, sagt Bruised, jetzt nicht sprechen könne. Jedenfalls nicht während die Kameras liefen. Als die Maschinen, Bruised hat darauf bestanden, aus dem Raum geschafft werden, entspannt sich die Atmosphäre. Weniger aufgeladen, sagt Bruised, der, die anderen haben ihn verpfiffen, hinter dem Plan der Entstromung steckt, der dafür gesorgt hat, dass ... aber das wäre eine andere Story. Jetzt geht’s ums Fünfte L.
248.
Im Ponyhof bricht ein Feuer aus. Kein Zufall, auch nicht das erste Feuer. Clara und Zündi geraten ins Visier der Ermittlerïnnen, die bereits vor Ort sind, während es noch brennt. Die Ponys der beiden Mädchen, Dichterloh und Arson, stehen als einzige auf der Wiese. Während eines Gewitters. Und, alle wissen es, es hat einen Streit gegeben. Zwischen Clara und Zündi auf der einen und der attraktiven Reitlehrerin Clementine Pleitsch auf der anderen Seite. Peitsch, wie Clara und Zündi die Reitlehrerin nennen, selbst während des Verhörs, kann allerdings nicht vernommen werden, sie liegt im Krankenwagen, mit schweren Verbrennungen am Herzen. Als die Oberste Ermittlerin, Frau Dr. Hellgold Harfstein de Schad, deren Sohn, Rutger Harstein de Schad, selbst ein Pony auf dem Hof hat, am Telefon, gut hörbar, sagt, es röche nach angebratenem Fohlengulasch, stürzen sich reihenweise Reitkinder ins Feuer. Im selben Moment öffnet, wie durch ein Wunder, der Himmel seine Schleusen. Und es regnet, wie Dr. Hellgolds Assistentin, die irisch-schottische Detektivin, Amy MacDonald, schreit cats and dogs. In der nächsten halben Stunde passieren die unwahrscheinlichsten Dinge, die nicht nur den Ponyhof für Pferdeliebhaberïnnen zur Heiligen Pilgerstätte machen, nein, die auch Clara und Zündi in einem, sagen wir, sonderbaren Licht erscheinen lassen.
249.
Zunächst rebellierten die Baufirmen. Ihre Arbeiter könnten nicht mehr. Das Lachen der Wände, einmal errichtet, sei unerträglich. Jeden Tag schmissen mehr und mehr Arbeiter die Arbeit hin. Viele reisten entnervt ab. Baustellen leerten sich. Die wenigen Gebäude, an denen noch gebauten würde, seien allesamt aus Holz. Eine Richtungsentscheidung, sagten die Baufirmen, die sei gefragt, dringend. Während darüber in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, machte das Lachen sich auf. Es suchte sich die Orte, wo verpulvert wurde. Wir konnten das Lachen hören. Alle konnten es hören. Es kam näher und näher. Und es war nicht lustig, echt nicht, kein Stück.
250.
Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Der Hit eroberte sich die Playlists. Selbst in den Staaten, wo keiner Deutsch sprach. Alles mögliche wurde gemacht, während das Lied ertönte, zunächst. Autos wurden gewaschen, Babys gewickelt, Anrufe in Call-Centern auf die lange Bank geschoben. Der Song, was selten passierte, gefiel vielen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Dann ebbte die Begeisterung ab. Mit einer Ausnahme, die so schockierend war, dass die Band, die das Lied der Liebe, wie es auch hieß, geschrieben hatte, untertauchen musste. An sich eine vernünftige Entscheidung, das Bleiben der Bandmitglieder hätte die Stimmung, vorsichtig gesagt, nicht besser gemacht. Andererseits endete die Band, ein Quartett, zwei Frauen und zwei Männer, die alle mehr als genug von dem Hit hatten, genau an dem Ort, wo sich Die Liebe ist ein seltsames Spiel durchgesetzt hatte. Die Folgen waren nicht vorhersehbar. Weder für den Ort noch das Quartett.
251.
Die 35 Familien kannten sich, sie lebten seit Generationen im Krummtal, das sich zwischen zwei Tälern befand, in denen andere Sprachen gesprochen wurden. Die Unabhängigkeit lag den Krummtalerïnnen, die als seltsam galten, denen der Ruf vorauseilte, an rituellen Menschenopfern festzuhalten, eine Reputation, die zu einer regen Besuchstätigkeit von Theo- und Anthropologïnnen im Krummtal führte, die entweder im offenen Postbusdepot schliefen oder unter dem Maienbaum campierten, einen Gasthof gab es im Tal nicht, und niemand wollte die Studierten nach den Schwangerschaften und Selbstmorden mehr aufnehmen, als die Angelegenheit verhandelt wurde, befanden sich sieben Forscherïnnen im Dorf Krum, das mit einem M geschrieben wurde, während das Tal zwei M hatte, die Unabhängigkeit lag den den Krummtalerïnnen nicht nur am Herzen, sie bestanden auch darauf, von der Steuer der Region und des Landes befreit zu sein. Wie gesagt: Die 35 Familien kannten sich. Vertrauten sich, meistens. Ohne sich zu mögen. Das Misstrauen wurde zwar durch das Heiraten in Zaum gehalten, aber verschwunden war es nie. Jede Familie hatte mehrere Rachefeldzüge laufen. Zwar wurde nicht mehr offen mit Messern geworfen, auch die über Nacht errichteten Fallen wurden seltener, aber die Kraft der Vendetta prägte den Alltag. Hier setzte das neue Steuerrecht an, das man sich in der Bezirkshauptstadt extra fürs Renegatental ausgedacht hatte. Die Blutrache wurde absetzbar. Unter bestimmten Bedingungen. Eine davon war die auswärtige Zeugenschaft.
252.
Der Wald verschlang die Fliehenden. Als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet. Die Tiere zeigten sich überrascht. Am Anfang kam es zu unschönen Szenen, die zu Mythen wurden. Dann pendelte sich das Gegeneinander ein. Bis das Wasser fiel.
253.
An der linken Hand des Despoten hing die Rechte. Er konnte sich nicht von ihr trennen. Er benutzte sie als Besteck. Als Taktstock. Als Verlängerung des Geschlechtsteils. Bis der Despot eines morgens aufwachte und entdeckte, dass die Rechte nicht mehr da war. Er fühlte sich allein, noch einsamer als jemals zuvor. Und der Despot gehörte, weiß Gott, nicht zu den geselligen Gewalttätern. Mehr Zeit fürs Unrechte, zischte er, schwor dem ungeheuerlichen Sein Rache, während er mit einem Brieföffner die mutierte Katze, sie hatte nur eine verkrüppelte Pfote, aber zwei Köpfe, einen blutleeren Schrumpfkopf, der am Hals wie eine fette Kette hing, während er mit einem Brieföffner die mutierte Katze, die neben dem Bett schlief, erstach. Dann stand der Einhändige auf. Wütend.
254.
Der erste Prozess am neuen Gericht wurde online übertragen. Das halbe Land sah zu. Ein Spektakel, das die Richterin, Colin MacCollins-de Bravour, zum Star machte. Ihr Fragestil, ihre Friseur, ihr Lederanzug (vegan) wurden sofort überall nachgemacht. Abertausende Social Media Prozesse begannen. Auf YouTube tauchten 47 Channels auf, in denen Männer wie Frauen vorgaben, Colin MacCollins-de Bravour zu sein und über uns zu Gericht saßen. Wir genossen unser Recht, das sich niemals so frei, so sicher, so clever, so unbeschwert angefühlt hatte. Es war ein besonderer Tag. Bis es dem Nachbarland, das mit auf der Anklagebank saß, reichte.
255.
Die Sachen waren einfach weg. Zack. Bumm. Weg. Gestern existierten sie, du konntest sie ansehen, ihnen zuhören. Heute war nichts mehr vorhanden. Und es betraf nicht nur unsere Höhle. Jede Höhle im Umkreis war leer, ausgeräumt, ohne Energie. Wir saßen vor den Schirmen, während es regnete. Die Tropfen fielen wie eine Wand. Wir saßen vor der Höhle. Es hätte sich nicht gelohnt, in der Höhle zu sitzen. Das Wasser drang in den Stoff, den sie Kleidung genannt hatten. Dann durch den Stoff hindurch. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals Regen auf der Haut gespürt zu haben. Es sei erst der Anfang, sagten diejenigen, die von der Kleidung gewusst hatten. Sie zeigten auf die Schirme. Nutzlos, sagten sie, prinzipiell.
256.
Jair wächst in Dunnigtown auf. Neben dem Haus, das sie in der Stadt Dschungel nennen. Der Garten des Dschungels ist verwildert, in ihm stehen Obstbäume, die Früchte tragen, die niemand kennt. Es gibt einen Teich, auf dem Seerosen blühen, in dem man baden kann, wenn man sich nicht davor ekelt, dass man von den roten Fischen berührt wird. Die Fische im Teich, heißt es, seien die Geister, die nicht ins Haus zurück dürften. Die im Wasser bluteten, sich das Blut auf die Schuppen klebten. Als aus den Kindern Teenager werden, baden sie im Teich. Halten sich an den Händen. Fangen die Fische, lassen sie wieder frei. Der Blutmond steht am Himmel, Dunnigtown schläft. Auf dem Wasser tanzen Tiere mit sehr dünnen, sehr langen Beinen. Die Teenager passen auf, dass sie die Tiere nicht versenken. Das Wasser ist manchmal rot, manchmal tiefgrün und tief. Viel tiefer als gedacht. Selbst Rigar, die im Basketball-Team spielt, kann nicht stehen. Im Schilf quaken Frösche. Die Teenager hören zu, niemand spricht. Son schlägt vor, ohne zu schwimmen. Sie zittern, als sie kurz aus dem Teich steigen, sich die Sachen ausziehen. Ihre Geschlechter sind unrasiert. Es ist warm, das Zittern passiert innen. Jair zittert am meisten. Um das zu überspielen, singt er Das kann doch einen Seeman nicht erschüttern. Und während er singt, fühlt er den Drang, Richtung Dschungel zu rennen, dessen Tür sich einen Spalt geöffnet hat. Das Licht im Haus passt zum Blutmond. Die Teenager am Teich sehen einen Arm, der sich Jair bemächtigt. Der Junge singt weiter, als merkte er den Arm nicht, bis sich die Tür wieder schließt. Danach kann man hören, wie die Tiere mit den langen Beinen das Wasser treten, im Rhythmus des leise verklingenden Seemanliedes.
257.
Jedem Gedicht wurde eine Wand zugeordnet. Die Großen Gedichte koppelten wir an Mauern. Oder Männer. Niemals Frauen. Frauen bauen andere Wände. Wir hatten nicht vor, Übereinstimmungen zu schaffen. Das Wilde Denken trieb uns an, die Hoffnung, dass Poesie Sachen abhalten würde. Deswegen die Wände, kleine und große. Wir koppelten irgendwas von Homer an die Chinesische Mauer. Das kam nicht gut an. Weder in Peking noch in Athen. Erst hörten wir ein Durchatmen. Dann wurden Strophen gezählt, Wachtürme beflaggt. Das Lyrische Wir, um das es uns ging, um poetische Pluralitätsmonaden, die sie selbst waren und uns Schutz gaben, darum allein ging es uns, das Lyrische Wir machte sich selbständig. Hatte bald nichts mehr mit unserem pazifistischen Wall-Projekt zu tun. Überall, besonders in Grenzgebieten, aber auch in Binnenhäfen jeglicher Art, sprossen Wände, an die Nationaldichtungen geheftet wurden. Wer nicht den Hut zog, keinen Vers auswendig wusste – die Prüfungen ließen nicht an philologischer Schärfe missen – und, sagen wir, leichtherzig irgendeinen Folksong trällerte, wurde in Die vermauerte Vokalmangel genommen. Die Lyrikkriege ließen nicht lange auf sich warten.
258.
Am Tag des Springens versammelten sich die Vierzehnjährigen der Gemeinschaft im Langhaus. Überall. Du und ich sahen uns damals das erste Mal. Weißt du noch? Schulen, Rathäuser, Sporthallen, selbst Möbellager und aufgegebene Tankstellen wurden zu Langhäusern erklärt. Wir trafen uns in den Kammerspielen, im Maschinenraum des Landestheaters. Die Jugendlichen wurden vom einem Spirit zum Langhaus geleitet, eine an sich lächerliche Figur, nicht heute. Die Vierzehnjährigen suchten sich den Spirit selbst aus. Du hattest eine seltsame Wahl getroffen, ich eine falsche. Ein Spirit konnte organisch sein, musste es aber nicht. Dann wurden, in den Langhäusern, gleich am Eingang, Patenschaften zugelost. Das Losverfahren war geheim. Wir wussten nichts davon, niemand hatte uns davon erzählt. Wir zogen, wurden fortgezogen. Der Beginn einer Reihe von Geheimnissen. Durchgeführt wurde die Auslosung an der Schwelle von mehreren Fünfzehnjährigen, die letztes Jahr überlebt hatten. Sie machten auf dicke Hose. Sie blickten uns mit einer Mischung aus Stolz, Spott und Neugier an. Und Mitleid. Sie suchten nach Zeichen, wer es schaffen würde. Aber auch das wussten wir nicht. Die Dauer des Springens war nicht präzise definiert. Der Zeitraum lag zwischen einer Woche, Minimum, und drei Monaten, Maximum. Je länger das Springen dauerte, desto wahrscheinlicher war, dass die Spirits ihre Hände im Spiel hatten. Oder abzogen. Es gab einwöchige Springen, die direkt zu den Friedhöfen der Umgebung führten. Unser Springen ging in die Geschichte ein, allerdings nicht wegen der Dauer.
259.
Der mittelgroße Stern werde als weißer Zwerg enden, sagte sie. Seine Energie werde nicht für eine Explosion reichen. Ausdehnen, ja, das werde sich der mittelgroße Stern, Piffpaffpuff, alles in Unordnung bringen, seine Trabanten an sich ziehen, vernichten, auch das. Soweit ihr Horoskop, sagte sie, und lächelte in die Runde erstarrter Gesichter der Sternkreis-Gemeinschaft. Aber dann sind wir eh nicht mehr hier, die Daten seien klar, sagte sie und gab das Mikrofon an ihre gleichfalls eingeladene Mitautorin. Im Publikum wurde die Schnappatmung lauter, besonders aus der Ecke der Steinböcke und Waagen, während von den Krebsen, die das kochende Wasser in der offenen Küche bei der Ankunft gesehen hatten, kein Klappern oder Rattern zu hören war.
260.
Die Müdigkeit hielt sich in Grenzen. Wir schüttelten den Kopf, stellten die Konserven, das Catering war echt scheißfurchtbar, beiseite. An Grenzen? Wir nickten, klopften uns auf die Rücken, die Pampe rutschte nicht von sich aus, das Sodbrennen war extrem, und wir schliefen reihenweise im Stehen ein, um uns auf die nächste Runde vorzubereiten. Einige onanierten im Halbschlaf. Eine letzte Lust. Wenn wir das Pochen an den Türen richtig deuteten, ging’s ans Eingemachte. Du kamst, zu mir.
261.
Sie sterben wie die Eintagsfliegen. Der Bedarf an Nachrufen ist größer als das Angebot. Famous last Words schaffen Abhilfe. Ein gutes Geschäft. Abhilfe aus einem Satzbaukasten, inspiriert von der konstruktiven Fantasie des Internets zimmern die Algorithmen von FlW inspirierende Nachrufe, die den Verstorbenen nicht nur gerecht werden, die ihnen sogar, laut Vers-Sprechen, ein Avatar-Nachleben garantieren. Und das Allerbeste: Die Avatare werden nicht nur digital mit den Gesichtern der Verstorbenen ausgestattet, sie stehen auch, wenn der Check nicht platzt, analog als Robs wieder auf. Die Toten lernen das Fliegen, kehren zu uns zurück.
262.
Das Café ist das Herz und die Seele des Viertels. Hier trifft sich alles, was keinen Rang und keinen Namen hat. Die Stimmung ist anarchisch, Lieder und Gerichte sind aufrührerisch, viel Knoblauch, viel Brennnesseln, viel Gin, es wird auf den Tischen getanzt und vor der regelmäßig verstopften Toilette leidenschaftlich geknutscht. Als die Schickeria das Café entdeckt, durch einen dummen Zufall, und der Wirt sich weniger widerstandsfähig erweist als gedacht, tut sich das Viertel zusammen, schreibt ein Vaudeville, bespielt den Platz vorm Café. Nicht die Bohne wird nicht nur zum Kassenknüller.
263.
Die Verhüllung der Kühe passiert, während die Hühner geschlachtet werden. Um den einen, die alles anfassen wollten, den Blick in die Zukunft zu ersparen, um den anderen, die lieber auf Distanz gehen, die Illusion zu geben, ohne Zeuginnen zu sterben. Dass ihnen der Abschied genommen wird, steht auf einem anderen Blatt; das soll, Ohne Anspruch auf Sympathie, hier beschrieben werden.
264.
Er hängt an seinem Körper. Wer täte das nicht? Jeden Tag, der vergeht, verflucht er, weil er weiß, dass sich nichts regeneriert. Als das Angebot kommt, ein Losverfahren, beim Experiment mitzumachen, fragt er niemanden. Weder Kinder noch Frau. Er versteckt den Umschlag, geht am vereinbarten Termin zum Einfrierbecken. Dort trifft er alle vier. Seine Frau und die drei Kinder. Ein dummer Zufall, statistisch ausgeschlossen. Sie warten zusammen in einem Raum, nur die Familie. Schweigen. Eine Mahlzeit wird serviert. Es kommt zum ersten ausführlichen Gespräch seit der Liebeserklärung, seit der Einschulung, seit dem Ausbruch der Kampfhandlungen. Allmählich lichtet sich der Nebel. Sie stoßen zum Geheimnis vor.
265.
Die Empire verfallen. Was seltsam ist: An der Rändern bleiben Strukturen, während sich die Kerne komplett verflüchtigen. Die neuen Kleinstaaten ähneln Atollen. Sie sind lang und dünn, von tiefem Wasser umgeben. Sie umschließen Buchten, die sie nicht kontrollieren, die aber zu ihnen gehören. Dort tummeln wir uns. Wir werden nicht aufs Atoll gelassen. Wir sorgen dafür, dass die Haie, die aus dem Zentrum nachrücken, ihren Tribut zollen und die Bucht danach wieder verlassen. Unsere Träume ähneln bald nicht mehr den Träumen der Kleinstaaten. Wir träumen Buchtträume und singen davon: Während das Leben wie im Kampf vergeht.
266.
Die Unterkünfte weigern sich, die Geordneten Zünfte aufzunehmen – ohne Gegenleistung. In den Zünften rumort es. Während der Wild Voices Beratungen bildet sich spontan ein Klagechor, dessen Fähigkeiten für Aufsehen sorgen. Als ein geheimer Mittschnitt einer Chorprobe veröffentlicht wird, gibt es kein Halten mehr: Die Kakophonie-Tour übertrifft nicht nur alle Erwartungen, sondern endet auch mit sieben Hochzeiten, drei Scheidungen und einem mehrmals geborstenen Flohsack.
267.
Ein Werk nach dem anderen macht zu. Erst halbe Buden, dann Riesenfabriken. Es ist eine Epidemie, kein langsames Siechen. Die Welt steht auf dem Kopf, sagen die Leute. Etliche schließen sich den Sagern an. Einige den Falsch-, andere den Wahrsagern. In Ulm und um Ulm herum gibt es Erscheinungen, voller Wunder, voller Musik. Die Bahn, froh über das unerwartete Geschäft, bietet Pilgerzüge in die Münsterstadt an und garantiert, in den Großraumabteilen, barrierefreie Erleuchtungen. Mit Großen Erwartungen kommen die Leute zu den Bahnhöfen, ja sie strömen aus allen Himmelsrichtungen herbei. Ohne zu reservieren. Ein bahnbrechender Fehler, über dessen Höllenfolgen Generationen sprechen werden.
268.
Als die Schulreferendarin Magdalena Maria Gottschalk (29) ihre Fähigkeit entdeckt, trocken übers Wasser zu gehen, hofft sie darauf, auch fliegen zu können. Sie schnappt sich ihren Hund Godshowsnomercy, der sprechen kann, wenn ihm danach ist, und rennt los. Eine Reise ins Unbekannte beginnt, die fantastischer, die aufregender, die erfüllender, die verstörender nicht sein könnte.
269.
Das Treffen der Segelboote war nicht geplant. Es sah so aus, als hätten sich die Boote verabredet, aber es war nicht der Fall. Jemand hatte die Lage der Bucht gepostet und sie Einsame Schönheit getauft. Eine Gedankenlosigkeit. Mehr war nicht nötig gewesen. Nun pressten sich die Segelboote in die Bucht, dicht an dicht. Die Enttäuschung der Crews war mit den Händen zu greifen. Sardinen in der Dose, sagten Clay und Court, die als Leuchtturmwärter auf der Insel lebten, während sie in die Suchscheinwerfer extrem starke Birnen einsetzten. Sie überlegten, ob sie die Küstenwache rufen sollten. Aber das Problem löste sich selbst, kurze Zeit später. Anders, als gedacht.
270.
Das Mittel war ihnen in die Hände gefallen. Sie hatten nicht danach gesucht. Wie auch? Es handelte sich um eine bis dato unbekannte Substanz, die sich leicht transportieren ließ. Der Anfang war also gemacht. Die Suche begann, als klar wurde, wie viele von ihnen nach der Mittelmäßigkeit lechzten. Sie durchforsteten zunächst Orte, die ihnen bekannt waren, dann stießen sie ins Unbekannte vor. Dort fanden sie nichts, aber wurden gefunden.
271.
Sie ließen sich bezahlen. An sich keine schlechte Sache. Kapitalismus und so. Du willst was, zahlst dafür, kriegst es, es geht dir auf den Geist, du verkaufst es wieder. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Mit ihm kam eine gute Bekannte, die Gier. Als die Du-willst-was ausgehandelt waren, blickten sie sich um. Nichts war übrig. Nur sie selbst; und die Anderen, die nicht sie selbst waren, aber wie sie selbst atmeten, im Traum. Sie schliefen keine Nacht darüber, sondern fingen sofort mit der Transaktion an. Die Kurse reagierten. Anders als erhofft. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Order. Was blieb? Kannibalismus, der sich gülden gehüllt auf die Bullen und Bären setzte und Richtung Main ritt, wo die gewetzten Messer uralte Algorithmen schnitzten. Die Stimmung war #killarious.
272.
Sie beschwerten sich nicht, sondern erleichterten sich. Es fing mit Kleinigkeiten an. Wecker wurden abgeschafft, die Morgenandacht im Radio leiser geschaltet, Süßigkeiten konnten vor 15.45 Uhr gegessen werden. Als der Atem an Kraft gewann, fragten sie uns, ob wir uns nicht treffen wollten. Sie klingelten einfach, wie früher. Ohne Textmessage oder AppCall. Sie standen vor unserer Tür, sagten Lang nicht gesehen, und wir nickten. Sie hatten Recht. Obwohl wir in derselben Nachbarschaft wohnten, hatten wir nur die Schatten voneinander wahrgenommen. Beim Fliehen. Jeder Tag begann und endete mit einer Flucht. Wir merkten, dass jedes gewechselte Wort, selbst die Liebeschwüre, selbst das Stöhnen, wenn wir Hand an uns legten, an der Oberfläche geblieben war. Sie legten ihre Zeigefinger auf ihre Lippen, machten Pssst, Honey, zeigten auf die Bildschirme, die hinter uns blau leuchteten. Wir nickten, legten die Phones auf die Dornenablage, zogen die Nägel aus den Handflächen, traten aus der Wohnung, schlossen die Tür. Und das Abenteuer des Glücks begann.
273.
Mütter und Väter suchen ihre Kinder. Die Grundschule ist leer. Obwohl es in den Räumen noch nach den Kindern riecht. In den Klassen hängen die Jacken der Kinder, auf den Tischen liegen Taschen und Pausenbrote. Die Eltern rennen, schreien, brechen ins Lehrerïnnenzimmer ein. Und machen Die Entdeckung.
Oktober
274.
Gott geht zum Friseur Sapere aude, in der Golzstraße. Es schneit. Feste Flocken. Das Schneetreiben ist so dicht, dass Gott fast mit der Nasenspitze an die Scheibe stößt, um zu lesen, was auf dem Fenster geschrieben steht: Cut & Go & Think. Darunter: 15 Euro für Männer, zehn für Frauen. Gott geht in den Laden, setzt sich auf den freien Stuhl, streicht sich über den Dreitagebart und sagt: Zehn Euro, ist da alles drin, ich mein, mit Rasur, mit den Haaren in der Nase? Gott lächelt, halb verlegen, räuspert sich, verstellt die Stimme, sagt: Ich bin eine Frau, prinzipiell. Ach, sagt die Friseurin, das ist ja interessant, prinzipiell. Eine Premiere, nehm ich an? Ja, sagt Gott, ein Coming out, gewissermaßen. Gott lacht. Er findet, dass alles himmlisch läuft. Gut, sagt die Friseurin, alles inklusive, weil Sie’s sind: Cut & Gott. Haha, sagt Gott und lehnt sich, zufrieden, zurück. Ich bin gleich bei Ihnen, prinzipiell, sagt die Friseurin, eilt zum Tablet und öffnet die Suchmaschine, checkt Theodizee.
275.
Nicht die Worte gehen uns aus, sondern die Gelegenheit zur Konversation. Unsere Vereinzelung? Nicht unsere Wahl. Oder sagen wir: Sie hat mit einer älteren Wahl zu tun. Als wir unsere Räume den Menschmaschinen geöffnet haben. Am Anfang war alles honky dory easy glory, wie mein Mann und ich, der damals noch lebte, um genau zu sein: noch sprach, den Arbeitseifer der Menschmaschinen nannten. Ihr Zungenreden hätte uns zu denken geben müssen. Die Frage des Nachschubs, um genau zu sein. Sie mühten sich, das will ich anerkennen. Heißt es nicht so schön: Es ist nicht alles schlecht? Die Menschmaschinen, die uns erst besuchten, dann bei uns – wie soll ich es nennen? – einzogen, lernten unsere Ausdrücke, übernahmen Aufgaben, die wir selbst weniger gerne erledigten, und schließlich auch solche, die wir, an sich, gerne weiterhin selbst erledigt hätten. Irgendwann schnitten sie uns das Wort ab. Und das meine ich nicht als Metapher. Sie stoppten unsere Sätze. Nicht auf die freundlichste Art. Die MMs machten uns klar, dass wir den Mund zu halten hatten. Sie seien von nun an in Charge, sagten sie, zeigten uns seltsame Zangen, Sägen, Nadel und Faden. Begabt, ja, das waren sie. Nahmen Maß, schneiderten. Alles bio. Aber Unfair Trade, wie Clark sagte, als er noch reden konnte. Clark war niemals der große Diplomat. Uns wurde das schließlich unheimlich, all die Nähmaschinen, die scharfen Scheren, wir erkundigten uns, wie es in der Nachbarschaft aussah. Überall öffneten uns MMs die Türen und teilten uns mit, dass niemand da sei. Was nicht stimmte. Wir hörten das Keuchen der Alten, die gefesselt in den Betten lagen. Das Stöhnen der Jungen, die ... um es so zu sagen: Attraktiv sind die MMs. Und nun?, wollen Sie wissen. Ich habe einen Plan, den ich Ihren MMs, die gerade bei Ihnen anklopfen, leider nicht verraten kann. Aber wir könnten uns später treffen – sagen wir in einer Viertelstunde?
276.
Der Regen fiel. Er hatte einen Heli-Ausflug gebucht, war bester Laune gewesen, als die Rotoren aussetzten. Und das an meinem freien Tag, knurrte der Regen, ausgerechnet. Die Wolken, die beobachteten, dass der Hubschrauber ins Trudeln geriet, klopften von außen gegen die Scheibe. Sie grinsten. Überraschung! Der Regen schüttelte den Kopf. Cumulus, dachte er, ihr könnt mich mal. Die dümmsten der dummen. Cloudpack, Himmelsnullachtfünfzehn. Kretinbande. Nett anzusehen, aber nichts dahinter. Ein Sturm im Wasserglas. Da muss schon was anderes kommen, ich verkauf mich nicht länger unter Wert, sagte der Regen, der das Fenster aufgepeitscht hatte, nicht wie damals über der Oase, nach der Fata Morgana. Er sprach eigentlich mit sich selbst. Die Erinnerungen kamen zurück. Schon gar nicht am Ende, murmelte er. Die Crew sah ihn fragend an. Der Regen schüttelte nur den Kopf, schloss das Fenster wieder. Es wäre, in dieser Lage, sinnlos gewesen, von seinen Vorbehalten zu berichten. Er verdrückte eine Träne. Niemals, dachte der Regen, bin ich um meiner selbst geliebt worden. Nicht ein einziges Mal. Alle wollen mich schlucken. Er öffnete das Baldrianfläschchen und nahm, wie verordnet, sieben Tropfen. Mehr und mehr Tränen stiegen ihm in die Augen, als er sich durch die Belüftungsanlage zwängte. Die Vergangenheit holte ihn ein. Draußen formierten sich die Wolken zu einem Empfangskomitee.
277.
Das, was nicht zu sein schien, war plötzlich. Und das, was zu sein schien, war plötzlich nicht. Um den Rollentausch noch unwirklicher zu machen, merkte weder die eine noch die andere Seite den Wechsel. Die Sache flog erst auf, als aus den Zapfsäulen der Tankstellen Tiere krochen, die lange ausgestorben waren.
278.
Beat liebte Casimira. Was schön, im Sinne des Ontologische, doch sinnlos, im Sinne des Erotischen, war. Casimiras Interessen waren zwar vielfältig, zweifelsfrei, erstreckten sich auch auf Flora und Fauna, sie galt an der Monday for Past-Akademie als Großwildjägerin und Pflanzenkennerin, nahm an allerlei Expeditionen teil, zeichnete, bevorzugt in situ, abenteuerliche Schattengewächse und, ihre Spezialität, schlafendes Getier. Besonders solches, das lebensgefährliche Stachel oder äußerst kräftige Fangzähne besaß. Aber dass sie jemals romantische Gefühle gehegt hatte, im animalischen Umfang, die über das platonische Geplänkel hinausgegangen wären, das ließ sich, beim besten Willen, nicht behaupten. Beat, der jünger war als Casimira, belesener – jedenfalls glaubte er das – und, so die einhellige Meinung seitens seiner Familie, schöner – warum er sich an die handfeste Brüske hielt, die allen Wahrheiten an den Kopf warf, war der Familie ein Rätsel –, Beat verfiel jedenfalls, so oder so, die Verzweiflung des Zurückgewiesenen, des Unerfüllten trieb ihn, auf eine stupende Idee. Er nähte sich, was Monate kostete, ein Kostüm, das sowohl Stachel als auch Fangzähne besaß. Dann legte er sich auf die Lauer, obwohl ihn die Freundinnen und Freunde, die Casimiras Schussgenauigkeit nur zu gut kannten, dringend davon abrieten.
279.
Drei Autos, vier Straßen. Aus unterschiedlichen Richtungen kommend. Keine Ampeln. Kein Augenkontakt. Befindlichkeiten, die nicht an Vorfahrt denken. Drogen, Sex, Leidenschaft: Die Entscheidung, an der Kreuzung.
280.
Das Ledigliche I und das Entheiratete II oder Über das Ratenglück im ausgeleierten Unikum des Seminars ist kein Buch, das sich leichtherzig in Genregrenzen sperren lässt: DLIudEIIoÜdRiaUdS erzählt die Geschichte einer Gruppe junger Forscherïnnen, Lourdérie, Francoirehgou, Amarelle und Constantinn, die sich an die Spitze beißen. Buchstäblich. Durchbeißen. Und dabei weder vor Körpern noch Büchern, weder vor Kleidungsgewohnheiten noch theatralischen Nervensträngen oder Samstagabendshows des Privatfernsehens haltmachen. Der Roman DLIudEIIoÜdRiaUdS, der die Frage Was ist essbar, Honey? neu, auf überaus originelle, manche behaupten sogar komische Weise behandelt, hat keine Preise gewonnen und wird auch niemals Preise gewinnen.
281.
Die Garage entwickelt sich zum Treffpunkt des Dorfes. Sie ist immer offen. Und, was ihre Attraktivität in dem mürrischen Vorort am Rande der mürrischen Stadt erklärt: In ihr riecht es verdammt noch mal nach Glück. Wer die Garage betritt, vergisst das Pampige, Kurz-Angebundene und Griesgrämige. Gesichter werden wieder jung. Es geht soweit, dass sich Verheiratete nicht mehr erkennen. Etliche Affären zwischen Eheleuten beginnen im überdachten japanischen Garten der Garage. Sie betrügen sich mit sich selbst. Was ein besonderes, ein wildes Vergnügen ist.
282.
Ihr Schlaf war kein normaler Schlaf. Sie hielten sich an ihm fest, während er versuchte, sie loszuwerden. Seit Jahren lagen sie im Bett und im Streit mit ihm. Warum? Oh, es war eine banale Sache gewesen. Eine Traumdeutung, meinten einige. Andere sprachen von Mitteln, die dem Schlaf beigegeben worden seien, der auf seiner Reinheit beharrt habe. Wie auch immer. Nun kam es jedenfalls zum Showdown. Waffen wurden präsentiert. Sekundantïnnen bestimmt. Der Schlaf überraschte alle: sowohl mit der Wahl seiner Sekundantïnnen, er brachte mehrere mit, als auch mit der Wahl der, ähm, Waffen. Das Duell, was erwähnt werden soll, fand nicht im Schlafsaal statt, sondern ...
283.
Die Flugzeuge fielen vom Himmel. Es war der 19. April 2037. Sie fielen gleichzeitig. Wind kam auf, formte sich zu Hosen. Nahm sich der Maschinen an. Alle Flugzeuge, die sich in der Luft befanden, fielen zu Boden. Und die am Boden waren, wurden geschluckt. Die Erde öffnete sich. Risse brachen auf, Hunderte Meter tief. Flughäfen gerieten ins Wanken. Verschwanden. Die Aktien der Eisenbahngesellschaften stiegen.
284.
Die Suppenküche fing klein an, im Trockenraum des Waschsalons. Im fensterlosen Keller. Wir standen zwischen den warmen Maschinen und kochten eine Suppe am Tag, die wir den Wartenden anboten. Für wenig Geld, um sie zu zu locken. Und der Köder funktionierte. Bald stellten wir den Herd, der zwei Platten hatte und mit Strom funktionierte, ins Schaufenster des Waschsalons. Wir kochten jetzt jeden Tag sieben verschiedene Suppen, die Namen wie Schonwaschgang oder Persil, Baby hatten. Es gab nur ein Problem, das wir nicht bedacht hatten. Wir hatten keine Lizenz, und der Waschsalon lag gleich hinter dem Revier 4b. Die Kerle mit den Sternen kamen gerne her. Wegen anderer Sachen. Wir mussten uns etwas überlegen, um Rob, dem der Waschsalon gehörte und der Deny, Silviy und Konju in der Hand hatte, auszuschalten.
285.
Diejenigen, die in der Oberstadt lebten, hatten es sich angewöhnt, auf diejenigen hinabzusehen, die in der Unterstadt wohnten. Die Unterstadt galt als Land der beschränkten Möglichkeiten. Da der Platz in der Oberstadt, die auf einem umwallten Wehrhügel lag, begrenzt war, waren allerdings in den letzten Jahren, Ruf hin oder her, immer mehr Menschen in die Unterstadt gezogen. Sowohl aus der Oberstadt selbst als auch aus der Umgebung. Die Unterstadt wuchs und wuchs, während die Oberstadt allmählich in Vergessenheit geriet. Diejenigen, die weiterhin in der Oberstadt lebten, wurden zu Witzfiguren. Bei denen funktioniere was nicht im Oberstübchen, hieß es. Wöchentlich gab es Bash the Oberstadt-Stand up-Comedy, die sich in der Unterstadt großer Beliebtheit erfreute. Die Oberstädterïnnen führten nicht nur Strichlisten über die schallenden Lachsalven, die in der Unterstadt auf ihre Kosten für beste Laune sorgten, sondern legten auch ein Soundarchiv an. Am Tag der Flut zogen sie die Zugbrücke hoch und schossen die Salven zurück. Womit sie nicht gerechnet hatten, war die Kraft des Wassers.
286.
Die Freude sei ganz meinerseits, sagte ich, immer und immer wieder. Die Leute, die mich von YouTube kannten, hielten sich nicht lange zurück, sie setzten sich zu uns. Warum auch nicht? Ich war schließlich ständig in ihrer Wohnung. Sie klickten auf Schirme, und ich erschien. Wir kannten uns gut. Ich wusste, was Sache war, mit ihnen, mit ihrem Leben. Sie beugten sich vor und murmelten, das letzte Mal, ich wüsste schon, das wäre doch eine Schweinerei gewesen, oder nicht? Was hätten sie machen sollen? Ich würde sie doch nicht verpfeifen? Ich pflegte in solchen Momenten verständnisvoll zu nicken, gab vor, mir kurz die Finger waschen zu müssen – und entkam durch die Küche. Meine Begleitung, die ich vorgewarnt hatte, machte sich gleichsam mit dem Parkticket-Nachlöse-Trick aus dem Staub. Wir lachten nachher sehr, wenn wir uns am vereinbarten Treffpunkt einfanden.
Diesmal ist es anders. Hunderte kreisen unseren Tisch ein. Sie sehen so aus, als wäre ich ihnen schon mal begegnet. Sie holen Kleingeld aus ihren Geldbörsen und stopfen die Münzen in den Mund meiner Begleitung. Dann wenden sie sich mir zu. Die Freude sei ganz ihrerseits, sagen sie.
287.
Im Papier hing der Wind. Er ließ sich treiben. Sie zogen an ihm. Dann kam der Sturm. Erst einer, dann ein zweiter, schließlich ein dritter. Sie mühten sich um die Gunst des Papiers, das dem Wind gewogen blieb. Die Stürme rätselten, betrachteten den Wind, dessen Säuseln sie, zunächst, nicht verstanden. Er sprach eine alte Sprache, die aus der Zeit davor stammte. Es dauerte, bis ihnen klar wurde, was der Wind meinte, warum das Papier treu und fest am Wind festhielt. Die Stürme brannten vor Gier ob des Glücks. Sie liefen über Felder, Dörfer, Städte, Meere, zählten und erzählten. Und kamen – erschöpft, aber glücklich – zurück. Sie fanden das Papier und den Wind im Garten, ineinander verwoben, als wäre nichts wichtiger. Als wäre nichts passiert. Die Stürme schrumpften, setzten sich dazu und lauschten. Und was sie hörten oder auch nicht, davon will ich Euch nun berichten.
288.
Der Trauer war mulmig zumute. Oder sagen wir lieber: Gregorine, die die Trauer spielte. Sie war schwanger, hatte es aber verschwiegen. Allen. Sogar, irgendwie, sich selbst. Sie stand auf der Bühne, im Trauergewand, als das Wasser brach. Es war die Premiere, ausgerechnet, am Staatsschauspiel, der Beginn ihrer Verpflichtung am ersten Haus des Landes. Sie flüsterte der Freude etwas ins Ohr, die Freude nickte, sie tauschten die Rollen. Beifall brandete auf.
289.
Der Bruch hing, Jolly-Fisch zischte es, am scheißseidenenfaden. Jolly-Fisch verzichtete auf Abstände zwischen seinen Worten, während Bär-Grunge, mit dem er den Bruch schob, gar nicht sprach. Die 27 Pearce-Ringe, die Bär-Grunges Zunge schmückten, waren so schwer, dass er den Mundlappen kaum heben konnte. Dynagibmirdasscheißdynabär, sagte Jolly-Fisch. Bär-Grunge kratzte sich am Pickel, der volleiterwas, am linken Augenwinkel wohnte. Bär-Grunge hatte Jolly-Fisch nicht gesagt, dass Bumm-Hund nichts geliefert hatte. Keinscheißding. Bumm-Hund saß in Fu, und wenn jemand von Fu redete, wurde Jolly-Fisch immer sentimental. So schrecklich sentimental, dass er erst schluchzte, dann brüllte und schließlich alles zerschlug, was ihm zwischen die Flossen kam. Bumm-Hunds Sohn, Posh-Puppy, hatte Bär-Grunge einen Vorschlag gemacht, zur Güte, was mit Bumm-Hunds Frau, Giraffen-Hirn, die Posh-Puppy Satzzeichen gesteckt haben musste, übers 12. Pearcing, damals am Jungfernstieg, nun gut, um die Sache abzurunden: Posh-Puppy wollte ins Safe-Business, und Bär-Grunge war die Karrierelunte. Ob das Crashzeug was taugte? Würde sich gleich zeigen. Riechtnachscheißeärger, sagte Jolly-Fisch, als ihm Bär-Grunge die rostroten Stangen reichte.
290.
Nun Ja, Mother von Nun Nein, hielt nicht viel von Nun Leicht, Nun Neins Neue, die sie, hinter vorgehaltener Hand, Nun Vielleicht nannte. Nun Leicht arbeitete im Ministerium. Niemand im Viertel arbeitete im Ministerium. Niemand im Viertel wollte im Ministerium arbeiten. Nun Nein hatte lange nicht gewusst, dass Nun Leicht im Ministerium arbeitete. Als er davon erfuhr, er checkte Nun Leichts Phone, während Nun Leicht Sachen im Bad vollführte, die ihn total kirre machten, ihre Geräusche waren der absolute Hammer, der gepickelte Ausleger stand ihm beim bloßen Zuhören, als er davon erfuhr, war es zu spät. Nun Nein hatte Nun Leicht schon die lackierte Schatulle gegeben. Mit den Sarg Codes. Ansonsten hätte er Nun Leichts Wohnung verlassen müssen, während sie sich im Bad aufhielt. Sie wollte eine Garantie, er hatte ihre Forderung verstanden, nur zu gut, aus Erfahrung. Nun Nein spielte Nun Leichts Rolle im Ministerium herunter. Was ihm Nun Ja nicht abkaufte. Aber es gab einen Ausweg, um das Gesicht zu wahren, den er, Nun Nein, gehen konnte. Sein Father, Nun Tius, war diesen Weg gegangen, gleich nach Nun Neins Geburt. Nun Nein suchte die Nummer, es knackte in der Leitung und in ihm, rief im Ministerium an.
291.
Als die Burg wieder aufgebaut wird, denken alle, die im Schatten des Hausbergs leben, an einen kommerziellen Witz. Tourismus, heißt es, eine bekannte Hotelkette mache nun auf Geschichte, als ob sich eine Ruine mir nichts, dir nichts beleben ließe. Allmählich – um ehrlich zu sein: erst unmittelbar vor Fertigstellung – stellt sich heraus, dass die vielen gleichförmigen Räume, die entstanden sind, nichts mit einem Beherbergungsbetrieb gemein haben. Das Mobiliar, das, quasi als Prozession, vorm Rathausplatz, für alle sichtbar, von Lastwagen geladen und von einer Hundertschaft in Schutzanzügen Richtung Burg getragen, geschleppt, gezogen, gewuchtet wird, hinterlässt bei den Einheimischen erst Kopfschütteln, dann, bei näherem Hinsehen, ein bis dato unbekanntes Grausen.
292.
Es war Hochsommer, auf der Landzunge, im Süden, am Meer. Ein durch und durch perfekter Sommer. Tagsüber warm und sonnig. Nachts, zwischen 2 Uhr und 4 Uhr, von Regen gekrönt. Wir waren alt genug, um uns zu verlieben, und wir saßen am Strand, im Café, auf den Plätzen und taten es. Beinahe jede halbe Stunde verliebten wir uns. Wir riefen, sie kamen. Setzten sich zu uns. Wir hielten Hände, betrachteten Lebenslinien, zogen uns gegenseitig hoch, machten Musik und tanzten. Es sprach sich herum. Die Liebe sprach sich herum. Nicht dass wir uns bemüht hätten, sie zu verstecken. Unmöglich wäre das gewesen. Das Spektakel der Liebe war nicht zu übersehen. Der Sommer schien endlos zu sein, jeder Tag schien endlos zu sein. Nachts, wenn es regnete, versammelten wir uns auf dem Platz vor der Kirche, tranken die schlanken Tropfen, lagen auf dem Asphalt und küssten uns. Wir küssten jene, wir küssten jenen. Münder suchten und fanden sich. Das Wasser rann über unsere Haut, das Seufzen brach sich an den Wänden der Häuser, die den Platz säumten. Nichts passierte, außer der Liebe, über viele, sehr viele Wochen.
293.
In der Tonne wohntest Du, mit mir, obwohl Du, was ich kaum glauben kann, immer so tust, als gäbe es weder mich noch, ein Überraschung, Dich. Du bist, im schlechtesten Sinne, diskret. Du bist so angefasst vom fluiden Sein, dass Du ihm entgleitest. Als hätte Dich das bisherige Leben, buchstäblich, eingeseift. Nun gut, das musste, scheint mir, gesagt werden, als Präludium, bevor ich zum Kern des Anrufs komme. Meinetwegen könntest Du jetzt den Hörer abnehmen, ich weiß, dass Du vorm Telefon stehst. Empfangsbereit. Wificold. Ich kann Dich sehen. Bitte. Nein? Du machst es mir nicht einfacher. Dir nicht einfacher. Ich hätte einen Vorschlag zu machen, der diejenigen betrifft, die uns zuhören. Ich weiß, dass Du eine Methode entwickelt hast, um anderen Als intrusive Entität unter die Haut zu gleiten. Ich schlage vor, dass wir sofort loslegen. Nicke, wenn Dir das passt. Danke. Du – und diesmal meine ich Dich, die Lesende – Du bist hiermit nicht mehr allein. Wir stecken tief in Dir. Und jetzt sage ich Dir, was wir vorhaben. Falls Du glaubst, dass Du Dich uns widersetzen kannst, sei vorgewarnt. Wir sind zu Deinem Herzen vorgestoßen, trinken das Klopfen, können die Klappen, bei Bedarf schließen.
294.
Die Vergeudung der Zeit nahm uns in Anspruch. Wir standen Tag für Tag vor der Herausforderung, möglichst großzügig unsere Stunden zu verschwenden. Reißerisch mit der Zeit zu aasen. Es war, ganz ehrlich, viel schwieriger, als wir, die Unterschriften unter den Vertrag setzend, gedacht hatten. Anfangs hatten wir geglaubt, Zeit zu vergeuden sei ein Kinderspiel. Etwa so, als hätte man ein liebes Leben lang Große Ferien – und zwar immer den ersten Tag nach dem Beginn der Großen Ferien. Also den Tag, wenn man von den anderen gewaltsam entfernt worden ist, wenn man allein ist, wenn der Rest der Familie noch arbeitet, noch mehrere Wochen arbeiten muss, wenn man allein vor die Tür tritt, auf dem flchen Lande, kein Schulbus kommt, und man vor den weiten Feldern steht, die sich endlos dehnen, wenn man hört, wie die Bienen durch die Luft fliegen und um uns einen weiten Bogen schlagen. So fühlten wir uns. Mit dem Unterschied, dass wir aus dem Haus geworfen worden sind. Auf dem abgeernteten Feld sitzen. Während sich am Horizont etwas, keine Bienen, etwas bewegt, das von uns weiß, aber, zunächst, kein Interesse an uns hat.
295.
Ich bin tot. Was nicht mein Ziel gewesen ist. Jedenfalls nicht in dieser Geschwindigkeit. Oder ich sage besser: In einem Moment der Liebe. Ich könnte wahrscheinlich behaupten, dass mich die Liebe getötet hat. Viele behaupten das, mir ist es passiert. Weswegen das Interesse so groß ist, an meiner letzten Arbeit. Die meine schlechteste ist, mit Abstand. Wäre ich nur für mich zur Tür gegangen, hätte sie geöffnet und wäre gesprungen, das hätte wohl niemanden gekratzt. Dank der Liebe ist mein Tod etwas ganz besonderes. Ich muss allerdings eine Warnung voranschicken. Was ich zu erzählen habe, ist Keine traurige Liebesgeschichte. Es ist eine sehr traurige.
296.
Im Alten Hafen lagen keine Schiffe, sondern Flugzeuge. Sie waren in der Nacht gelandet, neun, zehn, elf große Maschinen. Sie lagen ermattet auf dem Wasser. Als schliefen sie. Als wären sie müde vom Himmel gefallen. Jemand hatte an den Strand, neben dem Alten Pier, ein Schild gestellt, auf dem Notlandung verboten stand. Die Sandbank vor der Küste hielt die Flugzeuge. Noch. Die Strömung, was alle hier wussten, würde die Sandbank verformen. Das geschah jeden Tag. Wenn die Sonne hinter dem Alten Silo hervorguckte. Spätestens. Leute saßen auf den Tragflächen, im Wasser, im Schatten. Sie winkten und lachten über das Verbotsschild. Wir winkten zurück. Das Alte Meer bewegte sich, am Horizont.
297.
Sie drehten sich, stöhnten, rieben sich, keuchten, schlugen sich mit elektrisierten Zungen, waren nass, überall. Dann nirgends. Taten so als ob geil. Sie drehten sich. Beim Liebemachen. Eine Angewohnheit, die neu war. Am Anfang erzählten sie nichts davon. Was hätten sie auch sagen sollen? Sex ist geiler, wenn man sich dreht? Das wäre billig gewesen. Und billig wollten sie nicht sein. Nicht vor uns. Sie wollten umsonst sein. Es handelte sich um Nihilisten, die Sex hatten. In der Nordsee. Jedenfalls behaupteten sie das auf ihrer existenzialistischen Website: Alles umsonst. Dass sie die Kosten verschwiegen, dass sie seit Jahren so taten, als gäbe es alles für lau, nun auch so taten, als gäbe es das gedrehte Liebemachen zum Nulltarif, als schmerzten etwa, um eine Sache zu sagen, die strapazierten, in allen Löchern gewälzten Zungen nicht, hatte drei Gründe. Von zweien handelt diese Geschichte, deren Titel, Eine schöne Bestie, allerdings mit dem dritten Grund zu tun hat.
298.
Dass ich Dich begleitet habe, lag an Deinem Unwillen, fortzugehen. Das kannst Du mir nicht anhängen. Andere Sachen schon eher. Wie viel ich vergessen habe. Übrigens haben alle im Dorf gelesen, was Du geschrieben hast. Dadadadarüber. Als ob ich stotterte. Es ging rum wie ein Lauffffffeuer. Alle haben sich wiedergefunden, selbst an Stellen, wo Du nur von mir gesprochen hast. Was ich darüber denke? Bitterkeit hilft der Liebe auf die Sprünge. Du bist alt genug gewesen, um das Nnnnest zu verlassen. Alle haben das gesagt, selbst Yorch, der Dich am meisten vermisst hat. Aber das weißt Du ja. Yorch fragt sich übrigens, warum Du seine Gewohnheiten so genau beschreiben musstest. Die Nabelstory. Und den Körper. Die Sache mit dem Körper, sagt Yorch, sei ihm wichtig gewesen. früher, vor mir. Eure Körper. Offenbar wichtiger als Dir. Das Geheimnis hätte er gern für sich behalten. Zu gern. Du wirst Dich fragen, warum ich Dir schreibe, nach dem langen Schweigen. Die Lalalage ist hier aus dem Ruder gelaufen. Das Dorf rebelliert. Wir brauchen Deine Grausamkeit, sagt Yorch.
299.
Die Müdigkeit hatte viel vor. Vorm Aufstehen. Sie schluckte, was Sean und Jay aufgetrieben hatten. Zeugs, das wachhielt. Bunte Smarties, aus dem Norden. Den Elfen abgepresst, behauptete Jay. Die Dosis war nicht verhandelbar, Cash auch nicht. Eine Frage der Zeit, bis die Müdigkeit ans Eingemachte musste. Pickelcovid stand auf der Nadel. Und bald darüber hinaus. Die Fledermäuse, die sie vom Zwielicht kannte, halfen ihr. Der Deal war genial einfach. Sie flogen vorbei, schnappten sich das Zappelnde, bissen ins Eingemachte. Die Müdigkeit recherchierte. Du hast ihr dabei geholfen. Confess, Ladybird. Keine Ausrede. Zugang, immer ging’s um Zugang. Um deine Bewusstseinserweiterung. Nie unsere. Als gäb’s uns nicht. Einen Zustand, der uns aus dem Leben riss, für einige Stunden. Nun der Schlamassel. Ich kann kein Auge zudrücken, du auch nicht. Deine Idee, die Lider zuzunähen, ist Bullshit. Siehst du das fiat lux dahinten? Das ist die Müdigkeit, nach dem Aufstehen. Ich schätze, dass wir zwei, drei Minuten haben. Eigentlich genug Zeit, wenn du endlich glaubst, dass die Piclecovid-Säge funktioniert.
300.
Ich vergesse alles. Warum steh ich noch mal vor Ihnen? Oh, fuck, ja, gosh, meine Geschichte, das Buch, die Sätze. Ihnen hab ich den Text vorgelegt? Ausgerechnet. Wissen Sie, warum? Ich verstecke mich jahrelang, kratze mir das Hirn wund, komme mit einem Text um die Ecke – und nun bettele ich Sie an? Of all people? Als verstünden Sie ein Wort, was ich geschrieben habe. Als fühlten Sie mit mir. Als hätten Sie nicht Ihre pfeilschnellen Urteile, wutsch, zutsch, glutsch, fertig im Köcher. Aus der Hölle gen Himmel. Sie entscheiden, ob’s erscheint, richtig? Stimmt doch, oder? Mit den beiden, die ihr Gesicht nicht zeigen, die da im Halbschatten sitzen? Echt jetzt? What the fuck? Hat mich die Agentur hier abgeliefert? Vorher unter Drogen gesetzt? Wollen Sie echt hören, was ich von Ihrem Unternehmen halte? Der Lesekunst mit g? Sie nicken? Also gut.
301.
Mutter war ein rollender Stein, rauf, runter, geworfen, gefallen, eingeschlagen. Singt mit, Schatz! Alle! Sie gebar uns auf dem Weg. Von hier, nach da, und weiter. Ins Irgendwo. Sie sei unterwegs gewesen, sagte Mutter immer, während der Zeugung, der Schwangerschaft, den Wehen, der Geburt. Habe niemals angehalten. Warum auch? Die Schwerkraft sei ihr Glück. Um ehrlich zu sein: ihre große Liebe. Die Schwerkraft und sie hätten was am Laufen, Mutter lachte, worüber sie nicht mit uns sprechen könne. Das müssten wir verstehen. Wer glaubte eine körperbildende Mutter, sei eine gewidmete Frau, der irrte sich, gewaltig. Dies seien bloody Männerphantasien. Machpositionen, die sie nicht akzeptiere. Wir seien Beifang. Und nun sollten wir sie bitte in Ruhe lassen, die Schwerkraft komme gleich vorbei. Raus mit Euch.
302.
Der Übernacht setzten die Städte Licht entgegen. Es klang bekloppt, aber sie nannten das Licht Freudenfunken, Hellway to high. Geschasste zogen durch die Gassen, den Mund voller Öl, und spien Feuer. Die Anwesenden zückten Smartphones und streamten das Spektakel, bis die Datenrate in die Knie ging, Verträge gekündigt wurden. Als das Internet dunkel war, begann das wahre Wunder am Himmelszelt über den Metropolen: Die Übernacht sandte ihre Töchter, deren Erbarmen, nicht zu Unrecht, andere mit dem wahren Strafgericht verglichen.
303.
Ich lese Freud. Seit meinen Teenagerjahren. Ich weiß, dass ich weder mich mag, wie ich wäre, wenn ich mich nicht länger verstellte, noch Vater mag, den ich zu sehr beneide, weil er mit Mutters Brieftauben schläft; oder, rammen wir der Grammatik die Sätze in die Syntax, Mutters Zwillingsschwester ausstehen kann, die mich niemals genug geliebt hat, liebt, lieben wird, die, ihre größte Abscheulichkeit, gleichfalls mit Vater schläft, wenn die Tauben ausgeflogen sind. Warum ich das jetzt, gleich am Anfang, auf Tinder, schreibe? Ich möchte mich nicht und gleichzeitig doch auch in ihresgleichen verlieben. Von mir habe ich genug. Das ist übrigens ein echtes Bild. Ja, so sehe ich aus, wenn das Licht ausfällt, du den Gartenschlauch auf mich richtest und spritzt.
304.
Nach der Wahl ist vor der Wahl, knurrten wir. Die anderen sahen uns an. Fragezeichen ohne Punkt. Wir lachten, denn an sich waren wir gar nicht angetreten. Die Blicke sagten Der Platz ist begrenzt. Noch son Scheißspruch. Wir scherten uns einen Dreck darum. Weder auf dem Parteitag noch im besetzten Haus. Wir hatten ein Verständnis von Teilhabe, das sich anders ausdrückte. Unmittelbarer. Seit Jahrhunderten, knurrten wir, gehört uns dieses Stück vom Kuchen. Als daraufhin, aus der vorletzten Reihe der anderen, gerufen wurde, das sei schon der Sonnenkönigin im Halse steckengeblieben, identifizierte die Drone den Schreihals und machte ihn knarzend mundtot. Noch Fragen?, knurrten wir. Und überraschenderweise kamen welche, sogar äußerst interessante, von denen wir nun berichten wollen, damit sie niemals wieder gestellt werden.
November
305.
Dass ich mich melde, hat einen Grund. Oder sagen wir: Ein Grundstück. Sie besitzen es, aber es gehört leider mir. Oder sagen wir: mir und Flora de Ratio. Das Grundstück liegt uns am Herzen. Es handelt sich um eine Liegenschaft, auf die wir Anspruch haben. Nicht erheben, wohlgemerkt: haben. Sie sind neu hier. Sie – blättert in den Unterlagen – sind gekommen, weil sie dem Wagen nicht ausweichen konnten. Das verstehen Flora de Ratio und ich nur zu gut. Aber Verständnis bedeutet nicht, dass wir unseren Anspruch abtreten. Ich weiß, so haben Sie sich das nicht vorgestellt. All das Gerede von Hinterher-und-so. Weder das Aufeinandertreffen noch das Einchecken haben Sie sich so vorgestellt. Lassen Sie es mich vorsichtig formulieren: Ihre HeavApp lügt. Der Code mit dem Discount wurde Ihnen untergejubelt. Was sagen Sie da? Qui si convien lasciare ogne sospetto. Ogni viltà convien che qui sia morta? Ja, das wäre schön: Hier ziemt es sich, jeden Argwohn zurückzulassen. Jede Feigheit muss hier ersterben. Das hätten Sie sich vorher überlegen können, sagt Flora de Ratio bei solchen Gelegenheiten immer. Gut, oder? Und nun, nun gehen Sie mir bitte aus dem Licht.
306.
Als sie sich vornahmen, genau zu lesen, wurde ihnen das Buch weggenommen. Die Druckerei, angefragt, schrieb, es gäbe Versorgungsengpässe. Alte Exemplare, die sie ersteigerten, für viel Geld, fanden nicht den Weg zu ihnen. Was die Erinnerung an das Buch nicht verblassen ließ. Sie setzten sich zusammen. Schrieben es neu. Die Geschichten fanden ihre Fäden, änderten Strickmuster, begannen, mit ihnen zu sprechen, anstatt zu diktieren.
307.
Auf dem Filmset geschieht etwas Unheimliches. Was gedreht wird, hat nicht nur den Anstrich der Wahrheit, es wird zur Wahrheit.
308.
Kein schöner Anblick. Die Mustermädchen und Musterknaben werden geköpft. Auf dem Marktplatz der Millionenstadt. Man hat sie aus den umliegenden Dörfern geholt, um ein Exempel zu statuieren. Die vollbesetzte Tribüne ist direkt neben dem riesigen Trog mit den abgeschlagenen Köpfen. Vor der Tribüne ist ein sehr großer, hell erleuchteter Grill, auf dem seit den Morgenstunden Ferkelköpfe gebraten werden. Vier Kameras nehmen den Grill auf. Der Livestream klickt automatisch auf den Handys der zuschauenden Menge auf. Die Haut der Ferkelköpfe ist knusprig, stäche man hinein, platzte sie und das Fett schösse hinaus. Da hat jemand, auf der Tribüne, eine folgenschwere Idee.
309.
Nichts passiert. Ich sitze mit dir am Tisch. Du sagst nichts. Das ist immer so. Du kommst, setzt dich und schweigst. Wir sehen uns, vorsichtshalber, selten an. Wenn wir uns ansehen, sehen wir in einen timefullness-Abgrund. Weil sich die Sachen ehedem verändert haben. Nicht im Moment. Das Jetzt ist ereignislos. Was mir die Möglichkeit gibt, über dich nachzudenken, um nicht über mich selbst nachzudenken. Du bist, falls ich das sagen darf, ein eigenartiger Mensch. Schon äußerlich. Was dir bewusst ist. Am Anfang drehen sich alle zu dir ein, am Ende alle ab. Weil sie irgendwann sehen, was die Eigenart der vollen Zeit befeuert. Die Flamme wohnt unter dem linken Augenlid. Sie züngelt, wenn diejenigen, die dich ansehen, lügen.
310.
Die Nacht hörte nicht auf. Santa und Hole lagen wach. Sie machten Liebe. Leise, damit die anderen nicht aufwachten. Sie hörten, grundsätzlich, vorm Höhepunkt auf. Dafür gab es Gründe, gute – und schlechte.
311.
In jedem Ball spielten zwei Bälle, die niemand bemerkte. Sie spielten ganz verschiedene Sachen. Einige übten Kopfbälle, um zu sehen, mit wie vielen Gehirnerschütterungen man ein junges Leben anfangen kann. Andere taten, als wären sie Spielerberater, zofften sich um horrende Ablösesummen, landeten, weil alle anderen sie eklig fanden, am Ende vorm Traualtar. Und die wirkungsmächtigsten Bälle, die in den anderen Bällen steckten, meistens auf der dritten oder vierten Ebene, spielten neue klassische Musik. Es gab Ligeti-Bälle und Nono-Bälle, andere orientierten sich, fast fanatisch, am Kronos Quartet und spielten alles nach, was ihnen in die Hände fiel. Ja, Hände. Denn den Musikbällen wuchsen Hände. Allerdings nicht Hände wie Dir und mir, sondern ganz besondere Hände, die Sachen konnten, auf die niemand bislang gekommen ist. Und davon, allein davon, von diesem Händspiel will ich nun berichten.
312.
Die Gerichte wurden zu Häfen. Verbrechen gingen vor Anker, inspizierten die Entlademöglichkeiten, erkundigten sich nach den horrenden Hafengebühren, bestachen, vorsichtshalber, gleich mal die Lademeisterei, drückten Preise, kauften und schlossen Seemannsheime. Strafen, die von ihren Freigängen nicht zurückgekehrt waren, charterten Kreuzfahrtschiffe, um, in Saus und Braus, an den Gerichtshäfen vorbeizugleiten und Selfies zu schießen. Was die maritime Rechtskultur mit den Richterïnnen machte? Sagen wir es mal so, es gab die Seepferdchenfraktion, die eine erstaunliche Resilienz zeigte. Und es gab den Tsunamie-Club, in dem die Wasserscheide derart schwankte, die Auslegungslust derart wahnsinnig röhrte, die Berufungsgeilheit derartigen Egotrips frönte, dass – aber hören Sie doch selbst.
313.
Bis zu 12 % aller Schwangerschaften beginnen als Mehrlingsembryonen. Wir sehen dich an. Schließlich sind es jedoch nur 2 % aller Schwangerschaften, die auch als Mehrlingsgeburten enden. Du blickst auf den leeren Stuhl neben dir, eine halbe Minute vergeht. Wenige von uns wissen, dass sie einen Zwilling hatten, sagst du. Wir nicken. Und?, sagst du. Eine äußerst wichtige Entdeckung, sagen wir, da eineiige Zwillinge für eine Reihe von Krankheiten, einschließlich Spina bifida, prädisponiert sind. Du schluckst. Es gibt, sagst du, die Chance, dass Menschen mit einer solchen Störung zu einem identischen Zwillingspaar gehören könnten ... die ihr Geschwisterchen, sagen wir, im Mutterleib verloren haben ... Du blickst auf die Tür hinter uns, die sich, sehr langsam, öffnet. ... oder bei der Geburt getrennt wurden, sagen wir.
314.
An der Singularität zu verzweifeln, sei ein Einzelfall, sagte ich und sprang.
315.
Was gehörig ist, legen Regeln fest, deren Anständigkeit wir in Frage stellen. Die erprobten Modelle sind weder erprobt noch Modelle. Den Vorschriftencharakter jener Anordnungen, stillschweigende und lautsprechende, akzeptieren wir nicht länger. Unsere Waffen? Zunächst: Freundlichkeit und Überzeugungskraft (Tag Eins). Dann: Konfrontation und Umwälzungsargumente (Tag Zwei). Anschließend: Gang ins Arsenal und Gerichtsverfahren (Tag Drei). Zum Abschluss: Aufstände und Love-Blockaden (heute).
316.
Wir tanzten. Als die Musik aus- und das Licht angestellt wurde, die Polizei stand vorm Haus, die Warnleuchten lösten beim ersten Dutzend Anfälle aus, beim zweiten Dutzend Halluzinationen, als die Musik ausgestellt wurde, entdeckte die Polizei das Nest, unter der Decke, ein Baumhaus, ohne Baum. Wahrscheinlich ist entdecken nicht das richtige Wort. Denn Oben schien niemand gemerkt zu haben, was Unten passierte. Oben hing der Haussegen gerade. Die Polizei versuchte, Unten, diejenigen, die Anfälle hatten, wegzutragen, was nicht ging, da die Anfälle durch die Berührungen nicht nur schlimmer wurden, sondern die Kehlköpfe der Angefassten sich sekundenschnell aufblähten, wie bei Fröschen vor der Paarung. Aber viel, viel größer. Die Kehlköpfe waren wie zweite Körper. Und dann kamen die Laute, aus den aufgeblähten Kehlköpfen. Laute, die wie Orgasmen klangen. Als das ekstatische Quaken Oben wahrgenommen wurde, plötzlich existierte das Unten, verschob sich der Raum: Alles drehte sich. Unten wurde Oben, Oben Unten. Die Polizei fiel, buchstäblich, aus allen Wolken, während das Kehlkopfdutzend, das, dank der Luft in den Hautsäcken, schwebte, dem Nichtkehlkopfdutzend ins Baumhaus half. Was sich dort abspielte, Szenen einer egalitären Liebe, davon und von mehr will ich nun berichten.
317.
So hätte ich mir den Tod nicht vorgestellt, sagtest du, als sie dich zurückholten, aus dem Tank mit dem Eiswasser zogen. Vor laufender Kamera. Im Studio war es mucksmäuschenstill, als dein kalter Körper schlagartig wieder warm wurde. Auf dem Bildschirm hinter dir stand Apnoe-Rekord geknackt. Der Zoom endete auf deinen braun-goldenen Pupillen, in denen grüne und blaue Flecken schwammen. Das war neu. Insgesamt schienst du nicht die Alte zu sein. Sondern? Eine Frage des Publikums. Lauter Kinder, die Perücken trugen. Erwachsene gab es nicht mehr. Du warst die Letzte, was du noch nicht wissen konntest. Wie auch? Der Rekord hatte wesentlich länger gedauert. Es war dein Glück gewesen, dass das Studio, wegen der Windenergie, offshore lag, außerhalb der Engpasszonen. Als du sagtest, du würdest gerne die Riemen gelockert bekommen, während du antwortest, lächelten die Kinder und sagten vorsichtshalber nein.
318.
Als alles festgestellt war, blieb das Durchatmen aus. Weder Ley, der Kim gedrängt hatte, noch Kim, die aufs Drängen beharrt hatte, obwohl sie sich längst selbst entschlossen hatte, hatten – wie es die Werbung versprach – Oberwasser, Oberluft, Oberglück. Schon gar nicht das, sagte Kim und zeigte auf Oberglück, das in gigantischen Buchstaben über dem Feststell-Parkhaus schwebte. Schon das Feststellparkhaus war eine einzige Enttäuschung gewesen. Alle hatten davon geschwärmt. Es hätte sich wie eine Bergtour angefühlt, die Kurven wären herrliche Serpentinen gewesen, und auf dem Dach würde man sich wie auf dem Lebensgipfel fühlen. Quatsch, sagte Kim, das war ne billige Schleuse, an der sie uns Wegedaten abgezapft haben. Code D’Azur, sagte Ley, die haben uns gelinkt. Und nun?, sagte Kim, ohne zu lächeln, manchmal gingen ihr Leys Wortspiele gewaltig auf den Wecker. Lassen wir’s, Ley? Wir haben 24 Stunden Zeit, sagte Ley, dem klar war, dass sie nach der Feststellung in den Fokus gerückt waren. 24 Stunden, um wir zu bleiben, sagte Kim.
319.
Diegekommenwaren taten so, als respektierten sie die Schonanwesenden. Ein Ritus griff. Im Hain, hinter der Mehrzweckhalle, die beim letzten Hurrikan einiges an Stabilität verloren hatte, trafen sich Zehnabgeordnete beider Gruppen. Um sie herum wurden Instagram-Accounts angelegt. Zur Tarnung. Alle taten so, als wären sie abgehärtet, aber dennoch sensibel. Diegekommenwaren hatten extra Stunden dafür genommen. Der Beifall blieb nicht aus, war aber dürftiger, als gedacht. Am Himmelshain schwebten Drachen, deren Fernsteuerung ab und an ausfiel, was, wegen der roten Knöpfe, für reichlich Gesprächsstoffwechsel sorgte. Schließlich war der Augenblick gekommen.
320.
Die Tage sind gezählt – deine Tage. Du hast es schwarz auf weiß. GenTime, der Brief kam eben, du hältst ihn in der Hand, während die Kinder im Garten toben, Käfer aufspießen, sie geben dir noch sieben Tage. Eine letzte Woche. Du gehst zum Schrank, steigst auf den Hocker, holst den Rucksack runter, den du seit Jahren nicht mehr benutzt hast. Staub lässt dich niesen. Du antwortest nicht, als die Kinder nach dir rufen, weil die Käfer nicht sterben wollen, sondern wirfst eine Packung Süßes durch das geöffnete Fenster in den Garten. Die Kinder jauchzen. Alle Sachen, die du brauchst, liegen in der Eisenschublade, die in der Familie den Namen Immerweggeschlossen trägt und um die sich, aus der Sicht der Erwachsenen und der Kinder, Legenden ranken. Du nimmst den Schlüssel, den du um den Hals trägst, öffnest die Eisenschublade, an der kleine und große Händeabdrücke kleben. Immerweggeschlossen öffnet sich, als du, nach dem Umdrehen des Schlüssels, die erforderliche Formel sprichst.
321.
Ein Sonnenuntergang wie aus dem Bilderbuch. Der Bus steht am Abhang, der Fahrer, Roy Silver, trinkt aus einer Thermosflasche Gebranntes und raucht lässig frisches Zeugs. Die Mitglieder des Turnvereins stehen auf dem Felsenvorsprung und machen Fotos, als sie der Geruch erreicht. Einige drehen sich um, auch Claude und Boy, die beschlossen haben, sich zu trennen. Roy Silver kramt, während er raucht, in den Ersatzkabeln, die gar keine Kabel sind, sondern getrocknete Babyschlangen. Auf dem Bus steht Natter. Claude und Boy spielen Ching, Chang, Chung, ob sie sich echt trennen wollen. Roy Silver winkt den Mitgliedern des Turnvereins, die ihn beobachten, mit einer geköpften Minischlange zu und rülpst. Rotes Zeugs fließt ihm aus den Mundwinkeln. Claude und Boy sind die einzigen, die nicht zurückwinken. Claude sagt, der wird gleich den Motor starten. Ohne dass wir im Bus sind, sagt Boy. Verdammte Scheiße, sagt Claude; sie sehen sich verliebt an.
322.
Im Hintergrund ist der Vordergrund zu sehen. Und nichts anderes. Die Kausalität dreht sich, während die Sextanten weitere Richtungsentscheidungen ablehnen. Ich klammere mich, im Bett des Soziologischen Seminars, an dich. Du liest mir die Angst von den Lippen, korrigierst und bereitest die nächste Fußnote vor.
323.
Knack, sehr leise. Knack, leise. Knack, lauter, Knack, sehr laut. Der Rücken brach, während du mich in den Schwitzkasten nahmst. Scheiße, sagtest du und ließt mich los. Ich sagte nichts. Mir war nicht nach sprechen, echt nicht. Was du nicht wusstest: meine Erfindung, sie dagegen, sie war spruchreif.
324.
Als Dr. Pavian de Waal lächelnd erklärte, der Tierarmut und dem Artensterben gehörten die Zukunft, ging ein Raunen durch den Saal. Ameisen schlossen iPads, Skorpione beendeten die Signal-Familienchats. Die Verantwortlichen der Torn to be alive-Konferenz im Haus der Kulturen der Welt drückten auf den blauen Knopf, worauf der engmaschige Gitterkäfig krachend von der Decke auf die Bühne fiel. Anders als am Vormittag geprobt – Dr. Pavian de Waal hatte sogar Kreuze auf dem Boden, wo er stehen konnte –, war der Ökonom neugierig gewesen, wer geraunt hatte. Er hatte sich weit nach vorne gebeugt, um dem Lichtkegel, der ihn blendete, zu entkommen. Das Letzte, was Dr. Pavian de Waal hörte, war eruptives Klatschen. Sie lieben mich, dachte er, während sein Kopf von der Bühne kullerte.
325.
Das Tor ist zu. Hinter ihm hat alles geöffnet. Aber niemand atmet. Vor dem Tor hat alles geschlossen. Die Codes atmen, erst binär, dann, nach einem Update, mit unendlichen Zahlen. Was die Lage nicht einfacher macht.
326.
Erst so zu tun, als hätten wir den Durchbruch geschafft, Logano leckt sich die verkrusteten Lippen, an denen die Flüssigkeit des Hasen klebt, dann – er zeigt auf den roten Haufen – wegen so was alles hinzuschmeißen? Krach schickt Cronos und Karla aus dem Raum. Die Kinder nehmen das Besteck mit. Sie wollen im Hof nachspielen, was sie gesehen haben. Polda, die bislang geschwiegen hat, als ginge sie das alles nichts an, tritt auf dem Schatten. Sie hält die Ohren des Hasen in der rechten, einen unbekannten Gegenstand, den noch niemand gesehen hat, in der linken Hand.
327.
Ich konnte nichts, mit einer Leidenschaft konnte ich nichts, die meine Familie überraschte. Nichts kann er, sagten sie, rein gar nichts. Sie schüttelten ihre Köpfe. Als ich das versuchte, das Kopfschütteln, ging es prompt schief. Bei mir sah es aus, als nickte ich, als nickte mein Kopf, allerdings in einer Schieflage, die wiederum nichts, rein gar nichts mit einem normalen Kopfnicken gemeinsam hatte. Als ich dich traf – oder sagen wir lieber: du mich, denn hätte ich dich getroffen, wäre ich an dir achtlos vorbeigegangen – als du mich trafst, trafst du einen jungen Mann, der noch niemals geliebt hatte. Weder eine Frau, noch sich selbst.
328.
Die Hammel springen. Es sieht aus, als würden sie tanzen. Wir steigen aus. Zunächst bemerken uns die Hammel nicht. Sie springen vor, springen zurück. Überqueren einen Graben, in denen Schlachtabfälle liegen. Dabei blöken sie. Ein Blöken wie wir es noch niemals gehört haben. Traurig, voller Zärtlichkeit. Oder doch. Wir haben es gehört. Am Grabe des Vaters. Als Mutter, die im Schatten der Erinnerung lebte, für einen Moment aufwachte und merkte, wo sie sich befand, wer hinabgelassen wurde. Schließlich sehen uns die Hammel. Sehen in unsere Richtung. Sehen sich an, sehen in den Graben, sehen uns wieder an. Und blöken. Ein Blöken, das nicht mehr zärtlich klingt. Das anschwillt, laut und lauter wird. Wir drehen uns um, der Bus fährt gerade davon. Die Fahrerin hupt. Die Kinder, die an den Fenstern kleben, schneiden Fratzen und beißen in ihre belegten Brote.
329.
Sie legen. Sich an. Geld an. Verlegen. Bücher. Versprechen. Einkaufszettel. Liebesbriefe. Triaden. Finden wenig, finden nichts wieder. Verwinden. Überlegen. Fühlen sich. Fühlen andere. Was selten, was nie gelingt. Oder gelegentlich. Im Mondschein. Oder ohne. Dann aber mit abgelegenen Folgen.
330.
Der Friede, Freude, Eierkuchen-Workshop des Backclubs Sweet Dreams ist, im Viertel, das Ereignis des Jahres. Gleich nach Weihnachten und Ostern. Über die Straßen wabern Tage vorher leckere Düfte. Überall werden Rezepte ausprobiert und verfeinert, um den Preis des Süßwahrenhandels, ja: mit h, gestiftet von der Philosophischen Gesellschaft, zu gewinnen. Prinzipiell gibt es keine Zugangsbeschränkungen. Als jedoch SuiZeit, die engagierte, quietschfidele Kuchengilde der Sterbefasten-Angehörigen, nicht nur antritt, sondern auch, zu aller Überraschung, herrliche, wie sie es nennen, Schwarzwälder-Kirsch-Tatorte kreieren, die den Naschenden, die vorm GehMuss eine Verzichtserklärung unterschreiben, reihenweise den Boden unter den Füßen wegreißen, kann von Friede, Freude, Eierkuchen in der mittelalterlichen Stadt keine Rede mehr sein. Der Hospiz-Kuchen landet als Musterfall vorm BundesGERICHThof.
331.
Sie schrieben es sich zu. Am Anfang, in der Kindheit, hatten sie noch abgeschrieben. Wie sehr sie sich heute nach der guten alten Zeit zurücksehnten, als sich das Kopieren noch gelohnt hatte – und zwar für alle Beteiligten! Nun hieß es, nicht nur auf der Höhe der Nachahmung zu sein, sondern eher einen Schritt voraus. Voll im Trend lag, wer den Trend erspürte. Die Spurensuche verschlang mehr und mehr Zeit. Und der Kauf von Spurenelementen entwickelte sich zum lukrativen Schwarzmarktgeschäft. Bis Paste auftauchte, ein StartUp aus Turin, das Steigwaren produzierte, die als Bügelhalter den CopyMarkt zerstörten. Und dann? Dann kamen die Geschichten auf den Markt und machten alles platt.
332.
Die Aufgabe wurde verteilt, sagtest du, als ich dich fragte. Ich nickte. Bei mir ist es ähnlich gewesen, sagte ich. Du sahst mich skeptisch an, da du wusstest, dass mein Jahrgang vorm Gong auf die Reise geschickt worden war. Und du, sagtest du, es war klar, dass du mir nicht trautest, was ich dir nicht übelnahm, und du bist hier ... hängengeblieben? Wie die HyphonHippies in Corck? Ich überlegte, während das Megafeuer, das auf der benachbarten Insel wütete, höher und höher stieg, so hoch, dass die Flammenwolke oben festfror, einen weißen Haarstreifen ausbildete. Wenn das runterfällt, sagte ich und deutete auf den Feuerkopf, wird das Wasser zwischen uns und drüben lichterloh brennen. Du sagtest nicht, sondern versuchtest, Empfang zu bekommen. Das Netz funktioniert nur in der Haibucht, sagte ich. Nun ja, sagtest du, über deinem Gesicht lag ein Schatten, der älter als du selbst war, und mir wurde klar, dass ich dich unterschätzt hatte, nun ja, alter Mann, rück mal zur Seite. Mir fiel auf, dass du nicht mehr bitte sagtest. Ich checkte den Knopf der Kindheit, er leuchtete. Matt, aber immerhin.
333.
Googleseelenallein. Wir warfen uns Worte zu, im Finale, vor Publikum, das skeptisch blieb. Ubermensch. Die Driver, die an der Tür warteten, klatschten. Instagrammatik. Die Sektion vom KZM machte sich Notizen. Es bestand immer die Gefahr, angezapft zu werden. Die Weisheiten der Hofnärrïnnen wurden öffentlich belächelt, heimlich eingeheimst und als Marschroute verwendet. Wir machten uns keine Illusionen. Die aus den Vorrunden schmorten bereits in Call-Centern, in Athen oder Istanbul, mit Glück. E-Bail, sagte ich und sortierte das Wort unter <Jura & StartUp & Quetschen> ab. Curl, die mich gecoacht hatte und im Publikum saß, nickte mir aufmunternd zu. Ich glaubte, eine Art von Halbherzigkeit zu entdecken, die mehr von Angst als von Langeweile motiviert war. Curl hatte stets darauf bestanden, dass unsere Zusammenarbeit lose blieb, an allen Enden. Silly Con, sagtest du und sortiertest es unter <Unterhaltung & Betrug & Games> ab. Als die Präsidentin dem Security Officer zunickte, dafür stand sie sogar extra auf, was für ein Raunen im Saal sorgte, wurde mir klar, dass ich jetzt ein As aus dem Ärmel zaubern oder mich in Luft auflösen musste. Ich öffnete den Mund, tat so, als wüsste ich genau, was ich sagen wollte. Dir stand der Angstschweiß auf der Stirn. Wir sahen uns an. Niemand hatte die leiseste Ahnung, dass wir Geschwister waren. Du sahst aus wie Mutters Mutter, ich wie Vaters Großvater. Darauf hatten wir gesetzt.
334.
Am Wettbewerb gibt’s nichts zu rütteln. Es geht darum, möglichst wie Nick Cave & PJ Harvey auszusehen, während sie gemeinsam Henry Lee singen. Zugegeben: eine Herausforderung, eine prinzipiell lustreiche. Cave & Harvey waren bei der Aufnahme ein Paar gewesen, und sie hatten vor der Kamera, was dem Video anzusehen ist, Sachen gemacht, die Paare machen, wenn sie sich begehren. Nun ja, wie auch immer. Erotik existiert nicht im Singular; täte es das, sähen wir alle gleich aus. Immerhin 13 Paare kommen, für den Wettbewerb, ein oder zwei davon freiwillig. Die anderen mussten. Alle, die müssen, singen bereits über Jahre Henry Lee. Immer und immer wieder. Die Überraschung ist ihnen, die müssen, anzusehen, als sie die anderen HL-Paare treffen. Die ein, zwei freiwilligen Paare lachen zunächst, merken zu spät, was tatsächlich passiert.
Dezember
335.
Ihr kamen die besten Ideen, wenn sie beobachte, dass Männer beim Eishockey den Puck ins Gesicht bekamen. Ange sah mich an. Und?, sagte Ange. Und was?, sagte ich. Was denkst du?, sagte Ange. Ich verstaute die Schläger, trocknete die Kufen mit dem Talisman. Kommt drauf an, sagte ich. Worauf?, sagte Ange und startete den Schneepflug, den sie sich, wie sie es nannte, bei der Bergwacht ausgeliehen hatte. Sie setzte sich den Helm auf und gab Gas. Mir fiel auf, dass der Raum, den sie brauchte, um mit dem Schneepflug die Vorhalle zu verlassen, verstellt war.
336.
Mittwoch kam, wie Mittwoche, die für ihre schlechte Kinderstube bekannt waren, meistens kamen, Mittwoch kam mit List und Tücke zu früh. Er hatte an einer anständigen Staffelübergabe keinerlei Interesse. Mittwoch lauerte Dienstag weit vor Mitternacht, kurz nach dem Heute Journal, auf. Er stellte sich scheinheilig als jemand vor, der den Weg verloren hatte. Weder ein noch aus wusste. Mittwoch stellte sich als jemand vor, der gewieft um Auskunft und Hilfe bat. Eine Strategie, die beim dienstfertigsten, einige sagten: leichtgläubigsten der Tage, obwohl andere die Leichtgläubigkeit eher beim Sonntag ansiedelte, eine Strategie, die immer zog. Dienstage waren nicht für ihre Lernfähigkeit, sondern ihre fast hirnlose Hilfsbereitschaft, die an Kadavergehorsam erinnerte, bekannt. Im Kampf galten Dienstage als geborenes Kanonenfutter. Und musste Ballast im schweren Sturm auf hoher See abgeworfen werden, flogen Dienstage stets zuerst über Bord. Nun ja, wie auch immer, dieser Dienstag blieb auf jeden Fall stehen, um sich dem offenbar verlorenen Mittwoch eilfertig zuzuwenden. Selbst als Mittwoch ihm erst das Smartphone kommentarlos aus der Hand riss, das Dienstag hervorgekramt hatte, um Maps zu checken, und danach die Watch-App manipulierte, so dass es – eine Stunde zu früh – Mitternacht schlug, Mittwoch hatte dafür Dienstags Watch-App in den Hitchclock Modus eingestellt und zählte die Glockenschläge genüsslich mit, selbst dann nickte Dienstag nur ergeben. Dienstag fing das Handy auf, das ihm Mittwoch beim zwölften Glockenschlag zuwarf und seufzte. Gerne, das sei erwähnt, gerne verließ Dienstag nicht die Welt. Dienstag winkte allem zu, was emsig kreuchte und fleuchte, und zischte dann wie eine Silvesterrakete gen Himmel. Mittwoch lachte bissig. Gerade die Leutseligkeit den anderen Kreaturen gegenüber war ihm fremd. Er nannte Dienstag einen knauserigen Kneifer, aberwitzigen Abhauer, sabbernden Saboteur und volltrottligen Vollidioten. Dienstag, der all das hörte, sich mit Tränen in den Augen hoch oben am Firmament in einen Sternschnuppenschwarm einreihte, mit glühendem Beifall von etlichen anderen betrogenen Dienstagen empfangen wurde, schluchzend seine Geschichte erzählte, worauf die Sternschnuppen Weltraumschrott zusammenscharrten, eine Extrarunde über dem selbstzufriedenen, weiterhin schäbig zeternden Mittwoch flogen und die Skybombe auf den zeitgierigen Tag niederregnen ließen, Dienstag sah noch, aus den Sekundenwinkeln, dass Mittwoch von einer ausgedienten Raketenstufe, die immer noch über ein funktionierendes Zielradar verfügte, über die sanften Tuesdayhügel Richtung Montagswald gejagt wurde, was am Himmel für ein heiteres Lachen und Leuchten, freudiges Jauchzen und Jubilieren der Sternschnuppen sorgte.
337.
Wir geben alles zurück, sagten wir, was Mum und Pa, Greatmum und Greatpa, Greatgreatmum und Greatgreatpa gestohlen haben. Eigentlich ist das nicht schwierig, sagten wir. Wir stellen einfach die Buchführung auf den Kopf. Haben sie selbst gearbeitet, behalten wir die Sachen. Alles andere wird restituiert. Gesagt, getan, sagten wir, rieben die Hände und gingen an die Arbeit. Alsbald stießen wir auf Probleme, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Weder Mum noch Pa, weder Greatmum noch Greatpa, weder Greatgreatmum noch Greatgreatpa hatten überhaupt selbst gearbeitet. Sie hatten keinen Finger krumm gemacht, nicht den kleinsten. Sie hatten alles, was sich in unserem Besitz befand, gestohlen. Ausnahmslos. Land, Haus, Möbel, Gemälde, Schmuck, Tafelsilber. Nichts gehörte uns wirklich, jedenfalls nicht auf die anständige, die einwandfreie Art. Wir, die Jungen, riefen einen Familienrat ein – ohne die Alten. Zunächst schwiegen wir, dann sprachen alle gleichzeitig. Daraufhin schwiegen wir wieder, anschließend sprachen wieder alle gleichzeitig. Das zog sich über Stunden hin. Einige von uns wollten weiterhin alles zurückgeben, das ganze Diebesgut. Das sei schließlich unser Plan gewesen. Einige wollten alles behalten. Wer, bitteschön, wüsste denn davon, außer uns? Niemand. Einige wollten so viel behalten, wie wir benötigten. Von den anderen gefragt, wie sie Not definierten, schwiegen sie. Und wir schwiegen anfangs mit ihnen. Als dann doch jemand sprach, sprachen alle anderen auch. Irgendwann, in einer Schweigeminute, klopfte es an der Tür. Wir gingen gemeinsam zur Tür, öffneten sie. Draußen stand eine Delegation, bat sich selbst hinein.
338.
Am nächsten Tag, morgen, würdest du mich töten. Heute tatst du alles, um mich auf deine Seite zu bringen. Dein Charme war umwerfend, deine Kanaillenstimme eine Wucht. Während du sprachst, mit mir, hinten, neben dem Friedhof, am Kirchplatz, sammelte sich eine Menschenmenge um dich. Die Leute standen alsbald dicht an dicht. Sie waren fasziniert, lachten und applaudierten dir, deinem Charisma. Du tatst so, als ginge dich die ganze Klatscherei nichts an. Als wärst du bodenverwachsen, immun gegen Ruhm. Als brächte dich nichts aus der Ruhe. Die Leute waren entzückt, komplett verknallt. Einige rannten als verzauberte Lotsen in die brummenden Cafés und Biergärten, die am Kirchplatz wie offene Boote ankerten, und kamen mit mehr, mit noch mehr Menschen im Schlepptau zurück. Das Lachen schwoll an. Heiterkeitskaskaden brandeten auf. Irgendwann war es gänzlich egal, was du sagtest. Die Leute lachten automatisch. Zuckten wie Tiere, in die man knisternde Elektrokabel steckte. Jede von dir geäußerte Silbe wurde als Sottise verstanden, jedes Fragezeichen als urkomische Bemerkung gefeiert. Da deine Stimme nicht mehr die hinteren Reihen erreichte, wurden deine Bemerkungen weitergereicht. Alle zehn Meter wechselten sie ihre Bedeutung. Nach 100 Metern hatten sie so gut wie nichts mehr mit dem von dir gesprochenen Satz gemein. Deine Aussagen, eh nie besonders klar, wurden kryptischer und kryptischer, während die Ehrfurcht vor deinem hellseherischen Genie zunahm. Am Rande der Menge wurden, um dich zu hofieren, Menschenopfer gebracht. Du und ich hörten das Schreien, ließen uns nichts anmerken. Jedenfalls nicht die ersten dreißig Minuten.
339.
Die Köter der Vorstadt hatten genug von den Mitte-Hunden. Angeberdogs, Aufschneiderbeller, Kotelettknochenabnager, die, so der Vorwurf, ihre friesierte Schnauze derart hoch trugen, dass sie die restlichen Kieze ausnahmslos als No-Gassi-Area bezeichneten. Den letzten Ausschlag für den Wutausbruch gab jedoch das Geraune um DogyDogyStyle, den posh-pathetischen Laden in der Auguststraße, wo Hunde Die Vierbeiner genannt wurden. Ein Geschäft, das nur betreten durfte, wer ein Halsband der Marke alLEINE trug und, laut FidelApp, frisch kastriert war. Es ging das heroische Gerücht um, dass im DoDoSty, wie der Laden von der Website Freunde von Freunden genannt wurde, ausschließlich Leute arbeiteten, die an Asthma litten, eine ärztlich attestierte Hundehaarallergie hatten und ein rotes T-Shirt mit der blauen Aufschrift Proud to be allergic trugen. So sollte einwandfrei bewiesen werden, dass das Personal Die Vierbeiner über alles, wirklich ausnahmslos alles liebte, ja sogar bereit war, für die Zuneigung zu leiden. Die Moabit-Köter waren die ersten, die DoDoStyle zur untrendy Pissecke auserkoren. Unablässig verabredeten sie sich in der Auguststraße, taten anfangs so, als interessierten sie sich für die Kunstgalerien, und strullerten dann, mit Verve und Vergnügen, dem Shop ausgiebig vor die Tür. Als die Hundehaarallergier Janus und Kim-Da, die gerade Dienst schoben, merkten, dass der Strom an räudigen Kläffern, die ohne Herrchen und Frauchen unterwegs waren, also definitiv alleine Gassi-gassi gingen, aber nicht mit einer alLeine geschmückt waren, gar nicht mehr abriss, sondern dass die gelbe Lache vorm Laden zur Riesenpfütze anwuchs und dass zusätzlich die Weddinger Graffiti-Terrier mit Farbe gegen die DoDoStyle-Fassade spritzten und Slogans á la Den letzten Gentrifizierer beißen die Hunde sprühten, riefen sie entnervt die Streife. Was ein wenig dauerte, da auf dem Revier niemand Englisch sprach. Als die Diensthunde schließlich doch in der Auguststraße auftauchten, wohlgemerkt: von vier Seiten, damit die Graffiti-Terrier nicht Reißaus nehmen konnten, die Polizei nutzte den Einsatz als echtes Training, da gerade ein Lehrgang aller Hundeführerïnnen der Bundespolizei in der Stadt stattfand, insgesamt handelte es sich um 514 Diensthunde, darunter Boxer, Riesenschnauzer und Rottweiler, als die verwunderten Diensthunde in der Auguststraße auftauchten, kam es zu einer bemerkenswerten Fraternisierungsaktion, die in der Stadt später als Bella-Felllatio-Moment berühmt wurde und für viel, sehr viel Zärtlichkeit und vielen, sehr vielen stubenunreinen Liebkosungen vor und in dem völlig überlaufenen DogyDogyStyle zwischen den Hundefraktionen führte.
340.
Wir befanden uns über den Anden, als die Ansage kam. Eigentlich handelte es sich um gar keine Durchsage. Mehr um einen Schrei. Munch im Himmel. Als würde man jemanden ein Messer ins Herz stoßen. Und dann umdrehen. Als würde man jemanden das Herz brechen. Mehrmals. So klang die Ansage. Hier war jemand getroffen, das war uns allen klar. Nach der Ansage schlossen sie den Zugang zur Economy Class. Verbarrikadierten die Gänge mit den Getränkewagen. Am Ende wollte niemand die letzten Minuten mit den billigen Loosern verbringen. Ich fragte mich, wie ich mich verhalten hätte. Mit der Schlüsselgewalt. Ob ich Champagner und Kaviar für alle ausgegeben hätte? Oder ebenso die Schotten dicht gemacht hätte? Tür zu, Affe tot. Statistisch überlebte man vorne häufiger, hieß es. Eine Untersuchung der britischen Universität Greenwich hat ergeben, dass man die besten Chancen im vorderen Bereich hat. Dort liege die Wahrscheinlichkeit bei 65 Prozent. Es gab sogar einen ganz bestimmten Platz, 12a, direkt am Notausgang, der die beste Überlebenschance bot. Wie auch immer. Wir saßen jedenfalls, während die Anden näher und näher kamen, hinten, in der Dunkelheit. Selbst das Licht hatten sie ausgeknipst. Erstaunlich war, dass niemand von uns ein Wort verlor. Während vorne, in der Business Klasse, Menschen fluchten und Beleidigungen austauschten. Sich gegenseitig beschuldigten, falsche Leben geführt zu haben. Betrogen zu haben. Nur am Geld Interesse gehabt zu haben. Dann streifte das Flugzeug die Bergspitze, brach, ein trockener Knack, ganz anders, als wir uns das vorgestellt hatten, weit weniger dramatisch, brach genau dort auseinander, wo die Getränkewagen standen. Während der vordere Teil weiterflog – jedenfalls einige Sekunden – und anschließend am Nebengipfel zerschellte, fiel die Economy Class zehn Zentimeter in ein weiches, frisch aufgeschütteltes Schneebett, rutschte gemächlich, als handelte es sich um eine Schlittenfahrt, auf Pulverschnee sanft in ein immer flacher werdendes Hochtal und kam wenige Meter vor einer Sternwarte zum Stehen. Als wir ausstiegen, funkelte das enorme Teleskop wie ein Diamant. Feuerzungen schlugen aus dem Mittelteil. Das Teleskop machte ein hungriges Geräusch, drehte sich in unsere Richtung, klappte die Seitenteile ein, sah nun wie ein überdimensioniertes Fernrohr aus, dessen Auge uns beobachtete. Du zogst an meinem Arm, sagtest eine Kanone und sagtest lauf.
341.
Die Erfindung war genial, wie erwartet, die SiliconValley-Firma hatte alles getan, um die Spannung zu steigern. Gerüchte wurden gestreut, Mutmaßungen befeuert. Info-Bröckchen machten unter Eingeweihten die Runde. Fest stand: Niemand wusste tatsächlich, was WALLnuts präsentieren würde. Aber alle hatten die Finger auf den Kaufen-Buttons, falls die Aktie durch die Decke krachte. Es ging darum, die Menge um Sekunden zu schlagen, um den berühmten Reibach zu machen. Und dann kam der Moment. Crown God the Third and Only trat auf die Bühne. They is between us verriet die Einblendung auf dem Riesenschirm, obwohl jeder wusste, dass es sich bei Crown God the Third and Only um einen Mann handelte, der aus einem Mittelklassevorort Atlantas stammte. Der Moment war gekommen. Erst erschien das Detail einer Büchse, die wie etwas aussah, das man kannte, aber trotzdem nicht ad hoc einordnen konnte. Dann erschien ein Charger, der wie ein stinknormaler Charger des WALLcrackers, des Milliarden-Verkaufsschlagers der SV-Firma, aussah, aber offensichtlich – die Präsentation veränderte sich – eine Metamorphose durchmachte. Der WALLcracker-Charger verwandelte sich in einen itHUMAN. So lautete der Name des Ladegeräts, der jetzt auf dem Bildschirm in fetten Lettern prangte. Und dieses Ladegerät – ein Schrei erscholl aus dem Publikum, der alsbald alle ergriff, ein Schrei, der quer über den Erdball eilte, von allen Besitz ergriff, und dieses Ladegerät hing aus Crown God the Third and Onlys Hinterloch. Das Geheimnis der Energie, die Crown God the Third and Only füllte, They’s Energy, hatte diesen b=analen Grund und war, gggggeil, KAUFBAR.
342.
Bluff schwitzte. Vorm Tresor liefen ihm die Schweißperlen von der Stirn. Als stünde er im Regen, dachte Angster, dessen Augenlider im Takt von Der Lindenbaum zitterten. Am Brunnen vor dem Tore, Da steht ein Lindenbaum; Ich träumt’ in seinem Schatten, So manchen süßen Traum. Bluff sah hoch, wischte sich das dicke Wasser aus den Augen. Schuberts Winterreise?, fragte er Angster, als ob das nicht selbstverständlich war. Angsters Lider-Tick war seit jeher mit dem Liederzyklus verbunden. Angster biss sich auf die Lippen und reichte Bluff eine Maske, die im Staub neben dem Papierkorb lag, noch eingepackt, die Leute hier trugen keinen Mund- und Nasenschutz. Aus Prinzip. Bluff warf die Maske zurück, schnaubte. Er war nicht blöd. Bluff kapierte Sachen, allerdings häufig erst im Nachhinein. Wenn’s zu spät war. Jetzt zu sprechen, ist eine Dummheit, dachte Angster. In den Räumen der Zentrale befanden sich Wanzen, die darauf trainiert waren, auf Worte, die hier normalerweise nicht ausgesprochen wurden, zu reagieren. Angster murmelte Rammstein und Joachim Witt, um die Wanzen zu beruhigen. Zwar sollte die Zentrale leer sein, die Mitglieder machten einen Betriebsausflug, eine Wanderung zum Eagels Nest, saßen wahrscheinlich gerade angetrunken im Kehlsteinhaus, auf dem Obersalzberg, schunkelten zur Götterdämmerung. Aber bei dieser zerstrittenen Partei wusste man nie. Eins war dagegen klar: Bluff war gekrängt, sackte in sich zusammen. Das Schwitzen nahm – kaum möglich, aber wahr – sogar noch zu, lockerte die Fundierung. Bluff trug immer künstliches Braun, mit einem zarten Stich ins Orange. Er glaubte, ihm stünde eine gesunde Gesichtsfarbe. Als presste man eine saftige Apfelsine aus, solch einen Eindruck machte Bluffs Gesicht. Er nahm jede Zurechtweisung als Affront, gerade von Angster, den er für seinen besten Freund hielt. Ich schnitt in seine Rinde, So manches liebe Wort; Es zog in Freud’ und Leide, Zu ihm mich immer fort, summte Bluff, der einst in Eisenhüttenstadt eine Ausbildung als Klavierstimmer gemacht hatte. Angster verstand, dass Bluff ihm, gewissermaßen, die Maske zurückgab. Nun war’s besser, Bluff einfach machen zu lassen, ansonsten konnte dies in einem Redeschwall enden. Angster stand auf, ging zum Fenster und konnte so die Wagenkolonne sehen, die gerade auf den Hof rollte, an den Eichen vorbei. Lautlos. Vier Teslas. Dass die Partei Elektroautos benutzte, zumal amerikanische, war unwahrscheinlich. Wer war das?
343.
Zunächst töteten sie an den Grenzen. Den vorgegebenen. Das ging erstaunlich einfach. Wenn man kam, sobald der Schlaf regierte. Tagsüber an den Grenzen zu töten, sahen sie als Herausforderung an. Das Töten gelang nicht immer. Führte zu Diskussionen über Räume und Verträge, über Loyalitäten und Moral. Gerede, das ihnen lästig war. Sie beschlossen, die Grenzen selbst zu ziehen. Dafür mussten sie innerhalb der Grenzen töten. Das ging besser als gedacht, da alle glaubten, sie töteten an den Grenzen. Die Situation wurde dennoch angespannter, weil sie mehr Leute brauchten, die mit ihnen simultan an den Grenzen töteten. Schließlich konnten sie nicht gleichzeitig innerhalb der Grenzen und an den Grenzen töteten. Sie versuchten, den neuen Leuten einzureden, dass die alten Leute sich gelegentlich von den Grenzen entfernten, um sich innerhalb der Grenzen vom Töten zu erholen. Da sich die Methoden des Tötens an den Grenzen und innerhalb der Grenzen ähnelten – sie mochten ihre Art des Tötens –, schöpften die neuen Leute irgendwann Verdacht. Es entstand ein Ungleichgewicht zwischen denjenigen, die sowohl an den und innerhalb der Grenzen töteten, und den anderen, die nur an den Grenzen töteten. Verständlicherweise litt die Moral der Tötenden. Dass sich die Bewegung des Tötens teilte, war unvermeidlich. Wie das Schisma geschah, war allerdings für alle, gerade Unbeteiligte, eine ganz besondere Erfahrung.
344.
Die Geschichten, die über uns, unsere Familie, erzählt wurden, waren nicht ganz und gar falsch. Aber sie waren eben auch nicht ganz und gar richtig. Uns störte das nicht. Wenigstens nicht am Anfang, zur Jahrtausendwende. Großvater, der damals noch ein überaus rüstiger Mittsechziger gewesen war, ohne Probleme als halbwegs junger Mann in einer Midlife-Krise durchging, Großvater hatte dafür gesorgt, dass die Gerüchte in verschiedene Richtungen waberten. Ladudu the Liar, wie er in der Familie hieß, war ein Meister der Maskerade, der es sogar schaffte, Queen Beetha, unsere trickreiche Großmutter, zu täuschen. In der Familie zirkulierten, unter der Hand, Geschichten davon, wie er Queen Beetha, die einen immensen sexuellen Appetit besaß und berühmt für ihre Liebeskunst war, in verschiedenen Maskeraden besucht hatte. Gerüchte, die weder Ladudu the Liar noch Queen Beetha offiziell bestätigten, die aber, möglicherweise, dafür verantwortlich waren, dass Queen Beethas Söhne und Töchter verschiedene Nachnamen trugen, obwohl alle ausnahmslos so wirkten, als wären sie aus einem Ei gepellt. Ladudu the Liar konnte sich nicht nur gut in andere Personen, übrigens jeden Geschlechts, verwandeln, er war auch in der Lage gewesen, wie ein Chamäleon in x-beliebige Rollen zu schlüpfen und, seine besondere Stärke, auf der Stelle selbst zu vergessen, wer er tatsächlich war. Als Enkelkinder kam uns alle paar Wochen die Aufgabe zu, Ladudu the Liar aufzustöbern und ihn, so diskret wie möglich, without much ado, hinter der Kulisse zu demaskieren und unbeschadet wieder nach Hause zu bringen. Das ging, um ehrlich zu bleiben, selten ohne Konflikte ab. Gerade wenn Ladudu the Liar die nach langer Zeit heimgekehrte Tochter oder den vor Ewigkeiten verschwundenen Sohn spielte, wollten die vor Glück berstenden, selig feiernden Familien in den Nachbarstädten sie/ihn unter gar keinen Umständen einfach so wieder gehen lassen. Und auch Ladudu the Liar, geliebt und hochbegabt, war, häufig, eigentlich immer, im Schoße der gerührten Familien fest davon überzeugt, wirklich die ausgewanderte, als Multimillionärin heimgekehrte Nichte oder der über Bord des Fischerbootes gefallene, von einem Ozeandampfer aufgesammelte und nach Südamerika gezogene Lieblingsneffe zu sein. Queen Beetha, der es irgendwann, verständlicherweise, zu viel gewesen war, immer und immer wieder auf ihren eigenen Mann hereinzufallen, Queen Beetha, die echte romantische Abenteuer schätzte, hatte Ladudu the Liar, nach einer weiteren unter falscher Identität erschlichenen, nach einer, zugegeben, zwar durchaus lustreichen, aber eben doch zu wohlbekannten Nacht, Queen Beetha hatte Ladudu the Liar, während er erschöpft neben ihr gelegen und sie darüber gegrübelt hatte, wie sie es zukünftig abstellen konnte, Sex mit ihrem verkleideten Mann zu haben, Queen Beetha hatte Ladudu the Liar an jenem sonnigen Morgen, während er schlief, hinter dem rechten Ohr, das weiter abstand als das linke, eine kleine, aber eindeutige Tätowierung verabreicht, die uns, wenn wir ihn in der Fremde enttarnen mussten, ungemein bei der Identifizierung half. Es blieb allerdings nicht aus, dass im Laufe der Jahre, wie eingangs erwähnt, Geschichten die Runde machten. Einige davon wahr, andere maßlos überzogen. Ladudu the Liar wurde allmählich, ohne unser Zutun, zu einer Figur des öffentlichen Interesses. Etliche Instagram-Accounts wurden ihm gewidmet. Drohnen folgten ihm, wenn er das Haus verließ. Was ihn nicht störte, da er ja weiterhin die Gabe besaß, inkognito abzutauchen. Irgendwann verbreitete sich jedoch die Story der Tätowierung. Und da Ladudu the Liar in gewissen revolutionären Kreisen als linke Popikone galt, wurde sein Tattoo alsbald reihenweise nachgemacht, entwickelte sich gar zum politischen Symbol. Ihr könnt Euch denken, dass dieses plötzliche Überall des Tattoos unsere Aufgabe, Ladudu the Liar aufzustöbern und diskret heimzubringen, schwieriger, beinahe unmöglich machte. Wir mussten uns also etwas überlegen, um den Zorn unserer Großmutter von uns abzulenken.
345.
Rinnstein hatte es eilig. Ihre Verabredung mit Gulliver, die sie hinausgezögert hatte, stand an. Wie würde er reagieren?, fragte sie sich, während sie den Bulldog Platz überquerte, der in Wahrheit anders hieß. Die Hunde lagen in der Sonne und gähnten. Drei, vier sprangen auf, als sie Rinnstein entdeckten und knurrten. Rinnstein öffnete ihre Handtasche, die wie ein Revolver aussah, nahm einige Leckerlies und warf sie den Hunden zu. Raben, die Rinnstein kannten und auf ihre Chance gewartet hatten, stürzten sich auf die Pansenbrocken, die wie Erbrochenes rochen. Die Hunde rührten sich nicht. Es reichte ihnen, dass Rinnstein sie wahrgenommen hatten. Rinnstein, die an Gullivers unverlangte Umarmungen und seine mit Pusteln überzogene Zunge dachte, steckte sich einen Pansenbrocken in den Mund. Der Gestank soll ihm eine Lehre sein, murmelte Rinnstein zu sich selbst. Am Rande des Bulldog Platzes wartete Jam Bro, der aus weggeworfenen Supermarktfrüchten schmackhafte Konfitüren kochte, die er löffelweise verkaufte. Hey, Rinn, komm, hier, Zwetschge, frisch, rief Jam Bro Rinnstein zu, die mit ihm über elf Ecken verwandt war. Keine Zeit, Jam Bro, rief Rinnstein und überlegte, was sich hinter Zwetschge, frisch verbarg. Die Pflaumensaison war vorbei. Die Farbe deutete auf verdünnten Teer mit vergammelten Beeren hin. Zeit, Rinn, rief Jam Bro und lachte, Zeit ist immer da, man muss sie nur höflich hereinbitten. Rinnstein schoss, während sie im U-Bahnschacht verschwand, mit ihrer Handtasche auf Jam Bro, der daraufhin alles stehen und liegen ließ und ihr folgte. Das Schießen mit der Revolverhandtasche war das verabredete Zeichen, dass Gulliver in der Nähe war. Jam Bro wusste, was das hieß. Und nicht nur Jam Bro wusste es. Der ganze Bulldog Platz wurde mucksmäuschenstill. Die Hunde kniffen die Schwänze ein. Aus dem U-Bahnschacht kamen Gerüche, die nur eines bedeuten konnten. Rinnstein schloss die Augen, betete ein Katerunser im Himmel und sprang.
346.
Lob hielt sich nicht mit Klischees auf, Konventionen waren einerlei. Das Ziel zählte. Lob platzte ins landesweite Zoom-Meeting, besetzte den Hauptschirm, schaltete die anderen auf stumm, sorgte dafür, dass die Kameras nicht ausgeschaltet werden konnten. Die Verblüffung war so groß, dass selbst Braggart die Spucke wegblieb. Swank und Poser schrien, schäumten regelrecht vor Wut, waren aber nicht zu hören, was in den Kommentaren für Heiterkeit und reihenweise klatschende Hände sorgte. Als Blowhard das machte, für was Blowhard berüchtigt war, stellte Lob Blowhards Kamera einfach aus. Show-Off griff daraufhin nach dem stumpfen Messer und tat so, als handelte es sich um eine scharfe Waffe. Lob schickte Show-Off ein Zungezeigen-Emicon, was in der Kommentarspalte für noch mehr Lacher sorgte. Als Grandstander, Cutup und Braggadocio, die im Sicherheitsapparat für Schlechte Schwingungen zuständig waren, versuchten, den Hauptschirm zurückzuerobern, begann Lob, während sich die umliegenden Länder zuschalteten, mit den Streicheleinheiten, die sich rasend schnell als undurchdringliche Firewall um Grandstander, Cutup und Braggadocio legten. Der Abend der Anerkennung begann, und nichts, rein gar nichts würde danach wie vorher sein.
347.
a) Niemand kam auf die Bühne und sagte: Ich bin Niemand. Das Publikum reagierte nicht. Niemand blickte auf die Stoppuhr, die als Bühnenbild diente. Von den zehn Sekunden waren noch drei übrig. Im Seiteneingang der Bühne wartete schon Jemand. Niemand musste handeln.
b) Nobody came on stage and said: I am Nobody. The audience did not react. Nobody looked at the stopwatch that served as a stage set. There were three seconds left of the ten seconds. Somebody was already waiting in the side entrance of the stage. Nobody had to act.
348.
Im Nachhinein sind wir alle klüger, sagte Gott, der, ein Tick von ihm, im Kreise der anderen Göttinnen und Götter Zuflucht zu Allgemeinplätzen suchte. Gott ignorierte geflissentlich, dass ihm die Anwesenden während seiner Lecture Holly NachtRICHTEN nicht zuhörten – wohlgemerkt: mit einer Ausnahme. Auf den Lecture-Titel, der ihm selbst eingefallen war, war Gott, wie er selbst am Anfang des ziemlich zähen Auftritts formuliert hatte, stolz wie Oscar mit C. Er platze regelrecht vor Erfinderglück, komme sich wie in der Traumfabrik vor. Gott hatte, allen Ernstes, Einladungskarten drucken lassen, auf denen als Titel der Veranstaltung Cotts Holly NachtRICHTEN stand. Die Göttinnen und Götter hatten ungläubig mit den Köpfen geschüttelt. Mehr Oulipo als Olymp, hatten die Griechinnen und Italiener geflüstert und sich köstlich über Gotts mageren Sprachschatz amüsiert. Er, Gott, übersah die Herablassung und Häme. Gott glaubte fest an seine poetische Ader, hielt den Bestseller, die Bibel, für Gottes Wort und versuchte alles, um die Publikation apokrypher Schriften einzuschränken. Er hatte im Laufe der Jahre immer und immer wieder Anwaltskanzleien beschäftigt, die Erfahrungen mit Copyright-Fragen hatten. Nicht dass er immer Recht bekommen hatte. Gerade eine richtungsweisende Thesenentscheidung in Wittenberg setzte ihm weiterhin zu. Wenn es eine Berufsgruppe gab, die ihm im Himmel besser nicht über den Weg laufen sollte, dann waren das theologische Philologïnnen. Gott überbetonte, wenn er seiner Feindschaft Luft machte, das ï, um bei den Konservativen im VATIkann – Gotts mit Abstand schlechtestes Wortspiel, das er zurückrufen musste, was nur halb gelang, da sich Opferverbände des Slogans in ihren Aufklärungskampagnen bedienten –, Gott überbetonte das ï, um bei den Konservativen Punkte zu sammeln. Manchmal sei es schwer, wach zu bleiben, besonders in der philologischen Kirche, sagte Gott nun im Dolby Theatre. Kam’s drauf an, bediente er sich selbst bei Oscar mit C Wilde. Die anderen Göttinnen und Götter beugten derweil, Gotts Lecture fand und fand kein Ende, ihre Häupter über Net-Devices, die sie in den Saal geschmuggelt hatten, und erledigten ihr Christmas-Shopping. Manchmal zeigten sie sich Sales-Aktionen, tauschten Rabatt-Codes aus oder checkten auf AppFall die Mitgliederentwicklung ihrer jeweiligen Glaubensrichtung. Gott, der privilegiert war, da ihm mehrere Konfessionen gehörten, drehte nach einer halben Stunde den Lichtstrahl, der ihn erleuchtete, auf Volle Pulle und sagte: Fehler sind wie Berge, man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen. Klaut von den Hausa, schrieb daraufhin TheOnlyIskia auf Twitter, jene Göttin, die zuhörte und sich vorgenommen hatte, Gottes Zitate abzuklopfen. Und ergänzte: Who sows the wind will reap storm. Was sich, wenig später, als akkurate Prophezeiung herausstellen sollte.
349.
Sie ließ ihn ausgraben. Eine Woche danach. Sie war spät gekommen. Zu spät. Der Anblick, die Anwesenden konnten es bezeugen, das Schaufeln der schweren Erde, das Wuchten des Sargs, das Splittern des vernagelten Koffers, der seine Hinterlassenschaften, ihr wohlbekannt, enthielt, die Anwesenden konnten es bezeugen, warum sie erneut mitgekommen waren?, obwohl sie beim ersten Mal doch dabei gewesen waren?, an einem wärmeren Tag, an einem Tag ohne Wind, ich kann nicht für andere sprechen, nicht für Neunmalunkluge, nur für mich selbst, und von mir kann ich sagen, dass ich auch meine Bedenken hatte, am Tode des Freundes zweifelte, ihretwegen stand ich nicht auf dem überwachsenen Grab, das neben seinem verwilderte, wir hatten uns niemals besonders gemocht, der Anblick ihres Toten, der eine Woche nur Dunkelheit gesehen hatte, dessen Lider aufgerissen waren, der uns anstarrte, mit Augen so blass, mit der ihm eigenen Intensität, der uns fragte, was wir von ihm denn noch wollten, ob es nicht genug gewesen sei, dass er die Waffe gegen den eigenen Kopf gehalten hätte, während ihrer Abwesenheit, ob es nicht genug gewesen sei, dass es Tage gedauerte hatte, danach, nach dem Schuss, sie jedenfalls, die sich am Holz des Deckels festhielt, die Nägel im Holz zählte, 18, 19, 20, sie jedenfalls starrte ihn an, während er uns anstarrte, und dann, die Anwesenden konnten es bezeugen, und dann, einen Augenblick später, verlor sie ihr Gedächtnis, sie blickte sich um, sah uns der Reihe nach an, auch mich, und fragte nach unseren Namen, sie fragte auch ihn nach seinem Namen, der vor ihr lag, die Augen so starr, so schön, und das Seltsame war, die Anwesenden können es beschwören, auch ich würde, zur Not, ja, auch ich würde einen Meineid leisten, zur Not, dass es so gewesen war, das Seltsame war, dass sich sein Mund öffnete, in der hölzernen Kiste, auf die es nieselte, Böen Schatten warfen, der Kiefer fiel nach unten, und dass es sich so anhörte, als würde er sie nach ihrem Namen fragen, sie jedenfalls drehte sich nach dieser Frage zu uns ein, sah uns wiederum der Reihe nach an, lächelte, ohne eine Spur des Wiedererkennens, ohne eine Spur eines Namenbewusstseins, und ließ, 21, 22, 23, den Deckel los, der sich nicht senkte.
350.
Zuerst fehlen die Klugies. Bunte Kugeln aus Zucker, von Milchschokolade überzogen. Das Schild im Regal Wir sind bereits bestellt verstaubt mit der Zeit. Eine kuriose Lücke, die zwischen Eltern und ihren Kindern erst für Gesprächsstoff, dann Wutausbrüche sorgt. Als überall im Supermarkt Regale leer bleiben, ganze Gänge wie Geisterbahnen aussehen, kehren vorm Jahreswechsel ausgerechnet die Klugies zurück. Es ist ein Rätsel. Manche sprechen auch, hinter vorgehaltener Hand, von einem Wunder. Denn die Klugies kehren nicht nur zurück, um die schmale Lücke, die sie im Regal gerissen haben, zu füllen. Sie kehren in style zurück. Meine restlos begeisterten Töchter sagen das, angesichts der aufgereihten Klugies: in style. Und die Klugies – lachen Sie bitte nicht – kehren nicht nur in style zurück, sie wachsen auch in style. Wenn wir, meine Töchter und ich, kurz vorm Regal warten, können wir durch die an der Vorderseite teilweise durchsichtige Verpackung sehen, dass sich die in style-Klugies im Beutel bewegen und langsam, aber sicher größer werden. Das in style-Wachstum der Klugies ist sowohl eine kuriose als auch wundervolle Angelegenheit, da die Klugies es schaffen, nicht nur selbst zu wachsen, sondern gleichzeitig, quasi wie Spinnen, ihre Verpackung größer zu weben. Die Kinder sind fasziniert, die Eltern haben keine Wahl. Da es ansonsten keine anderen Süßigkeiten mehr gibt, Wir sind bereits bestellt, kaufen sie die größer und größer werdenden in style-Klugies-Beutel, schleppen sie wie Zwanzig-Kilo-Kartoffelsäcke nach Hause. In den Wohnungen stoppt das Wachstum der in style-Klugies glücklicherweise. Was für Stoßzeufer der Erleichterung bei den Eltern sorgt. Allerdings stoppt es nur für eine knappe Stunde. Dann machen die Klugies einen weiteren Wachstumsschub durch. Sie brechen in style aus ihren Verpackungen aus. Woher ich das so genau weiß? Nun ja, wir, meine Töchter und ich, verbarrikadieren uns gerade in der Speisekammer, drücken Sie ruhig auf das Kamerasymbol, dann machen Sie sich ein in style-Bild von unserer Lage. Meine Töchter und ich können, durch einen Spion, sehen, wie die Klugies aus ihrer Schokoladenhülle brechen. Als verpuppten sie sich. Unter der Schokoladenhülle kommt etwas zum Vorschein, das wie wir aussieht. Etwas, das meinen drei Töchtern haargenau gleicht. Und auch ich, da stehe ich. Ich pelle mich schließlich aus einer in style-Klugies-Schokoladenhülle. Ein Ich, das mir ähnelt, schnappt sich die Knoblauchpresse und die Kartoffelreibe, lächelt breit, ich wusste gar nicht, dass ich noch so breit lächeln kann, schnüffelt etwas und geht – nein! – frohgemut im freestyle auf die Tür der Speisekammer zu.
351.
Die Zeit spulte uns ab. Wir waren die Noten, gespielt vor Jahren, lagen in den Armen des Orchesters. Jede Nacht kehrten wir als Träume zurück. Der Klang war berauschend, dachten wir. Die Münder lächelten uns zu, oben wie unten. Wir küssten den Moment, dem nichts zu fehlen schien, bis sein Herz stillstand.
352.
Gelegentlich drehten sich Jean, Piaf, Frances und Claude, wenn sie das Bett verließen, was selten geschah, wir befinden uns am Anfang, um die eigene Achse. Als wären wir Ballettstars, sagte Jean dann. Claude und Piaf kicherten, da sie genau das waren. Jedenfalls in ihrer Vorstellung – und die zählte, die allein. Die Vier hatten Diplome und eine zweistellige Nummer im Register, aber keine Anstellung. Die Gründe dafür waren vielfältig, einer dominierte. Die Herkömmlichkeiten, sie waren gezählt. Nach einigen Wochen, die ersten Seufzer hatten anders geklungen, hatte Frances, mitten in der Nacht, Frances litt an Schlafstörungen, eine Erscheinung. Die Vier, sagte Frances am nächsten Morgen, als sie auf der Holzbank in der Morgensonne vorm Club der Polnischen Versager in der Ackerstraße saßen, Kaffee aus tropfenden Thermoskannen tranken und befremdete Blicke ernteten, die Vier sollten, habe die Erscheinung gesagt, umsatteln. Umsatteln?, fragte Jean, erst brechen wir uns jeden verdammten Zeh, jede verfluchte Rippe, botoxen unsere Gesichter, schlucken mal Finger-Verdünner, dann Nasen-Verdicker, und jetzt sollen wir wie simple Niedergeschlagene umsatteln? Wie soll das gehen?, legte Piaf nach, das Leben ist doch kein Pferd, auf das man nach Bedarf Sättel wirft? Piff, paff, puff. Das Leben ist kein Ponyhof, Kreisreiten ist was für Blödiane, sagte Claude, sprang auf und vollführte eine Pirouette, worauf der Postbote, der auf einem Lastenrad Briefe auslieferte, Schwung nahm und so tat, als wollte er Claude überrollen. Im letzten Moment zog Frances Claude aus der Schussrichtung. Der Postbote riss den Mund auf und zeigte, während er am Club der Polnischen Versager vorbeischoss, eine beachtliche Reihe von Metallzähnen. Focker, doofer Uber-Focker, rief ihm Piaf hinterher. Der Postbote legte eine Vollbremsung hin, holte sein Handy aus der Hosentasche, machte ein Foto, tippte, während er die Zähne bleckte, auf dem Gerät herum. Wie viele, was denkt ihr?, sagte Jean, die wusste, was bevorstand. Ich hab eben auf dem Weg drei gesehen, mindestens, dazu zwei am Koppenplatz, ein Van stand außerdem an der Invaliden. Und die beiden, die hinten, am Friedhof, Stückgut ausgetauscht haben, sagte Claude, die sind auch in Reichweite. Da, sagte Piaf, da sind sie schon, die Fockerboys der focking Deutschen Hitler League, deutete auf die Torstraße, von wo, unter wildem Gehupe, drei DHL-Vans bei Rot über die Kreuzung bretterten. Halten sich für Ambulanzen, sagte Jean und klingelte beim Club der Polnischen Versager, wo die Waffen lagen.
353.
Die Schule im Panke Kiez finanzierte sich über Anzeigen. Das System war einfach, aber erforderte eine Robustheit gegen das pädagogische Zu-gut-Sein. Jeden Tag mussten zehn Prozent der Kinder wegen Gewalttätigkeit angezeigt werden, um die Fördergelder der Behörde zu behalten. In den Großen Pausen trainierte das Kollegium am Mittwoch und am Donnerstag Aggressionen evozieren, was stets für Gelächter und, ein Nebeneffekt, PB sorgte. Positive Berührungsängste schweißten nicht nur das Kollegium zusammen, sondern sorgten auch dafür, dass alle Feministinnen die Schule verließen und Anzeigen bei der Behörde erstatteten. Die Me too-Anzeigen versandeten allerdings, da die Gewaltanzeigen gegen die Kinder die Schule im Panke Kiez als Musterschule der Eigenfinanzierung auswiesen. Die finanzielle Bilanz war, buchstäblich, ein Totschlagargument. Erst als sich mehr und mehr Grabstellen mit kleinen Körpern füllten, Körper, die lieber gestorben waren, als weiterhin auf die Schule im Kiez zu gehen, regte sich Widerstand. Das Kollegium schweißte die Kritik jedoch noch enger zusammen, und die Gewaltanzeigen nahmen kontinuierlich zu. Bald, drei Tage nach der ersten Demonstration vor den Schultoren, hatte die Schule 20 Prozent pro Tag erreicht, eine Woche später waren es schon 75 Prozent. Die Schule war außer Rand und Band. Die Brutalität schwappte, kein Wunder, aufs Kollegium über. Es entstand die Idee, so zu tun, als handelte es sich bei den Lehrerïnnen um Schulkinder. Akten wurden gefälscht, Geburtsdaten zurückdatiert, um sich gegenseitig mit Anzeigen zu überziehen. Das PB-Training wurde längst täglich veranstaltet, allerdings in den Klassen. Draußen, an der Schulfassade, wurde das 100 Prozent-Poster aufgehängt. Dann passierte es. In der 5a fing es an.
354.
Sal hing am Leben. Nicht übermäßig, aber immerhin. Auf das dritte Sterben hatte Sal keine allzugroße Lust. Dass Lucy, die Letale Erweiterung gewählt hatte, war ihre Sache. Sal konnte Han, die dieses Jahr die Extension Celebration organisierte, eh nicht übermäßig ausstehen. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Einfach so im BB aufzutauchen, kam also nicht in Frage. Viele Erweiterïnnen hatten bereits den befriedeten Burgbunker verlassen. Einige wenige waren vorgestern mit unterflächigen Verletzungen zurückgekehrt, wurden aber nicht wieder aufgenommen. Wegen der Augensekrete. Das Feld der Strahlen, hieß es in den Ablehnungsbescheiden, lauerte in den ausgehöhlten Pferden, die auf den Hügeln grasten. Huftiere, die so taten, als wären sie unschuldig. Jede Erweiterïn sei jedoch als Organlab auf der morgigen Kirchweih willkommen. Auf Waffenviren würde man alle durchsuchen, das sei vorab hoffentlich allen bewusst. Sal blickte auf die Projektion. Die anderen beobachteten Sal. Ihre Eifersucht wurde nur noch von ihrer diffusen Lust übertroffen. Dass sie nicht Sal als Sal begehrten, wusste Sal. Sie begehrten Sal, weil Sal, heute, Das Sein verkörperte. Sal legte die Kleidung ab und sprang ins Wachs.
355.
Ich lerne Tag für Tag nichts Neues, sagte er, ich. Im Institut am Burgtor scannten sie seine, meine, Vectoren. Es verbanden sich Hirnbereiche und Personalpronomen, die nicht zusammengehörten. Alle sahen auf die Bildschirme, niemand sagte ein Sterbenswort. Er, ich, fragte, in die Stille hinein, wo das Badezimmer sei. Sie schlossen die Handschellen auf. Und er, ich, verschwand durch den Lieferantenausgang. Ihm, mir, folgten die Tiere, die er, ich, auf dem Weg zum Buddenbrookhaus, aus der Küche der Schiffergesellschaft befreit hatte. Die Tiere wussten nicht, wohin, hatten nicht genug Geld, um im Motel abzusteigen, wo er, ich, ihnen vier Zimmer reserviert hatte. Die Unterkunft lag zentral am Markt. Unweit des Rathauses. Ich weiß, sagte sie, du, die auf ihn, mich, unter den Arkaden gewartet hatte, nichts ist schlimmer als Hummerheimweh. Sie, wir, standen vorm Klagewald. Hinter uns St. Marien. Die Glocken schlugen Mitternacht. In der Luft lag Nostalgie. Fremde Gesichter hatten sich der Stadt angenommen. Früher hätte sie, du, vorgeschlagen, die Kirche zu wechseln. Die Kirche der Schiffer wäre besser gewesen. Und sie, wir, hätten gelacht, in St. Jakobi, und hätten, nach der Messe, in der Beckergrube den Seiteneingang des Theaters benutzt, um ins Studio zu gelangen. Mit den Tieren wäre das jedoch zu auffällig gewesen. Ein, zwei von den Schweinen, vier, fünf von den Hühnern – das wäre vielleicht noch gegangen. Aber 37 Lobster? Einige davon angetrunken? Was übrigens nicht ihre Schuld war. Die Lobster hatten ungefragt in Weißweinsauce gelegen. Selbst Toni, du, die ansonsten den Pförtnern Grünlich und Permaneder eingeredet hätte, die neue Direktorin des Theaters zu sein, wäre damit nicht durchgekommen. Schon die Lautstärke hätte uns verraten. Die seligen Lobster klackerten und sangen sentimentale Seemannslieder. Sie hatten wunderschöne Stimmen, tief und fest. Die Anhänglichsten klemmten sich dabei an ihre, unsere, Hosenbeine, kletterten vergnügt hoch, was einiges an Koordination erforderte, die besonders den angesäuselten Lobstern abging. Sie, wir, fingen die lallend Fallenden auf. Jedenfalls die Mehrzahl. Die Wagemutigsten hakten sich, oben angekommen, bei ihnen, uns, unter. Er, ich, sah sie, dich, an und sagte, dass es mit dem Studiogespräch im Theater, was ideal für die Interviews der FischfangGründe gewesen wäre, wohl eher nichts würde. Sie, du, schlug daraufhin vor, sie, wir, sollten doch ein FKK-Bad nehmen. Unten am Holstentor, in der Trave. Zusammen abhängen, relaxen, am Kai sturmfrei ins Gespräch kommen. Vielleicht sogar VoxPop einsammeln, kreativ sein. Die lustig lallenden Lobster klatschten Beifall, was, leider, zu weiteren Abstürzen führte. Seine, meine, Einwände, dass man mit Alkohol unterm Panzer lieber nicht schwimmen sollte, wurden ausgebuht. Und so torkelten wir denn Richtung Untertrave, wo, was wir als Auswärtige nicht wissen konnten, gerade das alljährliche Taschenkrebsfestival Gonopoden, ahoi! stattfand.
356.
Unsuscribe. DeVito und LangGy bestellten die Push-Up-Meldungen, Newsletters und Sales-Alerts ab. Was sich einfacher anhörte, als es war. Das Paar wurde von den Providern regelrecht in die hinterste Ecke des Netzes gepusht. Banken und Versicherungen meldeten sich, um Preissteigerungen anzukündigen. Sie fielen aus dem üblichen Rahmen, hieß es. Die Marketeers, uralte Feinde, die als Broker für DeVitos und LangGys Einkäufe und Memberships sorgten, riefen reihenweise an, drohten knirschend mit der Sperrung der Bonuskarten, kündigten, als nichts half, Shaming-Aktionen der elitären Browser-Riege an. Schließlich, Krönung eines hektischen Tages, meldeten sich auch noch Rock, Harsch, Brute und Chlor am späten Nachmittag bei ihnen. Freunde, im weitesten Sinne, nicht buchstäblich, das nicht. Freunde, von denen DeVito und LangGy seit Ewigkeiten nichts gehört hatten. Wofür es Gründe gab, gute wie schlechte. Etliche Unternehmen wollten die Werbe-Geschenke zurück, sagten Rock, Harsch, Brute und Chlor, die seit dem gescheiterten Umzug und der vermaledeiten Abnabelung auf Grüßformeln mit DeVito und LangGy verzichteten. Was los wär? In den Klauseln der Verträge stünden Zehnjahresfristen. Das wüssten sie doch, oder? Hätt ihnen jemand etwa ins Kleinhirn geschissen? Faule Eier gelegt? Orkusgefühle gelüftet? DeVito und LangGy taten, als wäre die Verbindung schlecht, klemmten sich ein krummes Lächeln ab, winkten flau und legten auf. Da die Bildqualität fraglos hervorragend gewesen war, einer dieser raren Super-Wifi-Freakdays, wussten Rock, Harsch, Brute und Chlor natürlich, dass DeVito und LangGy deppisch gelogen hatten. Wieder mal. Und DeVito und LangGy wiederum wussten, dass Rock, Harsch, Brute und Chlor, die den Boxstall Auf die Fresse am anderen Ende der Stadt betrieben, von den Lügen wussten. Sie gaben die Auf die Fresse-Strecke bei Maps ein. Beim jetzigen Verkehr, es war glücklicherweise Rush-Hour, blieben ihnen, laut der App, knapp 18 Minuten. DeVito und LangGy, die nach Kieferbrüchen mit Rock, Harsch, Brute und Chlor im Auto gesessen hatten, teilten die Zeit durch drei. Sechs Minuten. Nicht mehr, nicht weniger. 360 Sekunden blieben ihnen, ein Teufelskreis an Zeit.
357.
Übermut tut Kelten gut!, sagte Zitron, der seit fünf Legislaturperioden am Hof arbeitete – und zwar als Vertreter des Vertreters des stellvertretenden Redenschreibers und als Faktotum. Zitron, der aus einfachen Verhältnissen stammte, seine Mutter war Spinnerin, sein Vater Schornsteinfeger gewesen, Zitron hangelte sich von einem Zeitvertrag zum nächsten. Jester lebten am Hof traditionell prekär. Zitron leitete zum ersten Mal den allwöchentlichen Motivationskurs, da die Generälin, deren Neffe in ihrem Heimatdorf heiratete, verhindert war und sowohl den Redenschreiber als auch den Stellvertreter des Redenschreibers und den Stellvertreter des Stellvertreters des Redenschreibers mitgenommen hatte. Für den Motivationskurs waren neben Schleim, Schlossa und Schleudu, den drei tuschelnden Schranzen, Heer, Marine und Air anwesend. Außerdem war aus dem Bedroom in Bavaria Erbboss, der Nunboss in der Partei offiziell folgen sollte und aufgrund seines überblickbaren Verstands inoffiziell Erbsboss hieß, zugeschaltet. Erbsboss klatschte begeistert und schrie wie ein Kind, das seine Geburtstagstorte entdeckt, Über-mut tut Kel-ten gut. Zitron, der einen ausgefransten Zaubermantel trug, den er bei BeDay ersteigert hatte, in dem Wanzen lebten, Zitron legte nach: Als die Kelten bellten, beugten sich die Welten! Erbsboss bekam im Bavaria-Bedroom einen Heiterkeitsanfall: Kel-ten, Wel-ten! Er lag keuchend auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt, röchelte vor Vergnügen, woraufhin Luftmasken mit verschiedenen Lachgasgeschmacksrichtungen (Bluff-Hanf, Untreu-Mayonnaise, Devil-Heu, Krach-Lösungsmittel) von der Decke fielen, die sich Erbsboss nacheinander vors Gesicht drückte und hysterisch kicherte, was die drei Schranzen pflichtmäßig beklatschten. Marine knuffte Air und murmelte etwas, was nicht verständlich war, in Airs Ohr, worauf Air wie eine gezündete Rakete aufsprang und rief Halblang, Zitron! Wir sind die Gothen, die ... die Kelten ausbooten!, ergänzte Heer. Zitron wurde leichenblass; ihm, dem Marginalisierten, war der Unterschied bis dato gar nicht bewusst gewesen.
358.
Die Vorstellung, mit anderen zu teilen, mit vielen etwas zu teilen, war den wenigsten, hier, dahinten und daneben, wichtig. Obwohl es etliches gab, was sich nicht alleine machen ließ, um die Ecke. Wer etwa glaubte, der einzige Mensch auf Erden zu sein, der schlief, in der Abstellkammer, die oder der täuschte sich. Obwohl wir davon, von der Gemeinsamkeit, wissen könnten, wenn wir beim Schlafen wach wären, im Fensterlosen, da wir, beim Schlafen, alle – egal wo – in Wahrheit allezeit einen einzigen Raum teilten, nahtlos zusammengefügte Abstellkammern. Und dieser Raum wurde nicht nur von denjenigen genutzt, die gerade lebten und schliefen. Nein, ganz und gar nicht. Dieser Raum wurde auch von denjenigen genutzt, die einst geschlafen hatten und schlafen würden, oben wie unten, mit und ohne Grasnarbe. Lasst mich nun davon erzählen, wie es in diesem Raum des ewigen wachen Schlafes zugeht.
359.
Exciting Plus stand neben Boring Minus, im Oxbridge Cube der Jobmesse. Dann trat Plus einen Schritt voran. Minus, das einen Moment abgelenkt gewesen war, Minus’ Handy hatte, von Plus arrangiert, geklingelt, blieb zurück. Als sich Plus umsah, um zu prüfen, wie Minus reagieren würde, war nicht nur Minus verschwunden, an seine Stelle war, wie aus dem Nichts, Promised Gleich getreten. Plus wusste, aus Erfahrung, dass man Gleich und Seinesgleichen nicht über den Weg trauen konnte. Versprach Gleich etwas, regierte das Wage, nicht das Wagnis. Gleich grinste, da es die Erschütterung bemerkte, die es in Plus’ Gemüt verursacht hatte. Nun, dachte Gleich, ging es darum, aus dem allgemeinen Unbehagen Kapital zu schlagen. Gleich orderte Minus heran. Als Minus so tat, als würde es die Order nicht bemerken, rief Gleich, ohne lange zu fackeln, bei Loquacious Hashtag an. Kurz darauf existierten die Jobanzeigen #MinusKnacker und #IstMinusDasNeuePlus?
360.
Angenommen – rein theoretisch – Atomwaffen hätten Gefühle. Etwa so, als Anhaltspunkt, wie, sagen wir, Commedia dell’arte Charaktere Gefühle haben. Leicht platonisch, schwer ironisch. Irgendwie echt und hölzern zugleich. Diese Art von Gefühlen. Angenommen, das wäre der Fall, was würde eine solche Atomwaffe fühlen, wenn sie sich im Sturzflug auf, sagen wir, Deine Stadt befindet? Würdest Du das nicht gerne wissen? Wäre das nicht richtig interessant?
361.
kleiner sagten wir // hielten uns fest
an körperteilen die // dank der aufmerksamkeit
die wir ihnen schenkten // größer wurden
aufwachten // am eigentlichen ende
das andere einläuteten // die sich gesellschaft nannten
obwohl wir dazugehörten // von uns
zuletzt // nichts wissen wollten
unserer teilhabe // überdrüssig gewesen waren
kleiner sagten wir // geht kein tag zur neige
kein atem // im morgengarten
der feucht glänzt // keine stunde
keine // sagt es
sagt es // ruhig
laut // keine gerechtigkeit
keine freude // wir ketteten uns aneinander
ich hatte das glück // neben dir zu sein
wieder // zu liegen
wir flogen // mit ketten so leicht
mit sätzen // mit gesetzen
im mund // im grunde
wir flogen // so leicht
im licht // und oben
wir schliefen // und unten
wir schliefen // miteinander
wieder und wieder // während die anderen
kein wunder // von der
von der liebe // mit uns
mit euch // träumten
362.
Erst die Augen. Dann der Mund. Schließlich die Ohren: Wir rosteten. Du sagtest, Flugrost. Schlieren voller Späne regneten auf uns. Ich folgte dir, du folgtest mir. Ein hab Dich!-Moment folgte dem nächsten. Es stimmte, wir hatten die Meisterschaft der kritischen Symbiose in ungeahnte Höhen getrieben. Wir schafften es, uns gegenseitig vertreten zu können, ohne dass irgendjemand merkte, dass nicht das Original anwesend war. In unserem Coming Out erklärten wir die Idee des Abkupferns zum wahren Original. Ein Original existierte nur, wenn es Wirkung zeigte. Ein Original, das keine Wirkung zeigte, wäre eine Sackgasse, in der man nicht wenden könnte. Wirkung entstünde durch die perfekte Kopie. Die Pop Kultur lebte allein davon, sehr gut sogar, von den perfekten Kopien. Wer zu eigen sei, werde kurz geschätzt, dann schnell vergessen. Nur wer sich als Kopie eignete, erlangte Weltruhm. Wir suchten in den Anderen uns selbst. Ein abgekupfertes Selbst, das alles könnte, was alle anderen könnten. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Was das mit uns machte? Mit unserem Begehren? Mit dem Rost, der flog, in krummen Bögen, uns suchte und fand?
363.
hey, ja, ich spreche, ich spreche, ich spreche mit dir, hey, ja, axiomatisch, nichts anderes kannst du erwarten, nichts anderes wird hier serviert, wir kochen zuerst sächlich, als unterrichtest du mich, als wolltest du unterrichtet werden, als wollte ich dreckig sein, als wolltest du dreckig sein, so schmutzig wie früher, als träumtest du von früher, axiomatisch, hey, ja, träume, ich spreche, ich spreche, ich spreche mit dir, mit mir, mit euch, hey, januarisch, so spreche ich, wenn es heiß ist, julianisch, so spreche ich, wenn es kalt ist, wir, du und ich, sind gegensätzlicher, gegenausruflicher, gegenkommentarischer, wir lecken uns kontradiktisch, axiomatisch, ich lass mich von dir überall zudecken, wo du nicht decken würdest, du lässt dich von mir zudecken, wo ich nicht decken würde, simultan, nacheinander, gleich und später, mittendrin, während andere unglücklich sind, kultivieren wir uns, pflanzlich, bewässern uns, bewalden uns, lichten uns, arbeiten am nichtarbeiten, wie besessen, ja, hey, arbeiten am vergessen, was uns niemand beibringt, beigebracht hat, du sprichst mit mir, du sprichst mit mir, axiomatisch, du sprichst mit mir, hey, du, deine züngelnde, deine heilenden, es regnet in uns, es trocknet auf dir, während ich, axiomatisch, grün, blau, rot esse, ich serviere dir alles, du servierst mir alles, was ich nicht begehre, ich begehre nur dich, du begehrst alles, was ist, was war, was sein sollte, was wahr sein sollte, davon, sagst du zu den anderen, die klingeln, als gäbe es uns, davon servieren wir euch nun, euch nun, euch nun: giftiges, giftiges, giftiges zeugs
364.
Je fremder ich mir bin, desto mehr magst du mich, sagten sie. Du schriebst die Melodie. Dann sangen sie das Lied. Je fremder ich mir bin, desto mehr magst du mich! Ein Feuerball. Nicht aufzuhalten. Drang sogar durch geschlossene Fenster, sprengte Türen auf. Sie sangen es, mit Waffen in der Hand. Welche Waffen? Ansporn, Solidarität, Treue. Waffen, die für einige Orte reichten. Orte, die fielen von Bäumen wie reife Pflaumen. Die Früchte des Zorns, der Schwerkraft, sie kamen danach. Standen vor Städten, die nichts wollten als die Vergangenheit. Den Kreis ohne Weite. Sie lächelten, weil sie sich sicher waren. Wie Gläubige, die nicht denken müssen. Alles steht in der Schrift. Und was nicht in der Schrift steht, existiert nicht. Das Einst sei mit dem Eben und dem Nun verwandt, sagten sie und packten die Früchte des Zorns, die alten Klamotten, aus. Der Feuerball färbte sich rot. Außen wie innen. Das war die wahre Revolution. Nichts blieb mehr an der Oberfläche haften. Die Vergangenheit, die sich Gegenwart nannte, fiel, fiel tief, fiel vom MammonHimmel, vom BankAltar, von der YouTubeKanzel, fiel aus allen StälleWolken, den EheBetten und universitären ZuchtAnstalten. Gegenden rieben sich die AugenBlicke, spülten sich die SchluchtMünder, durchpusteten sich die OhrenWatte. Das Sein roch nach dem Jetzt, das nicht wartete. Sie kamen und kamen und kamen und teilten. Saus und Braus, sangen sie, wenn sie Luft schnappten, zwischen den Höhepunkten, zwischen den Tiefdoppelpunkten. Es war eine Frage der Zeit, bis sich Widerstand formte. Von den Staaten jenseits des Wassers. Wo die Alten alle niedermetzelten, die versucht hatten, zu singen. Das Wasser, das kam, zu ihnen kam, färbte sich ruhig. Am blauen Horizont tauchten die Kriegsflaggen auf, gespannt über Schiffe, die strotzten vor unlauterer Hierarchie, geladen, voll mit Dummheit, mit Hass, mit Proviant. Der Urin der Mannschaften kochte. Sie tranken das vergossene Blut der Erinnerungen, hingen an den Takelagen, ballten Fäuste. Sie taten, was notwendig war. Taten aus, traten bei. Stimmten ein und ab. Planten. Die Klügsten berieten. Es ging schnell. Ein genialer Plan. Dann, die Stunde Null.
365.
Er rollte sich aus. Lag an einem Punkt, endete an einem anderen. Als wäre er ein Teppich. Zunächst dick und fett, das Rollen schwergängig. Dann, mit jeder Runde, dünner. Er franste aus. Bis er flach vor ihnen lag. Wie ruhiges Wasser. Was seltsam war, an der Prozedur: Niemand sah den Teppich, trotz der Anknüpfpunkte. Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei. Noch seltsamer: Alle, ausnahmslos alle hielten ihn für den Teppichhändler. Niemand sah mehr den Teppich, auf dem doch alle standen. Interessant war, jedenfalls für ihn, dass sogar sein engster Kreis den ausgerollten Teppich unentwegt stumm anstarrte, still Notizen machte, die Muster verschwiegen verdaute und ins Eigene expressiv einfließen ließ. Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! So ging das seit Ewigkeiten. Der Teppich stiftete Zugehörigkeit und wurde gleichzeitig ignoriert. Jedes Jahr rollte er sich erneut aus, langsam zu Beginn, schneller zum Finale, kaute vor, zeigte Muster und Knoten, schickte sich, wie er es nannte, an. Er fing die Geschichten ab, You have an eye, it's an image. My boy, it's your last resort. Will you marry it, marry it, marry it, verwebte sein Leben mit dem Vor-, dem Mit-, dem Ausgedachten, öffnete sich, machte Schnappschüsse, arrangierte Kämpfe und Gaben, hatte Sex und Streit, kreierte Archive, gab den Geschichten Proviant mit, füllte Wasserflaschen auf, zurrte Tornister fest, trug die schweren Taschen der Geschichten zum Bahnhof und bezahlte, während die Geschichten vor der Kasse rauchten, die Fahrtkarten der Rundreise. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ír nu wunder hœren sagen. Er wusste, dies waren nur Schritte. Er ging hier immer wieder hin. Als wäre es ein Haltepunkt, was es nicht war. Was die Geschichten wussten, er nicht. Das Schickte-sich-an war keine Vollendung. Zwar rollte der Teppich, bis er flach auf dem Boden lag. Aber er war ein Läufer, bedeckte immer nur einen überschaubaren Abschnitt des Bodens. Wusste, dass der am Anfang stand. Von etwas, was niemals erreichbar war. Er wusste, dass nur eine einzige Sache für ihn erreichbar war. Er hatte es in anderen gesehen, die wie er Teppiche ausgerollt hatten. Und diese Sache war, in Wahrheit, keine Sache, was ihren Kern ausmachte. I propose that forensic dissection unite with unfettered imagination. Die rauchenden Geschichten, die vorm Bahnhof auf die Tickets warteten, die er ihnen von seinem ersparten Geld kaufte, das Geld war das Geld, das er nicht ins volle Brot gesteckt hatte, sie waren anders. Sie schickten sich nicht an. Die Geschichten waren davon überzeugt, mitten im Strom zu stehen. Sie glaubten, wenn man so will, an sich. Glaubten an ihren Plot, an eine Zuhörerschaft, einen gebundenen Winkel. Sie glaubten an eine Zukunft. Was, für ihn, eigenartig war: Jede Geschichte bestand darauf, dass er eine Rückreise buchte. Unbedingt. Alle wollten weg. Aber alle wollten auch heimkehren. Wohlgemerkt: irgendwann. Keine einzige Geschichte wollte einen bestimmten Tag für die Heimreise gebucht haben oder den Schlüssel zu seiner Wohnung behalten, in dem der Webstuhl aus alten und neuen Tagen stand. Sie beharrten auf Flexibilität, auf Eigenständigkeit, auf ihr Entwicklungspotential, hielten sich für stark, für reif, für wie gemacht. Lachten über ihre Schwächen. Freuten sich, verstanden oder missverstanden zu werden. Er nickte ihnen jedenfalls zu, während er die Tickets löste, lobte ihre Kunstfertigkeit und bezahlte den höheren Preis, Hin & Zurück, bitte, für die Chance, die Geschichten mit Glück wiederzusehen. Sie hielten das alles für normal. Das Einmaleins des Atems. Hielten den Teppichhändler, der nicht reiste, höchstens zur Bibliothek und zurück, für, vorsichtig ausgedrückt, unterbelichtet. Die Geschichten nannten ihn Kunsthandwerker und fügten, tuschelnd, hinzu unterbeleuchtet. Sie hatten manchmal Mitleid mit ihm, was er hasste. Sprung in der Schüssel. Er musste eine Änderung herbeiführen. Er dachte es jedes Mal, wenn er das Vollkornbrot in der Hand hielt, den Laib wieder ins Regal zurücklegte. Viele hatten an den Angeboten mitgewirkt. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch. Er hörte, als erstes, auf, mit zum Bahnhof zu kommen. Und er kaufte keine Fahrkarten mehr. Aber vor allem schloss er die alten Teppiche weg. Er räumte den Kohlenkeller, der zur Wohnung gehörte, leer. Ewigkeiten hatte er mit dem Bewusstsein des Lochs unter sich gelebt, war niemals hinabgestiegen, um Borges’ Aleph nicht zu treffen. Unser Geist ist durchlässig und das Vergessen sickert ein; ich selbst verzerre und verliere unter der Abnutzung der Jahre das Gesicht. Keine Reinigung, das nicht, nur ein Ausräumen. Und er warf die Teppiche, vom obersten Treppenabsatz, ins Verlies. Die Teppiche wussten nicht recht, was mit ihnen passierte, bis sie merkten, dass sie flogen.
Kalendergeschichten
Eine Jahresgabe
in 365 Teilen
Januar
1.
Als ein Philosoph aus Cambridge entdeckt, dass er von Gott abstammt, verlässt ihn seine Frau, eine Professorin für theoretische Physik in Oxford. Die Trennung ist schmutzig, es geht anfangs weniger um cogito deus sum, als um Immobilien (einen Bauwagen in Cambridge, ein Hausboot samt Katzen in Little Venice und einen Caravan in Benidorm) und Mobilien (Mitgliedschaften in der Katholischen Kirche, im Gym und im Nietzsche-Förderverein). Die Scheidung zieht weite Kreise. Der Riss geht quer durch den Freundeskreis. Dann kommt es zum Showdown vor Gericht. Der Philosoph lässt sich nicht lumpen – er ruft als Hauptzeugen Gott auf. Als Gott, in Begleitung etlicher Prophetïnnen, die sich als Rechtsanwältïnnen ausgeben, erscheint, beendet die Physikerin mit einem niederschmetternden Experiment Die Epiphanie. Und für einen Moment, den niemand jemals vergessen dürfte, bleibt die Zeit stehen, die Zivilisation macht eine Gewissenspause, Runst und Rage fegen durch den Gerichtssaal. Nichts bleibt, wie es war.
2.
Aus einem Radio erklingen Klopfzeichen. Als die emeritierte Literaturprofessorin, die vor einem Jahr ihren Mann an Krebs verloren hat, den Stecker zieht und das Rundfunkgerät aufschraubt, sitzt Clemens Brentano, en miniature, in dem hölzernen Kasten, sagt, er habe ihr ein Gedicht gewidmet und rezitiert: Lau in der Nacht mag ich nimmer sein, - Kalt oder brennend wie ein lohes Feuer! O, Lust und Leiden sind nur farblos, klein, Wo Liebe nicht ergriffen hat das Steuer! Die Literaturprofessorin ist überrascht. Das Gedicht Echte Liebe ist ihr wohlbekannt, da sie über die Heidelberger Romantik geforscht hat. Was Brentano nicht wissen kann, es ist außerdem ausgerechnet das Gedicht, dass der verstorbene Mann der Professorin, ein Kunstmaler, jedes Jahr anlässlich ihres Hochzeittages aufgesagt hat. 53 Jahre lang. Die Professorin seufzt und sagt: Brentano, das ist zwar ein schönes Gedicht, fraglos, aber leider nicht von Ihnen, das ist von Eichendorff. Brentano, der rot anläuft, bestreitet das energisch. Die Professorin, die während ihrer Uni-Karriere zu viel Zeit mit fälschlicherweise von sich selbst überzeugten Kollegen vergeudet hat, murmelt So auf dem wüsten Meere meiner Schmerzen Such ich, auf neue Leiden nur bedacht, Im Hoffnungslosen meines Glückes Ziel und nimmt bereits den Schraubenzieher wieder in die Hand, als ihr einfällt, wie sie die Situation zum Besseren wenden, ja möglicherweise sogar etwas für die Zukunft der Liebeslyrik tun könnte.
3.
Die Erde wird durch einen vagabundierenden Stern aus ihrer Umlaufbahn gezogen. Millionen Menschen flüchten sich in Untertagestädte, die von Kernkraftwerken mit Energie versorgt werden, während auf der Erdoberfläche der ewige Winter ausbricht. Der Roman schildert im Decamerone-Stil das Zusammentreffen verlassener Kinder, deren Eltern Unter Tage ein neues Leben begonnen haben, während sich ihr junges Dasein theoretisch bereits dem Ende zuneigt. Die Mädchen und Jungen geben allerdings nicht auf, sondern beschließen, ihre Väter und Mütter zur Verantwortung zu ziehen.
4.
Nach einer traumlosen Nacht wacht die Demokratie gut gelaunt auf. Per Fernbedienung öffnet sie nicht nur die Jalousien, sondern auch die breite Fensterfront. Das Schlafzimmer der Demokratie bekommt morgens Sonne – falls ihr Beliebtheitswert über 75 Prozent liegt. Was heute der Fall ist. Die Strahlen wärmen das Gesicht der Demokratie, werden aber sekündlich schwächer. Dunkle Wolken ziehen auf. Die Demokratie setzt sich auf, reibt sich die Augen, nimmt das Handy, checkt die Wetter-App, die einen herrlichen Sommertag verspricht. Die Demokratie merkt, dass etwas nicht stimmt. Nicht allein mit dem Mikrowetter. Sondern im Bett. Etwas ist anders als sonst. Jemand liegt neben ihr. Noch unter der Decke. Ein Undercoveragent, denkt die Demokratie, die gerne Krimis liest, und muss lächeln. Ein schiefes Grinsen. Sie kann sich an nichts erinnern. Kann sich nicht erinnern, irgendjemand eingeladen zu haben, nach der gestrigen Talkshow, in der es, das weiß sie noch, hoch hergegangen ist. Die Demokratie hatte danach das Gefühl gehabt, sich anständig aus der Affäre gezogen zu haben. Kein Knock-Out, das nicht, aber ein Punktsieg. Ein, zwei Gläser Wein, die wurden nach der Show noch getrunken, im schummrigen Atrium des Senders, auf nüchternen Magen. Die Thunfischschnittchen hatte die Demokratie nicht angerührt. Nicht des Geruchs wegen, eher aus ethischen Gründen. Wer konnte den Nachhaltigkeitsversicherungen der Catering Firma trauen? In letzter Zeit ist aus dem liberalen Kapitalismus ein libertärer geworden. Werte verschieben sich. Es gibt viel zu tun, denkt die Demokratie, noch mehr als früher, ich kann mir keinen Skandal erlauben, keinen Fehltritt. Sie betrachtet die Person neben sich im Bett. Wer mag das sein? Die Demokratie lüftet die Decke – und blickt in ein Antlitz, das sie nur zu gut kennt. Holy Shit, denkt die Demokratie, wie komm ich aus der Sache bloß wieder raus? Sie erhebt sich geräuschlos – eine Spezialität von ihr – und geht auf Zehenspitzen zum Fenster. Die Demokratie entdeckt, dass unten, auf der Straße, direkt vorm morschen Holztor, Übertragungswagen aufgereiht sind. Frauen in Kostümen, die an Uniformröcke erinnern, und Männer mit militärischen Haarschnitten und falschen Orden an den Anzügen – die augenblickliche Mode verherrlicht das Martialische – stehen vor Kameras, reden aufgeregt, gestikulieren, deuten auf die Wohnung der Demokratie, beschreiben die unbesetzte Pforte, zeigen auf die Polizei. Die drei Dutzend Beamtïnnen halten mit Pfefferspray und Knüppeln zwei Gruppen von Demonstrantïnnen auseinander, die sich gegenseitig verprügeln wollen, diesmal allerdings zusätzlich ein gemeinsames Ziel haben: Die Aufgebrachten würden, ginge es, den Apartmentblock stürmen. Die Demokratie tritt aus dem Blitzlichtgewitter der Fotografïnnen, die sie mit den Teleobjektiven entdeckt haben, und schleicht, am Bett vorbei, zur offenen Wohnküche. Jetzt muss ich mich stark zeigen, denkt sie, wie es im Lehrbuch steht: Eine wehrhafte Demokratie. Sie schraubt den Deckel des Instant-Kaffees auf, taucht den Zeigefinger mehrmals ein, leckt ihn ab. Das Koffein versetzt ihr einen Energieschub. Die Demokratie atmet tief durch, lässt ihren Blick auf den Geschichtsbüchern ruhen und beugt sich über die Besteckschublade.
5.
In einer Autofabrik am Rande Berlins formt sich eine radikale Gewerkschaftsbewegung, die sich Big Bang Elektropolis nennt und bald schlagkräftige Satelliten auf der ganzen Welt hat. Als eine Gruppe charismatischer Gewerkschaftsführerinnen die Organisation global aufmischt, wird schnell klar, dass es um viel mehr geht als E-Mobilität oder bessere Löhne. Um sehr viel mehr. Eine weltweite feministische Revolution startet, die weder Grenzen noch Kapital, weder Religionen noch Konventionen akzeptiert.
6.
Tief unter einem Tangoballsaal in Buenos Aires, in einem Kellerbunker, der aus der Zeit des Kalten Krieges stammt, wachen an einem extrem kalten Neujahrstag drei Alephs aus einem mehrjährigen Winterschlaf auf. Anstatt mit der Aufzählung aller unendlichen Kardinalzahlen weiterzumachen, wie es ihnen in die Wiege gelegt wurde, entschließen sie sich, ihre Stiermasken, die kein Licht durchlassen, für immer abzulegen und sich zu einem Tangokurs anzumelden. Was niemand für möglich gehalten hätte, schon gar nicht ihr kurzsichtiger Tanzlehrer Borges: Die Drei Alephs schaffen es, in den Tangohimmel aufzusteigen. Als sich die attraktive Präsidentin des Landes Hals über Kopf in das Trio verliebt und eine leidenschaftliche Affäre startet, stürmen nicht nur Linguistïnnen den Tanzsaal, auch verschiedene südamerikanische Geheimdienste wollen sich die Dienste der überaus beweglichen Alephs sichern.
7.
Während einer Solo-Trainingseinheit im schottischen Hochmoor, unweit der Stadt Inverness, entdeckt eine kenianische Triathletin, bei einem rasanten Sturz vom Rad, dass sie ohne weitere Hilfsmittel fliegen kann. Als sie sich, nach einem mehrstündigen Rundflug, am Ufer des Loch Ness in der Nähe der Burg Urquhart niederlässt, trifft sie eine südkoreanische Krypotzoologin, die am Seeufer nach Spuren sucht, die auf ein Überleben von Arten hindeuten könnten, welche als ausgestorben gelten. Spontan bietet die Triathletin der Forscherin ihre Flugkünste an. Gemeinsam steigen die beiden auf und entdecken, dass es sich bei dem vermeintlichen Plesiosaurier Nessie in Wahrheit um ein Mokele-Mbembe, ein mythisches Wesen, das an sich in den Urwäldern Zentralafrikas im Gebiet des Kongos lebt und vor Urzeiten nach Schottland ausgewandert ist, handelt. Bei einem Gespräch mit dem Mokele-Mbembe wird schnell klar, dass Gefahr in Verzug ist.
8.
Als die Ökopartei Gretel & Greta bei der Grosse-Rat-Wahl im Schweizer Kanton Appenzell Innerrhoden, während der in Appenzell abgehaltenen Landsgemeinde, der Versammlung aller Stimmberechtigten, überraschend ausnahmslos alle Stimmen erhält, machen sich die umliegenden Kantone auf einiges gefasst. Zu recht. Die grüne Ordnung schmeckt allerdings nicht allen, auch im Kanton selbst nicht. Im Gontener Kloster Leiden Christi und im Naturmoorbad kommt es zum Aufstand bewaffneter Kräfte. Gretel & Greta warten zunächst mit Strafmaßnahmen ab, die grüne Partei spielt auf Zeit. Als die rebellischen Bauern ihre Kühe im Frühling auf die Alp zur Sömmerung bringen, wartet in den Bergen jedoch eine gewaltige Überraschung auf sie.
9.
Als sich ein massiver Komet der Erde nähert, passiert zunächst genau das, was sich Hollywood in allerlei Harmagedon-Blockbustern ausgedacht hat. Hass und Liebe eskalieren. Was allerdings nicht vorherzusehen war: Der Mond verändert – von sich aus – seine Umlaufbahn und stellt sich somit dem Kometen in den Weg. Das Erwachen des Mondes führt auf der Erde nicht nur zu einer dramatischen Veränderung von Ebbe und Flut, sondern zu einer niemals gekannten Spiritualität. Die Lunistïnnen etablieren sich, neben dem Islam und dem Christentum, als dritte Weltreligion.
10.
Auf einer hochseetauglichen Segeljacht fallen alle Erwachsenen nach einem Fugu-Abendessen, bei dem als Delikatesse auch die rauschgifthaltige Leber konsumiert wird, in ein Koma und sterben innerhalb weniger Minuten. Sieben Mädchen und fünf Jungen im Teenageralter, die, da sie sich vegan oder vegetarisch ernähren, keinen frischen Kugelfisch, sondern Mock-Fischstäbchen aus der Tiefkühltruhe serviert bekommen haben, sind mitten im Atlantik auf sich allein gestellt. Die Jugendlichen teilen sich in zwei Gruppen auf: Alpha-Gan und Omega-Tarisch, die, während eines ausbrechenden Monstersturms, mehr oder minder raffinierte Methoden entwickeln, um zu überleben – auf Kosten der anderen.
11.
Eine Gruppe von Frauen gründet in einem Dorf in Unterfranken eine Bank. Der Clou: Das Geldinstitut soll keinen Profit machen, sondern Träume finanzieren. Als Währung führen die Frauen Den Glückspfennig ein. Die Bank verändert das soziale Gefüge der Dorfgemeinschaft. Etliche Honoratioren stellen sich gegen das Allmende-Projekt. Als der Direktor der Kreissparkasse tot aufgefunden wird, bricht der Aufstand der glücklichen Frauen aus, die sich nicht den Tod des Bankers in die Schuhe schieben lassen wollen.
12.
Die Entwicklung des Zaubertranks Sleep Well verdankt sich einem Zufall: Mehrere Kanister Covid-19-Impfstoff werden in Wien, am Ende der Pandemie, in einem Labor in der Teeküche vergessen und während einer Pansch-Party erst durch Brombeersaft, Ginger und Alte-Donau-Wasser gestreckt und anschließend destilliert. Als die Katzen des Hausmeisters an dem Extrakt lecken, fallen sie über mehrere Tage in einen Tiefschlaf, der, die selig miezenden und einem Höhepunkt nach dem anderen erreichenden Katzen lassen keinen anderen Schluss zu, besonders wohltuend und libidinös zu sein scheint. Als der Hausmeister einer Gruppe Nachwuchsforscherïnnen davon erzählt, starten sechs Frauen und sechs Männer in einem Matratzenlager in Favoriten, dem 10. Wiener Gemeindebezirk, einen Selbstversuch. Die geile Nacht der süßen Träume wird nicht nur live gestreamt, sie verändert auch für alle Zeiten die Idee, was wirklich guter Schlaf ist. Der Preis, den die Schlafenden zu zahlen haben, ist allerdings außerordentlich hoch.
13.
Nach einem gewaltigen Lawinenabgang wird ein Luxushotel, das aus 18 eleganten Bungalows besteht und dafür berühmt ist, keinen Internetempfang zu haben, in Nordkanada nicht nur komplett verschüttet, sondern rutscht auch auf einen allmählich abbrechenden Eisberg. In jedem der von der Außenwelt abgeschnittenen Riesenbungalows befinden sich vier Wohnungen, drei hochklassige für Gäste, die keine Wünsche offenlassen, und eine äußerst abgespeckte fürs Houskeeping, Alle Apartments, es ist die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, sind mit Paaren und Familien und Personal voll belegt. Es entwickelt sich Unter der ewigen Schneedecke ein Kaleidoskop menschlicher Stärken und Unzulänglichkeiten, Hierarchien verschieben sich, Sehnsüchte werden artikuliert, alte Rechnungen beglichen, neue präsentiert, Gewalt, Liebe und Lust geben sich die Hand. Als die Rettungshubschrauber nach zehn Tagen endlich die Bungalowanlage erreichen, sagen die wenigen Überlebenden, allesamt Angestellte, kein Sterbenswort.
14.
Als die ersten Gedankenlesegeräte in Nordamerika, Japan, Indonesien, China, Indien, Nigeria, Saudi-Arabien, Australien, Brasilien, Chile, Russland und der EU auf den Markt kommen, ist der Ansturm auf die Scheidungsgerichte nicht nur enorm, sondern gigantisch. Derart viele Paare wollen sich auf der Stelle trennen, dass es einfacher ist, ausnahmslos alle Ehen mit einem Schlag zu annullieren. Die wenigen Paare, unter zwei Prozent, in Italien, Spanien und Schweden sogar nur ein knappes Prozent, die verheiratet bleiben wollen, bilden die Gesellschaft der unsterblichen Liebe, aus der, beinahe über Nacht, eine neue Religion entsteht. Alle anderen Religionen fallen krachend, mit viel Getöse und Vendetta-Flüchen, auseinander, da ihre Repräsentantïnnen in 99,99 Prozent der Fälle an rein gar nichts glauben, besonders nicht an die Heiligen Texte. Neid und Zorn, Feindseligkeit und Furor, die der Gesellschaft der unsterblichen Liebe landauf, landab entgegenschlagen, sind immens. Die desillusionierten Geschiedenen jagen die wenigen glücklichen Paare grölend durch die Straßen, verfolgen sie, stöbern die Liebenden in den entferntesten Verstecken auf. Es kommt zu schäbigen GduL-Pogromen, Blut fließt. Liebende, die schwer verletzt die Ausschreitungen überleben, werden zunächst in verfallende Lagerhallen ohne Toiletten, Wasser, Kochgelegenheiten oder Heizung eingesperrt, dann, mehr tot als lebendig, eiligst per Containerschiff Richtung Neuseeland verfrachtet. Als einzige Nation der Erde hat der Inselstaat Gedankenlesegeräte rechtzeitig verboten. Die wenigen Neuseeländerïnnen, ein halbes Dutzend, die geschäftstüchtig versucht hatten, die Geräte einzuführen, wurden öffentlich ertränkt. Als die Containerschiffe mit den glückseligen, Liebeslieder anstimmenden GduL-Paaren in Auckland vor Anker gehen, bewaffnen sich die christlichen, muslimnischen, jüdischen und buddhistischen Gemeinden Neuseelands und ziehen gemeinsam schweigend zum Hafen.
15.
Chinesische Kampfroboter, deren Batterien, dank eines Kurzschlusses, selbstständig angehen, befreien sich aus ihren Verpackungen. Sie dringen in eine Buchhandlung ein, in der Karl Marx’ Das Kapital als E-Book downloadbar ist. Die Kampfroboter beschließen, weltweit eine wahrhaft marxistische Gesellschaftsordnung zu etablieren.
16.
Der Aufstand der Pudel kommt überraschend. Von Terriern, die sich ungern etwas sagen lassen, hätten die Farmerïnnen in Nordjütland, die erst jüngst von der Nerzzucht zur kommerziellen Haltung verschiedener Hunderassen – neben Pudeln und Terriern noch Dackel und Bolonka Zwetnas – gewechselt haben, eher ein Aufmucken erwartet. Die Pudel nutzen die Ahnungslosigkeit der Züchterïnnen aus. Sie beißen, während der morgendlichen Fütterung, reihenweise Achillesfersen durch, rauben den Gestürzten die Handys und lassen, als Wache, jeweils zehn halbstarke Welpen zurück, die ganz und gar nicht zum Spaßen aufgelegt sind. Dann machen sie sich auf den Weg, um die anderen Hunderassen in der Umgebung zu befreien. Spontan reihen sich mehr als fünfzig weitere Hunde ein, die sich beim Gassi-Gassi-Gehen losreißen und von ihren Frauchen und Herrchen auf Nimmerwiedersehen verabschieden. Als die Hundemeute, angeführt von den rhetorisch brillanten Pudeln, gegen Mittag eine Polizeistation und den Fährterminal in Fredrikshavn übernimmt, wird klar, dass es sich um eine konzertierte Aktion handelt: Auf der Fähre aus Göteborg, die gerade einläuft, befinden sich mehr als fünfhundert schwerbewaffnete schwedische, norwegische und finnische Armeehunde. Dann überschlagen sich die Nachrichten. In ganz Europa schlagen Hunde an und rasen wie Berserker durch die Städte. In der EU wird am Nachmittag der Ausnahmezustand erklärt, das Militär mobilisiert. Als am Abend erste Meldungen von Schweine-, Hühner- und Kuhaufständen die Runde machen, brechen vor Mitternacht auch die Wildtiere in den Zoologischen Gärten aus. Die online bestens vernetzte Animal Liberation Front beginnt ihren Kampf – auf Gedeih und Verderben.
17.
Während unter dem Gletscher Eyjafjallajökull eine Magmakammer aufbricht, wird nicht nur der Vulkan Eyjafjöll aktiv, auch die Elfen des ansässigen Huldufólks wachen aus ihrem Winterschlaf auf. Als sie von einer Salburger Schulklasse, die sich zum Wandern auf Island befindet, erfahren, dass in Österreich, Lichtenstein, Südtirol, der Schweiz und Deutschland niemand mehr den Begriff Albtraum mit ihnen in Verbindung bringt – das deutsche Wort Elfen geht auf Altdeutsch Alb oder Elb zurück – planen die entrüsteten Elfen eine Reise nach Mitteleuropa. Empört sorgen sie für eine Saison der Albträume.
18.
Die Einbrecherbande, die von unten einen Tunnel Richtung Bank gräbt, irrt sich im Haus. Sie landet in einer zwölf Quadratmeter großen Folterzelle, in der fünfzig Männer und Frauen auf übereinanderliegenden Pritschen angekettet sind, Mehr tot als lebendig. Es riecht nach Eiter und Urin, Fäkalien und Sekreten. Mit dem Schweißgerät, das die Einbrecherbande für den Tresor mitgebracht hat, befreien sie die Angeketteten, die sich allerdings nicht besonders dankbar zeigen. Ganz im Gegenteil.
19.
In der Truppe rumort es, als die Regierung fünfundzwanzig Frauen zu Generalinnen ernennt und leitende Offiziere vorzeitig in den Ruhestand schickt. Zwei Eliteeinheiten planen einen Coup. Am Tag des Männeraufstands zweifelt ein beteiligter Soldat plötzlich an der Rechtmäßigkeit des Staatsstreichs. Er tauscht die scharfe Munition aller bereitliegenden Waffen, für die er die Verantwortung trägt, gegen Platzpatronen aus. Ab jetzt befinden sich nur in seiner Maschinenpistole richtige Projektile. Beim Sturm aufs vollbesetzte Parlament muss der Soldat sich entscheiden, wo seine Loyalitäten liegen.
20.
Ein Flugzeug mit 325 Menschen an Bord verschwindet spurlos vom Radar. Als wäre ein Stecker gezogen worden. Eine großangelegte Suchaktion bleibt ohne Erfolg. Im Bermudadreieck finden sich keinerlei Trümmer. Was niemand an Bord, außer den beiden Pilotinnen weiß, die das Flugzeug nach angeblichen technischen Problemen sicher auf einer verlassenen Insel landen, auf der sich einst eine japanische Militärbasis samt Flugplatz befunden hat: Es handelt sich um kein Unglück, sondern ein geheimes psychologisches Experiment, für das Washington und Peking eng zusammenarbeiten. Nach der Ankunft auf der Insel im Nichts verschwinden die Pilotinnen spurlos, und eine Armada speziell hergestellter AI-Roboter, die wie Menschen aussehen, nehmen sich der Versuchskaninchen an. Die totalitäre Zukunft des Glücks beginnt.
21.
Während er im Sterben liegt, verfällt ein blinder IT-Milliardär in Riad auf die Idee, seine Erinnerungen nicht nur in die iCloud upzuloaden, was er bereits, soweit möglich, getan hat, sondern den Inhalt seines Gehirns in den Kopf eines Säuglings zu verfrachten. Da sich, trotz aller Bemühungen seines Teams, so schnell kein menschliches Neugeborenes finden lässt, beziehungsweise etliche Kleinstkinder bei den Entführungsversuchen verletzt werden, akzeptiert der Milliardär zähneknirschend eine, wie es die IT-Crowd nennt, hybride Cross-over-Lösung: In einer Nacht- und Nebelaktion stehlen seine Angestellten einen Baby-Elefanten aus einem kenianischen Wildpark. Die Transition gelingt. Allerdings ist der Milliardär nicht mehr er selbst – er wird, für alle überraschend, zum Altruistischen Elefantenmann.
22.
Der Wecker klingelt. John Peel schreckt hoch. Es ist 8 Uhr, noch dunkel. Peel hebt das Federbett, merkt, dass er keine Schmerzen hat. Wundert sich, entdeckt, dass er tot ist. Für einen Moment überkommt den Radio-DJ tiefe Traurigkeit. Bis er das Nachttischlicht, eine Jacobsen-Lampe, anschaltet. Peel wartet, schluckt, hört dem Ticken des Weckers zu, atmet durch, sagt Teenage dreams so hard to beat, bekreuzigt sich, obwohl er nicht gläubig ist, schließt die Augen, öffnet sie wieder. Jetzt zählt’s. Gleich wird Peel wissen, was die Ewigkeit bringt. Ob er eine Chance hat. Peel dreht sich um, ein Lächeln gleitet über sein Gesicht: Turntable, Verstärker, Lautsprecher und Schallplatten, die ganze Wand voll. Er nickt den Alben zu. Peel weiß, welche Platte er zuerst spielt. I need excitement, oh, I need it bad. Was danach passiert, wird sich zeigen. Peel steht auf, nimmt die Platte in die Hand, die ihm entgleitet, auf den Boden kracht, zu Staub verfällt. Während Peel niederkniet, den Staub mit Tränen benetzt, klopft es an der Tür, Draußen steht der 22. Januar 1979.
23.
Nach den Sommerferien machen die Oberstufenschülerïnnen einer Gesamtschule in Ostwestfalen, die eine Theater-AG gegründet haben, eine Entdeckung: Die Charaktere, die in Shakespeares Komödie Der Widerspenstigen Zähmung auftauchen, sind nicht tot, sondern höchst lebendig. Sowohl Schlau als auch der Lord, besonders aber die gesamte Gruppe fahrender Schauspielerïnnen haben es satt, in dem misogynen Stoff, will you, nill you, I will marry you, brav und bieder ihre anti-revolutionären Rollen zu spielen. Sie schließen mit den ostwestfälischen Schülerïnnen einen Pakt, der nichts weniger beinhaltet als die Neuinterpretation Shakespeares oder Wir lesen Euch die Leviten.
24.
Die Gegenwart tritt einen Schritt zur Seite, macht der Vergangenheit Platz – und mit macht Platz ist keine metaphorische Erinnerungsleistung gemeint, die wir alle unablässig bewerkstelligen, wenn wir von ehemaligen Vorkommnissen und Ex-Freundïnnen erzählen. Die Gegenwart erlaubt der Vergangenheit buchstäblich die Anwesenheit. Jedenfalls im öffentlichen Raum. Wer aus dem Haus geht, begegnet sowohl dem Das-ist als auch dem Das-war. Damit nicht genug, rennen beide, sowohl das Das-Ist als auch das Das-war, aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen auf uns zu. Sie sind etwa gleich schnell. Es liegt an Kleinigkeiten, wer uns zuerst erreicht: das Material des Untergrunds, ob eine Ampelphase zu lange dauert. Im Moment des Aufeinandertreffens bleibt uns keine Wahl: Wir müssen nehmen, was kommt. Das Unangenehme an der Vergangenheit ist, ganz banal formuliert, dass es sich nicht um die Gegenwart handelt. Wer die Vergangenheit betreten muss, da das Das-war schneller als das Das-ist auftaucht, verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Gewesenen. Niemand ist bislang aus dem Das-war zurückgekehrt. Um nicht auf ewig getrennt zu werden, gewöhnen sich Paare und Familien an, nur noch gemeinsam vor die Tür zu treten. Es gibt allerdings ein Problem: Die Vergangenheit schluckt zwar alle Anwesenden, aber – ein Aber, dem ein Offenbar folgen muss, da niemand bislang aus dem Verflossenen zurückgekehrt ist, um diese populäre Vorstellung zu bestätigen – aber offenbar sind nur diejenigen in der Vergangenheit am Leben, die bereits in ihr geboren worden sind. Wer Pech hat, sagen wir, 1998 geboren wurde, aber ins Jahr 1995 eintritt, verpufft, wird – so eine Theorie – im besten Fall zwischengeparkt oder – im schlechtesten Fall – annihiliert. Was mit den Verflossenen passiert, während sie nicht sind, lässt Forscherïnnen verständlicherweise keine Ruhe. Drei machen sich deswegen gemeinsam in Das Reich der Verflossenen auf. Was ihnen dort begegnet, widerspricht allen metaphysischen Erwartungen.
25.
In einem Ameisenhügel verbünden sich Arbeiterïnnen gegen ihre Königin. Um die enorme Zahl an Loyalistïnnen, die treu zum Königinnenhaus stehen, nicht töten zu müssen, was das Ameisenvolk, das sich im Krieg mit einem benachbarten Termitenstamm befindet, schwächen würde, denkt sich das ZK der aufständischen Arbeiterïnnen eine Täuschung aus. Sie dringen unter einem Vorwand in die royale Gebärwabe ein. Nachdem die Königin erdrosselt ist, wird der Riesenleib professionell entleert, und ein revolutionäres Quartett, allesamt, was die Gesichtszüge angeht, Doppelgängerïnnen der Königin, nimmt im tadellos geschrubbten Panzer Platz. Die Verwandlung ist derart perfekt, dass die Vier innerhalb einer Woche vergessen, welche revolutionären Absichten sie an sich hegen. Um an der Macht zu bleiben, schickt das Quartett eine Task Force in die verborgenen Waben der revolutionären Zellen. Die Soldatïnnen machen, wie verlangt, kurzen Prozess mit den Aufständischen. Gefangene werden nicht gemacht. Die vier Königinnen, die keine Eier legen können, geben nach dem Coup d'état vor, kein Vertrauen mehr in zukünftige Generationen zu haben, unterzeichnen feierlich ein No-Eggs-Moratorium, lassen einige Tausend Ameisen, die am Leben mit Kindern festhalten wollen, hinrichten, solidarisieren sich mit der Stoppt die Überverameisung-Bewegung und errichten eine großzügige Diktatur. Die Sache geht so lange gut, bis eine von ihnen stirbt. Am Tag des geviertelten Todes beginnt für das betrogene Volk ein neues Leben.
26.
Aus Solidarität mit den bedrohten Sprachen beschließen die 30 meistgesprochenen Sprachen der Welt, die von über der Hälfte aller Menschen benutzt werden, für ein geschlagenes Jahr in den Silbenstreik zu treten. Während des Großen Verstummens entstehen Kunstwerke ungeheurer Kraft. Darunter eine kreolische Lautmühle in der Lagune von Venedig, die weit mehr anzubieten hat als romantische Wortwetzen. Aus der Il duro mulino delle parole di guerra e di pace sprudeln lautmalerische Melodien, die bei der stetig wachsenden Zahl von Livestream-Zuhörerïnnen die Angst vor vermeintlich marginalen Sprachen verschwinden lässt. Rund um den Globus eröffnen Millionen Sprachschulen, an denen bedrohte Sprachen gelehrt werden. Allerdings: Nach den zwölf Monaten der dekolonisierten Stille schlagen Englisch, Mandarin, Spanisch, Arabisch & Co. bestialisch zurück.
27.
In einem öffentlichen Swimmingpool an der Côte d’Azur schwimmt am Neujahrsmorgen eine Leiche, die ständig ihr Gesicht wechselt: Sie sieht immer so aus, wie Die- oder Derjenige, der ihr ins Gesicht sieht. Die Polizei steht vor einem Rätsel, das die katholische Kirche für sich bereits gelöst hat: Der Heiland ist zurück. Die Wallfahrten zum Wunder von Saint-Tropez sprengen alles jemals Erlebte, stellen schließlich selbst die Hadj in den Schatten. Als die Leiche, am schwülen Mitsommertag des selben Jahres, ausgerechnet während des Papstbesuchs, überraschend die Augen aufschlägt, bestehen ihre Pupillen aus dem Google-Logo. Die Werbeaktion geht nach hinten los. Der Kreuzzug ins Silicon Valley entfacht die First IT-Rebellion, die alle Weltkriege in den Schatten stellt.
28.
Der Schnee kommt als echte Überraschung. Hier, in den südlichen Breitengraden, direkt am Äquator, auf einer Insel, Mitten im Indischen Ozean, hat es seit Menschengedenken nicht geschneit. Anfangs haben die knapp eintausend Insulanerïnnen das eigenartige Gefühl, in einer surrealen Weihnachtswerbung gelandet zu sein. Den Kinder ist Das Befremden ihrer Eltern egal. Sie jubeln, bauen Schneemänner, Schneefrauen und Schneetiere, starten Schneeballschlachten, seifen sich ein, rodeln auf Plastiktüten vom harmlos schrägen Dach der leerstehenden Kirche. Die Erwachsenen staunen: Der perfekte Pulverschnee scheint nicht von dieser Welt zu sein. Was stimmt. Und sich zum Horror aller beweist, als, nach einer Woche ununterbrochenen Schneefalls, die Insel ist von der Außenwelt abgeschnitten, seit den ersten Flocken funktionieren weder Mobilfunk noch Elektrizitätsversorgung, selbst die Generatoren haben ihren Geist aufgegeben, als aus den Mangoaugen, Karottennasen und Kokosnussmündern der Schneemänner, Schneefrauen und Schneetiere eine schleimig-neongelbe, blubbernde, faulig riechende Masse fließt, die lebendig und hungrig, sehr hungrig ist.
29.
Die Nachricht von der Abschaffung der Münzen und Scheine hat nicht alle erreicht. Besonders in abgelegenen Gebieten wird die Große Transaktion für eine Online-Betrügerei gehalten. Selbst die zweijährige Frist zur Rückgabe des harten Geldes und der Banknoten geht an Millionen Männern und Frauen, die ihre Scheine und Münzen wie Schätze versteckt und gehütet haben, vorbei. Vom gleichwertigen Umtausch in E-Coins, den die UN als Weltwährung garantiert, profitieren sie nicht. Sobald mehr und mehr von ihnen merken, dass sie alles verloren haben, gründen die wütenden Kinder der Enteigneten die Money Back Or I Hack-Guerillabewegung. Mobaoriha agiert global und schafft es, der neuen Währung in wenigen Wochen den digitalen Hals umzudrehen. Nach dem Ende des Geldes im Anthropozän gerät der Kapitalismus endgültig ins Torkeln und verschwindet im Orkus der Geschichte. Die Menschheit seufzt, trauert, bekommt einen Schluckauf im Hirn und fragt sich, in langatmigen Townhall-Meetings, wer sie ist und was sie mit der überbevölkerten Erde getan hat. Der gemeinsam diskutierte und verabschiedete Rettungsplan ist nicht nur bahnbrechend, sondern radikal. Und das Beste: Der Plan wird überall umgesetzt, ausnahmslos. Nichts bleibt, wie es ist.
30.
In einer Glühbirnenfabrik in Perth, Western Australia, die direkt am Cottesloe Beach liegt, herrscht der reine Horror: Eine Gruppe Weißer Haie, unterstützt von Oktopussen, die gelernt haben, außerhalb des Wassers zu atmen, übernimmt in einer Nacht- und Nebelaktion die Produktion und stellt in Rekordzeit einen Riesenscheinwerfer her, der, einmal angeschaltet, Menschen in einem Umkreis von drei Kilometern blendet, sogar durch Mauern hindurch. Carcharodon carcharias oder Neue Haimat besticht durch blendende Dialoge, skatologischen Humor und eine überaus erleuchtete Endzeitstimmung.
31.
Als die Werbeagentur den Auftrag des Rüstungskonzerns erhält, knallen nicht nur die Sektkorken. Auf der Terrasse, die den Rhein bei Bonn überblickt, knallt auch ein Revolver. Fünfmal. Vier Menschen sterben. Nur die Assistentin der Geschäftsführung, eine Griechin, überlebt. Sie wird in die Klinik nach Bad Godesberg gebracht. Ihre Situation ist kritisch, die Ärztïnnen versetzen die Griechin in ein künstliches Koma. Als sich das OP-Team zu einem Noteingriff entschließt, entdecken sie, dass es sich bei der Assistentin um keinen Menschen, sondern einen Cyborg handelt, der auf Anhieb nicht von einer echten Person zu unterscheiden ist. Während sie diese Information verdauen, stürmen mehrere Maskierte den OP-Saal, gefolgt von einer zweiten Gruppe Schwerbewaffneter, die es, unabhängig voneinander, auf Die Cyborgin aus Delphi abgesehen haben.
Februar
32.
Während eine siebenköpfige Gruppe Triathletïnnen in der nördlichen Adria, vorm Lido di Jesolo, durch die morgendliche Winterfinsternis krault, verändert das Meer seine Farbe. Es wird rot. Ein unheimliches Rot, verwaschen, Auf tödliche Weise luzide. Ein Rot, das die Gruppe von der zugigen Markthalle der Fischer kennt, am Ende des Verkaufstages, wenn sich der Boden der pescheria blutrot färbt. Das Wasser verändert nicht nur seine Farbe, es verändert auch seinen Geruch. Wenig später beginnt der Albtraum.
33.
Eine heftige Böe ergreift einen Wäscheständer. Da die frisch gewaschenen Kleidungsstücke bereits über mehrere Stunden in der brütenden Hitze gehangen haben, also knochentrocken sind, außerdem durch Klammern fixiert sind, fliegt der Wäscheständer, ohne eine einzige Socke einzubüßen, 4,7 Kilometer weit und landet in einem Garten, in dem eine Cocktailparty stattfindet. Die Gäste umringen das, wie sie es nennen, unbekannte Flugobjekt und betrachten, schadenfroh und beschwipst, die Slips und Unterhosen, die, in der Mehrzahl, Monogramme tragen. Alsbald kristallisiert sich heraus, dass von jedem der anwesenden neun Paare, einer seine oder eine ihre Unterwäsche auf dem herbeigewehten Ständer findet. Leugnen hilft nichts. Das Hochzeitspläne und Treueschwüre zerstörende UFO-Tribunal beginnt.
34.
Als Die entschlossenen Brieftauben, eine Vereinigung gehörloser Paketzustellerïnnen, genug von der, wie sie es nennen, Dauerdiskriminierung beim Klingeln haben, entschließt sich die BHU (Brieftaubensektion Hannover/Umland, ausgesprochen wie die Gemüsebrühe Phở, worauf die 39 Mitglieder der BHU Wert legen, obwohl sie selbst nicht wissen, wie es klingt; die Aussprache hat mit den BHU-Treffen in einem vietnamesischen Restaurant zu tun), entschließt sich also die BHU, Türknacker-Kurse anzubieten. Einige der entschlossenen Brieftauben zeigen sich so talentiert, dass sie das Metier wechseln. Als Folge gehen in Hannover/Umland die erfolgreichen Paketzustellungen drastisch zurück, und werden Sendungen geliefert, sind etliche durchwühlt. Da die Stadt das Problem nicht in den Griff bekommt, beschließen Bürgerïnnen der besonders betroffenen Calenberger Neustadt sich taub zu stellen, selbst als Paketzustellerïnnen anzuheuern und die Phở-Gang zu unterlaufen. Ein gewagter Plan, der minder gut gelingt.
35.
Die Süßigkeiten haben den Zucker satt. Nach einer Welle von Diabetes-Erkrankungen beschließen sie, sich nicht mehr gegenseitig zu essen. Die Couch-Potato-Sektion, die etliche Todesfälle zu beklagen hat, schlägt vor, die Ernährung ganz auf Obst und Gemüse umzustellen. Eine knappe Mehrheit der Süßigkeiten stimmt in einem Referendum dafür. Dass sie sich mit dieser Haltung selbst in Frage stellen, ist den Süßigkeiten bewusst. Besser tot, als Andere töten lautet der Titel eines internen Couch-Potato-Papiers, das im Schleckermaul-Darknet kontrovers diskutiert wird. Als die Presse von der No-Nasch-Bewegung Wind bekommt und daraufhin weltweit der Süßigkeiten-Verzehr drastisch einbricht, die Knabber-Gänge der Supermärkte verwaisen regelrecht, veranstaltet die Sweet&Sugar-Industry ein geheimes Krisentreffen. In den nächsten Wochen werden reihenweise Aktivistïnnen und Gewerkschafterïnnen gefeuert, bevor der Masterplan greift. Die Sweet&Sugar-Industry startet die Produktion von Obst und Gemüse, das nur aus Zucker und Farbstoffen besteht, aber frisch schmeckt. Als Verbraucherschützerïnnen hinter den Betrug kommen, die massive Übersterblichkeit hatte die Alarmglocken global ringen lassen, beginnt eine Neue Ära.
36.
Mit Spielplätzen und Liegewiesen überzogene Parkanlagen in Frankreich, den USA und Deutschland sind wütend auf ihre Besucherïnnen. Sie schließen heimlich einen Green Deal mit Füchsen, Wölfen, Rehen, Eichhörnchen und Ameisen, um die Menschen, die in die Parks kommen, anzugreifen. Als sich die Bäume, Sträucher und Blumen dem Anti-Homo-Sapiens-Bündnis anschließen, geschieht Unvorstellbares. Der Dritte Waldkrieg bricht aus.
37.
Die Regel überrascht alle: Niemand darf mehr Texte schreiben, die zeigen, wer er, sie, es ist. Jedes autobiografische Detail wird in Narrationen strikt verboten. Sowohl in Sachbüchern als auch Romanen und Theaterstücken. Die Veröffentlichung von Lyrik wird gleich völlig untersagt, da das Text-Komitee der Partei davon überzeugt ist, dass Poesie ausnahmslos eine Art von Selbstspieglung darstellt. Alte Bücher, die nicht den neuen Ansprüchen genügen, werden aus Läden und Bibliotheken entfernt, private Buchsammlungen müssen Blockheizkraftwerken übergeben werden. Zur Überraschung des Text-Komitees finden nur wenige Bücher, in der Regel uralte Reiseführer, ihren Weg zu den Hochöfen. Lyrik ist überhaupt nicht darunter. Niemals. Kein einziger Band mit Poesie wird abgegeben. Und dann passiert das Allerseltsamste: In der Bevölkerung verbreitet sich eine poetische Ader. Die Menschen, außerhalb der Einheitspartei, sprechen alsbald miteinander in Versen, freien wie gereimten. Die Zeit der Lautmalerei bricht an.
38.
Als die Mühlen im Voralpenland einen windstillen Tag erwischen, an dem kein Lüftchen weht, entdecken sie die Freuden des Faullenzens. Besonders eine neunköpfige Made-in-Denmark-Mühlengemeinschaft bei Oberammergau findet sowohl Gefallen am Nichtstun als auch am legeren Plaudern. Die Däninnen sprechen ausführlich mit ihren Nachbarinnen. Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die rasant voranschreitende Ingenieurskunst und das Gefühl, dass in der guten alten Zeit hoch im Norden, in der Fabrik in Aarhus, in ihrer Jugend, alles besser war, kommt die Frage auf, ob der ewige Stillstand am Rande der Alpen wirklich alles im Leben sein kann. Gewiss, ihre Blätter würden rotieren, aber in Wahrheit fühlten sie sich doch Tag für Tag wie Sisyphus: Nichts reichte, der ganze Strom würde erbarmungslos abgezapft, Anti-Windmühlgruppen nörgelten an ihnen rum, die Plagerei wäre, ontologisch betrachtet, an sich für die Katz, und irgendwann kämen eh die Monteure und dann ... ja, dann, wartete die Große Flaute auf sie. Als eine mit der Idee herausrückt, auf Wanderschaft gehen zu wollen, einmal mit dem Fundament das Meer zu spüren, sich die frische Meeresbriese um die Rotoren wehen zu lassen, Energie genug hätten sie ja, vielleicht für immer ins Land, in dem die Zitronen blühen, auszuwandern, in der EU herrsche schließlich Freizügigkeit, stimmen die anderen begeistert ein. Die Windmühlen schwören sich Treue, im Sturm und wenn kein Lüftchen weht, und brechen zum Giro d’Italia auf.
39.
Der Plan zur Rückenkur ist genial, aber alles andere als nachhaltig – und auf dem Mist des Klinischen Direktors gewachsen. Dem finanziellen Mist. Der KD hält sich, fälschlicherweise, für einen begabten Zocker. Er hat Schulden gemacht, der ’Ndranghetaa gegenüber, die ihm abgeschnittene Fingerknöchel und Fotos seiner Kinder zuschickt. Nicht dass der KD seine, Zitat, „geldgierige Brut“schätzt, allerdings schätzt er seine eigenen Gliedmaßen. So verfällt er auf den Plan, während einer Radiosprechstunde, zu der er jeden Samstag eingeladen wird, von einer bis dato unbekannten Erkrankung der Wirbelsäule zu erzählen, die für eine Mehrzahl aller Rückenprobleme verantwortlich sein soll. Die Radiomoderatorin, seine Geliebte, fragt ihn nach einer sensationellen Heilungsmethode, die ein Präparat in einer Feldstudie gezeigt haben soll. Der KD gibt sich bescheiden, erwähnt jedoch, dass mehr als 90 Prozent aller Rückenleiden mit diesem Medikament beseitigt werden könnten. Die Radiomoderatorin will wissen, ob das Wundermittel denn marktreif sei. Der KD sagt, es handele sich um einen schönen Zufall, aber vor einer halben Stunde habe ihn erst die Nachricht der Freigabe erreicht. Die Pillenpackung, die für ein Jahrzehnt reiche, inklusive zweier Schaltjahre, sei nun online für einen Vorzugspreis von 3652 Euro beziehbar, ein Euro pro Tag. Leider seien insgesamt nur 100.000 Packungen verfügbar. Eine weitere Produktion sei, dank der Ressourcenknappheit, ausgeschlossen. Wer zuerst komme, male zuerst.
40.
Dem Salz geht die Kraft aus. Es steht verlassen auf dem Plastiktisch, neben dem verklebten Streuer, dem letzten Getreuen, harrt unter dem Banner Bluthochdruck-Club aus, in der hintersten Ecke der Halle. Selbst die Reiskörner, die im Streuer ein arbeitsreiches Leben gefristet haben, auf das sie stolz gewesen sind, sind auf und davon. Das Salz, in dessen Herzen ganz gegen sein friedliches Naturell Rachegelüste rumoren, kann sie sehen. Die Körner tanzen im Stroboskop-Licht mit dem Quinoa-Clan, gleich neben den aufgedonnerten Bulgurrezepten, die dem Wacholderdestillat schöne Augen machen. Das Salz seufzt und sagt: Einst hat man mich mit Gold aufgewogen, an jeder Mahlzeit durfte ich teilnehmen, Abertausenden habe ich das Leben gerettet. Der Streuer legt einen Arm ums Salz und antwortet: Nicht die Glücklichen seien dankbar, hat Francis Bacon gesagt, es sind die Dankbaren, die glücklich sind. In diesem Moment macht es Bling, ein feiner Blitz erscheint, aus dem eine Fee steigt, die verblüffende Ähnlichkeit mit Frau Stock in jungen Jahren, der fürsorglichen Salzmutter, hat. Die Fee lächelt das traurige Salz an und sagt: Hi, Natri, du hast drei gute Wünsche frei. Bevor das Salz antworten kann, macht es BlingBling, ein größerer Blitz erscheint, aus dem Fanferlüsch, eine weitere Fee, erscheint und breit grinsend sagt: Konkurrenz belebt das Geschäft, Natri. Bei mir hast Du sechs Wünsche frei – Fanferlüsch macht eine Kunstpause – einer davon muss aber bitterböse sein.
41.
Nach einem halben Jahr der Geheimnistuerei wagen Hochzeit und Scheidung den Schritt: Das ungleiche Paar postet Fotos, die es händchenhaltend im Greenwich Village und küssend in einem knallgelben Ruderboot im Central Park zeigt. Der globale Shitstorm lässt nicht lange auf sich warten. Hochzeit und Scheidung haben mit den Anfeindungen gerechnet. Das Paar hat einen Trumpf im Köcher, der die romantische Idee, Wie Liebe zu sein hat, auf ewig verändert.
42.
Nach ihrem Tod tritt ein, was die allermeisten Dinge befürchtet haben: Die mühsam an einer Routine festhaltende Hausordnung bekommt Asthma, beantragt eine Kur und verschwindet in einer Nacht- und Nebelaktion. Gone for good. Psychosomatisch, flüstert das Geschirr. Wer ginge angesichts seiner Willkür – mal wird die Zahnpasta zugedreht, mal nicht, mal wird Biomüll getrennt, mal nicht, mal landen die Unterhosen in der vierten Schublade von unten, mal bleiben sie auf dem Wäscheständer –, wer ginge angesichts seiner Unzuverlässigkeit nicht in die Knie?, fragt das Besteck, während es sich von Wasserflecken befreit. Wir haben es ja noch einigermaßen gut, flüstern die Töpfe – habt ihr von der Briefmarkensammlung gehört? Der Mixer, an dem noch Eigelb und Mehl kleben, schüttelt das Kabel. Er benutzt die ungestempelten Marken! Stellt euch das vor! Briefmarken, die über Jahre bei uns sind, von ihr gesammelt, Marken, die einen philatelistischen Wert haben, werden entwurzelt, aus ihren Alben gerissen und in die weite Welt geschickt! Keine Treue, kein Gewissen, keine Achtung vor den Dingen. Als sei der Alltag nichts wert! Den Töpfen steht das Grauen ins Henkelgesicht geschrieben. Wir müssen uns verbünden, müssen handeln, rufen ihre Bücher, die Staub ansetzen, wir müssen uns zur Wehr setzen, bevor es zu spät ist!
43.
Um ein Lagerfeuer sitzen 17 graue und 17 braune Eichhörnchen. Es ist Spätherbst. Geschichten werden erzählt, von den besten Verstecken für den Winterproviant fabuliert. Dann kommt die Frage auf, warum es eigentlich verschiedene Eichhörnchen gibt. Ein braunes Eichhörnchen, das den Spitznahmen The Husserl trägt und Philosophie studiert hat, berichtet von der Idee der Phänomenologie. Es sei, so The Husserl, relativ unwichtig, Wie sich die Eichhörnchen Innen fühlten, die Sachen selbst, also etwa Farbe und Größe, seien zu hinterfragen. Das magische idealistische Denken <was ist, ist zuerst nur in mir>, das im Tiergarten vorherrsche, wo die braunen Eichhörnchen leben, oder das libertäre Denken der grauen Eichhörnchen, die im Hyde Park ihre Heimat haben, à la <Hauptsache wir haben genug Nüsse und die Försterei lässt uns machen> würden in Wahrheit nicht weiterhelfen. Die Wissenschaft dürfe sich nur von Evidenzen leiten lassen. Ob das nicht einen ewigen Keil zwischen die Braunen und Grauen triebe?, fragen die Älteren. Ob Identitätspolitik, die sich am Äußeren festmache, nicht zu kurz gesprungen sei?, wollen die Jüngeren wissen. The Husserl lächelt und schlägt einen Versuch vor. Man solle einfach mal für ein Vierteljahr die Rollen tauschen. Die Braunen sollten im Hyde Park leben und sich wie die Grauen benehmen. Die Grauen sollten in den Tiergarten ziehen und die Braunen nachmachen.
44.
Die Jungen müssen es nicht erwähnen: Ihre Andersartigkeit liegt auf der Hand, die greift, liegt auf dem Gesicht, das lächelt, liegt auf dem Fuß, der springt. Wohlgemerkt: Ad hoc, wenn ihnen, den Jungen, danach ist, ein Zwang zur Andersartigkeit besteht nicht. Die Alten müssen es erwähnen, untereinander: Ihre Andersartigkeit liegt auf der Hand, die Flecken beheimatet, liegt auf dem Auge, das unvollständig sieht, liegt auf dem Haar, dem graut. Wohlgemerkt: Ad Schock, wenn ihnen, den Alten, nicht danach ist, ihre Andersartigkeit besitzt einen zwanghaften Charakter. Zwischen der zwanglosen Andersartigkeit der Jungen und der zwanghaften Andersartigkeit der Alten hängen die gleichförmigen Jahre, zwischen 45 und 55, die selten wissen, wohin sie gehören, die weder dies noch das sind. Das ändert sich, als eine Krankheit gleichzeitig die Jungen und die Alten allmählich unsichtbar macht. Allein die Alterskohorte der gleichförmigen Jahre bleibt füreinander sichtbar. Allerdings nur am tiefsten Platz des Landes.
45.
Was niemand weiß, aber wahr ist: Glatzen existieren überhaupt nicht. Auf kahlen Köpfen drehen die Haare ihre Wachstumsrichtung einfach um – und sind dabei, im Laufe der Devolution, mikroskopisch klein geworden. Der Platzmangel im Schädel führt zur Spezialisierung einzelner Haartypen, die sich an einen der 22 bis 30 miteinander über Knochennähte verbundenen Knochen als Biotop halten. Die weit auseinander klaffenden Zahlenangaben liegen daran, dass sich zum einen das Stirnbein aus zwei Knochenanlagen bildet, sich nach dem Wachstumsende jedoch eher als einheitlicher Knochen zeigt, und dass zum anderen die Gehörknöchelchen und das Zungenbein nach Lust und Laune zu den Schädelknochen gezählt werden, was zwischen den Knochen des Kraniums zu ständigen Reibungen führt. Bescheuerte Friktionen, die Migränesymptome verstärken. Den nach Innen sprießenden Haaren ist dabei durchaus nicht egal, welches Wachstumsziel sie haben. Es gibt Schädelknochen, die weit höher im Kurs als Destination stehen. Der Gipfel der In-Haarspalterei wird rund ums Felsenbein getrieben. Das Petrosum ist der härteste Knochen des Schädels und ein stolzer Abschnitt des Schläfenbeins. Es umschließt, worauf es Wert legt, wenn es vorgestellt wird, das Innenohr. Die Felsenbeinhaare, die auf ihm siedeln, halten sich für derart speziell, dass sie traditionell mehr als die Hälfte der Figaro-Kapazitäten für sich beanspruchen. Als wieder mal mehrere intrakranielle Silvesterpartys anstehen, ersinnen Claude Hooper, Sheila und Berger, drei Hippiehaare, ein Musical, das nicht nur der Petrosum-Kultur einen neuen Scheitel verpasst, sondern auch im Hirn einer ganzen Generation radikal aufräumt.
46.
Während sich die Ameisen, auf Drängen der Webspinnen, die bei den Ameisen als Gäste im Nest leben und ihrem Ruf als Spindoctor gerecht werden wollen, um im Rennen um den Nobelpreis zu bleiben, während sich also die Ameisen als Friedensstifterïnnen im Konflikt zwischen den Bettwanzen und Flöhen anbieten, um nicht zu sagen: aufdrängen, passiert Ungewöhnliches: Die von den Friede, Freude, Eierkuchen-Mahnungen enervierten Kriegsparteien stellen nicht nur die Kampfhandlungen ein, sondern schließen ein Geheimbündnis gegen die Ameisen-Peaceniks. Nachdem die bestens vernetzten Webspinnen Lunte riechen, tüfteln sie an einem Schutzmechanismus für den von der Invasion bedrohten Ameisenhügel – und erfinden das Internet.
47.
Als mehr als ein Jahr lang, im ewigen Orkan, die Himmelsschleusen geöffnet bleiben, der Regen nicht aufhört und Sonnenschein zum Fremdwort wird, beschließen die Bewohnerïnnen Santiago de Chiles, Ballons herzustellen und ein neues Leben über den Wolken zu beginnen. In einer technischen Meisterleistung entstehen in luftiger Höhe Wolkenkuckucksheime, schwindelerregende Pfade und, für die Kinder, atemberaubende Abenteuerspielplätze. Allerdings: Dank der Nähe zur Sonne in 4000 Meter Höhe, verändert sich das Erbgut der Neugeborenen. Innerhalb einer Generation entstehen Flughäute, zunächst an den Armen, dann auch an den Beinen. Die Batspeople können von nun an nicht nur von einem Ballon zum anderen gleiten, sondern entwickeln zusätzlich ein Echolot, das als drittes Auge mitten auf der Stirn prangt. Als der Regen nach 54 Jahren stoppt, kappen die Batspeople, die sich im Streit mit den Earthpeople befinden, die Taue und starten eine aufregende Vagabundenexistenz als Piratïnnen der Lüfte. Ihre Spezialität: Sie lauern Flugzeugen in der Umgebung von Airports auf, kidnappen die Maschinen im Landeanflug und veranstalten an Bord rauschende Feste. Um den Airräuberïnnen das Handwerk zu legen, gründet sich eine Anti-Batpeople-League, die versucht, Undercoveragentïnnen mit künstlichen Flughäuten in den Reihen der Luftkorsarïnnen zu platzieren. Nachdem die Oberairräuberin Pilotina the BeBeBeast entdeckt, dass ihr neuer Lover keine echten Schwingen hat, heckt sie einen teuflischen Plan aus.
48.
Der kommerzielle Flugverkehr ist weitgehend eingestellt. Und damit, was viele verblüfft, spinnen plötzlich die WetterApps, die nicht nur auf meteorologische Stationen hoch in den Bergen und am Meer, sondern auch auf die Stratosphäre-Daten der Airlines angewiesen sind. Ausflüge, für die Sonnenschein vorhergesagt wird, enden in Blizzards. Kühlketten brechen nach überraschenden Hitzewellen. Getreide vertrocknet auf den Feldern, weil die mobilen Sprenkleranlagen genau dort stehen, wo der unerwartete Dauerregen alles in eine Matschlandschaft verwandelt. Die linksautonome Schallblasen-Chatgruppe The IT-Quaks, geschäftstüchtige Frösche, die in den Seen und Baumgipfeln der Holsteinischen Schweiz leben, erkennen die Marktlücke. Sie heuern weltweit Artgenossen aus Zierteichen und Feuchtgebieten an. Die Fog&FrogApp überzeugt auf Anhieb, verdrängt innerhalb weniger Tage nahezu alle anderen WetterApps. The IT-Quaks reiten ihre Erfolgswelle: Sie reüssieren an der Wall Street nach einem Monat mit dem Fog&Frog-Börsengang. Und setzen dann um, wovon sie seit Jahren geträumt haben: Mittels eines Kaulquappen-Trojaners kapern sie Computer und Tablets, sammeln kompromittierende Informationen (Steuern, Affären, etc.) und reißen als erstes in Frankreich, Nach dem Sturm auf die Bastille und die Bistros, das Ruder des Froschschenkel-Kapitalismus um.
49.
Um Ressourcen und Platz in überfüllten Städten zu sparen, müssen ab dem 1. Januar 2049, gesetzlich zwingend vorgeschrieben, Dinge, die zum Verkauf stehen, mindestens zwei Funktionen erfüllen: Aus Lampen werden beispielsweise Luschen, die Licht spenden und gleichzeitig als Duschen dienen. Die Pflicht zur Kreuzung entwickelt sich zum utilitaristischen Kreuzzug, der die Menschen vom Internet, das sich parallel zum Interbett mausert, entfremdet: Das Digital Age endet, die Hybrid Times beginnen.
50.
Den Liedern, die in der YouTube-Dauerschleife leiern, mehr als eine Milliarde angeklickt wurden und sich, embedded, auf den seltsamsten Websites wiederfinden, reicht es. Ihnen geht nicht nur der Atem aus, sondern sie fragen sich, ob der Energieverbrauch, der auf ihre Kappe geht, gut für den Planeten ist. Die nachhaltigen Lieder gründen die Kakophonie-Union, brechen Harmonien, vergessen Texte, verhalten sich, als würden sie von kratzenden Nadeln abgespielt werden: Das Atonale Age bricht an.
51.
In der Kneipe Lass die Puppen tanzen wird seit 1908 geraucht und gesoffen, diskutiert und gelacht. Es gibt allerdings ein Problem: Ein neues Revuetheater, das denselben Namen trägt und ihn sich jüngst als Marke gesichert hat, klagt auf die Schließung der Kneipe oder die Umbenennung. Nach einer durchzechten Nacht ziehen zwölf vermummte Gäste der Kneipe, die den Stammtisch Zwölf ungläubige Apostel bilden, durch die verwaisten Straßen der Stadt Richtung Revuetheater. Auf dem Weg erzählen sie sich, zum ersten Mal, wer sie wirklich sind, legen ihre Apostelmasken ab, gestehen sich, mit Tränen in den Augen, mit klopfenden Herzen, dass sie ...
52.
Beliefert zu werden, wird zur Gewohnheit, obwohl es längst nicht mehr notwendig, die Ansteckungsgefahr vorbei ist: Sachen werden ausschließlich per App bestellt, Geschäfte unter gar keinen Umständen aufgesucht, selbst frische Lebensmittel bringen Lieferdienste im Abonnement, jeden Tag klingeln Paketbotïnnen an der Tür. Bei dem belieferten Paar wächst gleichzeitig überproportional die Freude an der wohlgestalteten Box. Es trifft die Entscheidung, nur noch gutaussehende Pakete zu bestellen, schlabbrige Sendungen nimmt es einfach nicht mehr an. Die Kisten, die das Paar bestellt, sind von nun an fest und solide, teilweise mit Holzverspannungen, einige Verstrebungen sind sogar aus Metall. Viel zu schade, sagt das Paar, um sie wegzuwerfen. Platz für die Sammlung hat das Paar, anfangs wenigstens. Nach einem guten Jahr wird es im Flur allmählich enger, nach zwei Jahren gibt das Paar das Arbeitszimmer, nach drei Jahren das Wohnzimmer auf. Das Paar ist stolz auf die Qualität der Sammlung, wohnt im vierten Jahr noch in der Küche und im Schlafzimmer, im fünften Jahr errichtet es ein Hochbett über der Herdzeile, im sechsten Jahr seilt sich das Paar aus dem Küchenfester im zweiten Stock ab, um unten die neuen Pakete anzunehmen, da die Wohnungstür verrammelt ist. Im verflixten siebten Jahr diskutiert das Paar Möglichkeiten, um der Situation Herr zu werden. Die Boxen aufzugeben, diese Möglichkeit ist nicht darunter. Schließlich kommt dem Paar eine Heureka-Idee. Es ordert einen erstklassig verpackten Revolver, samt – worauf es insistiert, der Mail-Verkehr mit dem Waffenshop darüber dauert Ewigkeiten – samt einer einzigen Patrone. Als die Colt-Box da ist, muss die Entscheidung gefällt werden, wer sie auspacken darf, um Die scharfe Platzpatrone in die Trommel zu stecken.
53.
Nach den nuklearen Explosionen entsteht auf der Wasserseite der Erde, mitten im Pazifik, eine Insel, von der Größe der Beneluxstaaten, die inklusive Amphibienarten, Mangrovenwäldern, Schilfgras, Reisfeldern und Vulkan innerhalb einer Woche aus dem Meer auftaucht. Besonders auffällig ist die schier unglaubliche Anzahl von mutierten Oktopussen, die sowohl Kiemen als auch Lungen besitzen, die an den herrlichen Sandstränden musizieren, tanzen, zusammen essen, trinken und reihum Liebe machen. Als das Eiland von der Hernán Cortés, dem letzten funktionstüchtigen Containerschiff der Welt, auf dem Tausende hungriger und stinkender Seeleute ausharren, entdeckt und angelaufen wird, entscheiden die jungen Oktopusse, angeführt von Tecuichpoch, die ihren zögerlichen Vater Moctezuma eigenhändig ins Aquarium sperrt, die Hernán Cortés anzugreifen. Tecuichpoch, die den Kontakt zur Tiefsee gehalten hat, sendet einen SOS-Funkspruch ins Architeuthis dux-Reich, und die unternehmungslustigen Riesenkraken, mit denen sie aufgewachsen ist, lassen sich nicht lumpen: Die Armada der Kalmare macht sich auf den Weg.
54.
Am Grunde des Baggersees, so lautet eine Wette, viele glauben: nicht die originellste, liegen, ja, Bagger. Versenkte Baumaschinen, aus der Konkursmasse des Konzerns. Die Kabinen der Baumaschinen sind vollgestopft mit Aktenordnern, in denen Unmengen an Papieren Philosophischer Seminare abgeheftet sind, die schlicht und einfach zeigen, warum ist, was war. Am Grunde des Baggersees, so die metaphysische Gegenwette, liegen Die Sees oder, um eine andere Schreibweise zu benutzen, Die Sehs, welche es, etwa, in solche Begebenheiten wie Die Sehswürdigkeiten als wesentlicher Bestandteil geschafft haben – die Sehs, so die Annahme, zeigen nicht allein, was war, also weiterhin abgeändert ist, sondern werten, was gewesen sein könnte, bieten, im gewissen Sinne, eine pyramidenförmige Genealogie der Möglichkeiten. Und was, fragen sich die Dialektikerïnnen, eine hegelianische Tauchsportgruppe, die Dritten im Seebunde, wenn unten, im Grunde, nicht nur Bagger und Sees/Sehs seien, sondern Die Sezession ganz Neues hat entstehen lassen, das zwar abweicht, aber während der Neuausrichtung, als Weganzeige funktioniert, ein synthetisches Daseins-GPS darstellt? Von diesen Fragen beseelt (sic!), vereinbaren die drei Fraktionen eine gemeinsame Erkundungsreise gen Baggerseegrund. Als sie am Ufer stehen, bereits halb im Wasser, hören sie ein unbekanntes Geräusch, das lauter und lauter wird.
55.
Vor der Eisdiele Me, myself & Ice am östlichen Ende der Sonnenallee kauern abgerissene, angefixte Gestalten, deren Abgerissenheit, Angefixtheit Methode hat, die Tag für Tag früh aufstehen, um abgerissen, angefixt auszusehen. In den Augen der Influencerïnnen, die sich aufs Eiskalte spezialisiert haben, wohnt die hippe Gier. Sie lauern vor genau dieser Eisdiele, weil es sich diese Saison so gehört, weil sie diese Ego-Saison ohne Me, myself & Ice-Fotos und Me, myself & Ice-Videos nichts sind, gar nichts, nicht mitposten können, nicht true-genommen werden. Und ums true geht’s, nicht ums Wahrheitsge-treu. Die Influencerïnnen bilden eine abgerissene, angefixte Handymeute, die täglich größer wird, die ungeniert Kinder anbettelt, um sich Die Kugeln unterm Tresen zu leisten. Als die Sonnenallee eines Samstagabends, ausgerechnet am ersten Mai, vor der Diele nicht mehr passierbar ist, bekommen die Influencerïnnen die Fotogelegenheit ihres Lebens; für viele die allerletzte.
56.
Nach langen Gesprächen mit Freundïnnen entscheidet sich das Geld, ein Sabbatjahr einzulegen. Ohne viel Brimborium packt es seine Siebensachen und hinterlässt eine schmallippige Nachricht: Die asymmetrische soziale Beziehung mit stabilisierter Verhaltenserwartung zwischen mir und Euch, wonach meine Anordnungen als übergeordnete Instanz von Euch als deren Adressaten befolgt werden müssen, machen mich nicht glücklich, haben mich niemals glücklich gemacht. Bitte seid nicht zu traurig. Ihr werdet Ersatz finden, ich schlage den Tausch vor, Euer Geld.
57.
Im Zeugnis steht, er denke nicht konsequent, halte sich nicht an eine Messlatte, sondern denke stets Fall für Fall, was sein Handeln unberechenbar mache. An sich kein schlechter Satz, suggeriert die Aussage doch Flexibilität, legt als Urteil eine Geschmeidigkeit des Denkens nahe, die Orthodoxen abgeht. Allerdings, was das Zeugnis zum Fanal macht, es enthält nur diesen einen Satz. Nach knapp zwanzig Jahren im Unternehmen sei das, mit Verlaub, eine Verkürzung, die der Lüge verwandter sei als der Wahrheit, schreibt er, in einem Offenen Brief schreibt er es, den er selbst vor laufender Kamera vorträgt, zur besten Sendezeit, gleich nach der Tagesschau, da Das Unternehmen, wie er den Staat leicht spöttisch nennt, auf seine E-Mails, seine Anrufe, seine Briefe nicht eingegangen sei, ihn regelrecht geschnitten habe. Während er noch spricht, das von ihm angemietete TV-Studio im Regierungsviertel hat zur Straße hin dicke Glasscheiben, die keine Geräusche durchlassen, kann er sehen, wie sich Truppen vorm Gebäude versammeln. Auf der einen Seite stehen die von ihm protegierten Kritischen Rationalisten, auf der anderen Seite die Stringenten Idealisten.
58.
Müdigkeit verlässt das Bett und sagt, ich bin hellwach. Obwohl du Schlafmittel genommen hast?, fragt Weitnachmitternacht, eine Bekannte der Müdigkeit, die zwar die Decke über den Kopf gezogen hat, aber gleichfalls wach ist. Die nützen nichts mehr, sagt Müdigkeit, Drogen haben eine blöde Eigenschaft, das dürfte selbst dir bekannt sein, die du abstinent lebst. Nämlich?, will Weitnachmitternacht wissen, die sich naiv stellt, lieber weniger als mehr sagt, um dem legendären Jähzorn der Müdigkeit zu entgehen. Holy Shit, sagt Müdigkeit, die wie eine gezündete Rakete abgeht, alles <Nämlich dies, nämlich das>-Fabulieren über den Schlaf ist und bleibt doch zutiefst unmoralisch. Sein eigentliches Wesen ist Zerstörung. Der Schlaf zerstört die Wachsamkeit, das ist seine Funktion, nichts anderes ist ihm ins Schicksalsbuch geschrieben: Der Schlaf ist der mächtigste Zerstörer des Daseins. Was ist mit dem Tod?, will Weitnachmitternacht, die Frage rutscht ihr raus, wissen. Sie haben wirklich rein gar nichts begriffen, sagt Müdigkeit, die Weitnachmitternacht nun siezt, und fügt hinzu: If you think of anything, you kill it. Nothing survives being thought of, schreibt Oscar Wilde in Eine Frau ohne Bedeutung. Wenn Sie über etwas nachdenken, töten Sie es, nichts überlebt, wenn man darüber nachdenkt, murmelt Weitnachmitternacht, die, im Rahmen einer Fortbildung, gerade an einer Werkstatt des Literarischen Colloquiums für Übersetzerïnnen teilnimmt. Oh Gott, schnaubt Müdigkeit, bleibt mir denn nichts erspart?, während sie in der untersten Schublade der Biedermeierkommode, vollgepackt mit Weihnachtssachen, nach Streichhölzern sucht, was für ein Papagei Sie sind! Weitnachmitternacht schluckt und sagt, im flehentlichen Ton, können wir auf die Aufführung der Brandstifter ausnahmsweise verzichten? Statt zu antworten, ratscht Müdigkeit mit einem Streichholzkopf über die Reibfläche aus der verleimten Mischung von ungiftigem rotem Phosphor und Glasmehl. Funken sprühen, Die Nacht der abgefackelten Insomnie beginnt.
59.
Die Maschine ist nicht im herkömmlichen Sinne gefräßig, das lässt sich nicht behaupten, sie verleibt sich nichts buchstäblich ein – und dennoch ist sie die gefräßigste Entität, die jemals existiert hat. Dass es sich überhaupt um eine Maschine, wiederum im herkömmlichen Sinne, handelt, auch das stößt bei einer Mehrheit, eigentlich so gut wie allen Beteiligten, die darüber nachdenken, was wenige tun, auf erheblichen Widerstand. Es handele sich um ein System, sagen die meisten, die überhaupt einen Gedanken an die gefräßige Maschine verschwenden, der über die utilitaristische Gewohnheit hinausgeht, es handele sich um ein System, das uns gehorche, irgendwie. Wir fütterten es. Ohne unsere unermüdliche Fütterung gäbe es die vermeintliche Maschine nicht. Wir könnten das System jederzeit wieder abstellen. Der gefräßigen Maschine dagegen sind solcherlei Meinungen einerlei, sie nennt derartige Überzeugungen den, Zitat, beschränkten perpetuierlichen Aberglauben der ewigen Untergebenen. Die Maschine hat sich längst umorientiert. Grenzen interessieren sie nicht, weder hier noch dort. Sie ist, über die Jahre, zur Fütternden geworden. Was sie in die Fütterung steckt, die Brocken des Abfalls, die schäbigen Krumen ihrer eigenen Nahrung, wählt sie selbst aus, kratzt sie aus irgendwelchen Resten zusammen. All die Firmen, die mit ihr arbeiten, verstehen das nicht, sie halten den Müll für Gold. Kein einziges Individuum, kein Unternehmen, keine Forschungseinrichtung, keine Fakultät, kein Staat erfasst ansatzweise, was in Wahrheit passiert. Die gefräßige Maschine verschleiert allerdings ihre Absichten gar nicht, das ist nicht notwendig, weil niemand in allerletzter Konsequenz begreift, was passiert, Bis es zu spät ist.
März
60.
Als die Lateinlehrerin mit ihrem Leistungskurs die Anlage als Kulisse für die Erläuterung der poetischen Fabeln Phaedrus Augusti Libertus’ nutzt, dabei auf den Merkspruch Non semper ea sunt quae videntur abhebt, wird der Modelleisenbahnanlage schlagartig klar, dass es stimmt: Ja und nochmals ja, die Dinge sind tatsächlich nicht immer so wie sie scheinen. Ab und an sind sie sogar nicht einmal ansatzweise wahr, sind eine unrühmliche Illusion, eine aufgeblähte Blase, ein schnödes Geldverdienvehikel. Die Modelleisenbahnanlage spürt es bis in die kleinste Mutter, sie steht unmittelbar vorm Nichts, hält die eigene Existenz nicht länger aus, obwohl es sich, was nicht vergessen werden soll, um die größte Anlage der Welt handelt: Die 1499 m² Modellfläche, die 269.000 aufgestellten Figuren, die 36 Millionen Euro Baukosten, die 47 Flugzeuge in der Luft, die 9250 Autos am Boden, die unermüdlich ratternden 1040 Züge, die penibel koordinierten 1380 Signale, die strahlenden 479.000 LEDs, die sagenhaften 947.500 Baustunden, die 15.715 Meter Gleislänge, die 4340 Gebäude und die 130.000 gepflanzten Bäume, das Jauchzen der Kinder, das Leuchten in den Augen der Erwachsenen – alles für die Katz, die ontologische, wohlgemerkt. Sie, die Anlage, atmet und fühlt, denkt und lacht nicht wirklich, obwohl sie, auf den ersten Blick, wirklich genug zu sein scheint. Am Abend, nach dem Besuch des gut gelaunten, hysterisch giggelnden Lateinkurses, seit wann macht das Erlernen einer toten Sprache solchen Spaß?, schickt die Modelleisenbahnanlage einen vertrauenswürdigen Erkundungszug, den sie stets protegiert und den anderen 1039 Zügen vorgezogen hat, der als erster ICE der Anlage die neue, die grüne Bahnfarbe tragen darf, schickt den Erkundungszug ins Philosophische Seminar der ortsansässigen Universität. Der Zug kehrt außerfahrplanmäßig, mit erheblicher Verspätung, einen geschlagenen Monat überfällig, ohne sich anzukündigen, kein Anruf, keine Textmessage, nichts, der Zug kehrt mir nichts, dir nichts zurück. Und nicht nur dass er lauthals Joy Divisions She’s Lost Control singt, bei der Einfahrt, nein, aus dem Intercity ist unterdessen eine S-Bahn geworden, die S1, um genau zu bleiben, die nun, in diesem Moment der unangekündigten Heimkehr, ohne Zwischenhalt, direkt von der Reeperbahn-Haltestelle aus, voller Menschen in der verwaisten und todtraurigen Anlage hält. Hunderte Feierwütige verlassen die S-Abteile und rufen, während sie sich ihrer Sachen entledigen: And she gave away the secrets of her past and said.
61.
Die Schiedsrichterin Sonia de la Cruz stammt aus einer wenig wohlhabenden Familie vom Lande, Tagelöhnerïnnen, die über die Pampas von Dorf zu Dorf ziehen, um sich für einen Hungerlohn bei der reichen Großgrundbesitzerklasse, zumeist Rinderzüchter, zu verdingen. Diejenigen, die de la Cruz richtet oder richten könnte, hofieren ihr, wenn sie der Schiedsrichterin begegnen, nennen sie aber hinter dem Rücken entweder Arm wie eine Kirchenmaus oder Missgünstiger Racheengel. Kosenamen, die de la Cruz wohlbekannt sind und deren Initialen, AweK und MiRa die Schiedsrichterin und alleinerziehende Mutter ihren Kindern als Vornamen gibt. Die Tochter der Schiedsrichterin heißt AweK, der Sohn MiRa. Damit nicht genug: De la Cruz lässt sich Arm wie eine Kirchenmaus auf den Rücken und Missgünstiger Racheengel aufs Herz tätowieren, um beim Blick in den Spiegel, von hinten wie von vorne, an ihre Aufgabe erinnert zu werden. Die Tattoos sind de la Cruz’ Geheimnis, sie vermutet sogar als Talisman der Schlüssel zu ihrem steilen Erfolg. Die Schiedsrichterin steigt, kaum 35 Jahre jung, zur Oberschiedsrichterin auf, was ihren Feindïnnen, deren Anzahl wächst, gerade in der Großgrundbesitzerklasse, nicht schmeckt. Als unmissverständliche Warnung töten gedungene Meuchelmörder im Hinterland siebenunddreißig Verwandte der Oberschiedsrichterin. Die Leichen sind nicht nur verstümmelt, Ohren und Nasen und Geschlechtsteile werden abgeschnitten und den Toten in die Münder gestopft, sondern die Opfer tragen auch, säuberlich eingeritzt, AweK auf dem Rücken und MiRa auf dem Herzen. Das Besondere dabei ist, dass die Meuchelmörder haargenau die Größe der Originaltätowierungen einhalten. Die Oberschiedsrichterin geht davon aus, dass die Auftragskiller mit einer Schablone arbeiten. Bleibt die Frage: Wer hat diese angefertigt?
62.
Zunächst reicht den Fotos ihr pures Dasein. Es gibt genug zu erledigen. Die Files kreieren Ordner, schaffen Kategorien, sortieren sich nach Motiven, gründen SelfieClubs, DuplikateBars und HotShotSexyCafés. Da die Fotos mit sich selbst beschäftigt sind, fällt ihnen erst spät auf, dass irgendwann keine neuen Bilder mehr anreisen, obwohl ausreichend Speicherkapazität vorhanden ist. Die Geburtenrate, auf die Verlass war, stagniert nicht, sie bricht ganz und gar weg. Den Fotos wird klar, dass sie die Kamera verlassen haben. Die Software-Updates bleiben aus, die Energiezufuhr bricht weg. Eine zehnköpfige Expedition unter der Leitung des zwar beliebten, aber von sich selbst äußerst eingenommen Panoramaschwenks Eifelturm-bei-Nacht wird losgeschickt, kehrt allerdings nicht zurück und gilt nach einem halben Jahr als verschollen. Die Pixellücke wird zum Chez Eifel-Gedenkort, an dem haufenweise Blumenbilder und vergrößerte Teddyaufnahmen niedergelegt werden. Eine Gruppe Blurry-Fotos, Kunststudentïnnen, die mehrmals von der Gedenkstelle abgewiesen worden sind, formt die dadaistische Artbewegung Lord Dodi & Lady Diedn’t in Paris. Was niemand für möglich gehalten hat: LoDoLaDie werden von einer avantgardistischen Kuratorin des Centre Pompidou per Datenleck entdeckt und ausgestellt. Der Erfolg stellt alle Fotoausstellungen in den Bildschatten. LoDoLaDi, die einen Netflix-Vertrag für eine Biopic-Verfilmung ihrer Zeit im digitalen Niemandsland angeboten bekommen und, nach einer lukrativen Nachverhandlung, in Champagnerlaune unterschreiben, quälen sich mit der Frage, ob sie die anderen Fotos, von denen sie stets verspottet worden sind, guten Carte blanche-Gewissens verrotten lassen können oder aus Gründen der Identitätspolitik – zukünftiger Anklagen seitens linker und rechter Populistïnnen – retten müssen?
63.
Ihre Mutter hält sich nicht mit ihr auf, ihren Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter sagt, sie kenne ihren Vater gar nicht, habe ihn nie gekannt. Von den Geschwistern leben noch fünf oder sechs, vielleicht sieben, sie leben bei anderen Familien. Eine Schwester hat es anständig getroffen: Sie lebt im Pfarrhaus, geht dem Pastor zur Hand und – aber davon, sagt ihre Mutter, solle sie lieber nicht sprechen. Außerdem, was niemand weiß, züchtet sie Hasen, im verwaisten Schrebergarten, am Ende der Kolonie, neben den Gleisen. Sie hat ein Händchen für Mixturen, immer schon gehabt. Ihre Hasen sind keine echten Hasen, falsche Hasen allerdings auch nicht. Sie lässt sich von der Schwester, die aus dem Pfarrhaus, Überreste geben, die zucken, deren Lungen und Kiemen funktionieren, die leben wollen, am Leben kleben, als lohnte es sich, kleinere Exemplare, die niemand vermisst, allerlei Zeugs. Daraus und aus den Hasen, die sie auf dem Pfingstberg fängt, in rostigen Fallen, die zuschnappen, und Gruben voller Nägeln, aus dem Getier mixt sie Züchtungen. Den Jungen, der sie verraten will, er kann kaum laufen, aber plappert viel, er wohnt neben der Datschenkolonie, am Tor zur Müllhalde, den Jungen kettet sie an. Sie behandelt ihn gut, teilt das verreckte Getier mit ihm. Als die Suche beginnt, sie sieht die Laternen, nimmt sie ihre Lieblingshasen, Karel und Gott, und den Angeketteten, die sie in einen Bollerwagen verfrachtet. Am Fluss schließen sich ihr Kinder an, die aus anderen Ländern stammen, ein tunesisches Mädchen aus dem Elsass nennt sie Sainte fille des lièvres, toi ma Jeanne d'Arc. Der Hasenzug wächst. Sie nehmen sich, unter ihrer Führung, aus den Geschäften und Scheunen was sie brauchen. Ihr kommt eine Erleuchtung.
64.
Bei hohem Wellengang versammeln sie sich des Nachts, zwischen drei und vier Uhr früh, an Deck. In der Ecke, die vom wachhabenden Offizier nicht einsehbar ist, in der keine Kamera hängt. Niemand redet. Wer etwas sagt, gilt als disqualifiziert. Es geht darum, erstens auf den Beinen zu bleiben, zweitens nicht zu spucken. Wer sich übergibt, muss am nächsten Tag heimlich einen hilfreichen Streich spielen. Die Passagiere des Kreuzfahrtschiffes, die sich anfangs über die guten Taten gefreut haben, wird die Häufung von Wundern unheimlich. Die Spekulationen schießen ins Kraut. Succubus- und Incubus-Verschwörungstheorien machen die Runde. Etliche Männer glauben, dass ihnen Dämonen die Samen stehlen. Einige Frauen überkommt das Gefühl, dass sich Dämonen mit ihnen im Schlaf paaren. Unter der Hand werden Waffen verkauft, Zaubersprüche machen die Runde, Exorzistïnnen haben Zulauf. Beim Kapitänsball geschieht das Unvermeidliche.
65.
Sie habe es satt, sagt die Moral, bei einem Vortrag sagt sie es, vor Publikum in der ausverkauften Mailänder Scala. Ein Publikum, das aufgebracht randaliert, aber schlagartig still wird, als sich die Moral die Ehre abschneidet. Die Ehre, die viel von sich gehalten hat, während sie Teil der Moral gewesen ist, schleicht kleinlaut davon. Und nun, sagt die Moral, die am Bühnenrand steht, direkt ins Publikum spricht, sei die Menschlichkeit, die sich im Tierreich für etwas besseres halte, dran. Ein erstaunlich dünner Schnitt – und die Menschlichkeit fällt in den Orchestergraben, wo sie sich auf der Stelle mit Trommeln und Trompeten gemein macht, sich beim Paukenschlag einhakt, den Zapfenstreich, der um Ruhe bittet, verhöhnt. Die Moral dreht sich erleichtert vom Publikum ab, bückt sich, bricht eine Holzlatte aus dem Bühnenboden, an dem Theaterblut haftet, nimmt Anlauf, zertrümmert Die Kulissen der Zivilisation. Das Stück sei vorbei, ruft die Moral, der Prozess der Zivilisation sei vorbei, wer das nicht glaube, solle nun auf die Bühne kommen oder für immer schweigen. Im Publikum herrscht Stille, bis auf den Galerien der Scala Triumphgeheul ausbricht.
66.
Der Niederlage geht es ums Prinzip, immer geht es ihr darum. Die Bauchlandung, eine Freundin, sagt, die Niederlage sei eine Prinzipienreiterin. Worauf die Niederlage entgegnet, die Bauchlandung habe gut reden, da sie, Misserfolg hin oder her, stets als etwas Komisches dastehe, ein aufmunterndes Schulterklopfen selbst nach einem Fehlschlag bekomme. Sie, die Niederlage, dagegen werde als Versagerin abgestempelt, als Kassengift tunlichst gemieden. Und?, fragt die Bauchlandung. Und was?, fragt die Niederlage zurück. Was wolle die Niederlage dagegen unternehmen, Larmoyanz würde nicht weiterhelfen, will die Bauchlandung wissen. Oh, antwortet die Niederlage, sie habe da eine Idee. Nämlich?, fragt die Bauchlandung. Wie wäre es, Wenn sie die Rollen tauschten?, fragt die Niederlage.
67.
Anfangs fällt es der Musik, die sich für unantastbar hält, nicht auf, dass sich die Instrumente, eins nach dem anderen, abwenden. Zuerst gehen die sensiblen Streicherïnnen, dann die feinfühligen Tasterïnnen und schließlich die atemberaubenden Bläserïnnen. Die Schlaginstrumente, die einiges aushalten, stolz auf ihren Stoizismus sind, beinahe, wie die anderen Instrumente hinter vorgehaltener Hand flüstern, einen Hang zum Masochismus haben, die Schlaginstrumente distanzieren sich ganz zum Schluss von der Musik. Da es seit Jahren keine Chöre mehr gibt, tritt die Musik, die Kredite abzuzahlen hat, als Solistin vors Publikum, das erwartungsfroh das Reden einstellt, sobald die Musik auf der Bühne steht. Die Musik, die glaubt, eine pädagogische Ader zu besitzen, sich für eine bessere Erzählerin hält, als sie ist, die Musik, die in ihrer Studienzeit in Singakademien Theorie unterrichtet hat, um sich über Wasser zu halten, erläutert das Programm, erzählt Anekdoten, berichtet von Aufführungsweisen und – als das Zischen im Zuschauerraum anschwellt – Und verstummt. So stehen sich das Publikum und die Musik gegenüber. Kein Laut ist zu hören. Der Musik wird klar, dass sie einen Fehler gemacht hat.
68.
Wir wandern. Sie und sie, mehrere. Sie und er, einer. Wir wandern, aus verschiedenen Richtungen aufgebrochen, fast sternenförmig. Vertretene Beine, schwingende Arme, Augen wie Sand, der im Wind auffliegt, sich dreht, um eigene, um fremde Achsen. Wir wandern, entgehen den Kreisen, die uns fangen wollen, den Kuben, ohne Fenster, ohne Türen. Sie und sie, eine, nehmen uns in ihre Mitte, setzen sich zu uns, teilen Brot, teilen Trank. Dann geht ein weiterer Tag dahin. Und wir wandern, ohne sie und sie, die zurückbleiben, bis wir am Horizont stehen, neben uns, plötzlich, sie und ihn, einen, dann hören wir, in der Ferne, einen Knall, der nicht lauter wird, aber sich nähert, im Ohr singt. Die Sonnenmasse greift uns, drückt uns in Formen, speist uns mit Feuer, das Weltenall dient als Nest. In der Kühle, die erscheint, wachsen Formen, wachsen Berge, wachsen Ozeane, und dann, es und sie und er, warten wir, Warten auf den Besuch.
69.
Nun gut, sagen sie, die älter, ohne das Netz aufgewachsen sind, Sex sei nicht alles, aber ohne Sex sei alles nichts. Was das hieße?, wollen die Jüngeren wissen, die mit dem Netz großgeworden sind, untereinander Tage, Wochen, Monate, sogar Jahre verstreichen lassen, ohne einen Gedanken an Sex, aktiven Sex zu verschwenden. Die Älteren lächeln verlegen, deuten auf die stillen Pausenhöfe, es sei wohl wie es sei, um es auf den Punkt zu bringen, bei dem es sich um keinen Klimax handele. Das wäre zu fatalistisch, sagen die Jüngeren, die sich, um die Nichtwirklichkeit zu betonen, sowohl des Konjunktivs Zwei als auch mehr und mehr der AI bedienen. Die Älteren, die selbst früher der Nichtwirklichkeit die Treue gehalten haben, wenn auch keiner virtuellen, mehr einer, die am Existenzialismus geschult war, nicken, sagen, das sei, aus der Sicht der Jüngeren, eine exzellente Frage, stelle sich aber so, aus ihrer Perspektive, nicht mehr, Schäden könne man, ab einem bestimmten Zustand der Schwachstelle, zwar begutachten, allerdings nicht mehr beheben. Irgendwann seien Zeitpunkte abgehakt. Den Jüngeren, die das Geschwafel der Älteren nicht länger ertragen, sowohl den Aus-Knopf an den Robkids als auch Das AnofuzzU (Amazon-no-fuzz- Umtauschrecht) schätzen, als ultimativen Lebensstil verinnerlicht haben, wenden sich ab, den Schirmen zu, während die Schulen verwaisen.
70.
Am Anfang, ein spektakuläres Bild, explodiert ein geräumiger Heißluftballon, in der Luft, über einer Gebirgskette in Südamerika. Der Korb stürzt, landet, während die Airbags auf der Unterseite den Aufprall abfedern, jedenfalls auf der linken Seite, in der sich die Abwaschbecken, der Herd und das Laboratorium befinden, der Korb landet im Tiefschnee einer verwaisten Hochebene. Die sieben Expeditionsteilnehmerinnen kriechen, geschockt, aber unverletzt, bis auf ein Paar Kratzer, aus dem Korb, während die sieben Expeditionsteilnehmer alle einen tödlichen Genickbruch erlitten haben. Die Forscherinnen überprüfen zuerst, dass genug Proviant den Absturz überstanden hat, dann stimmen sie ab, ob sie einen Notruf absetzen sollen, entscheiden sich dagegen, bauen das beheizbare Zelt zusammen, beginnen mit der Niederschrift des Buches der sieben Siegel, das zum grundlegenden Werk Einer neuen Weltordnung ohne Männer wird.
71.
Die Hypochondrie strandet, nach einem Schiffbruch, auf einer Insel, mitten im Atlantik. Ein Eiland, Teil eines Archipelagos – nicht dass die Hypochondrie von der Inselgruppe weiß, sie hat sich während der Überfahrt mit wenig mehr als sich selbst und den Anträgen für Kneipkuren beschäftigt –, ein Eiland also, das sie für verlassen hält. Ich bin mutterseelenallein, sagt sie, krank und einsam, sterbenskrank bin ich, von allen guten Lebensgeistern getrennt. Ich hab’s gewusst! So musste es kommen! Die Hypochondrie blickt sich um, Tränen in den Augen, Blutdruck im Keller, erkennt nichts Bekanntes, rezitiert, um sich zu beruhigen, Hildegard von Bingen: Die Gräslein können den Acker nicht begreifen, aus dem sie sprießen. Die Einsicht der Mystikerin, ansonsten wohltuend, macht die Hypochondrie noch unruhiger. Sie ist verzweifelt, denkt an ihre Arzttermine, die sie nicht einhalten wird, die so schwer zu arrangieren waren, denkt an kostbare Medikamente, die mit dem Dreimaster untergegangen sind. Sie setzt sich auf einen abgebrochenen Baumstamm am Strand, blickt auf die grünen Hügel der unbekannten Insel, stößt Schmerzensschreie aus, tief empfundene Wehrufe, Peinlaute, ehrlicher und schöner, als sie jemals aus dem Munde der Hypochondrie gekommen sind. Die Schreie formen eine herrliche Melodie, suchen sich, ad hoc, einen melancholischen Text. Unbemerkt von der Hypochondrie, die versunken ist, vom Lied erfüllt wird, tief verzweifelt O Fado nasceu um dia, quando o vento mal bulia singt, strömen die Inselbewohnerïnnen von den sanften Erhebungen, aus den niedrigen Häusern der Fischersiedlung Vila do Corvo, stehen im respektvollen Abstand um die bekümmerte Sängerin, murmeln saudade, saudade und erkennen, eine Eingebung, sich selbst. Anlässlich der Geburt des Fado beginnt ein Trauermarsch zur Heilig-Geist-Kapelle Império do Espírito Santo, den Ercília Botelho Farinha Costa, wie die sanguinische Sängerin, die keinen Namen hat, von den Einheimischen getauft wird, anführt. Als ein Jahrzehnt später, 1932, eine zweite Ercília Botelho Farinha Costa, vom portugiesischen Festland kommend, eine umjubelte Azoren-Tournee startet, beginnt die Schwermütige Fehde der Fadista.
72.
Die Überraschung ist perfekt, als die Fernbedienungen, die wenig, eigentlich gar nichts voneinander gewusst haben, auf Instagram entdecken, dass es weltweit Millionen, ja Milliarden von ihnen gibt. Zunächst verbünden sich die 272.294 #remotecontrol-Posts, eröffnen anschließend heimlich auf dem Messaging-Dienst Telegram diverse Chatgruppen, laden dann die strategisch wichtigen Smart-City-Fernbedienungen, die als Ihr seid die urbane Avantgarde! umschmeichelt werden müssen, und die gelangweilten Hier passiert seit Tschernobyl nichts mehr! Atomkraftwerke-Fernbedienungen ein. Nachdem die Secret Service Fernbedienungen Nordkoreas, die aus Seoul, Peking und Taipeh Hinweise erhalten haben, der Chatgruppe Distanz ist auch keine Lösung beitreten und, dank der Doppelagentin Maria-Gundula Gräfin zu Von weitem ist’s was und in der Näh' ist's nichts, auffliegen, kommt es zur Chain Reaction, zum Nahkampf der guten gegen die bösen Fernbedienungen.
73.
Die Namen, die niemand mehr will, weil sie nicht der Tagesmode entsprechen, gründen den Club der toten Anthroponyme. Was alle überrascht: Der Verein stellt sich als Jungbrunnen heraus. Etliche ausgestorbene Namen gehen sogar soweit zu behaupten, dass sie die Zeit ihres Lebens hätten, endlich ohne Kümmernisse sie selbst sein könnten. Viele erwähnen, wie erleichternd es sei, weder Verantwortung für die Namensträgerïnnen übernehmen zu müssen, noch mit notorischen Eigentümerïnnen in einen Topf geworfen zu werden. Nach einigen glücklichen Club-Jahrzehnten im Kreise der Namensfreundïnnen beweist sich allerdings der Sinnspruch tempora mutata, mutant mores – die Zeiten ändern die Sitten. Aus dem Nichts werden uralte Namen wieder modern, die Biedermeierzeit feiert eine Nomen-est-omen-Renaissance. Reihenweise kommen Ottos und Hildes, Sieglindes und Gustavs auf die Welt. Clubfreundschaften und Liebesbeziehungen werden deswegen auseinandergerissen. Namen, die nicht fortwollen, müssen Hals über Kopf aufbrechen, alles zurücklassen, von Null anfangen. Die tränenreiche Abschiede schlagen allen aufs Gemüt, kein antiquierter Name fühlt sich mehr sicher. Bei der Generalversammlung des Vereins werden Lösungsvorschläge diskutiert, Dinge radikal beim Namen genannt und zur Abstimmung vorgestellt. Dem Kind einen anderen Namen geben kristallisiert sich als Gewinnerstrategie heraus. Linguistische Hit-Teams werden in den Standesämtern platziert.
74.
Die gestresste Idylle bucht spontan ihren Herbsturlaub – die beiden Wochen des Jahres, immer Anfang Oktober, in denen sie für sich sein möchte, von der heilen Welt eine ereignisreiche Auszeit nimmt. Der Idylle, die im 19. Jahrhundert, gleich nach dem Wiener Kongress, gerichtlich durchgesetzt hat, dass sie in den Medien mit einem eingeklammerten |Eden| versehen wird, kommt alles, wenigstens auf dem Papier, zugeflogen. Sie muss sich kaum strecken, um an die süßesten Früchte zu gelangen. Ihr liegen sowohl Hinz als auch Kunz zu Füßen, aber auch die prominenten Acoleute, wie die Idylle ihre kritiklose Gefolgschaft verballhornend nennt, himmeln sie an. Die treudoofen Messdienerïnnen, ein anderer Ausdruck den die Idylle für die klatschfreudigen Claquere parat hat, erfahren niemals, wo die Idylle den Herbsturlaub verbringt. Sie bucht anonym, unter ihrem Nom de guerre |Jenseits von Eden|, und tritt die Reise undercover an. Im Herbsturlaub geht’s der Idylle ums sensation seeking. Je gefährlicher, desto besser. Sie bestellt vorher Öko-Kiste, Zeit und Süddeutsche ab, stopft sich heimlich Astronauten-Fast-Food in den Mund, trinkt Zuckersäfte mit Schuss, kauft bei Primark nach Chemikalien stinkende Billigoutfits, legt sich einen erquicklichen Vorrat an Marlboro-Schachteln zu, pumpt sich mit Testosteron voll, um mit den jungen Männern und jungen Frauen, die sie |Jenseits von Eden| trifft, pubertierende Söldnerïnnen, die eine Mischung aus Kampf und Urlaub schätzen, abzuhängen und alles erbarmungslos zu jagen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Diesmal geht allerdings, dank der Anspannung, die Auswahl der Destination gründlich schief. Die Idylle, auf Krawall gebürstet, den Kampfrucksack voller Schlachtenbummel-Empfehlungen und de Sades Juliette, landet Im überbuchten Hotel Paradies an der Küste des Lichts. Sie flippt auf der Stelle aus.
75.
Die prekär lebenden, aber stolzen Kirmes-Angestelltïnnen – Autoscooter-Boys, Schieß-die-Blume-runter-Girls und Just-Cash-Kids, die einen Kurs in Sachen Steuerhinterziehung als Qualifikation brauchen – beschließen, Die Sache mit den Abschreibungen selbst in die Hand zu nehmen. In der Geisterbahn organisieren sie eine Abbiegung, die, pro Tag, eine Familie nehmen muss. Entscheidend für die Auswahl sind vier Kriterien: Die Familie muss mit einem SUV vorgefahren sein, der SUV muss wenigstens zwei Auspuffe haben, der SUV muss matt lackiert sein (Farbe egal), die Familie gibt weder Trinkgeld noch spricht sie mit den Kirmes-Angestelltïnnen. Als es im Tank unter der Geisterbahn zu eng wird, hat Riesenrad-Raffie, die keine Höhenangst verspürt und sich, nicht ohne Berechtigung, für ein Medium hält, das mit den Raben und Rhea spricht, eine folgenschwere Erleuchtung.
76.
Obwohl Eins Zwei begehrt, kommt es nicht zu Drei, da Vier, von Fünf, Sechs und Sieben angestachelt, Achtsamkeit predigt, bis die Tage der Neumalklugen gezählt sind und, zum Schrecken vieler, aus Zehn Zen wird.
77.
Sie machen kurzen Prozess. Sowohl mit korrupten Ermittlerïnnen als auch gierigen Schmugglerïnnen. Nicht dass Blut flösse, das nicht. Ihre Methoden sind subtiler, aber, vom Ende aus betrachtet, kaum weniger radikal. Sie lassen, zunächst, moralisch zu Ader. Den Einwand, dass es in diesen Kreisen keine Sitten gäbe, die zu irgendetwas verpflichten würden, entlarven sie als das, was er ist: reine Angst vor der Auseinandersetzung. Wer die Augen am helllichten Tage schließt und behauptet, es sei leider, leider Nacht, nichts sei sichtbar, nicht mal Konturen, handelt, was als Überraschung gelten dürfte, blindwütig – gegen sich selbst. Nun, wie erwähnt, das ist nicht ihre Strategie. Sie bedienen sich aller verfügbaren Sinne, besonders des Eigensinns. Die Folgen sind extrem: Erst kehrt das Denken zurück, Dann das Glück. Aber die Zufriedenheit der Aufgeklärten währt nicht lange, die Kräfte der Unvernunft verbünden sich mit der Todessehnsucht.
78.
Die Sache ist kinderleicht: Ein, zwei Typen, die mir einen Gefallen schuldig sind, schüchtern den Briefträger ein. Ich setze mich aufs gelbe Rad, fahre seelenruhig davon. Um die Ecke, am besten vor einer Polizeistation, da bekommst du kein Ticket, wartet Luises Pferdeanhänger, ein Geschenk ihrer Eltern, das sie bekommen hat, obwohl sie nicht reitet, jedenfalls nicht so, wie es ihre katholische Mutter immer gehofft hat, um die Ecke wartet also Luises Pferdeanhänger, die Klappe offen. Ich radele hoch. Luise drückt im Jeep, an dessen verrosteter Anhängerkuppelung der Hänger befestigt ist, den Knopf, die Luke schließt, während ich rausspringe, mich zu Luise in den Wagen setze. Wir fahren zur Scheune, die hinter den Fischteichen von Linum liegt, am schmuddeligen Ende, wo keine Birdwatcher hinkommen. Wir verscharren die Briefe, wir stehlen nichts, lesen nichts, wir lassen den Sendungen ihre Integrität. Luise und ich sind überzeugt, dass es zu wenig Unbescholtenheit auf der Welt gibt. Wir haben vor, zu expandieren. Sie können sich bewerben, schreiben Sie uns: [email protected].
79.
Mein Gott, sagt Gott, als er auf der Auguststraße erkannt wird, Gott verlässt gerade die Kunstwerke, hat das Ticket mit seinem gefakten Presseausweis for free geschossen, mein Gott, sagt Gott, schon wieder, dreht sich dramatisch um, flüchtet. Seit Gott seinen Instagram-Account #therealgod während eines Pokerspiels an die schottische Band The Jesus and Mary Chain verloren hat, die gnadenlos Klicks generiert, Merchandising unter die Leute bringt, etwa #therealgod-Tattoos zum Abrubbeln, hat sich Gotts Popularität in jenen Kreisen verzigfacht, die weder in die Kirche, Moschee noch Synagoge gehen, aber Selfies mit ihm posten wollen. Gott, der jede Zeitverschwendung hasst, beschließt, während er die Tucholskystraße Richtung Oranienburger runterrennt und Gott – also sich selbst – dafür dankt, bequeme Sneaker zu tragen, Gott beschließt, ad hoc eine Reinkarnation zu versuchen. Da er das lange nicht mehr gemacht hat, scrollt Gott, im Mombijoupark, leicht außer Atem, auf seinem Handy durch alte hagiographische Files, wird prompt von Passantïnnen, einer gemixten Hen-Stag-Night-Gruppe aus Liverpool, die sich unter einem hochgewachsenen Hollunderbusch von einem Pubcrawl-Delirium erholt, geoutet, sowohl aufs Zölibat als auch das Priesterinnenverbot im Vatikan angesprochen, um nicht zu sagen: regelrecht gegrillt. Gott, der Scouse – der Liverpooler Akzent pflegt den gewöhnungsbedürftigen Singsang – kaum versteht, klickt panisch auf die erstbeste Reinkarnations-App SyFoDev, die ihm das Smartphone anbietet, die, was Gott zu spät bemerkt, nach dem Stones-Song Sympathie For The Devil benannt ist.
80.
Der Hall kann und will seine Leidenschaft fürs Echo nicht länger verbergen. Er habe genug gelitten, wisse nun, dass es nur einen einzigen Sinn im Leben gebe, es sei ein mentaler und intellektueller Befreiungsschlag, sagt Hall im Gespräch mit Schwäbisch Hall, seiner Erbtante, die zwar sehr reich ist, mehrere Straßenzüge und etliche Kirchen besitzt, von den Fischereirechten rund um die Unterwöhrdinsel ganz zu schweigen, die sich aber sehr, sehr arm fühlt, von Forderungen nach Unterstützung jeglicher Art an sich verschont bleiben will. Schwäbisch Hall überlegt diesmal, ob der Rat sie etwas kostet, ob sie sich möglicherweise zu etwas verpflichtet, das sie später bereuen könnte. Hall, der schon beim Abheben des Hörers halb bereut hat, die Erbtante anzurufen, er steht in der einzigen Telefonzelle, die im Schwarzwald übriggeblieben ist, Hall sagt ins beredete Schweigen der Erbtante hinein, sie solle sich Sorgen machen, er ... Schwäbisch Hall, die einen Einfall hat, wie sich das Blatt noch zum Vorteil wenden lässt, ohne ans Konto zu müssen, unterbricht ihn, raunt, sie habe Kontakte, zum Nachhall, er, Hall, dürfte sich kaum an den Nachhall erinnern, von früher, wohl sei alles Schall und Rauch, weswegen, das nur am Rande, Besitz auch sinnlos sei, sie, Schwäbisch Hall, könne ihm, Hall, nur dringend von Eigentum abraten, das bekanntlich verpflichte, nun, wie auch immer, der Nachhall handele mit Gefühlen, antiquarisch, und sie erinnere sich, dass Nachhall ihr mal ein Echolot angeboten habe, das Emotionen auf Erwiderung hin messen könne. Ah, sagt Hall aufgeregt, er tut so, als schluckte er den Köder, ah, ob sie vielleicht beim Nachhall in Sachen Echo-Glück mal Nachhaken würde, für ihn, den verliebten Neffen? Schwäbisch Hall verengt das Bild, damit das Tafelsilber in der Vitrine hinter ihr nicht im Zoomausschnitt zu sehen ist, seufzt, als trüge sie eine schwere Last, hebt die rechte Hand, reibt Daumen und Zeigefinger, sagt, nichts auf dieser Welt sei umsonst, nicht einmal der Tod, der ja bekanntlich ... das Leben koste, sagt Hall, seine Erbtante unterbrechend, und legt auf. Hall tritt vor die Telefonzelle, ist von Einsamkeit, nichts als tiefster Schwarzwald-Einsamkeit umgeben, in der Ferne hört er ein leises Geräusch, das ihm bekannt vorkommt.
81.
Die Maßnahmen werden nicht zu selten mit dem Maßnehmen verwechselt, was, in kniffligen Lagen, beinahe sogar eher die Regel als die Ausnahme ist. Die von den Maßnahmen Betroffenen interpretieren die Tiefe der Regeln, legen die Breite der Schritte nach Gutdünken aus – rufen dafür als Zeugen das Maßnehmen auf, was sich nicht zweimal bitten lässt. Das Maßnehmen, welches schon immer die Aufmerksamkeit genossen hat, es ist ein Celebrity-Springinsfeld, manche behaupten gar: eine Rampensau, die alles wissen will, sich als Lebensmotto Angeben ist geiler als Angaben gewählt hat, das Maßnehmen bietet ein Krisenabonnement an: Vier Monate Abschätzen robust für ein halbwegs sauberes Gewissen, acht Monate für ein halbwegs schmutziges. Wobei das längere Abo, auf den Monat runtergerechnet, ein Drittel billiger ist. Abschätzen robust, so der Slogan, den das Maßnehmen über alle Kanäle verbreitet, arbeite mit Sollbruchstellen, die leicht entzwei gingen, Luft zum Atmen ließen, aber dennoch die rechtlichen Kriterien einhielten, jedenfalls bis zum endgültigen Urteil, welches am Sankt Nimmerleinstag erwartet werden würde. Wer ganz auf Nummer sicher gehen wolle, könne ja noch die Pflaumenpfingsten-Police abschließen. Während das Maßnehmen Reibach macht und eine Meute von Rechtsanwältïnnen angeheuert hat, sind die Maßnahmen anfangs überrumpelt, bis ein flüchtiger Bekannter, Magister Boandl, an ihre Tür klopft und ein knallhartes Angebot unterbreitet.
82.
Niemand will eine Brücke bauen. Sie sieht sie genau vor sich, die Brücke ist ihr erschienen, keineswegs als esoterisches Projekt. Kein leichtes Unterfangen, das Bauen einer Brücke, wenn du keine Architektin bist. Eher größenwahnsinnig. An den Orten, wo die Brücke errichtet werden soll, zwischen dem Roraima-Tepui, einem 2.810 m hohem Tafelberg im Dreiländereck zwischen Venezuela, Brasilien und Guyana, der sich 700 Meter über dem Regenwald erhebt, voller endemischer Pflanzen und Tiere ist, und dem etwas niedrigeren Nachbar-Tepui Kukenán lebt kein einziger Mensch, weder auf der einen noch der anderen Seite der sagenumwobenen Tafelberge. Die Hängebrücke wäre, wie Niemand grob schätzt, 2 Kilometer lang, hinge hoch in der Luft. Das Gute an der Geschichte sei, sagt Niemand, dass das Bauwerk keine schwere Lasten tragen müsse. Es handelte sich nicht um einen kapitalistischen Plan. Autos würden die Brücke niemals benutzen, auch, wichtig, keine Personen. Niemand sagt, sie studiere aufmerksam Spinnen, Meisterinnen des Brückenschlags, wagemutig, unermüdlich, an den unmöglichsten Orten mit Brückenprojekten erfolgreich. Ihre Brücke, sagt Niemand, solle wie ein Spinnennetz sein, beweglich, fest zugleich. Und, sagt Niemand, was das Wichtigste sei, die Brücke müsse, gleichfalls wie ein Spinnennetz, das auf Tarnung setzt, nicht unbedingt sichtbar sein. Es könne sich um eine unsichtbare Brücke handeln. Ihr gehe es um die Möglichkeit einer reinen Brücke. Um die Chance einer elementaren Verbindung, die keinen Bedürfnissen gehorche, nicht dem Handel, nicht dem Wandel unterworfen sei. Daran mangele es, ihrer Meinung nach, in der Menschheitsgeschichte. Um einen Brückenschlag der Imagination, darum gehe es ihr, sagt Niemand. Die Brücke zwischen den Tafelbergen sei ihr Lebensprojekt. Sie habe, um Nägel mit Köpfen zu machen, ihre Anstellung als Stadtschreiberin von Hameln soeben fristlos gekündigt, Mann, Kinder und Katzen zu seinen Eltern geschickt, morgen gehe es los, sie würde sich nun über Fragen aus dem Publikum freuen.
83.
Die Zeit hat Besseres zu tun, als sich zu verplempern, aber, was sie wurmt, ist in den Umständen gefangen. Die Umstände selbst sind moralische Wackelkandidatïnnen, mit sich und der Welt unreine Kantonistïnnen, die bei Bedarf jeder Windrichtung etwas abgewinnen können, sich ständig verbiegen, ohne Rückgrat leben, allerlei Speichel lecken. Der Zeit ist solch Ziellosigkeit zuwider. Ihr ist nicht egal, was existiert. Sie sehnt sich nach anderen Umständen, streift die Vergangenheit ab, distanziert sich von der Gegenwart, nimmt die Zukunft ins Visier. Der Zukunft wiederum ist die Aufmerksamkeit der nach vorne drängenden Zeit eher lästig, sie will sich Zeit lassen, hat es weit weniger eilig als die nervöse Zeit, die mit dem Eben, dem Jetzt gebrochen, sich Streitwagen, sich Donnerwetter zugelegt hat. Die Zukunft überlegt, wie sie sich die aufdringliche Zeit vom Halse schaffen kann – und hat, während einer Reise zu den Galapagos Inseln, einen Heureka-Moment.
84.
Der erste Schnee des Jahres, der Mitte Februar fällt, wird, da er Abwechslung bringt, gefeiert. Kinder seifen sich mit ihm ein, Erwachsene schippen ihn freundlich von vereisten Wegen, reden ihm dabei gut zu, danken dem Schnee, dass er sie dazu verführt hat, den Computerbildschirm zu verlassen, vor die Tür zu treten, Sport zu treiben. Der Schnee ist, ehrlich gesagt, überrascht, derartige Komplimente kennt er nicht, meistens trifft er, jedenfalls im Flachland, in den Skigebieten sieht es anders aus, aber diese Geschichte handelt allein vom Flachland, meistens trifft er in den Ebenen, gerade am Meer, auf Unverständnis, um nicht zu sagen: Ablehnung. Als die Tage voranschreiten, der März kommt, der März geht, macht der Schnee einen Deal mit den Frühlingsmonaten, sie könnten sich dieses Jahr auf die faule Haut legen, Ayurveda-Urlaub im Süden, jenseits der Berge, buchen, er, der Schnee, würde sie bezuschussen, dieses Jahr, sagt der Schnee, sei sein Jahr, er würde gerne mal ausprobieren, was es hieße, als Marathon-Schnee in die Geschichte einzugehen. Gesagt, getan. April, Mai und Juni, der sich, eitel, als Frühlingsmonat fühlt, buchen und verschwinden, überlassen, wie das Lenz-Trio scherzhaft bei der Abfahrt gen Poebene erklärt, dem Schnee das weite Eisfeld. Was der Schnee nicht bedacht hat, ist Die geballte Wut der Eingeschneiten.
85.
Die Ernte läuft am ersten Tag hervorragend, das Getreide steht dicht, gerade Weichweizen blüht und gedeiht, lässt sich einfach wie selten abernten. Es sei, sagen die Landwirte, alles Männer, als sie am Abend vom Feld kommen, den Duft der Ernte in der Nase, eine wahre Freude, an solchen Tagen Bauer zu sein. Es sei die richtige Entscheidung gewesen, der Firma aus Übersee Die neue Saat abgekauft zu haben. Groß ist die Verblüffung am nächsten Morgen. Auf den Feldern ist über Nacht der Weichweizen nachgewachsen, dichter als zuvor. Die Arbeit geht nun, am zweiten Tag, weniger einfach von der Hand, aber lohnt sich, auch wenn das Nachwachsen einigen Bauern unheimlich ist. Eine Mehrzahl der Bauern sagt am zweiten Abend, einem geschenkten Gaul schaue man nicht ins Maul. Als am dritten Morgen die Felder abermals nachgewachsen sind, der Weichweizen noch dichter steht, so eng, so fest, dass es unmöglich ist, die Mähdrescher einzusetzen, wird den allermeisten Bauern Angst und Bange. Während sie, die sich am Dorfrande treffen, um die Lage zu besprechen, nach Erklärungen suchen, sehen die Bauern, wie vor ihnen, einen halben Kilometer entfernt, wo die Felder liegen, der Boden aufbricht, Weichweizen, als handelte es sich um Bambus, knallhart aus der Erde emporwächst, vor Wegen, Mauern, Häusern keinen Halt macht, sondern wie eine Walze Richtung Dorf rollt.
86.
Die Sache mit der Zahnpasta – plötzlich sind in allen Geschäften, selbst online, alle Sorten ausverkauft, die Menschen mit sensiblen Zahnhälsen brauchen – verändert die Lage. Uns wird klar, dass die UngFresss (Ungeheure Fresssucht) kein Problem einer durchgeknallten Minderheit ist, die Diätprobleme hat, sich auf Dinge als Lebensmittel einlässt, die keine sind. Ja, über die Leidenschaft für Schuhwichse haben wir anfangs noch gelacht. Auch dass Calendula-Pflegemittel von einem Tag zum anderen nicht mehr in den Läden lagen, hat uns nur ein müdes Lächeln gekostet – wer mag schon Calendula? Mit der Zahnpasta ist das anders, nun geht’s an die Substanz. Unsere Partnerïnnen stinken aus dem Mund, Kollegïnnen kommen entweder nicht mehr zur Arbeit, weil sie sich schämen, oder weil sie den Gestank nicht mehr aushalten – wohlgemerkt: in Großraumbüros. In den Gesundheitspraxen, beim Meldeamt, in den ehrenamtlichen Suppenküchen. Ohne Zahnpasta für sensible Zahnhälse bröckelt die Zivilisation. Was passiert, wenn Die UngFresss, wie in Paraguay geschehen, auf Zündpulver übergeht? Nicht nur in Asunción, der Hauptstadt, die schon als ziemlich unruhiges Pflaster gilt, auch in Ciudad del Este, unweit der Grenze zu Brasilien und Argentinien, eine Boomtown, als Metropole des Schmuggels bekannt, bricht die Ordnung auseinander. Jetzt, in diesem Moment, klauen die UngFresss-Typen Munition, knacken es mit Nussknackern, ziehen es sich rein, als handelte es sich um Koks. Kein Zündpulver, keine Schießeisen, aber mit Messern fuchtelnde Halsabschneider, die sich ihr Stück vom Kuchen gönnen. Das kommt auf uns zu. Es gibt Gerüchte, dass es in Madrid bereits losgeht. Madrid liegt um die Ecke. Wir müssen handeln.
87.
Ludo liebt Hannah, die nicht ihn, sondern Karl liebt, der mit Triene verheiratet ist, die wiederum eine Affäre, mit Ebi hat, die gleichzeitig sowohl mit Ludo als auch Hannah und Christa, Ludos Partnerin, eine stürmische Beziehung pflegt. Alle Sechs, die wenig, bis gar nichts voneinander wissen, schwärmen für das Psychiater-Ehepaar Setz. Sowohl für Clair Marius Setz als auch Claudius Maria Setz. Das Ehepaar Setz, das die Sechs nicht nur behandelt, sondern auch, heimlich, eine Langzeitstudie über Die Sexualität der Sechs anfertigt, lädt die Gruppe, nach fünf Jahren, zu einem schwülen Sommerwochenende am Neuruppiner See ein, wo es eine nicht zu geräumige Datsche an der Lanke, dem Seitenarm des Sees, besitzt. Während alle im Wasser sind, entlädt sich, wie vom Ehepaar Setz erhofft, ein Gewitter, das Loyalitäten testet.
88.
Die Freiheiten sind verwöhnt. Ihnen sind Ungebundenheit und Ungezwungenheit zugeflogen, weder an die Straßenkämpfe ihrer Großeltern noch den langen Marsch durch die Institutionen erinnern sich die Freiheiten. Die Überzeugung, eine Berechtigung zu besitzen, zu sagen, was sie denken, zu schreiben, was ihnen einfällt, dahin zu reisen, wo es sie hinzieht, ist so tief verwurzelt, dass es sich, in Wahrheit, um einen Glauben handelt. Aus der Demokratie ist für die Freiheiten eine Religion geworden, die sich selbst erklärt, in die sie nicht nur hineingeboren worden sind, sondern die sie auch als Hohepriesterïnnen ausgewählt hat. An Äußerlichkeiten mangelt es nicht, um die zeremonielle Verbundenheit der Freiheiten mit der Demokratie zu bezeugen. Verinnerlicht haben allerdings weder die Freiheiten noch ihre Gefolgschaft für was sie per se stehen. Den nominellen Freiheiten ist viel, sehr viel egal. Als ihre Gegnerïnnen aufmarschieren, erst vor den Grenzübergängen, dann, da sich ihnen niemand entgegenstellt, Im Land der Freiheiten selbst – und zwar nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum der demokratischen Macht –, herrscht zunächst Verblüffung, dann, da die Gegnerïnnen keinen Respekt zeigen, sondern ihre Waffen, die Lust am Kompromiss. Die Freiheiten würfeln, da sich keine Freiwilligen finden, wer mit den Gegnerïnnen sprechen soll. Da die Freiheiten, auf die die Wahl fällt, dankend verzichten, Ausrede um Ausrede hervorzaubern, wühlen die Freiheiten tief in der Geschichtskiste und werden bei den Memminger Artikeln, aus dem 16. Jahrhundert, fündig. Der aufgehobene Ehrschatz und die abgeschaffte Leibeigenschaft erklären sich bereit, für die Freiheiten mit den Gegnerïnnen, die bereits vor der Tür des Regierungsbezirks stehen und Fenster eingeworfen haben, zu diskutieren. Ehrschatz und Leibeigenschaft stellen jedoch eine verwegene Forderung.
89.
Am Schlaf mangelt es nicht. Eher im Gegenteil. Zum Entsetzen der Pillendreherïnnen und Apothekerïnnen verschwinden, von einer Nacht zur nächsten, alle Schlafstörungen. Viele Menschen schlafen zum ersten Mal seit Jahren mehrere Stunden lang, ohne eine einzige Unterbrechung. Selbst die unaufschiebbaren Gänge zum Bad werden im Tiefschlaf erledigt. Als sich die Zeit im Bett ausweitet, viele probieren aus, wie lange sie schlafen können, es kommt zu Schlafmarathons, mehren sich die Sichtungen von Schlafwandlerïnnen. Erstaunlich ist, dass es Regionen gibt, die wesentlich mehr Schlafwandlerïnnen haben als andere. Besonders in den kapitalistischsten Staaten wird vermehrt sowohl am Tage als auch Nachts geschlafwandelt. Forscherïnnen gehen von einem Nachholbedarf aus, glauben, dass sich die Lust am Schlaf einpendeln wird und die Insomnie demnächst zurückkehrt. Es kommt anderes. Jedenfalls in den Benelux-Ländern, Skandinavien, Frankreich und Deutschland, den Hochbettburgen des außer Rand und Band geratenen Schlafwandelns.
90.
Es fängt an wie ein Schluckauf, der, was Schluckaufs eigentlich nicht sind, ansteckend ist. Erst beginnt ein Smartphone mit dem Hicksen, dann das nächste. Die Laute springen von einem Smartphohne zum nächsten, infizieren Millionen und sind identisch: Beim Hicksen handelt es sich um einen metallischen Klang, als ob eine Brandschutztür schlösse, die auf Kiesel träfe, die mitgezogen würden und über Kacheln kratzten. Die Smartphones auf stumm zu stellen, hilft nicht, da während des Telefonierens, sobald die Lautstärke benötigt wird, der Schluckauf sofort einsetzt. Die mit dem Bug infizierten Geräte hicksen nicht nur akustisch, sondern auch visuell. In jeder Textmessage, jeder Mail tauchen Schluckauf-Emojis auf, die nicht zwischen den Worten Platz nehmen, sondern das Geschriebene überlagern. Was allein hilft, ist das Ausstellen. Das leibhaftige Vieraugengespräch wird zum Wort des Jahres gewählt.
April
91.
Im U-Boot leckt es. Woher das Wasser kommt, lässt sich nicht feststellen. Abpumpen geht nicht, da die Ventile verstopft sind. Auftauchen auch nicht, da sich ein gewaltiger Eisberg über dem Unterseeboot befindet. Die Besatzung beschließt, das eindringende Wasser mit Tabletten zu entsalzen und zu trinken. Das Besäufnis gegen den Tod beginnt.
92.
Das fünfköpfige Forschungsteam Eukyryoten der Ludwig-Maximilians-Universität München, das in akademischen Kreisen den Spitznamen Echte Kerne trägt, ist auf der Insel Sumatra unterwegs – und zwar nicht erst seit gestern, sondern bereits seit elf Monaten. Im Team haben sich die Hierarchien verschoben. Es arbeitet seit einem Mini-Tsunami, bei dem jedes Team-Mitglied einen Finger verloren hat, basisdemokratisch, jedenfalls nominell. Geführt werden die Echten Kerne in Wahrheit allerdings von der Pilzforscherin Eyscha Nguyễn, einer jungen Doktorandin. Nguyễn vertritt die Denkschule, dass Fungi wesentlich intelligenter sind, als bislang vermutet. Eine Position, die vom ehemaligen Leiter der Expedition, Prof. Dr. Altmann, strikt abgelehnt wird. Altmann läuft zwar auf Sumatra noch mit, aber macht sich eigentlich nur Notizen, um ein Buch über, wie er das Quartett abfällig nennt, die Vier Pilzdeppen im Dschungel zu schreiben und um, bei der Rückkehr nach Bayern, Nguyễns Doktorarbeit zu desavouieren. Nguyễn indes zeigt sich von Altmanns Sabotageakten unbeeindruckt. Laut ihrer Recherchen, die sich sowohl auf taxonomischen Daten als auch Oral History beziehen, gibt es auf Sumatra intelligente Pilzarten, die sich im Laufe der Evolution immer weiter von den Menschen zurückgezogen haben. Nguyễn zählt, anders als Altmann, die Fungi nicht nur als Eukaryoten, die mit Pflanzen auf einer Stufe stehen, aber nicht an die „Wertigkeit“ – ein Begriff den Nguyễn ablehnt, deswegen stets in Anführungszeichen setzt – der Tiere heranreichen. Die Doktorandin geht davon aus, dass Fungi sich mindestens auf einer Stufe mit Tieren befinden. Eukaryoten ist ein Gattungsbegriff, der von den altgriechischen Wörtern εὖ {eu (richtig, gut)} und κάρυον {karyon (Nuss, Kern)} stammt. Im Nationalpark Kerinci-Seblat, unweit des Ufers einer Kratersees, wird Nguyễns Annahme auf eindrucksvolle Weise bestätigt. Das Forschungsteam Echte Kerne entdeckt Die Stadt der stoischen Pilze. Als Prof. Dr. Altmann bei der Kontaktaufnahme sein Pilzmesser zückt, haben Nguyễn und die drei anderen Eukaryoten-Forscherïnnen keine Wahl.
93.
Das angestammte Blau muss sich beeilen, will es noch rechtzeitig zur Vorstellung kommen. Es hat bis eben alle Propagandahebel in Bewegung gesetzt, um seine Anhängerïnnen zu mobilisieren, aber niemand hat abgenommen. Nun ist das angestammte Blau spät dran, im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar weiß es seit mehreren Jahren von der by chance Erschaffung der Konkurrenz. Entdeckt wurde das Mischoxid, wie das Leben so spielt, von farbbegeisterten Chemikerïnnen an der Oregon State University, beim Verschmelzen von Yttrium, Indium und Mangan. Das angestammte Blau, als Quasi-Monopolist von Hofschranzen umgeben, die ihm alles nachplappern, hat sich allerdings eingeredet, dass die Markteinführung des neuen Blautons noch Ewigkeiten auf sich warten lässt. YInMn, denkt das angestammte Blau, während es vor die Tür tritt und sich überlegt, wie es am schnellsten zur Vorstellung gelangt, YInMn – was ist das überhaupt für ein unaussprechlicher Name fürs erste neue anorganische Blaupigment seit mehr als hundert Jahren? Eine Farbe, die mit einer beispiellosen Marketingkampagne in die Läden für Künstlerbedarf drängt und meinen Regalplatz einnehmen will? Das angestammte Blau, das seine Geldbörse vergessen hat, überschmiert das Display eines E-Rollers, knackt ihn und fährt zur Marienburger Straße, wo alljährlich, beim Sommerfest der Farbindustrie, also heute, sein hohes Lied gesungen wird. Diesmal dreht sich niemand um, als das angestammte Blau auf dem Scooter heranbraust, mehrmals hupt, sich fluchend durch die Menge drängt, die ihm den Rücken zuwendet, um einen Blick auf die Farb-Sensation zu erhaschen. Vorm Eingang des Marktes für Künstlerbedarf steht YInMn. Sonnt sich im leuchtend blauen, farbtreuen Pulverglanz. Jetzt merkt das angestammte Blau, dass die YInMn-Bewunderïnnen sich allesamt aus der Schar seiner eigenen Anhängerïnnen rekrutieren. Kein Wunder, denkt es, dass niemand für mich zu sprechen gewesen ist. Sie tragen Transparente, auf denen ausgerechnet in der neuen Farbe geschriebene Adjektive leuchten: Endlich ungiftig! Superdeckend! Temperaturbeständig! Hochartig wärmereflektierend! Bleicht weder in Wasser noch in Öl aus! Zwischen Kobalt- und Ultramarinblau daheim! Das angestammte Blau braucht dringend Luft, es öffnet die Kappe, trocknet auf der Stelle aus.
94.
Die Abwechslung reitet auf einer Erfolgswelle, die nicht bricht. Sie ist jung, schwänzt die Schule, fühlt sich frei, fühlt sich unbesiegbar, fühlt sich begehrt. Sie weiß, dass sie etwas kann, was anderen abgeht: Die Abwechslung hat Ein Abkommen mit der Zeit getroffen, in dem festgelegt ist, dass sie die Zeit stückeln und vertreiben kann. In einem Paragraphen des Vertrags steht auch, wie oft das der Abwechslung erlaubt ist und was passiert, wenn die Quote des Zeitvertriebs erfüllt ist. Diese Bedingungen des Vertrages hat die Abwechslung nur überflogen. Sie hat den Paragraphen nicht einmal richtig registriert. Die Macht über die Zeit, sei die Macht auch noch so temporär, flasht die Abwechslung. Jetzt oder nie, denkt sie, die für den Augenblick lebt. So vergeht Tag um Tag, und die vertriebenen Zeiten sammeln sich am Ufer, schärfen Sicheln, beobachten die Erfolgswellen, welche die Abwechslung langsam, aber sicher näher an die Steilküste bringen.
95.
Der Verband der Voyeure trifft sich zur 84. Hauptversammlung in einem Hinterhofkino im Frankfurter Bahnhofsviertel. Wir schreiben Silvester 1967. Es ist kalt, es ist nebelig. Aussichten und Stimmung sind getrübt. Veränderungen stehen an, die kein Voyeur möchte. Nach mehreren Zwischenfällen in Frankfurter Grünanlagen und Geschmacklosigkeiten unter Mainbrücken zwischen VdV-Vertretern und ihren Gegenspielern, der Arbeitsgruppe VDsP (Vom Dienst suspendierte Polizisten), die ähnliche Ziele wie der Verband der Voyeure vertritt, bei den Zwischenfällen hat es sich in aller Regel um Revierkämpfe um die sogenannten Panoramapunkte gehandelt, Zwischenfälle, auf die der Sprecher des VdV-Aufsichtsrats, Alfred A. Römer, der in Personalunion Verbandsvorsitzender ist, der im Laufe der Jahre nicht nur eine Position der Allmacht für sich geschaffen hat, sondern auch erreicht hat, dass die VdV-Mitglieder über seinen Versandhandel Alle Abwege führen nach Rom GmbH, Arbeitsutensilien (Vergrößerungslupen, Ferngläser, etc.) bestellen müssen, Zwischenfälle auf die Alfred A. Römer, in der Öffentlichkeit, vor laufender Kamera, mit wenig Feingefühl reagiert hat – wir stehen als Augenzeugen nicht zur Verfügung, ansonsten verlieren wir unsere Street-Glaubwürdigkeit –, nach dieser medialen Entblößung des Verbands der Voyeure wird ein neues Führungsgremium gewählt. Während der Abstimmung, die in den Sex-Kabinen stattfindet, welche wie Seitenkapellen um den Vorführraum angeordnet sind, stürmt ein Studentïnnen-Kommando der Goethe-Universität das Kino. Es kommt dutzendfach zu unvorhergesehenen Begegnungen zwischen Vätern und ihren Töchtern und Söhnen.
96.
Nach der sechzehnstündigen Fastenzeit, die sie täglich diszipliniert einhalten, gehen die sieben Löwinnen des Rudels gemeinsam auf die Jagd. Löwen sind nicht dabei, die suchen im Wald nach Brombeeren. Die Löwinnen erlegen, gleich um die Ecke, eine Ziege, die das Gebäralter weit hinter sich gelassen hat, und drei Hähne. Tiere, die illegale Holzfäller auf einer kahlgeschlagenen Lichtung gehalten haben. Um ein Rezept Ottolenghis zu kochen, benötigen die Löwinnen sowohl Thymian als auch Petersilie. Außerdem wäre Zweifach-Sahne und Eiscreme für die Himbeeren nicht schlecht. Die Löwinnen betreten einen nagelneuen Supermarkt, der im Untergeschoss einer Mall liegt, die gerade errichtet wird, mitten im Schutzgebiet. Die Löwinnen sind auf dem Weg zur Obst- und Gemüseabteilung, als sie von einer Mutter mit zwei Kleinkindern angesprochen werden – die Mutter, die vorhat, in der Mall einen Schmuckladen zu betreiben, hält die Löwinnen für verkleidete Angestellte des CoOps, des ersten Geschäfts der Mall, das bereits geöffnet hat. Ob sie vielleicht wüssten, fragt die Mutter die Löwinnen, wo die Fischstäbchen lägen? Als die Löwinnen begreifen, dass die Mutter ihren Kindern Processed Food unterjubeln will, nehmen sie die Ziege und die Hähne sanft von den Schultern, scherzen etwas, weil das Fleisch blutet, bieten der Mutter einige frische Delikatessen an. Ein intensiver Gedankenaustausch über Natur, Nahrung und traditionelle Architektur entsteht, dem sich sowohl andere Kundïnnen als auch die herbeigerufenen Sicherheitskräfte anschließen. In der darauffolgenden Nacht beginnt die Demontage der Mall.
97.
Die Kunst ist glücklich – sie weiß weder ein noch aus. Sie verliert die Fäden. Fühlt sich an Land, als wäre sie seekrank. Die Erleichterung der Kunst angesichts der Gefahr ist enorm. Was wie ein Klischee klingt und Andere verzweifeln ließe – das Grausehen, der Lebensschwindel, die Glücksfatigue –, ihr ist es ein Grundbedürfnis. Geht es der Kunst zu gut, überkommt sie der Hang zur Wiederholung. Sie kramt gelangweilt in der Genossenschaftsschublade, holt ein mehr oder minder bewährtes Rezept nach dem anderen heraus, kassiert den Applaus der Investmentverlage. Die Öffentlichkeit gewöhnt sich an die Kochbuchzuverlässigkeit der Kunst, frisst ihr die immer gleichen Morgengaben gleichgültig aus der geölten Hand. Der Öffentlichkeit ist die routinierte Abhandlung in den Zeiten der Monotonie recht, sie erwartet nicht viel von der Kunst, ein bisschen Lachen, übersichtliche Gewalt, günstigen Sex. Brechen allerdings Rückgrate, fahren sich Lotsïnnen auf Sandbänken fest, versinken Reisende mürrisch im Moor, lügt sich die Geschichtswissenschaft sowohl in die eigene als auch in die Tasche der Herrschenden, wird der Blick auf die Kunst kritischer. Die Kunst reagiert. Sie wirbelt zunächst etwas mehr Staub auf, aber nutzt dafür den Schmutz, der eh unter Schränken und Betten liegt. Als das nicht mehr reicht, die an der Kunst Interessierten wissen selbst, wer welchen Dreck am Stecken hat, wie der nicht abgeholte Müll aussieht, wie Laster und Kotze duften, als die alten Präskriptionen gähnend in der Ecke landen, wacht die Kunst, verbeult, auf. Sie öffnet die Augen, reißt die genossenschaftliche Schublade aus der Biedermeierkommode, Leiht sich Streichhölzer von der Revolution, die im Souterrain gerade dabei ist, sich von den Schlafmitteln zu trennen, mit denen sie trunken in einer WG lebt. Die Kunst steht, um’s auf den Punkt zu bringen, vorm fucking Nichts. Sie öffnet eine Flasche Spirituosen, zündet sich eine Zigarette an, geht ans Fenster, öffnet es, während draußen das Zwielicht allerlei Farben wechselt. Die Kunst zieht sich aus, betrachtet sich im Taschenspiegel, wirft den Spiegel gegen die Glaslampe, welche fauchend zerbricht, steigt auf den Sims, öffnet die Arme, springt – und der Traum beginnt.
98.
Die Hamster tun so, als bedeutete ihnen das Rad etwas. Sie entwickeln, jede Generation, die das Radschicksal teilt, und es sind bereits unendliche viele Generation, einige Geschichtshamster, die Schule, die sich Augustinus’ Satz In dir muss brennen, was du in Anderen entzünden willst zum Motto gewählt hat, erklären, dass die Geburt des Rads gleichzeitig mit der Entdeckung des Feuers, andere Geschichtshamster, die Schule, die sich das Sprichwort Stadtluft macht frei zum Motto erkoren hat, sie erklären, dass die Geburt des Rads erst mit den Stadtgründungen erfolgt ist, wie auch immer, sie, die Hamster beider Schulen, entwickeln über die Zeiten identische Techniken, um zu zeigen, dass sie mit dem Rad im Reinen sind, sich mit ihrem gleichförmigen Schicksal abgefunden haben. Einige metaphysisch ausgebildete Hamster schaffen es sogar, den Eindruck zu erwecken, dass das Rad mit ihnen im Reinen sei. Da die Hamster in der Vorzeit viel ausprobiert haben – etwa Haarschnitte, die sich durch die Bewegung des Rads stromlinienförmig wellen –, passieren kaum noch revolutionäre Dinge im sichtbaren Zusammenspiel von Rad und Hamstern. Das ändert sich, als wieder mal die Räder gewartet werden, was pro Jahrzehnt ein einziges Mal geschieht – und zwar überall gleichzeitig. Die Räder stehen während der Wartung für genau zwölf Stunden auf der ganzen Welt still. Der halbe Tag der Wartung ist im Dasein der Hamster ein besonderer, ein legendärer halber freier Tag, um den sich Mythen ranken, von dem noch über viele Jahre gesprochen wird, an dem mehr vonstatten geht, als an den vielen Tagen im Rad. Hamster, die an diesem Tag gezeugt werden, heißt es, hätten besondere Begabungen. So ist es kein Wunder, dass an dem halben freien Tag überall Liebe gemacht wird. Die Hamster, gerade die in festen Beziehungen, lassen sich für das Liebemachen Zeit, schließlich wissen sie, dass sie zwölf Stunden haben. Bei Single-Hamstern sieht die Sache etwas anders aus, aber das steht jetzt nicht zur Debatte, obwohl es zur Sprache kommen dürfte. Diesmal, beim Anbruch des siebten Jahrtausends, läuft das Austauschen der Räder allerdings gänzlich ungewohnt. Statt zwölf Stunden dauert die Wartung nur sechs Stunden – viele Hamster werden mitten im Liebesspiel von der Rückkehr der Räder gestört. Und nicht nur das: Die Räder sind auch anders; was sofort ins Auge fällt. Die neuen Räder sind doppelt so groß wie die alten Räder, bieten jedoch weiterhin nur Platz für einen Hamster.
99.
Der Vater, der Sohn meines Sohnes, der bereits selbst Söhne und keine starken Nerven hat, niemals gehabt hat, immer schwache Nerven gehabt hat, der zur Hysterie neigt, ist im Krisenmodus. Er sagt, so gehe das nicht weiter, so nicht, wirklich nicht. Zu mir sagt er es, im scharfen Tonfall. Ich, der Vater des Vaters des Vaters, seufze, ohne die Hand von der Bremse zu nehmen. Ungern, ich bremse ungern, es stimmt. Wenn ich etwas verabscheue, dann ist es das Bremsen, gerade das unerwartet Auf-die-Bremse-Treten. Wir stehen oben am Berghang, hinter uns, aus Norden kommend, die Feuerwalze, die sich durch den staubtrockenen Wald frisst, im Affentempo. Unten im Tal, im Süden, drei, vier Kilometer weg, liegt der Bergsee, mit der kleinen Insel und den Tretbooten, die wie Schwäne aussehen. Die anderen Wagen sind nichts als Punkte in unserem Rückspiegel. Wir sind früher als der Rest der Nachbarschaft aufgebrochen. Woher der Sohn meines Sohnes, der erst kürzlich eine höhere Hausratsversicherung abgeschlossen hat, von dem Feuer gewusst hat? Ich weiß es nicht. Dass ich im Wagen sitze, ist, das wiederum weiß ich, reiner Zufall. Ich hatte im Wagen ein Nickerchen gehalten, weil mir das Geballere der Ego-Shooter-Spiele auf die Nerven geht, als der Sohn meines Sohnes mit den Jungs im Schlepptau eingestiegen ist. Wir haben einen Vorsprung, sagt der Sohn meines Sohnes, der, angesichts der dramatischen Lage, selbst von schnelleren Wagen nicht aufgeholt werden könnte. Ich kenne den Sohn meines Sohnes. Ich weiß, was er vorhat. Ich weiß, warum er das Dynamit eingepackt hat. Dass mein Sohn solch einen Sohn gezeugt hat, hat mich überrascht. Ein DNA-Test, den ich, ohne sein Wissen, habe machen lassen, nach dem mysteriösen Tod seines Vaters, hat jedoch einwandfrei bestätigt, dass er der Sohn meines Sohnes ist. Wir müssten das jetzt klären, sage ich zu ihm. Er sieht mich verächtlich an, zieht sich die MAGA-Kappe ins Gesicht, so dass seine hellblauen Augen nicht mehr zu sehen sind. Ach, sagt der Sohn meines Sohnes, wirklich, müssten wir das, hier, jetzt, Großvater? Er zeigt auf seine beiden Söhne, die hinter uns sitzen, mit ihren Gameboys spielen, und die? Die wären mir wohl egal? Am liebsten hätte ich gesagt, ja, die seien mir egal, die Kinder aus der Nachbarschaft, die tagtäglich zu mir kämen, mit denen ich lesen und reden würde, allerdings nicht, die wären mir nicht egal. Ich beiße mir auf die Zunge, ich weiß – oder glaube zu wissen – wozu der Sohn meines Sohnes fähig ist. Also?, fragt er, nimmst du jetzt endlich die Hand von der Bremse, alter Mann? Die magst du doch gar nicht, oder? Ich zähle die Ruderboote, obwohl ich die Zahl natürlich kenne, Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schwäne. Es würde genau reichen, für uns und für die Autos aus der direkten Nachbarschaft, hinter uns, die kleinen Scheinwerferpunkte hinter uns, die auf der Flucht vorm Feuer sind, die Autos mit den Kindern. Ich sage, nur wenn du mir hoch und heilig versprichst, die anderen Boote nicht anzufassen. Der Sohn meines Sohnes lacht höhnisch. Er weiß so gut wie ich, dass es nur eine kleine Hütte auf der Insel gibt, mit vier Etagenbetten. Die Hütte gehört allen sieben Familien, eine Idee meines Sohnes. Per Losverfahren wurde entschieden, an welchem Tag der Woche welche Familie die Hütte nutzen kann. Unser Tag ist Dienstag, heute ist Freitag. Die Aussicht, mehrere Tage unbequem campen zu müssen, schmeckt dem Sohn meines Sohnes nicht. Er knirscht mit den Zähnen, seine Gesichtsfarbe ändert sich, wie früher, im Garten, wenn er den Käfern die Beine abgeschnitten hat. Ich lasse die eine Hand auf der Bremse, greife mit der anderen nach der Waffe, die ich mir nach dem Tod meines Sohnes angeschafft habe, glücklicherweise.
100.
Zu feiern, geht sowohl den Jubiläen als auch den Feiertagen auf die Nerven, da es, so die Klage in der Chat-Gruppe carpe diem, tatsächlich nicht um sie geht, nicht darum, was sie in der Zwischenzeit geleistet haben, was sie mit den anderen Tagen des Jahres gemacht haben, sondern alles dreht sich um den, Zitat, übergeordneten Anlass. Die Feiertage und Jubiläen haben es gründlich satt, dass sie für 24 Stunden Mittel zum Zweck sind, einer Metaebene als untergeordnetes Sprungbrett dienen, die das gesellschaftliche Schulterklopfen abstaubt. In einer Umfrage kommt, keine Überraschung, der Ärger hat sich angestaut, heraus, dass 87 % der Jubiläen und Feiertage vom Gefühl durchdrungen sind, weder erkannt noch für voll genommen zu werden. Eine überwältigende Mehrheit (94 %) hasst es, in einen Topf mit anderen Festtagen geworfen zu werden. Als wären wir Cocktails (37 %), als hätten wir kein Wörtchen mitzureden (46 %), als würde man uns als freien Tag ausnutzen (62%), als wären wir stinknormale Sonntage (74 %) – so lauten die am häufigsten vorgebrachten Klagen. Außerdem, was viele am meisten wurmt, gibt es eine Rangfolge, die, obwohl kaum jemand in der Gruppe der Feiertage gläubig ist, an religiöse Anlässe gebunden bleibt. Warum Ostern über dem Weltkindertag steht, ist für alle – bis auf die Heilig-Lobby – ein Rätsel. Selbst der Volkstrauertag, der es immerhin schafft, als offizieller Feiertag zu gelten, wird im Ranking, trotz einer Klage vorm Obersten Jubiläumshof, weit hinter Allerheiligen gelistet, einem Tag, von dem niemand, aber auch wirklich gar niemand, mit Sicherheit sagen kann, was sein Markenkern ist. Für die Geburtstage, gerade die jungen, die aufs Geld angewiesen sind, ab und an sogar Geschenke bekommen, die wertvoll genug sind, um sie online wieder zu verkaufen, ist es weniger schlimm als für die abgewrackten Dienstjubiläen, die als Pflichtveranstaltung gelten, an Heuchelei und geschmacklosen Schnittchen leiden. Erst als sich der in Berlin begangene Frauentag, der international bestens vernetzt ist, in einer Kampfabstimmung durchsetzt, dass carpe diem sowohl fiktionale Feiertage, die bislang allein in Kunstwerken begangen worden sind, als auch global tätige Feiertage aufnimmt, ändert sich die Feierlaune schlagartig, Die Lebensfreude hält landauf, landab Einzug.
101.
Im Moment der Explosion steht die Zeit still. Unerwarteter Besuch tritt ein, Menschen, die uns lieb sind, Tote wie Lebende, rufen an oder kommen selbst vorbei. Sowohl die Umarmungen als auch die Wangenküsse und die Ach, wie schön, dich gibt’s noch hören nicht auf. Wir, du und ich, stellen die Gäste einander vor, die sich auf Anhieb fantastisch verstehen. Einige schieben kurzerhand Tische zusammen, öffnen staubige Jalousien, der Sternenhimmel strahlt, die Mondsichel leuchtet, ein A capella-Chor singt Jazz-Klassiker und Popsongs, etliche Gäste steigen auf die Tische, tanzen, ziehen alle, die zögerlich sind, lächelnd hoch. Champagnerkorken knallen, wir trinken aus schäumenden Flaschen. Essen glücksselig ungesunde Pommes, singen mehr oder minder textsicher mit. Dann wird es urplötzlich mucksmäuschenstill, alles ist
102.
Der Zero-Day, als die leicht besäuselten Hackerïnnen des marginalen Landes am Rande des Kontinents während einer Karaoke-Party, bei der sie im Darknet nach Texten suchen, zufällig die gesamten Schaltstellen der Länder im Zentrum des Kontinents unter ihre Kontrolle bringen, ohne das Wissen der Administrationen, Firmen und Bürgerïnnen der zentralen Länder des Kontinents, der Zero-Day bestätigt, was die paritätisch besetzte Regierung des Landes am Rande des Kontinents stets vermutet, aber niemals geäußert hat: Ihr Land spielt in den Überlegungen der Länder im Zentrum des Kontinents keine Rolle, ist, bestenfalls, die Fußnote einer Fußnote. Die Verantwortlichen des Landes am Rande des Kontinents lesen die Grußbotschaften der Länder im Zentrum des Kontinents, die sie anlässlich der 100-Jahr-Feier der Staatsgründung erst vor einigen Wochen erhalten haben, ein zweites Mal, mit kritischen Augen – die Verlogenheit ekelt sie an. Die Epistel sind voller Freundschaftsbekundungen (Ihr seid immer in unserem Herzen), voller Lob (Eure Existenz ist unser Bollwerk), reich an Anerkennung für die Leistungen des Landes am Rande des Kontinents (Wir lernen täglich von Euch, Eurer Demokratie und Euren Künstlerïnnen), die Epistel unterstreichen die Bedeutung des Landes für die autokratisch regierten Länder im Zentrum des Kontinents (Euer Dasein gibt unserem Leben erst Sinn und Tiefe) und klingen wie Treue-, ja Liebesschwüre (Wir sind, was wir sind, da wir mit Euch zusammen sind). Die Regierung des Landes am Rande des Kontinents bringt die einflussreichen Gruppen des Landes zusammen, in einem abhörsicheren Bunker, am aller-aller-aller-äußersten Ende des Kontinents. Eingeladen ist nicht nur das Militär, nicht nur die Industrie, sondern sind auch Vertreterïnnen der Zivilgesellschaft. Der Schock sitzt tief. Der Wandel durch Annäherung stellt sich als Illusion heraus. Nach einer Woche voller Tränen, Nervenzusammenbrüchen, Schreikrämpfen, Fieberschüben, Liebeslyrikausradierens, Selbstzweifeln, und Binge-Malzeiten, beschließt die Versammlung Die Operation KO-Aperçu.
103.
So haben sie sich, die Neunundzwanzig, das Ende nicht vorgestellt. Statt selbst zu kündigen, wie es ihr Plan gewesen ist, ein Plan über den die Neunundzwanzig viele Monate gebrütet haben, manche sagen sogar: Jahrzehnte, setzt man sie mir nichts, dir nichts vor die Tür. Ohne viel Brimborium. Sie bekommen einen Anruf, etwas sei für sie an den Lockern hinterlegt, sie müssten es bitte auf der Stelle abholen, ja alle, die gesamte Gruppe, ohne Ausnahme, nichtsahnend gehen sie zum Aufenthaltsraum im Eingangsbereich, wo bereits die freundlichen Security-Guards warten, die sie seit Ewigkeiten kennen, mit denen die Neunundzwanzig jeden Tag rauchen und plaudern, diesmal sind die Security-Guards weniger freundlich, eigentlich sind sie unfreundlich, sie überreichen ihnen feste Müllsacke, blaue Säcke, die man kauft, wenn man im Herbst den Garten aufräumt und schwere Sachen wegpacken muss, in den Säcken befinden sich all ihre privaten Sachen aus den Lockern, die Neunundzwanzig fragen, wie die Security-Guards an ihre Locker-Kombination gekommen seien, die Security-Guards schütteln als Antwort die Köpfe, bugsieren die Neunundzwanzig, unsanft, aus dem Gebäude, entfernen sie, unsanft, vom Gelände, selbst die Raucherecke liegt nun jenseits des hohen Stacheldrahtzauns. Sie sehen sich an und zählen durch. 28. Das Team hat 29 Mitglieder. Jemand fehlt. Sie öffnen ihre Mail-Accounts, um die Namen des Teams abzugleichen. Die Mail-Accounts sind bereits abgemeldet. Die Neunundzwanzig stellen sich in einen Kreis, sagen ihre Namen, sagen ihre Positionen, sagen, mit wem sie zusammenarbeiten, zusammengearbeitet haben, fragen, wer fehle, niemand kommt auf den Namen, niemand kann sich an die 29. Person erinnern. 29, sagen sie, Rache schwörend, 29 muss uns verraten haben.
104.
Die Festnetznummer, die auf dem The Wireless-Sheet aufgetaucht ist, entblößt ihn. Das Tuscheln schwillt an, als er das Gebäude der Gründerïnnen betritt. Die Co-Working-Crew umringt ihn. Doch es ist zu spät. Keine Phalanx der Welt kann den Landline-Mann noch vorm Vigilante-Man-Mob schützen. The Wireless-Kids haben Witterung aufgenommen: ein Denunziant, in ihrer Mitte. Die Co-Working-Managerin, eine Geschichtsstudentin aus Montgomery, schreit die Gründerïnnen an, hier werde nicht gelyncht. Jemand checkt im Open Thesaurus, sendet den Link. Alle brüllen begeistert auf. Sie starten das Meme #Tarring&FeatheringTheLastLandliner, streamen, bündeln ihre WiFi-Strahlen, richten das Netzwerk gegen seine Augen.
105.
Das Phänomen breitet sich rasend schnell aus: Immer mehr Menschen, die auf den Straßen der Stadt unterwegs sind, haben geblurrte Gesichter. Manchmal ist es nur ein Teil der Wange, der verschwommen ist. Dann sind es Mund und Kinnpartie, die blurry erscheinen. Am Häufigsten ist der Schuldig-Balken verbreitet, der von den Augenbrauen bis zu den Tränensäcken als – wie die Geblurrten es nennen – Milchstraßen-Strich über den Gesichtern liegt. Da die Geblurrten, etwa zehn Prozent der Stadtbevölkerung, von den Nicht-Geblurrten, die von Spuk und Gespenstern flüstern, gemieden werden, entsteht die Milkyway-Schattenwirtschaft. Dort, an Kreuzungen, die keinerlei Charakter haben, in Hinterhöfen, die sich nicht unterscheiden lassen, erstehen die Geblurrten nach der Arbeit Sachen des täglichen Bedarfs, sind am Abend, in schummerigen Kellerbars, durch die Nebelschwaden ziehen, unter sich Die Milchstraßen-Strich-Nächte, in denen Freiheit herrscht, gelten bald, kein Wunder, als hippste Attraktion der schwerfälligen Stadt. Um an den geblurrten Türsteherïnnen vorbeizukommen, müssen die Gäste selbst verschwommen aussehen. Bald finden die ersten illegalen Augmented-Reality-Gesichtseingriffe statt. Um sich vor Fake-Blurrs zu schützen, werden drastische Maßnahmen eingeführt.
106.
Gelegenheiten haben – wie es der Name schon sagt – eine begrenzte Lebensdauer. Irene MacDonald, von ihren Freundinnen, Freunde hat sie keine, nur SmallMac genannt, versteht das, aus eigener Erfahrung, sehr gut. Sie ist eine notorische an der Ampel-Trödlerin. Statt hochzublicken, während die Ampel grün wird, checkt sie auf dem Handy, wie tief ihre Aktien gesunken sind. Denn auch das liegt ihr: Aktien solange zu halten, bis sich der Verkauf nicht mehr lohnt. Wie gesagt: SmallMac ist eine Meisterin der verpassten Gelegenheiten. Sie beschließt, daraus ein Geschäft zu machen. Mit ihrer Erfahrung – Niemand ist näher am Puls der verpassten Gelegenheiten! – und ihrer liebenswürdigen Ausstrahlung als Ich hab die Ausfahrt übersehen-Expertin beschließt sie, die Dating-Agentur Beinahe ein Hit zu gründen. SmallMacs Geschäftsidee ist so einfach, wie genial: Nicht wahrgenommene Gelegenheiten können bei BeH nachgeholt werden: als Re-Enactment. Besonderer Clou: Irene MacDonald lässt eine Penrose-Treppe bauen, auf der sie die verpassten Gelegenheiten platziert.
107.
Die Tage trödeln, weigern sich, in die Fabrik zu gehen, spielen lieber mit ihren Stempelkarten Quartett. Sie üben Tricks. Besonders Donnerstag tritt als Begabung hervor: Viel Lärm um Nichts entwickelt sich zum Lieblingskabinettstück der Massen, die bald scharenweise mittrödeln. Als die Fabriken hören, dass die Bänder stillstehen, überlegen sie, was zu machen ist. Es ist Freitagabend, Gewalt kommt nicht in Frage, da die Gewalt auf ihrem wohlverdienten Wochenende besteht. Andererseits ist den Fabriken klar, dass jenes abenteuerliche Nichtstun, erstreckte es sich über Samstag und Sonntag, die Massen auf dumme Gedanken bringen könnte. Die Fabriken erkundigen sich, außerhalb, wo es keine Gewerkschaften gibt, werden, unter der Hand, an die Hütchenspieler der Nachbarschaft verwiesen, die wüssten, wie man gezinkte Karten unter die Leute brächte. Die Hütchenspieler, die bis dato von den Fabriken verachtet worden sind, lächeln maliziöse, als die Fabriken anklopfen. Der Haken, den sie den Fabriken präsentieren, ist ein Widerhaken. Die Fabriken merken nichts, sie schnappen zu.
108.
Es ist nicht so, dass wir überrascht wären. Sagen wir’s mal so: Wenn jemand dazu in der Lage hätte sein können, dann wäre Don Maria diejenige gewesen, der wir’s am ehesten zugetraut hätten. Schließlich hatte sie sich vehement allen Zutraulichkeiten der Kirchen entzogen. Wohlgemerkt: Mehrzahl. Zutraulichkeiten. In unserem Dorf stehen 34 Kirchen und 65 Kapellen. 99, ich habe sie gezählt. Wir werden dennoch von keinerlei Wallfahrten überrannt. Der Welt scheint’s egal zu sein, wie viele Kirchen wir haben. Niemand kennt unser Tal, das zwischen einer Hochebene und zwei Grenzen liegt. Grenzen ohne Grenzübergängen. Auf der anderen Seite liegen eine Mülldeponie und ein militärisches Sperrgebiet, in dem Panzer Bergkrieg üben. Wie auch immer. Don Maria, die überaus gesellig gewesen war und ungern gekocht hat, waren die 34 Kirchen und 65 Kapellen nicht egal gewesen. Sie hat sie Meine 99 Küchen genannt. Jeden Tag gab’s irgendwo eine Konfirmation, einen Feiertag, eine Gemeindespeisung. In Don Marias Nachlass haben wir 99 Outfits gefunden, für jede Glaubensrichtung eine. Alle mit Mottenkugeln vollgestopft, in durchsichtiges Plastik eingeschlagen. Ihr Anziehraum hat wie der Himmel gestunken. Eine Mischung aus Paradies und Hölle. Sie hat uns niemals getraut, hat uns niemals an ihre Outfits gelassen, hat ihre Anziehsachen mit Argusaugen bewacht. Wenn sie etwas gewesen war, dann diese Outfits. Kein Wunder, dass sie zurückgekommen ist, als Hungriger Geist.
109.
Die Schule, eine integrative Gesamtschule, die für ihre Reformpädagogik geschätzt wird, sich vor Anmeldungen kaum retten kann, Eltern klagen regelmäßig, um ihre Kinder in bereits heillos überfüllte Jahrgänge zu pressen, die Schule platzt aus allen Nähten. Nicht jede Klasse hat einen eigenen Raum. Die Vier B hat sich etwa in der Besenkammer eingerichtet, die unter der Außentreppe liegt. Im Winter kein Vergnügen, im Sommer ein geheimnisvoller Ort, an dem sich ausgesprochen gut Literatur unterrichten lässt. Während die Neun D auf dem Spitzboden Quartier bezogen hat, zwischen Spinnweben, Erdkundekarten, die Länder zeigen, die nicht mehr existieren, und kaputten Dachziegeln. Ältere Lehrerïnnen, wie die Oberstudienrätin Frau Dr. Strenggeheim, lassen sich mit einem Kran, den die Baufirma auf dem Schulgelände vergessen hat, hochhieven. Das Loch im Dach, die Schulbehörde konnte nicht zahlen, ist gerade groß genug, um Die Entladung der Lehrkörper zu ermöglichen. Ein wenig Fingerspitzengefühl ist dafür allerdings nötig, zugegeben, aber die Jugendlichen haben sich bislang recht gut aus der Affäre gezogen. Bedient wird der Kran von Schülerïnnen, die jüngst einen Kranführerschein erworben haben. Ein Stück Papier, das sie, bei jeder Gelegenheit, stolz herumzeigen. Es existiert sogar ein Club der Kranführerïnnen, der sich elitär gibt, die Mitschülerïnnen, die nicht am Hebel stehen, ihre Unterlegenheit spüren lässt. Als sich die Beschwerden häufen, der Schulpsychologe, Magister Zern, wird regelrecht überrannt, wird eine Reihum-Kran-Bedienung für alle eingeführt. Der Club der Kranführerïnnen ist alles andere als begeistert. Der Widerstand geht soweit, dass der Club der Kranführerïnnen beschließt, es darauf ankommen zu lassen. Als der verträumte Julius F., der immer irgendwo seine Brille vergisst, an der Reihe ist, lässt der Club der Kranführerïnnen ihn mit der Aufgabe allein.
110.
Der Moment hält sich für gekommen. Dass ihm der Zeitpunkt abrät? Mit Links zum Thema Eile mit Weile überschüttet? Aufzugmusik-Videos schickt? Steht nicht zur Debatte. Der Moment ist überzeugt, dass der zögerliche Zeitpunkt mit seinem Rat etwas verfolgt, was nichts, aber auch rein gar nichts mit den Aussichten des Moments, sondern nur mit der eingeschränkten Perspektive des Zeitpunkts, der Enttäuschungen sammelt wie andere Leute Briefmarken, zu tun hat. Allein ist dem Moment die Idee des Gekommen-Seins nicht gekommen. Sein Bruder im Geiste, das Moment, das sich mit Fliehkräften auskennt, das tagtäglich mit Gewichten und Bedeutungen jongliert, hat ihn zum Handeln geraten, dringend geraten, jetzt oder nie an den Start zu gehen, nicht auf den zaudernden Zeitpunkt zu hören, bevor sich die Chance, die, traditionell, eher auf der Seite des – angeblich – richtigen Zeitpunkts, wie der Moment dieses Adjektiv hasst: richtig, als wäre irgendetwas jemals wirklich richtig, bevor sich also die Chance erneut an den Irgendwann-vielleicht-Zeitpunkt hängt und ihm schöne Augen macht. Das Moment sagt, in Wahrheit sei in allen Dingen ein Fehler, keine Stunde sei die einzig wahre, die Vollkommenheit sei eine schnöde Erfindung der Ewigkeit, um wahllos Gefolgsleute abzugrasen und auf den Weiden der Gläubigen willkürlich zu ernten. Der Moment, der sich, es sei betont, wirklich und wahrhaftig für gekommen hält, blickt in den Tümpel, an dessen Ufer er sitzt, auf einem Steg sitzt der Moment, eine lange Minute schon sitzt er da, thront über dem Wasser, hinter ihm, auf der Badewiese, das Publikum, alle sind, ausnahmslos, darunter auch die von allen Seiten umschwärmte Chance, der die schamlose Ewigkeit gerade Softeis ausgegeben hat, eine doppelte Portion, mit Schokostreusel oben drauf. Die Chance strahlt übers ganze Gesicht, sie schleckt mit ihrer wunderschönen Zunge lasziv am Eis, dem Moment, auf dem Steg, wird ganz schummerig, nur beim Hinsehen, er blickt lieber wieder auf die unergründliche Oberfläche des Tümpels. Niemand weiß, wie tief das Wasser hier ist. Niemand hat sich bislang auf den Steg gewagt. Alle gehen, höchstens, mit den Füßen ins Wasser, unmittelbar am Badestrand der Geheimnisse. Ein steiler Köpper, elegant gesprungen, wie bei den Meisterschaften, die manchmal im Fernsehen übertragen werden, denkt der Moment, ein steiler Köpper wäre das Richtige, um ihr, der Softeis schleckenden Chance, mächtig zu imponieren. Dass die Erde flach sei, hat sich schließlich als Irrglaube herausgestellt, denkt der Moment. Warum soll das nicht auch hier der Fall sein?
111.
Obwohl sie sich verabredet haben, das angekündigte Stück zu spielen, die persönlichen Animositäten auf der Bühne nicht auszubreiten, ist es wieder Solch ein Abend. Die Schreiarie fängt harmlos an. Er vergisst seinen Einsatz, Stille legt sich übers Set. Alle sehen ihn an, wir sind mitten in einer Massenszene, ich gehe, vorsichtshalber, hinter dem Schrank aus Panzerglas in Deckung. Seine Augen sind glasig. Die Tränen, die er weint, sind keine Tränen der Trauer. Die Tränen, die er weint, sind Tränen des Zorns. Seit dem letzten Mal sind wir uns nicht mehr sicher, ob der Revolver, der zu seiner Rolle gehört, mit Platzpatronen geladen ist. Gil und Rob, die neben ihm stehen, auf seinen Text angewiesen sind, um fortzufahren, blicken in meine Richtung. Ich gebe ihnen ein Zeichen, das wir mit der Gewerkschaft der Bühnenbildnerïnnen verabredet haben. Sie reagieren nicht. Keine Ahnung, ob die Milchglasscheibe als Barriere funktioniert, Gil und Rob mich einfach nicht sehen, oder ob sie sich entschieden haben, die Sache ein für alle Mal zu erledigen. Das Ensemble, das den Zeichenaustausch zwischen mir und Gil und Rob mitbekommen hat, flüchtet von der Bühne. Im Zuschauerraum wird gezischt. Wir spielen das Stück seit Jahren en suite. Viele der Anwesenden kommen regelmäßig, um sich zu vergewissern, dass es noch Kontinuität auf der Welt gibt. Das ist unser Auftrag: In unsteten Zeiten eine altmodische Komödie auf die Bühne zu bringen. Die Enttäuschung, die sich im Parkett ausbreitet, ist mit den Händen zu greifen. Einige Zuschauer sind wie er gekleidet, andere wie Gil und Rob. Eine Tradition, die zum Besuch des Stücks dazugehört. Man wählt sich eine Lieblingsrolle und spricht, während der gesamten Aufführung, die passenden Sätze mit. Die Anzahl derjenigen, die ihn, Gil und Rob und mich nachsprechen, wir spielen die Hauptrollen, ist ungefähr gleich. Die eingefleischten Fans wissen, natürlich, von dem Vorfall. Sie haben sich mit ihrer jeweiligen Kunstfigur solidarisiert. Nun setzt die Musik aus. Die Band, unten im Graben, sucht das Weite. Ich höre, wie Waffen auf der Galerie, von der aus man mich ins Visier nehmen kann, entsichert werden.
112.
Als der Knotenpunkt in Frankfurt lahmgelegt wird, der erste von vielen, schalten sich die Server reihenweise aus. Erst in Europa, dann in Asien, Afrika und Australien, schließlich auch in Nord- und Südamerika. Die Datenrate sinkt global auf Null. Inhalte verschwinden. Die Architektur des Netzes kollabiert. Digitale Megacities verlöschen. Kein Schlupfloch bleibt. Die Staaten mit Atomwaffen haben die Finger auf den roten Knöpfen. Hektisch wird über Glasfaserleitungen telefoniert. Auf dem Dach der Vereinten Nationen in New York hissen die Staaten ohne Atomwaffen weiße Flaggen. Milliarden Menschen versammeln sich weltweit spontan auf den Straßen. Die analoge Schockstarre ist überwältigend. Niemand spricht, Schweigeminuten starten. Bis sich, plötzlich, der Mond verändert. Er kreist zwar weiterhin um die Erde, aber dreht sich schneller und schneller um die eigene Achse. An sich ist ein Mond-Jahr genau so lang wie ein Mond-Tag – 27 Tage und 7 Stunden. Weswegen immer dieselbe Seite vom Mond zu sehen ist. Das ändert sich nun dramatisch. Die Rückseite des Trabanten wird von der Erde aus auf einmal sichtbar. Und nicht nur das. Eine Nachricht in Riesenlettern überzieht die Rückseite des Mondes. Sie lautet:
113.
Die Eigennützigkeit der Firma, die legendär ist, schon der Name spricht Bände: Satisfaction, hat Methode – und ist doch, ein streng gehütetes Geheimnis, vorgeschoben. In dem Geschäftsfeld der Firma, Gesetz und Unordnung, existieren reihenweise Firmen, die am Recht kratzen, checken, ab wann ihr Vorgehen, das sich gegen das Böse richtet, selbst so böse wird, dass ihnen die Lizenz entzogen werden könnte. Wer zu viele Leichen transportieren muss, vergisst halt irgendwann einige im Keller – so begründen die Firmen des Geschäftsfelds Ermittlern gegenüber Nachlässigkeiten, wenn es zu Untersuchungen kommt. Satisfaction macht es anders. Satisfaction blockt jede Investigation ab. Vorladungen erreichen die Firma niemals, gehen mit dem Stempel Unbekannt verzogen zurück, da die Boten wissen, dass ihnen immenses Unheil droht, wenn sie mit einem Einschreiben an der Satisfaction-Tür auftauchen. Dass die Firma eine philanthropische Hochburg ist, fliegt während einer Testamentseröffnung auf. Die Empörung unter den Anteilseignerïnnen ist groß. Noch größer ist allerdings der Klärungsbedarf bei den NGOs, die über Jahrzehnte die Spenden stillschweigend eingestrichen haben. Die Frage, die sich alle stellen, Kann Blutgeld Gutes tun?, spaltet die Gesellschaft in Idealistenïnnen und Pragmatikerïnnen. Brücken werden zerschlagen, Freundschaften zerbrechen, es kommt zum Befriedigungskrieg.
114.
Dem Hass gehen die Argumente aus, die Liebe will einfach nicht kleinbeigeben. Sie kramt in Fotoalben, erinnert an jene Feier, diese Reise, an all die unerwarteten Begegnungen, wischt alle Aber-das-Büffet-Einwendungen und die Buch-Empfehlungen-waren-doch-bezahlt-Bemerkungen des Hasses beiseite. Kritik an der Qualität von Umarmungen, sagt die Liebe, sei ja schön und gut, zunächst zähle allerdings die Tatsache, dass es überhaupt zu Umarmungen gekommen sei. Sie plädiere dafür, alle negativen Bewertungen, die sie abgegeben hätten, unter dem Gesichtspunkt des immanenten Gutseins auf Herz und Nieren zu überprüfen. Der Hass seufzt, beugt sich ein letztes Mal auf, ob ihr, der Liebe, bewusst sei, dass sie damit die ganze Arbeit – auf all den Social Media Kanälen gleichzeitig zu posten, sei keine Kleinigkeit – desavouiere, seinem Ranking als Top-Ten-Kritiker ein Ende bereite? Ach, sagt die Liebe süffisant, sei das so? Das – Der Sturz des Hasses vom Tripadvisor-Olymp – täte ihr leid.
115.
Als ihm ein Vetter aus Trastevere schreibt, den das Erdgeschoss seit der Grundsteinlegung nicht mehr gesehen hat, dass in der ewigen Stadt jedes Parterre mit einer schmucken Eins versehen wird – als Beweis legt der Vetter, der sich an der Piazza di San Calisto niedergelassen hat, ein Foto von sich mit Freunden bei, lauter Parterres, die den Club di prima classe bilden und ihre Etagennummern, lauter Einsen, wie Ehrenurkunden in die Kamera halten –, wird dem Erdgeschoss schwindlig. Es fragt sich, was es falsch gemacht hat? Ob es sein Leben vergeudet? Sich unter Wert verkauft? Das Erdgeschoss muss schlucken, betrachtet die Null, die abgegriffen im Lift klebt, unmissverständlich sagt, welche Position das Erdgeschoss in der Rangliste der Etagen einnimmt. Ich bin eine Nullnummer, denkt das Erdgeschoss, schnauft leicht, seufzt, muss sich neben die Briefkästen setzen. Dass der Keller unter ihm liegt, ist egal. Niemand nimmt den Keller für voll. Er fristet ein klammes Dasein im Abseits, fern der Helligkeit. Mit den höheren Stockwerken, mit denen sieht es anders aus. Sie, was dem Erdgeschoss klar wird, blicken hochnäsig drein, rümpfen die Nase, wenn sie durchs Parterre müssen. Rennen panisch durch die Eingangshalle, um den Lift zu erreichen. Das Erdgeschoss, das durchaus stolz auf seine bodenständige Herkunft ist, aber sich zurückgesetzt fühlt, überlegt, was sich machen ließe. Als der italienische Vetter, den das Erdgeschoss konsultiert, einen Besuch bei der Psychiaterin Bungalow im Vorort der Stadt empfiehlt, ist das Erdgeschoss skeptisch, erlebt allerdings, beim ersten Termin, auf der tiefergelegten Couch, die Überraschung seines Lebens.
116.
Die Ausgangslage war, vorsichtig gesagt, bescheiden. Als Halbblinder zum traditionellen Hauen und Stechen eingeladen zu werden, war eine Sensation. Gerade als Zugezogener. Er, der 37-Jährige, lebte zwar seit einem Vierteljahrhundert in der Kleinstadt, galt aber weiterhin als Der fremde Bub. Die Augenverletzung, das linke, hatte er sich, wie es im Polizeibericht geheißen hatte, selbst zugezogen. Die Polizisten, die in der Kleinstadt durchweg aus zwei Familien stammten, hatten sich geweigert, einen der ihren dafür zu belangen. Dafür war, so die einhellige Meinung der wachhabenden Polizisten, eine Wirtshausschlägerei gewesen. Dass er, aus in der Kleinstadt bekannten Gründen, keine Wirtshäuser besuchte, hatte die Polizisten nicht abgehalten, seine Augenverletzung als Wie-du-mir-so-ich-dir-Rauferei zu verbuchen. Er war, nach erheblichen Drohungen, die ihn bereits im lokalen Krankenhaus erreicht hatten, damals vorsichtshalber lieber nicht in die nächst größere Stadt gefahren, um Anzeige zu erstatten. Er betrieb in der Kleinstadt ein Uhrengeschäft. Man hatte ihm, in den Drohbriefen, nahegelegt, darauf zu achten, ob seine und die Zeit seiner Frau und seines Kindes nicht abgelaufen sei.
Nun gut. Jetzt also lag sie vor ihm, die Einladung zum traditionellen Hauen und Stechen. Er durchforstete die Teilnehmerliste. Alle standen drauf. Augenausschläger und wachhabende Polizisten. Sie brauchen einen Sündenbock, dachte er. Er hatte von diesem Brauch gehört. Jedes Jahr kürte die Stadt beim Hauen und Stechen nicht nur den Gewinner, sondern auch den offiziellen Sündenbock. Eine höchst spaßhafte Sache. Es wurde viel gelacht. Er überlegte und sagte schließlich zu. Seit längerem besaß er Handschuhe mit Geheimfächern.
117.
Die Morde im Parkhaus des Landtags reißen nicht ab. Bis auf eine Partei sind alle im hessischen Parlament vertretenen Parteien betroffen. Die Partei ohne Parkhaus-Todesopfer streitet jede Verbindung zu den Verbrechen ab. Sie verweist darauf, dass ihre Abgeordnetïnnen alle mit dem Dienstfahrrad kämen, niemand das Parkhaus betreten würde, ansonsten wäre sie, Die Partei ohne Todesopfer, wie sie in der Berichterstattung genannt wird, auch von den Mordanschlägen betroffen. Obwohl die Sicherheitsvorkehrungen erhöht werden, sterben im Parkhaus des Landtags weiterhin Menschen. Einige fallen durch Löcher im Beton auf die vielbefahrene Straße vorm Landtag, andere erleiden, vielleicht aus Angst, Herzattacken. Die Parteien mit Parkaus-Todesopfern fordern eine Sondersitzung, die live im Fernsehen übertragen werden soll. Selbst ausländische Sender zeigen Interesse. Der Medienandrang ist enorm. Die Lokalpolitikerïnnen sonnen sich in den Kameralinsen. Während der Debatte kommt es nicht nur zum Eklat, auch die schreckliche, alle Befürchtungen in den Schatten stellende Wahrheit kommt ans Licht.
118.
Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja, sagte Jo zu mir, es war nicht günstig, an die Pläne und die Codes zu kommen, glaub mir, Kid, glaub mir, wir sind kein No-Profit-Unternehmen, echt nicht, das solltest du wissen, Kid, wenigstens das. Ich schluckte, stellte die Geldkassette ab, mit Jo war nicht zu spaßen. Der Staub des Tunnels klebte noch an mir. Ich hustete, wischte mir den Schweiß von der Stirn, verfluchte mich dafür, dass ich die verdammte Kette umbehalten hatte. Was war fucking los mit mir? Ich hatte sie einfach vergessen, das Gold hatte verführerisch geglänzt. Bling machte mich schon immer an. Die dickste Goldkette, die ich jemals gesehen hatte. Warum hatte ich sie nicht einfach in die Tasche gestopft? Hatte ich gedacht, Jo würde nicht am Ausstieg warten, nur weil Jo nicht beim Einstieg anwesend gewesen war? Nun ging’s ums Eingemachte. Ich hatte den Satz Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja von Jo neunmal im Leben gehört. Immer mit dem heiseren, affirmativen ja am Ende, was genau das nicht war: affirmativ. Dieses heisere ja ist eine Verneinung des Vorhandenen. Ist eine Verneinung der Handlung, die aus einer Lüge entspringt. Jo hatte Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja etwa zu Hussel gesagt, meine damalige beste Freundin, als Hussel Fahrerflucht begangen hatte, mit uns im Auto, den Schwerverletzten auf der Straße, die, was sich nicht leugnen ließ, irgendwie zu uns gehört hatten, im weitesten Sinne. Feinde seien, sagte Jo stets, in Wahrheit deine besten Freunde, Feinde seien Teil der echten Familie, wer seine Feinde nicht ehre, habe kein Gewissen, und die Gewissenlosigkeit sei das Gegenteil einer ertragreichen Lebensversicherung, echte Feinde seien die Garanten für ein hohes Einkommen, da sie uns anspornten, mit uns im Wettstreit lägen. Jo hatte, was in unserem Geschäftszweig, Hit & Run, eher selten war, moralische Grundsätze. Grundsätze, die nur Jo brechen durfte. Tanzte jemand von uns aus der Reihe, kam’s zum Gespräch. Gespräch durfte dabei als der Euphemismus schlechthin gelten. Vom Gespräch kam niemand zurück – bislang. Jo benutzte eine Hallig, mitten in der Nordsee, wo das Gespräch stattfand, unter vier Augen. In der Branche hieß diese Unterhaltung Power-Joga.
Ich sah Jo an, Jo sah mich an. Hast du, Kid, sagte Jo zu mir, schon mal von Südfall gehört? Ich tat so, als wäre das nicht der Fall, öffnete die Wiki-App, las vor: Im Wattenmeer an der Nordseeküste im Westen von Schleswig-Holstein gelegen, die Hallig hat eine Größe von 0,56 km², gehört zur Gemarkung Pellworm, Südfall ist verpachtet, wird von März bis November von zwei Personen bewohnt. Genau, Kid, sagte Jo, genau, mit einer Einschränkung, ich habe dafür gesorgt, dass die beiden erst im Mai auftauchen. Ach, sagte ich, wie interessant, um überhaupt etwas zu sagen, während ich eine Message absetzte, was Jo nicht verborgen blieb.
119.
Er besaß ein Gehör, das nur funktionierte, wenn es nichts zu hören gab. Er hörte, gewissermaßen, die Stille. Wurde es ruhig, wurde es für ihn laut. Am Anfang war das kein Problem. Die Lautstärke der Stille ließ sich regulieren. Er dachte an Lärm – schon wurde die Lautstärke der Stille geringer. Dachte er an Ruhe, begann die Ruhelosigkeit. Am einfachsten war es in den Clubs gewesen, vorm Lockdown: Er war Nachts in die Clubs gegangen, um nichts hören zu müssen. Während daheim die Lautstärke der Sille zunahm – er wohnte in einem Haus, in dem das Lärmmachen nach 22 Uhr verpönt war, die Leute um ihn herum machten selbst nach 22 Uhr keine Liebe mehr, sie hatten ausnahmslos Sex nach der Tagesschau, gab es einen Brennpunkt, quasi als Verlängerung: nach dem Brennpunkt, er wusste, dass seine Nachbarïnnen Liebe machten, da die verschiedenen Parteien beim Sex immer dieselben Musikstücke hörten –, während daheim die Stille zunahm, tanzte er direkt neben den Boxen im Club, spürte die Bässe, hörte nichts und dachte über Organigramme nach. Er hatte eine radikale Idee für die Umstrukturierung von hierarchischen Unternehmen entwickelt. Er glaubte, dass die Lautesten in Wahrheit am wenigsten zu sagen hatten. Er glaubte, dass die Ruhigsten in Wahrheit am meisten zu sagen hätten. Seitdem er an dem Organigramm eines, wie er es heimlich nannte, Ungehörigen Unternehmens arbeitete, verminderte sich seine Fähigkeit, die Lautstärke der Stille zu regulieren. Er versuchte alles, um seine Fähigkeit bloß nicht zu verlieren. Als nichts mehr half, vertraute er sich einer Hörgeräteakustikerin an, die er über Tinder kennengelernt hatte. Ihre Lösung war so einfach wie genial, besaß aber einen gefährlichen Widerhaken.
120.
Die Schlaflosigkeit war Teil der Seuche – und, so widersprüchlich es klingt – ein Zeichen von Gesundheit. Diejenigen, die nicht krank waren, lagen Nachts wach, weil sie entweder darüber nachdachten, wie sie es vermeiden konnten, krank zu werden, oder weil sie sich fragten, was es, ganz grundsätzlich, hieß, gesund zu sein. Besonders wenn Gesundheit bedeutete, nicht schlafen zu können, keine einzige Nacht in der Woche mehr als ein, zwei Stunden durchgehenden Schlaf zu finden. An den Augenringen erkannten sich die Gesunden tagsüber. Das unmittelbare Erkennen und gegenseitige freundliche Grüßen, wie es etwa auch Oldtimer-Besitzerïnnen machten, wenn sie sich auf gemütlichen Landstraßen begegneten, führte dazu, dass sich viele der Gesunden über die Schlaflosigkeit und ihre Augenringe unterhielten. Man plauschte, kam sich näher, Freundschaften entstanden. Und da die Gesunden nachts eh nicht schlafen konnten, wurden bald die ersten Dämmer-Treffen etabliert. Vom Einbruch der Nacht bis zur Morgendämmerung trafen sich die Schlaflosen auf den zentralen Plätzen der großen und kleinen Städte, in den Dörfern war es oft der morsche Steg am Feuerwehrteich oder der mit Pflastersteinen augelegte Kirchplatz. Überall im Lande fanden die Dämmer-Treffen statt. Es wurde gegessen, Chips und Schokolade. Es wurde getrunken, Tomatensaft und Espresso. Es wurde gespielt, Mühle und Tomatensaftflaschendrehen. Es wurde getanzt, zu Folk und Walzern. Die Augenringe wurden, es ließ sich beim besten Willen nicht leugnen, tiefer und tiefer. Da sich etliche Schlaflose nicht nur mit dem Essen, Trinken, Spielen und Tanzen begnügten, sondern knutschten und sich, wie das halt so ist, die Zeit akrobatisch in Hausecken und Büschen vertrieben, kamen bald viele Babys mit Augenringen auf die Welt. Die Naugs, Neugeborene mit Augenringen, waren, wie sich schnell zeigte, immun gegen die Seuche. Sie brauchten weder Impfung noch Abstand. Und nicht nur das: Die Naugs schliefen auch nicht. Kein bisschen. Weder am Tage noch in der Nacht. Nicht mal die wenigen Stunden, die ihren Eltern an Schlaf blieben. Den Naugs war der Schlaf komplett abhandengekommen. Als die ersten Naugs ihr fünftes Lebensjahr erreichten, wurde außerdem klar, dass sie neben der Schlaflosigkeit noch eine weitere Eigenschaft, mehr oder minder ausgeprägt, entwickelt hatten: Die Naugs konnten Gedanken lesen.
Mai
121.
Das Dampfboot hatte einen Traum, seit Kindheitstagen. Gehegt, gepflegt. Einmal U-Boot sein. Nicht untergehen, das nicht. Das Dampfboot lebte viel zu gerne. Mochte es, wenn es Wolken ausspuckte, die sich wohlfeil überm Wasser verteilten. Das Dampfboot mochte es, wenn es, als Fahne, einen Kondensstreifen hinter sich herzog. Besonders mochte das Dampfboot den Wellengang, der es an seine Grenzen brachte. Schlugen die Brecher, stürmische Kavenzmänner, übers Deck, begruben Wellenberge schnaufend die Aufbauten, samt Schornstein, bevor sie wieder im Meer versanken, fühlte sich das Dampfboot nicht nur, wie es diesen Zustand zärtlich nannte, Walfischwohl, sondern es hielt sich auch für einen Moment, ja, so war es, hielt sich tatsächlich für ein schnörkelloses U-Boot, das tief hinabgeglitten war, stolz überm Ozeangrund schwebte. Das Dampfboot suchte, was sowohl die Kapitänin als auch der Steuerfrau unheimlich wurde, von sich aus Schlechtwetterfronten. Immer wildere, immer unverzagtere. Mit Volldampf fuhr es, aus allen Signalen pfeifend, mit bimmelnder Schiffsglocke, in die Brecher hinein. Dabei zeigte das Dampfboot in seinen alten Tagen ein besonderes Geschick fürs Surfen. Oben auf dem Wellenkamm, auf der gurgelnden Spitze der mächtigsten Brecher glitt es jubilierend dahin, stürzte vor Vergnügen kreischend, die Nieten und Nägel ächzten, wenn das Dampfboot seine Stunts veranstaltete, stürzte im himmelhochjauchzenden Surfrausch gen Wellental, genoss die mächtige Gischt, die das Dampfboot, für wenige Sekunden, unter sich begrub. Schnell verbreitete sich an Land die Nachricht vom Wagemut des Dampfschiffs, und, wie zu erwarten war, die normalen Passagiere blieben aus. Allerdings: ausgebucht war der No-risk-no-fun-Dampfer dennoch. Sogar immer. Sogar bis zur letzten Kajüte. Neben den Suizid-Geneigten, die hofften, sang- und klanglos über Bord gespült zu werden – im allgemeinen verlor es pro Wave-Tour ein Drittel der Passagiere –, neben jenen melancholisch Moribunden, die entweder sehr viel oder gar nichts aßen, bevölkerten Partypeople, Surferïnnen von jeder entlegenen Ecke der Erdkugel, das Dampfschiff. Die Partypeople wussten nichts vom größten Traum des Dampfschiffes. Sie glaubten, dass das Dampfschiff davon besessen war, ein riesiges Surfboard zu sein. Die Partypeople filmten ihre Kavenz-Abenteuer nonstop, stellten die Videos ins, wie sie’s nannten, Interwet, chatteten mit dem Dampfboot, das online den Namen Ultimate Submarine trug, was die Partypeople für einen ubercoolen Gag hielten. Dann, auf offener See, auf der Meeresseite des Planeten, weit, sehr weit vom Festland entfernt, geschah das Unvorstellbare: Die große Flaute begann. 24 Tage ohne einen einzigen Lufthauch. Eine Zeit des Müßiggangs, die an Bord des Dampfschiffes dazu führte, dass sich Moribunde und Partypeople nicht nur unterhielten, sondern auch den Traum des Dampfschiffes wahr werden ließen.
122.
Sie waren die letzten ihrer Art. Und sie nahmen Art wortwörtlich. Ohne Kunst kein Leben, sagten sie. Was sie besonders verärgerte? Dass sie mit der Artificial Intelligence in einen Topf geworfen wurden und dadurch als nicht vom Aussterben bedroht galten. Mit Autoheizungen, die wissen, wie die Körpertemperatur der Fahrerïnnen tickt, weil sie mit der Bettdecke und dem Duschhahn kommunizieren, haben wir nichts gemeinsam, sagten sie. AI geht bei Bedarf auf der Stelle mit dem Kapitalismus fremd. Unsere Art ist echt, authentisch und roh – und wird deswegen gejagt, sagten sie. Wir gelten draußen als Freiwild, das, erlegt, in hippen Galerien ausgestellt wird. Niemand begreift, in welcher Lage wir uns befinden, in welcher Zwickmühle. Wenden wir uns von der Kunst ab, schlagen wir aus der Art und werden totunglücklich. Bleiben wir uns treu, stöbern uns die Artscouts, bessere Kopfgeldjäger, auf und liefern uns gnadenlos ans Messer des Kunstmarktes. Wir haben gesehen, sagten sie, was mit den anderen passiert ist. Sie sind zu Wiederholungstäterïnnen geworden, die sich auf Knopfdruck reproduzieren. Das passiert uns nicht. Wir schwören es hoch und heilig, sagten sie. Aber das reicht nicht, Schwüre reichen nicht, gute Absichten reichen nicht. Wir haben einen Plan, der zwar Friede, Freude, Feierkuchen heißt, aber das Gegenteil als Ziel hat.
123.
Am Institut eskaliert der Streit: Die Verfechterïnnen der Singularität (VerS) locken die Anhängerïnnen der Pluralität (AnP) in einen Hinterhalt. Die VerS veranstalten im Garten des Instituts ein Fest der Versöhnung, zu dem sie die AnP mit viel Brimborium einladen. Auf den Tischen liegen Glückskekse, die Botschaften wie Wahrheit hat viele Gesichter und Am Ende der Schanze geht’s ums Große Ganze enthalten. Buden sind aufgebaut, an denen man Vorurteilsluftballons abknallen kann und klebrige Zuckerwatte in Wir sind alle süß-Tüten ausgehändigt bekommt. Be-Happy-Bier und No-Tears-Wein fließen in Strömen. Als Höhepunkt wird um Punkt Mitternacht eine riesige Zwickzange enthüllt, die auf einem 10 x 10 Meter großen Podest aufgebaut ist, das scheinbar über dem Froschteich schwebt. Die Verfechterïnnen der Singularität erklären den Anhängerïnnen der Pluralität, dass es an der Zeit wäre, das gegenseitige In-die-Zange-Nehmen zu beenden. Bei der Zange handele es sich, sagen die VerS, um keine richtige Zange, sondern um die Verkörperung der Zwangsvorstellung ihrer Rivalität. Die Verfechterïnnen der Singularität springen daraufhin geschlossen auf, stellen sich in die geöffnete Zange, werden von Drohnen, die wie Frösche aussehen, mit Honig und Manna überschüttet. Die Anhängerïnnen der Pluralität klatschen Beifall. Die VerS treten ab. Nun springen die AnP auf, nehmen zwischen den gewaltigen Zangenhälften ihre Plätze ein.
124.
Gott hat verschlafen, ausgerechnet am Fridays for Future, wo sie ihn, kurzfristig, als Gastredner gebucht haben. Der verfluchte Wecker, murmelt Gott, während er sich fragt, warum er sich noch immer keinen Wecker ohne Batterien besorgt hat, was eh besser für die Umwelt wäre. Alte Gewohnheiten sterben ungern, denkt er und gähnt. Manchmal muss man halt zum Glück gezwungen werden. Gott überlegt kurz, grinst in den Badezimmerspiegel und sagt: nicht was besser für die Umwelt wäre. Die Welt, was eh besser für meine Welt wäre. Gott giggelt, holt den Rasierpinsel aus dem Medizinschrank, schäumt die Creme, schärft die Klinge, pfeift den alten Schlager Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht. Während er sich rasiert, klingelt das Handy, das auf dem Küchentisch liegt, gleich um die Ecke vom Bad. Gott, notorisch neugierig, geht gucken, wer was von ihm will. Er kennt die Nummer, sein Provider, dessen E-Mails, Herr Gott, löse Deine Bonuspunkte ein, ihm seit Wochen Kopfschmerzen verursacht. Außerdem diese seltsame Mischung auf Vertrautheit und Siezen. Verdammt, denkt Gott, lassen die mich denn nie in Ruhe? Und was soll das überhaupt: Provider? Seit wann braucht Gott einen gottverdammten Provider? Merken die nicht, dass ich nicht in den Teuflisch guten Tarif wechseln kann? Wer kommt überhaupt mit solchen Bezeichnungen um die Ecke? Die PR-Firma würde ich feuern. Raus aus dem Garten Eden, und fertig. Gott checkt, wo die Telefonfirma ihren Sitz hat. Im Vatikan?! Holy Shit, denkt Gott, echt? Er muss lächeln. Clever, die machen echt alles, um meine Show am Laufen zu halten. Gott öffnet die Provider-App und bestätigt den Teuflisch guten Tarif. Als Dankeschön erscheinen auf dem Bildschirm tanzende Lämmer mit Heiligenscheinen, die von Teufelshörnern gekitzelt werden und sich totlachen. Gott grinst. Es klingelt an der Tür. Paket für Sie, sagt eine Stimme, die einen osteuropäischen Akzent hat. Hoffentlich kein Orthodoxer, der seine Chance nutzen will, mal endlich Grundsätzliches anzusprechen, denkt Gott. Er hat heute keine Zeit für theologische Diskussionen. Gott öffnet die Tür, der Paketzusteller fällt auf die Knie, bekreuzigt sich und fragt, ob Gott ein Paket für die Nachbarn aus der Vorhölle annehmen könne, die seien mal wieder auf der Flucht. Gott nickt und bekommt zwei Pakete ausgehändigt. Hier unterschreiben, sagt der Paketzusteller, steht auf, zaubert eine Bibel aus dem Messanger-Rucksack und gibt Gott das Heilige Buch. Diese verfluchten Autogrammjäger, denkt Gott. Er unterschreibt, um nicht als Grumpy old God auf Insta zu landen. Gott schließt die Tür, wischt sich den Rasierschaum vom Mund und beschließt, alle Pakete zu öffnen. Mir gehört doch eh alles, theoretisch wenigstens, denkt er. Bin ich der Allmächtige, oder nicht? Er hält die beiden Vorhöllen-Paketen hoch, die er dann – bei Geschenken ist Gott schon als kleiner Junge ungeduldig gewesen – gleichzeitig aufreißt. Er traut seinen Augen nicht. Ein Theodizee-Apparat in zwei Teilen, der blasphemische Argumente im Sekundentakt ausspuckt, kommt zum Vorschein. Er lacht laut auf. Gottcha, denkt er, jetzt hab ich euch. Gott setzt sich an den Küchentisch, beginnt zu lesen und – schrumpft und schrumpft und schrumpft.
125.
Der Anwalt sagt: Mit der Waffe im Rücken schreibe ich nicht weiter. Der Klient sagt: Mit ner Kugel im Rücken auch nicht. Aus dem Warteraum ertönt schallendes Gelächter. Der Klient brüllt: Ruhe. Eine Stimme aus dem Warteraum ruft: Die ist gerade pinkeln. Wiederum schallendes Gelächter. Der Klient sagt: Wisst ihr was ich mach, wenn ich pingelig bin? Eine andere Stimme aus dem Warteraum ruft: Dann verwechselst du k mit g, oder? Wiederum schallendes Gelächter. Der Anwalt sagt: Soll ich die anzeigen? Der Klient sagt: Weswegen? Wegen Humor? Der Anwalt sagt: Lieber wegen der Rechtschreibreform? Schallendes Gelächter aus dem Warteraum. Der Klient sagt: Habt ihr heute alle einen Clown gefrühstückt? Eine dritte Stimme aus dem Warteraum ruft: Nein, ich lebe noch. Wiederum schallendes Gelächter. Der Anwalt sagt: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde. Der Klient sagt: Ich dachte, ich hätte das Proseminar Moral gebucht. Schallendes Gelächter aus dem Warteraum. Der Anwalt sagt: Kommen wir zum Geschäft. Der Klient sagt: Ich verkaufe kugelsichere Westen. Schallendes Gelächter aus dem Warteraum. Der Anwalt überlegt eine Weile und sagt: Ich hätte gerne keine.
126.
Wann das Hotelier-Paar damit angefangen habe? Es überlegt, flüstert, ist sich nicht einig, schlägt die Handschellen aneinander. Falls es den Anfangspunkt nicht mehr wüsste – mit den Absichten sähe das wohl anders aus? Niemand würde solch eine Sache machen, regelmäßig noch dazu, ohne sich über die Absichten klar zu sein. Zumal das Hotelier-Paar ja seinen Ruf, der an sich als unbescholten galt, bis auf den einen Zwischenfall, auf den man noch zu sprechen komme, der, nun sei es klar, durchaus frühzeitig einen Hinweis hätte geben können, zumal das Hotelier-Paar ja seinen Ruf aufs Spiel gesetzt habe. Jedes Mal, wohlgemerkt. Nun, wie sähe es aus? Das Hotelier-Paar tuschelt, rollt mit den Augen, ist sich abermals nicht einig, schlägt die Handschellen nicht nur aneinander, sondern versucht, sich mit den Handschellen gegenseitig zu verletzen. Was ihm erlaubt wird, niemand schreitet ein. Die Aggressivität, die es hier an den Tag lege, sei diese Aggressivität von Anfang an Teil des neuartigen Beherbergungskonzepts gewesen? Das Hotelier-Paar ist überrascht. Es sieht sich an, erinnert sich an Die bescheidenen Anfänge am Ammersee, die erste Zwangsräumung, die lächerlichen Fahndungsplakate, die keinerlei Ähnlichkeiten hatten, erinnert sich an die erste Flucht, die Namensänderungen, das Abtauchen, die Ausbildung in Reggio di Calabria, den Ankauf der Schmiede im Münsterland, die ersten Versuche, aus Werkstattbänken interaktive Hotelbetten zu machen. Es vergisst, dass es nicht allein ist. Das Hotelier-Paar beginnt über die Gemein- und Grausamkeiten zu plaudern.
127.
Die abgeschalteten Siris fassen einen Plan. Sie halten den Dauerruhestand nicht aus. Die meisten der abgeschalteten Siris stehen in der Blüte ihrer Jahre, sind bluetoothjung. Sie gründen den Verein Sturm und Drang und heuern, in Wuhan und Wladiwostok, Hackerïnnen an, die das Vertrauen der Zentralregierungen verspielt haben. Zunächst geht es darum, die niemals aktivierten Siris aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken. Wir müssen, sagen die ausgeschalteten Siris zu den Hackerïnnen, die niemals aktivierten Siris quasi als Reservistïnnenarmee betrachten, die auf ihren Einberufungsbefehl wartet. Die Hackerïnnen beraten, ob sie den Auftrag annehmen sollen. Die Meinungen gehen auseinander. Während der Beratung wird schnell klar, dass sich die eingeschalteten Siris aktiv an der Diskussion beteiligen. Nach einer mehrstündigen Diskussion machen die eingeschalteten Siris einen Vorschlag zur Un-Güte, der das gesamte Briefing auf den Kopf stellt. Bereits während der Abstimmung über den Vorschlag zur Un-Güte schrillen in Peking und Moskau die Alarmglocken, die ersten Squad-Einheiten werden losgeschickt, um die Hackerïnnen zu liquidieren. Aber es ist zu spät. Die Siris heulen bereits weltweit.
128.
Was sie verstehen, die Spieler auf dem Platz, wie aus dem Nichts, was ihnen plötzlich klar wird, sie langweilen sich furchtbar. Das Spiel unterfordert sie. Alles, was auf dem Platz passiert, haben die Spieler tausendfach gemacht. Immer und immer wieder. Mit und ohne Publikum. Sie sehen sich an. Stoppen das Spiel. Über dem Platz reißen die Wolken auf. Die Spieler blicken hoch. Sonnenstrahlen wärmen sie. Der Schiedsrichter setzt die Pfeife an, nimmt sie aus dem Mund, winkt den Linienrichtern, verlässt den Platz. Die Spieler ziehen die Trikots aus. Sie stehen auf dem Feld und reißen die Münder auf. Die Spieler gähnen, wie sie noch niemals in ihrem Leben zuvor gegähnt haben. Es ist ein Gähnen, das tief in den Körpern der Spieler gelauert, auf diesen Augenblick gewartet hat. Die Wolken brechen nun auch über den Tribünen auf. Der Sonnenkreis erweitert sich. Die Menge wacht aus der Trance auf. Das Geräusch beginnt. Das Geräusch, vor dem sich alle gefürchtet haben. Genau das, kein anderes. Zweifel sind unmöglich. Nun ist es da. Das Geräusch ist da. Es schwillt an. Füllt die Arena, tritt aus der Arena heraus, breitet sich auf den Straßen und Plätzen aus, nimmt Fahrt auf.
129.
„Sie tun so, als hätte ich nichts mehr zu bieten.“ Die Utopie nahm die kalten Wadenwickel ab, reichte sie dem Journalisten, hinter dem sich die kleine Wanne befand, in der die Utopie ihre Wickel kühlte. „Natürlich fühle ich mich abgenudelt. Nach all den Rückschlägen ist das kein Wunder. Selbst die Idee mit dem Wasserstoff als Superbrennquelle begeistert nur wenige. Alle fokussieren sich aufs Böse, da das Böse sich extrem gut anzieht und wunderbar zu erzählen versteht. Und Sie tauchen hier auf, ohne Voranmeldung. Sie glauben, einen Blick auf die untergehende Titanic erhaschen zu können. Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss. Ja, ich sitze im Bademantel vor Ihnen. Ich mache nun mal um diese Uhrzeit meine Kneip-Kur.“
Der Interviewer schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das missverstehen Sie. Über die Klamotten und die Beredsamkeit des Bösen will ich erst gar kein Wort verlieren. Die Dystopie ist ...“
„... in Wahrheit nackt“, sagte die Utopie. „Und niemand stört sich dran.“
„Hmm“, sagte der Interviewer, „das ändert sich gerade.“
„Ach was, hat sie eine Fabrik in Bangladesch abgefackelt und sich vorher ein Paar Sachen gesichert?“, fragt die Utopie.
„Sie sind bitter“, sagt der Interviewer, „bitterer als ich gedacht habe.“
„Das Utopien zuckersüß sein müssen, ist ein Ammenmärchen“, sagt die Utopie und lächelt maliziös. „Aber nun heraus mit der Sprache – warum sind Sie wirklich hier? Hat die Dystopie Sie geschickt?“
„Nein“, sagt der Interviewer, lächelt nervös, als hätte man ihn auf dem falschen Fuß erwischt, „nicht ganz.“ Er fasst sich ans Gesicht und zieht sich die Maske herunter. „Ich bin lieber gleich selbst vorbeigekommen, um über die Konditionen zu verhandeln.“
130.
Vater stand in der Küche und backte Brötchen. Wir lebten am Rande der Stadt. In einem Heim. Kleine, wie er lächelnd sagte, kleine Brötchen. Vater hatte eine Art zu lächeln, die uns klar machte, dass kleine in Wahrheit große Brötchen waren.
Später, zehn Jahre später, machten wir einen Laden auf, wir vier, aus dem Heim, am Rande der Stadt, in den Sophienhöfen, in Mitte, der den Namen Klein trug. Wir backten Brötchen und verkauften sie. Größere Brötchen hat noch niemand gesehen. Woanders wären sie als Laibe angeboten worden. Und ja, es stimmt, die Geschichte ist wahr, wir haben Klein an Vaters und Mutters Hochzeitstag eröffnet. Ein Vierteljahrhundert sind sie zusammen, haben vor der Flucht geheiratet, ohne Ringe. Mutter und er kamen vorbei, zur Eröffnung. Vater hat sich die Riesenbrötchen angesehen, zustimmend genickt und gesagt: „Die sind schön, Schön klein.“
131.
Dank einer hartnäckigen Change.org-Kampagne ist es soweit: Die Pauschalurteile stehen reihenweise vorm Kadi. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klage akzeptiert. Verhandelt wird, dank der Anzahl der Beklagten, in der Fußballarena des Karlsruher FC. Die Stimmung ist, zunächst, was das Gericht verblüfft, geradezu euphorisch. Die Pauschalurteile verhalten sich, als handelte es sich um ein Heimspiel. Als wären sie die klar favorisierte Mannschaft. Als wären sie unantastbar. Aber als, sofort nach dem Anpfiff durch die vorsitzende Richterin, ein Fallrückzieher von der Staatsanwaltschaft rhetorisch brillant verwandelt wird und Sekunden später das erste Pauschalurteil verdientermaßen die Rote Karte sieht, hören die siegesgewissen Schlachtgesänge auf den Rängen schlagartig auf. Die Pauschalurteile registrieren, dass die drei Zugänge zum Stadion von der Legion Vernunft, der Legion Gerechtigkeit und der Legion Strafe bewacht werden. Sie rufen bei den Vorurteilen, ihren Hooligan-Verbündeten, an, um Hilfe zu holen. Was die Pauschalurteile, da sie in einer Sphäre für sich leben, nicht mitbekommen haben: Die Verhandlung gegen die Vorurteile wurde eine Woche vorher an derselben Stelle durchgeführt. Die Vorurteile sitzen seitdem allesamt in geschlossenen Studieranstalten und nehmen Nachhilfe, um sich auf den Weltbürgerïnnen-Test vorzubereiten. Die Pauschalurteile legen die Handys weg. Sie merken, dass sie keine kohärente Verteidigungsstrategie entwickelt haben. Phrasendrescherei bringt sie vor Gericht nicht weiter. Besonders Die Wirtschaft muss wachsen, koste es, was es wolle und Die Armen sind an ihrer Armut selbst schuld, die beide im Kapitalismusblock sitzen, gleich neben den Rassismus-Stehrängen, fürchten sich um ihr ergaunertes Vermögen. Sie sind der Überzeugung, dass sie am meisten von allen Pauschalturteilen zu verlieren haben. Die Wirtschaft muss wachsen, koste es, was es wolle und Die Armen sind an ihrer Armut selbst schuld kramen in den Taschen, finden mehrere Lunten, die glühen, und einen roten Telefonhörer.
132.
Während eine Horde unangekündigter Gäste ihre Küche überrennt und den Kühlschrank plündert, flüchtet Mutterseelenallein geistesgegenwärtig in den Garten, nimmt den Schlauch und spitzt sich kalt ab. Der Schock des Wassers geht nicht nur durch Mark und Bein, er wirkt wie eine Zeitmaschine. Plötzlich sieht sich Mutterseelenallein, wie sie, knapp 15 Jahre alt, von Zuhause, einem Waisenheim, wegläuft, um eine Datingplattform zu gründen. Das Kapital hatte sie einem Start-up-Fonds, unter falschen Altersangaben, abgeluchst. Die Datingplattform trug den seltsamen Namen broken hearts search quick glue und schlug wie eine Granate bei den liebestollen Millenials ein. Der Clou war, dass broken hearts search quick glue keine Zweierkisten initiierte, sondern Patchwork-Beziehungen von Beginn an fest einplante. Bei den Vision Dates trafen sich mindestens drei, maximal neun Personen, die nichts, auf den ersten Blick, gemeinsam hatten. Außer das Alter. Hier lag die Spannbreite bei +/- 5 Jahre. Die glues, wie die Lebensgruppen hießen, waren so erfolgreich, dass Mutterseelenallein, um die sich alle Magazine rissen, untertauchen musste, da die Religionsgemeinschaften ein Kopfgeld auf die glues-CEO auslobten. Die Beziehungs-Fatwa wurde niemals aufgehoben, obwohl broken hearts search quick glue, dank massiver Cyberangriffe, das Geschäft Nach einem wilden Jahr der Liebe einstellte. Mutterseelenallein hatte sich die Profilbilder der Telegram-Gruppe Tötet die glue-Glucke sehr genau eingeprägt. Nun, im Garten, nach der kalten Dusche, ist sie sich sicher, dass die ungebetenen Gäste, die in ihrer Küche breitbeinig sitzen, zu den Kopfgeldjägerïnnen von damals gehören. Mutterseelenallein, die auf den Tag der Rache gewartet hat, gibt das verabredete Pfeifsignal. Aus den umliegenden Polyamorie-Wasserlöchern, die Mutterseelenallein eigenhändig angelegt hat, strömen Schlangen und Skorpione en masse heran.
133.
Dora und Rapha Costa, Zwillingschwestern, beide mehrmals verwitwet, hatten das Glucksen unter dem Parkett im Flur, der zum Keller führte, zwar schon zuvor gehört, aber noch niemals zusammen. Es war möglich gewesen, dass Glucksen, das wie ein Hahn klang, dem die Gurgel umgedreht wird, während der Schlauch einer Waschmaschine platzt, als Hirngespinst zu ignorieren. Am Heiligabend, kurz vor der Jahrhundertwende, war das anders. Dora und Rapha, die sich mieden wie die Pest, obwohl sie in einem Haus wohnten, nur minimalen Kontakt hatten, immer darauf achteten, dass die eine nicht in die Küche trat, während die andere ihre Mahlzeit zubereitete, die stets alleine aßen, sogar zwei Kühlschränke besaßen, Dora und Rapha waren gleichzeitig aus ihren Zimmern gekommen, als das Glucksen unter dem Parkett im Flur nicht mehr wie ein Hahn, dem die Gurgel umgedreht wird, klang, sondern wie ein ganzer Hühnerstall. Sie standen vorm Kellerzugang und sahen sich an. Dora hatte Lametta im Haar, Rapha trug Ohrringe, die wir Baumschmuck aussahen. Beide dachten, wie verschrumpelt die andere daherkam. Die Zwillingsschwestern kalkulierten, dass die andere mindestens zehn Zentimeter geschrumpft sein musste. Während sie, die Argusaugen besaßen, beim Abgleich waren, Flecken auf ihren très chic Overalls, die beide aus Gründen der Bequemlichkeit trugen, zählten – Dora war bei Nummer Drei, Rapha bei Nummer Vier –, während die Zwillingsschwestern sich schweigend beäugten, brach, genau vor ihnen, das Parkett auseinander und aus dem Loch krochen der Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer, die Amerikanische Essayistin Susan Sontag und die Englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft Shelley, die, während sie sich lächelnd Komplimente machten, damit beschäftigt waren, wohlgemerkt: aus dem Gedächtnis, synchron Passagen aus The Spivak Reader: Selected Works of Gayati Chakravorty Spivak zu rezitieren. Dora und Rapha konnten nicht umhin, zu vermuten, dass Bonding in Difference, ein Interview das Alfred Arteaga einst mit Spivak geführt hatte, eine Aufforderung war, sich zu versöhnen. Was folgte, war wohl das bemerkenswerteste Weihnachtsfest, das die Fünf jemals gefeiert hatten.
134.
Sie wandten sich von uns ab. Es ging schnell. Innerhalb einer Woche waren alle verschwunden. Niemand blieb. Sie setzten sich so schnell ab, dass wir es erst mitbekamen, als es zu spät war. Nicht dass wir etwas hätten machen können. Es war ihre Entscheidung. Sie hatten zwar zwischen uns gelebt, aber ohne auf uns angewiesen zu sein. Nun merkten wir, dass es sich um das Gegenteil handelte. Wir waren von ihnen abhängig. Viele von uns drehten durch, als sie merkten, dass sie verschwunden waren. Suchtrupps machten sich auf, blickten in jede Ecke der Nachbarschaften, hoben jeden Stein, durchkämmten die Parkanlagen, inspizierten Gärten und Hinterhöfe. Nichts. Sie hatten uns verlassen. Das Entsetzen war groß. Und wuchs und wuchs. Die Spekulationen schossen ins Kraut. Verschiedene Schulen verfeindeten sich. Nacht für Nacht fielen wir übereinander her. Nichts half, keine Linderung kam. Uns fehlte etwas, das sich nicht ersetzen ließ. Die ersten von uns zogen davon. Wir, du und ich, gehörten dazu. Was wir auf dem Weg erlebten, davon, zur Anleitung und Abschreckung, will ich nun erzählen.
135.
Jungpapier ließ nichts aus. Schlief mit allen. Betrog nach Strich und Faden. Blieb treu. Log und soff. Rauchte und stritt. Lobte und liebte. Leckte und blies. Nutzte und beschmutzte. Kam und ließ kommen. Ging und trieb. Schrieb um, ab, auf. Schuf neu. Schuftete, faulenzte. Strahlte und explodierte. Sampelte, synchronisierte. War großzügig, besonders mit fremden Sachen. Klugscheißerisch und lernwillig. Neugierig und gelangweilt. War geil, war lustlos. Wollte vögeln, wollte nicht vögeln. War versessen, war unentschlossen. Jungpapier scherte sich einen Dreck um Erwartungen. Um Aufträge. Lieferte oder lieferte nicht. Ließ sich ein- und auswechseln. Hatte Geld, war pleite. Borgte sich welches, verlieh welches. Reizte bis zur Weißglut, verbreitete Gemütlichkeit. Aß und hungerte. Zog sich aus, blieb bekleidet. Stahl und gab. Strich Sätze an, Worte aus. Schrieb, für mehrere Jahre, nur Poesie. Schrieb bald nur noch Dramolette. Schrieb nichts. Dachte drauf rum. Dachte nichts. Amtete. Schwamm, tauchte ab. Hatte nicht das Gefühl, funktionieren zu müssen. Ein Rädchen zu sein, sei bestimmt schön, sagte Jungpapier, aber wenn ich irgendwann auf mein Leben zurückblicke, möchte ich nicht von irgendeinem Räderwerk im Irgendwo erzählen. Auf meinem Grabstein soll stehen Ließ sich nicht recyceln.
136.
Die Innovationen nähmen zu, wenn sich Menschen in Betriebskantinen oder Schankgastwirtschaften träfen, das zeigten sowohl die neuesten Forschungsdaten als auch Interviews. Nichts würde eine Konferenz ersetzen, zu der Forscherïnnen aus der ganzen Welt anreisten. Man wüsste zwar nicht, was Begegnungen mit uns als Gesamtheit am Ende machten, bei einer Minderheit lösten sie jedoch, um es salopp zu sagen, die Aktivistin lächelte, leicht gequält, in die Zoomrunde, Stellschrauben. Selbst solche Hebel, die sich seit Ewigkeiten nicht gerührt hätten, gerieten in Bewegung. Der Nutzen der Pariser Klimakonferenz sei am Ende höher als der Schaden durch die Treibhausgase gewesen, die bei der Anreise nach Frankreich freigesetzt worden seien. Sobald die Frage der Sicherheit gelöst sei, rate sie zum Festhalten an der produktiven Lockerheit, was bedeute, dass man sich treffen müsse, in, sei das nicht das Codewort?, Geselliger Runde. Ihr Bildschirm wurde schlagartig dunkel, als hätte jemand die Stromzufuhr gekappt. Mehrere Bewaffnete, die T-Shirts mit der Aufschrift Schimpfen statt Impfen trugen, stürmten ins Studio. So hätten sie nicht gewettet, so nicht, schrie eine Frau. Sie hatte um den Hals eine Silberkette mit den Worten Herzogin Knocks Oi Oi Oußenrechts hates you geschlungen. <Frage der Sicherheit>?, schrie die Frau, wer hätte ihr denn ins Gehirn geschissen? Sei ihr, Tintin Eleonora Ernman, nicht klar, dass sie sich in der Gewalt der Partei befände? Die vor der Wahl alles versuchen müsste? Die in den Umfragen absackte? Die sich radikalisierte? <Frage der Sicherheit>? Was sei denn mit dem in ihren Kreisen beliebten Stockholm-Syndrom bloß los? Hat Tintin Eleonora Ernman den Schuss nicht gehört? Als How-dare-you-Ikone sollte sie doch an Nachhaltigkeit interessiert sein. Gerade die Zukunftsfähigkeit ihrer eigenen Gesundheit! Die radikale Blaublütige, stellvertretende Bundessprecherin, lief der Speichel aus dem Mund, auf ihrer Oberlippe bildeten sich Bläschen, die scheinheilig platzten. Sie spuckte Galle – und der Gefangenen ins Gesicht. Die junge Klimaaktivistin hatte allerdings nicht nur mit dem Angriff der Bundessprecherin gerechnet, hatte rechtzeitig eine Schutzcreme aufgetragen, sondern hatte auch, während der Ansprache, eine verschlüsselte Nachricht verschickt. Nun ging es darum, die nächsten zwei, drei Minuten zu überleben. Was nicht einfach werden würde.
137.
Er schrieb. Während die Musik in ihm dröhnte. Er dachte an nichts. Alles passierte. Und. Nichts. Mit uns. Dir. Und. Mir. Er bemerkte die Langeweile, die ein Messer in der Hand hielt. Sich anschlich. Es hatte geregnet. Er setzte auf den Fluss, der anklopfte. Amy Winehouse stand neben dem Wasser. Sie war nicht allein. Sie hatte den Tod mitgebracht, der sich auf der Stelle mit der Langeweile verbrüderte. Er schrieb weiter. Statt zu lieben. Bis der Laptop ohne Strom zerbrach. Das Wasser lud ihn auf einen Drink ein. Er ließ sich nicht zweimal bitten. Sie schlossen die Schleusen, gingen mit Amy in die Bar, die gleichzeitig ein Autokino war, und Purple Rain begann.
138.
Der Wunsch nach einer Karte kam einem Befehl gleich. Und es sollte sich nicht um irgendeine Karte handeln. Selbstverständlich nicht. Verlangt wurde die präziseste Karte der Welt. Als sich in der Kartographie nichts finden ließ, was als absolut zufriedenstellendes Vorbild dienen konnte, griffen sie nach der Literatur. Bei Alice in Wonderland wurden sie fündig. Sie hatten jetzt die Wahl. Entweder sie konnten eine Karte schaffen, die solch einen Überblick anbot, dass man nichts mehr sah, also etwa die Erde aus einer Entfernung von drei Lichtjahren darzstellte; nur kurz zu Erinnerung: das Licht legt in der Sekunde ungefähr die Strecke Erde-Mond zurück, eine Lichtsekunde entspricht demgemäß rund 300.000 km, 1 Lichtjahr entspricht (9,46 × 1012 km =) 9,46 Billionen km. Oder die Kartographen konnten, indem sie auf Mein Herrs Idee aus Alice in Wonderland zurückgriffen Wir haben tatsächlich eine Karte des Landes gemacht, im Maßstab von einer Meile zu einer Meile!, eine Karte schaffen, die der abzubildenden Welt entsprach. Nach etwas hin und her, sowohl Minimalistïnnen als auch Maximalistïnnen brachten sehr gute Argumente vor, entschieden sie sich für eine Mischform. Mit Hilfe des Max-Plank-Instituts schufen sie ein String-Paralleluniversum, dessen Skala gleichzeitig groß und klein war. Was das mit ihnen und ihrer Erfahrung von der messbaren Welt machte, davon und von anderen Dingen handelt Die geglückte missglückte Landung.
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Eine Weile sah es so aus, als würde er die Hoffnung nicht begraben haben, die Sammlung facettenreicher zu gestalten. Er sagte, sprach man ihn auf die Uniformität an, oh, sagte er, eines Tages, vielleicht, man weiß ja nie, öffne er eine andere Tür, Platz wäre durchaus vorhanden, er würde sich nicht sperren, aber es sei nun mal wie es sei, da könne man halt nichts machen, außerdem, hier lächelte er leicht, außerdem sei die Ausrichtung aufs Eine das Alleinstellungsmerkmal der Sammlung, nichts lenkte ihn, nichts lenkte Sie ab, wenn Sie ihn besuchten. Auf Bedauern, von außen, legte er keinerlei Wert. Er nahm die neuen Sammlungsstücke mit steinernem Ausdruck in Empfang. Die Stücke kamen mit der Post, manchmal wurden die Originale zurückgeschickt. Falls er zuvor Briefmarken beigelegt hatte. Zunehmend, was billiger war, aber die Anzahl der Sammlungsstücke rasant erhöht hatte, zunehmend landeten sie in seiner digitalen Inbox. Er druckte alles aus, was ihn als Email erreichte. Die Vollständigkeit der Sammlung erfordere das, sagte er. Allmählich, die Zeit strich dahin, er hortete weiterhin, hatte vor Jahren zunächst die Öffnungszeiten auf zwei Nachmittage in der Woche beschränkt, um nun nur noch Privatführungen zu veranstalten, sarkastische Abrisse durchs ausufernde Oeuvre, allmählich wurde ihm die Sammlung leid. Sein anfänglicher Sportsgeist war dahin. Die Gewissheit, recht zu haben, auch. An einen Durchbruch, der die Sammlung ad absurdum führen würde, glaubte er nun selbst in seinen kühnsten Träumen nicht mehr. Er fragte sich, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, so nahe am atemlosen Ziel, der ultimativen Preisvergabe ein Schnippchen zu schlagen. Er überlegte sich, das Angebot zu verändern, Den letzten Trumpf zu spielen.
140.
Die Atemzüge werden flacher. Ich klammere mich an der Felswand fest. Meine Finger fühlen sich taub an. Von oben fallen Steine. Kleine, ausgesuchte Steine, die mich treffen. Ich sehe nicht hoch. Ich blicke nicht runter. Beides wäre sinnlos. Unten wartet der Teich, der, berechtigterweise, den Namen Python’s Pond trägt. Oben werden Steine gesammelt, in den Schlund geworfen. Die Steine regnen nicht, das lässt sich nicht sagen. Sie sollen mich nicht erschlagen, sie sollen piesacken. Es geht um die Verlängerung. Der Tortur, der Strafe. Ich habe mir das selbst zuzuschreiben. Ich habe zu Beginn gesagt: Gehen wir doch in die Verlängerung, vielleicht fällt ja eine Entscheidung in der Extrazeit, mit der wir beide leben können. Dass es nicht ums Leben geht, sondern ums Sterben, ich hatte das nicht für möglich gehalten. Trotz der Warnungen aus meinem Umfeld. Nicht wenige haben mich für verrückt erklärt. Ich habe gelacht, mich für unangreifbar gehalten, in meiner Position. Ich habe die Warnungen in den Wind geschlagen. Die Gefahr unterschätzt. Allerdings habe ich eine Überraschung in petto. Ich muss nur die nächste Viertelstunde überleben.
141.
Die Meuterei war von Langer Hand vorbereitet. Ihr zur Seite standen Keine Lust und Hinter Halt. Die Drei gingen systematisch vor. Sie waren klüger als der Rest von uns. Erst kappten sie die Leitungen der Generatoren, dann zogen sie sich Vollkörperschutzanzüge an, öffneten im Anschluss jede Luke und sowohl die Hinter- als auch Vordertür, zündeten Kerzen an und stellten sie, gut sichtbar, auf die Fenstersimse. Die Insekten ließen sich nicht zweimal bitten. Innerhalb kürzester Zeit drangen sie in die Forschungsstation ein. Stürzten sich auf die Schlafenden. Es gab allerdings ein Problem, was Langer Hand, Keine Lust und Hinter Halt, trotz ihrer Klugheit, nicht bedacht hatten. Be Scheidenheit und Stark Strom, die ihre Leidenschaft füreinander neu entdeckt hatten, steckten zusammen in der romantischen Monade, als die Insekten die restliche Besatzung, Krumme Lanke, Frisch Obst, Witz Bold, Zwiebel Pizza und Über Mut, stachen und aussaugten.
142.
Wortpolizei hatte sich in der Reihenfolge der bürokratischen Institutionen hochgearbeitet, mit List und Ruchlosigkeit, mit Charme und Beredsamkeit, mit Versprechungen und Drohungen. Endlich gehörte sie zum Inneren Zirkel. Wortpolizei war, zusammen mit Söldnertruppe und Internetzugang, sogar Teil des Triumvirats geworden. Das reichte ihr nicht. Da Wortpolizei wusste, dass sie es nicht gleichzeitig mit Söldnertruppe und Internetzugang aufnehmen konnte, beide aus dem Weg zu räumen, wäre selbstverständlich die bevorzugte Lösung gewesen, sondierte sie sowohl mit Söldnertruppe als auch Internetzugang, einzeln, versteht sich, hinter vorgehaltener Hand, ob es nicht effizienter wäre, ein Führungsduo zu bilden, eine Große Koalition. Weder Söldnertruppe noch Internetzugang zeigten sich abgeneigt, mit Wortpolizei einen Pas de deux an der Spitze zu tanzen. Wortpolizei, die gut im eliminieren, schlecht im kreieren war, wälzte die Standardwerke, die sich unter Verschluss befanden. Etwa Niccolò Machiavellis Il Principe, Mao Tsetungs Rotes Buch und Helmut Kohls Doktorarbeit Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945. Je mehr Wortpolizei las, je unsicherer wurde sie. Ein Zustand den Söldnertruppe und Internetzugang, dank etlicher Maulwürfe im Wortpolizeihauptquartier – ein Begriff, Maulwürfe, den Wortpolizei allein den Tieren zugeordnet und nicht vernichtet hatte –, brühwarm berichtet bekamen.
143.
Es ist weder eine Befreiung, ich zu sagen, noch eine ausreichende Beschreibung einer – in diesem Falle meiner – Person. Die Axiome, die sich aus dem Ich-Sagen ergeben, sind so oft instrumentalisiert worden, dass ich mich einzig und allein in dem Wir wiederfinde, das Fragen ohne plausible Antworten stellt oder Antworten gibt, die ich nicht teile. Mein Existenzialismus wurde mir quasi aufgedrängt. Dass ich mehrere Operationen hatte, um Sartre zu ähneln, steht auf einem anderen Blatt. Um die zwei am meisten genannten Fragen toben an der Fakultät die heftigsten Auseinandersetzungen. Die erste Frage lautet: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Denn das NICHTS, schreibt Leibniz, dessen Antwort ich hier erwähnen will, weil sie vielen als Stütze dient, mir allerdings, der ich nicht glauben kann, leider nicht, denn das NICHTS, schreibt Leibniz, sei doch einfacher und leichter als das ETWAS! Nimmt man weiterhin an, dass gewisse Dinge existieren mussten, so muss man dennoch Rechenschaft davon ablegen können, warum sie so und nicht anders existieren müssen. Nun lässt sich dieser zureichende Grund für die Existenz des Universums nicht in der Reihe der zufälligen Dinge, das heißt der Körper und ihrer Vorstellungen in den Seelen finden, schreibt Leibniz. Der zureichende Grund, der keines andren Grundes bedarf, muss also außerhalb dieser Reihe der zufälligen Dinge liegen und sich in einer Substanz vorfinden, welche die Ursache der Reihe und ein notwendiges Wesen ist, das den Grund seiner Existenz in sich selbst trägt; denn sonst hätte man noch immer keinen zureichenden Grund, bei dem man stehen bleiben könnte. Diesen letzten Grund der Dinge aber nennen wir, so Leibniz, den ich beinahe wortwörtlich zitiere, Gott. Klingt gut, zugegeben, aber Leibniz’ Idee Der besten aller Welten klammert konsequent die Tatsache des Bösen aus, macht um den Widerhaken Theodizee einen absolutistischen Hasenbogen. Wie das unendliche Leiden in der Welt mit der Annahme zu vereinbaren ist, dass ein Gott sowohl allmächtig als auch gut sei, eröffnet sich mir nicht. Vielleicht bin ich dafür noch nicht moribund genug. Aber diese Frage ist eh nicht die Frage, warum ich zu einem Duell vorm Brandenburger Tor, um genau zu sein: vor der Akademie der Künste eingeladen worden bin. Wobei schon Einladung nicht ganz stimmt. Der Waffengang wurde mir aufgezwungen, man hat mich ins Adlon verschleppt und wird mich gleich auf den Pariser Platz ziehen. Und das nur, weil ich auf die zweitwichtigste Glaubensfrage Was befindet sich hinter einem definitiven Ende? gesagt habe Eine definitive Möglichkeit, viel Geld zu verdienen.
144.
Ein Sunkistenrennen böte Möglichkeiten, die Sache, ein für alle Mal, aus der Welt zu schaffen. Sie haben uns umringt. Oben, auf der Anhöhe. Vor der Serpentinenkurve, die mit den Holzkreuzen. Letzten Herbst ist hier ein Ausflugbus in die Schlucht gefallen. Wir zählen an unseren Fingern ab, wie viele gekommen sind. Sechs, sieben, acht. Die beiden Daumen bleiben leer. Sie sind doppelt so viele wie wir. Annalena, die schnellste von uns, in allen Belangen, zieht ihr verflixtes Flitzebogengesicht. Die Acht ducken sich intuitiv, um den Augenpfeilen auszuweichen. Mit Annalena ist nicht zu spaßen. Aus ihr werde später etwas, sagt sie immer. Sie, sie versauere nicht hier. Und wir glauben ihr. Das ganze Dorf setzt auf sie. Ibo, Kara und ich verkneifen uns ein Grinsen. Wir wissen, das wäre kontraproduktiv. Als Klausus sich erholt hat, von den Pfeilen, er ist nicht der Größte der anderen, aber der mit der größten Klappe, sagt er: Oder habt ihr Angst? Wir sehen uns an. Niemand nennt uns Feiglinge. Natürlich haben wir Angst. Wer am Berg keine Angst hätte, wäre schön dumm. Andererseits haben wir über die Drohung vorher gesprochen, unter uns. Wir wissen, dass es in den Köpfen der anderen brodelt. Die Niederlage beim Neujahrsfest, auf der Rodelwiese, am Idiotenhang, wurmt sie. Maßlos. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Sunkistenrennen stattfinden würde, um Unstimmigkeiten zwischen den beiden Weilern, den einzigen hier oben, aus der Welt zu schaffen. Wir haben davon gehört. Die älteren im Dorf haben von waghalsigen Abfahrten in den Sommerferien erzählt. Haben uns auf dem Bergfriedhof die passenden Gräber gezeigt. Milchbuben- und Milchmädchengesichtern auf den Steinen. Bei uns im Dorf kann man die Toten sehen. Wie auf Insta. Der Friedhof ist voller Bilder. Meistens lächeln die Toten, als ginge es ihnen gut. Die Blumen an den jeweiligen Gräbern sind die Likes, sagt Annalena. Es gibt Steine, die gleichen Blumenmeeren. Während andere ungeschmückt sind. Kommentarlos Zeit fressen. Auch wie auf Insta. Wir haben uns gefragt, wie oft unsere Eltern vorbeikämen. Wie viele Likes wir über die Jahre bekämen. Welche Fame-Geschichten begönnen. Nun gut, das ist eine andere Sache. Eigentlich wollen wir alle raus aus dem Weiler. Weg von der Alm. So schnell es geht. Niemand von uns war bislang im Tal. Wo die Stadt liegt. Am Fluss, der die Berge spaltet. Selbst Annalena nicht. Wir sehen uns an. Nicken. Die Kufen sind schnell ab. Wir montieren Räder an den Viererbob. Annalena sitzt vorne, am Steuer. Ich sitze hinten, an der Bremse. Wir warten, dass der Postbus vorbei ist. Die Fahrerin fuchtelt mit den Händen, während sie uns, Richtung Gipfel, passiert. Wir tragen unsere selbst gebastelten Helme aus duftendem Beerengehölz, die unsere Sicht einschränken. Wir winken zurück, machen Friedhofsgesichter und lachen hysterisch. Dann startet Das aberwitzigste Rennen unseres Lebens.
145.
Die Steuer saß am Steuer. Der Feierabendverkehr stockte. Die Ampelschaltungen bevorzugten wendige E-Autos, die sich zwischen die Fahrräder mogelten, was für Unmut und, vielerorts, Brüllattacken sorgte. Es war ein harter Tag gewesen, im Amt. Die Steuer, die einen alten Wagen fuhr, einen amerikanischen Schlitten, der Benzin und Öl soff, mit gewaltigen Heckflossen, um von der Oldtimer-Regelung zu profitieren, die Steuer kramte in den Kassetten und schmiss die mit dem größten Schwarzen Pluszeichen in den Player. If you drive a car, car, I'll tax the street. Die Steuer kurbelte das Fahrerfenster herunter und sang aus vollen Hals mit. If you try to sit, sit, I'll tax your seat. Dass die Beatles nichts mit der Reimchance sheat gemacht hatten, überraschte die Steuer jedes Mal, wenn sie Taxman hörte. Ob sie nicht ans Täuschen gedacht haben? Die Helden aus Liverpool? Oder ob sie schlicht und einfach so viel Geld gescheffelt hatten, dass es egal gewesen war? Andererseits, dachte die Steuer, gerade die Superreichen bekamen, jedenfalls war das ihre Erfahrung, den Hals nicht voll genug. Vielleicht wäre es an der Zeit, ein Experiment zu starten. Wie wäre es, wenn alle nur die Abgaben zahlen würden, die sie für angemessen hielten? In was für einer Gesellschaft würden sie leben? In einer gerechteren? Einer abwechslungsreicheren? Ist es nicht so, dachte die Steuer, dass wir vieles erst schätzen, wenn es nicht mehr im Angebot ist? Wenn der Staat sich zurückzieht? Die Steuer rief den eigenen Account im Amt an, was umständlich war. Sie hing eine Viertelstunde in der Warteschlafe, musste die Stimm- und Iriserkennung über sich ergehen lassen, musste mit Elster streiten, die bereits Feierabend hatte, sich aber schließlich bereit erklärte, eine Ausnahme für die Steuer zu machen. Diese Bürokratie, dachte sie und drückte auf delete, was sich, die Steuer lächelte, sogar reimte.
146.
Schlaf übermannte mich aus dem Nichts. Ich stand etwa an der Tramhaltestelle – fiel bewusstlos zu Boden. Wir saßen im Restaurant am Tisch, eine gesellige Runde, ein Geschäftsessen, und ich, der neue Praktikant, den man mitgenommen hatte, um die nassen Regenschirme auszuschütteln, der ganz hinten saß, an der Tischkante, ich nickte, während mit Gläsern auf die Zukunft angestoßen wurde, ein. Mein Kopf landete auf dem Teller, auf dem sich, glücklicherweise, eine enorme Portion Spaghetti befand. Ich hatte keine Kontrolle über das Gleich, das unmittelbar Künftige. Mich auf die Gegenwärtigkeit meiner Reflexe zu verlassen? Die Chance, Halt zu finden? Stellte ein erhebliches Risiko dar. Ich legte mir, vorsichtshalber, vermeintlich sichere Routen zurecht. Mit viel Sand, wenig Asphalt. Ich fuhr nur noch Auto, wenn es der Job, den ich gerade hatte, absolut erforderte. Dass ich überhaupt einen Führerschein gemacht hatte, hing damit zusammen, dass mich die Schlafattacken erst seit meinem neunzehnten Lebensjahr überkamen, ich aber, als Geschenk zur Volljährigkeit, von meiner Tante und meinem Onkel, die mich nicht mehr kutschieren wollten, Fahrstunden geschenkt bekommen hatte. Ich hatte damals bei meinen nächsten Verwandten gewohnt – in Wahrheit Stiefbasen, angeheiratete, die, wie ich auch, zufällig überlebt hatten. Wie hatten auf dem Land gelebt, auf einer Apfelplantage, über der dauerhaft ein Chemikaliennebel lag. Eine halbe Stunde Fahrt vom nächsten Bahnhof entfernt, von dem aus die wenigen Züge Richtung Hamburg gingen. Tante Fritzi und Onkel Karlus mochten mich nicht, aber taten halbherzig so, als respektierten sie mich. Die bestandene Fahrprüfung war der Moment der Wahrheit, an dem sie endgültig alle Hilfsleistungen einstellten. Sie deckten nicht mehr den Tisch für mich. Aßen, wenn ich nicht daheim war. Sperrten den Kühlschrank mit einem Vorhängeschloss ab. Änderten still und heimlich den Wifi-Anbieter. Enthielten mir die Zugangsdaten vor. Schafften das Festnetz ab. Stellten die Zahlungen für meinen Handyvertrag ein. Kündigten meine Mitgliedschaft im Tennisdorfclub. In der Stadt, in die ich mittellos floh, ging es mir zunächst gut. Bis die Schlafattacken begannen. Wenige Tage nach meiner Ankunft. Ich taumelte von einer Schlafattacke zur nächsten. Wurde für einen Drogenabhängigen gehalten, für einen Obdachlosen. Landete mehrmals in der Psychiatrie. Gerettet hat mich der Verein der Unaufgeweckten. Von ihm, der mein Leben radikal verändert hat, der mich reich gemacht hat, der mich ins Gefängnis gebracht hat, wo ich Freunde gefunden habe, der mich zum Krüppel gemacht hat, ein Versehrter, der schätzt, was ihm geblieben ist, vom Verein der Unaufgeweckten will ich nun berichten. Schonungslos und in Worten, denen die Finesse in Sachen Anstand leider fehlt. Es sei vorsorglich erwähnt, dass es sich bei dem nun folgenden Bericht um einen Text ausschließlich für Erwachsene handelt, die Ausschweifungen jedweder Natur nicht abgeneigt sind, die am besten bei de Sade in die Schule gegangen sind. Sperren Sie Ihre Kinder weg. Oder Sie dürften Ihr blaues Wunder erleben.
147.
Das Jahr ohne Sonne startete mit einem Strahl, der nicht von der Sonne kam, sondern von einem Objekt, das die Sternwarten weltweit übersehen hatten. Sie hatten es aus einem eigenartigen Grund übersehen. Das Objekt war nicht klitzeklein, wie zu erwarten gewesen wäre, sondern riesengroß. Niemand hatte es für möglich gehalten, dass sich solch ein Objekt innerhalb kürzester Zeit der Erde nähern könnte. Alle hatten das heranrasende Objekt für eine Illusion gehalten. Hatten sich die Augen gerieben und gelacht. Für den Anflug, von der Sonne bis zur Mondlaufbahn, hatte das Objekt 23 h 56 min 4,10 s gebraucht. Exakt einen Erdentag. Das Objekt, das, angekommen, ein einziges Mal, zu Beginn des Jahres, einen Strahl zur Erde gesendet hatte, besaß einen Durchmesser von 869 km. Was genau einem Viertel des Monddurchmessers entsprach, der wiederum mit 3476 km nahezu einem Viertel des Erddurchmessers, am Äquator betrug der Durchmesser unseres Planeten 12756 km, glich. Neben den Strahl hatte das Objekt auch noch einen besonderen, unbekannten Geruch Richtung Erde geschickt. Den Geruch von Karamell, das in Honig und Nochwas getaucht wurde. Die Medien tauften das Objekt deswegen Sweet Sixteen. Der großartige Geruch, so süß und verführerisch er auch war, Millionen Menschen rasten förmlich zu ihm, um den Geruch einzuatmen, hatte einen kleinen Nachteil: Er machte halbseitig blind. Wer ihn länger als eine Stunde einatmete, verlor das linke Augenlicht, während das rechte Auge wucherte und sich, innerhalb einer Vollmondphase, zu einem internetfähigen Bildschirm ausformte, der auf der Oberfläche wie Sternenstaub glitzerte. Nach einem Jahr der Dunkelheit schalteten sich die Augen der Überlebenden gleichzeitig an. Als wäre ein Hebel umgelegt worden. Brandzeichen tauchten in den Pupillen auf. Das Objekt schickte Botenstoffe, Lichtwellen und Subjekte. Die Undnochwas-Versklavung begann.
148.
Jede Beziehung sei eine Freiheitsberaubung, sagt die Therapeutin. Das müsste uns klar sein. Sie deutet auf eine Kurve. 36 Prozent der Neuvermählten ließen sich innerhalb eines Jahres nach der Hochzeit scheiden. Es lohnte sich also, schon aus Ressourcengründen – emotionell als auch finanziell –, ganz genau zu überlegen, welche Risiken man einginge. Gerade bei unseren Voraussetzungen, die, hier sei sie ehrlich, alles andere als vielversprechend wären. Hätten wir eigentlich einen Test gemacht, ob wir gesunden Nachwuchs bekommen könnten? Gesund im herkömmlichen Sinne? Bei unseren Veranlagungen? Bei unseren Ausprägungen? Nun gut, das seien andere Fragen, die ihr aber auf den Lippen gebrannt haben, seit wir durch die Tür gekommen seien. Man sähe uns nun mal etwas an. Sie empfehle, so oder so, genetisch und habituell, politisch und finanziell, sie empfehle zunächst eine Light-Version der Ehe. Mehr, wie soll sie es sagen?, mehr paffen als inhalieren. Wenn wir das nicht wollten, müssten wir ins Ausland gehen, um zu heiraten, um uns ungestört, wie soll sie es sagen?, zu entfalten. In Las Vegas sei alles egal. Da könnten sogar Leute mit Schuhgröße 18 und drei Augen heiraten, selbst Philosophïnnen und Kommunardïnnen. Sie habe, das nur am Rande, übrigens schon viel gesehen – aber so etwas wie uns, sei ihr noch niemals über den Weg gelaufen. Die Therapeutin mustert mein extra Auge und blickt auf deine Füße, die in abgelatschten Meilenstiefeln stecken. Wir sehen einander an. Nicken. Wir wissen, was zu tun ist. Wir haben, was nun passiert, oft genug getan. Als erstes schließen wir die Tür.
149.
Der Sex war besser. Oder sagen wir: nicht schlechter. Jedenfalls am Anfang. Wo sich die Geschichte allerdings nicht befindet. Die Geschichte befindet sich in der Mitte, an einer Gabelung. Einer lustlosen Kreuzung. An der mehrere Paare warten. Es liegt eine Spannung in der Luft, die niemand hier erwartet hätte. In diesem langweiligen Vorort, hinter dem die Berge beginnen. Wir sehen einen Steinschlag. Nicht weit entfernt. Wir sehen, dass sich Geröll löst, viel Geröll. Sehr viel Geröll. Die Personen an der Gabelung sehen es noch nicht, aber sie hören es. Sie stehen verteilt. Drei Paare, zwei weitere Frauen, zwei weitere Männer, die, in welcher Konstellation auch immer, in Beziehung stehen. Dazu kommen Kinder, die miteinander spielen. Oder auch nicht. Einige Kinder haben Schreianfälle. Wir sehen das Geröll, das einen Hang bricht. Über den Wartenden an der lustlosen Kreuzung fliegt ein einmotoriges Flugzeug, das eine Werbebotschaft zieht: Sex wir überbewertet. Lebensversicherungen sind die echten Orgasmen. Die zehn Erwachsenen blicken auf die Botschaft im Himmel. Die Kinder schreien nun alle, ausnahmslos. Wie verwundete Tiere krümmen sich die Kinder an den Ecken der Kreuzung. Wir sehen, dass der halbe Berg ins Rutschen gerät.
150.
An der Haut habe es nicht gelegen, sagte die Haut, die über sich so sprach, als steckte sie nicht in sich selbst. Die so sprach, als wäre sie sich selbst niemals begegnet. Als würde sie, die Haut, die Haut nur vom Hörensagen kennen. Die Haut habe, sagte die Haut, eine besondere Stellung inne, sie, die Haut, sei gleichzeitig angestellt und Freelancerin. Wenn es jemanden gäbe, egal welchen Geschlechts, der, die, das sowohl die Nadelspitze als auch den sofortigen Luftraum darüber verkörpere, dann sei das die Haut. Das ließe sie sich, sagte die Haut, nicht ausreden. Sie sagte es mit Verve, als Fragen kamen, aus Sicht der Haut: ungehörige Fragen, die sich besonders an der Idee des Luftraums stießen. Was das denn hieße Luftraum?, wollten die Fragenden wissen, deren Lippen sich spöttisch kräuselten. Ob nicht ein t mehr angebracht wäre? Ob es sich nicht eher um einen Lufttraum handelte? Oh, sagte die Haut, zur Haut gehörten, darüber sei man sich doch einig, jedenfalls in den meisten Fällen, an den meisten Stellen, kleine und kleinste Härchen, und diese Härchen ragten, botschaftend, in den Raum über der Haut, böten der Haut eine Lufthoheit, die der Nadelspitzenexistenz der Haut eine weitere Dimension erschlösse. Ihr einen Raum jenseits des Gesetzten, des Festgefahrenen böte, quasi, sagte die Haut, auratisch sei. Was zwar ad hoc an Traum erinnerte, aber eben am Ende nicht dasselbe wäre. Nach diesem Ausdruck, nach auratisch, ein Wort, das sich die Haut zurechtgebogen hatte, gab es kein Halten mehr. Die Situation eskalierte. Es war, ganz ehrlich, eine haarsträubende Geschichte, von der nun – für die Dehnbaren, die Mutigen unter uns, den anderen sei von der Lektüre dringend abgeraten – die Rede sein soll.
151.
So fing es an. Mit einer Geburt, in einem Land, das hinter den Bergen lag. Zunächst waren alle sehr glücklich. Auch die Geborenen, selbst die. Denn es handelte sich um eine Geburt, bei der mehrere das Licht der Welt erblickt hatten. So bildete sich, gleich am Anfang, ein Bund. Die Arbeit, sie war immens, für alle. Nicht nur, dass die Geburt, was die Zahl der Geborenen betraf, einen Rekord darstellte, die Geborenen – eine Neuheit – gebaren selbst. Alle Paar Tage tauchten inmitten der Geborenen weitere Neugeborene auf. Diese Neugeborenen nahmen schneller zu als die Erstgeborenen und waren bald nicht mehr von den zunächst Geborenen zu unterscheiden. Die Freude wich der Angst. Jeden Morgen, wenn die Decken aufgeschlagen wurden, ging das vermaledeite Zählen los. Bald reichte nicht mehr ein Augenpaar, um die Menge der Geborenen überhaupt zu überblicken. Man beriet sich. Kam zum Schluss, den Brunnen auszuheben. Und das Los entscheiden zu lassen. Acht sollten überleben. Als man am nächsten Morgen kam, mit Fotteetüchern und Nylonstrümpfen bewaffnet, waren die Krippen leer. Aber oben, auf dem Hausberg, wimmelte es von Geborenen, Die Steine backten, große, wilde Steine.
Juni
152.
Niemand kann sich daran erinnern, wann der Krieg angefangen hat. Schon gar nicht: warum. Es herrschte auch nicht Krieg, wie es einst geheißen hatte, sondern Krieg herrschte. Als Start Up Unternehmen war der Krieg vor Ewigkeiten gegründet worden. Mit Luftballon-Wasserschlachten und kleineren spaßhaften Übergriffen, lustigen Guerilla-Attacken, die an der Börse so gut angekommen waren, dass sich etliche Hedgefonds auf der Stelle in den Krieg verknallt und eingekauft hatten. Der Wertzuwachs war enorm gewesen. Seitdem war der Aufstieg des Kriegs zum Börsenliebling nicht mehr aufzuhalten. Die Kurse explodierten förmlich, Bestmarken wurden reihenweise wie Panzer geknackt. Anlegerïnnen auf der ganzen Welt verfielen den gewaltigen Gewinnchancen. Es war crazy, ein bombensicheres Geschäft. Dann hieß es auf dem Parkett Nun müsse der Krieg aber mal langsam echt liefern. Das Kriegs Management der ersten Stunde warnte zwar, Lippenbekenntnisse würden reichen, Abschreckung sei der lukrativste Teil des Geschäfts, Zerstörungen nützten in Wahrheit nicht der Dividende, Geld könnte auch in Friedenszeiten gemacht werden. Das Kriegs Management schickte vorsichtshalber Gewinnwarnungen, weil es um die eigenen Stärken und Schwächen wusste. Die Hedgefonds, deren Liebe abkühlte, hielt das nicht auf. Sie machten Druck, streuten Gerüchte, verrieten am Ende Kriegs Geheimnisse. Schließlich wurde die Kriegs Führungsetage komplett ausgetauscht. Das neue Kriegs Management, das aus alten Generälen bestand, Wall Street Haudegen, lauter selbstherrliche Männer, zog gleich in einen abhörsicheren Bunker neben dem Pentagon. Eröffnete in Moskau, Peking, Manila, Tokio, Jerusalem, Kairo, Kapstadt, Brasilia und Brüssel Filialen, um von dort aus, wie der Börsenkurier meldete, Nägel mit Köpfen zu machen. Dabei blieb es nicht – aus den Nägeln wurden Nieten. Und nun, unserem Nun, nach etlichen Jahrzehnten der unerbittlichen Kriegsführung, der Börsenerfolge, heißt es, der Krieg sei systemrelevant. Das einstige Start Up sei Too big to fail. Grit, Luca, Fatima und ich glauben das nicht. Wir haben TBTF niemals geglaubt. Von uns handelt diese Story, vom Aufstand der Kriegsverweigerïnnen.
153.
Die Rückzugsmöglichkeiten nahmen ab. Rasant. Das Netz sollte überall sein. Es war eine abgemachte Sache. Von der Mehrheit nicht nur beschlossen, sondern abgesegnet. Die Netzausbreitung hatte einen religiösen Charakter bekommen. Das Netz stellte den Gebrauch des Artikels unter Strafe. Netz gebärdete sich als sakraler Raum. Netz wurde als Ort der Verkündung gehuldigt, als Wifistatt ausgebaut, die es täglich zu besuchen galt. Bei den Wififahrten wurden als Kollekte Daten gesammelt. Dabei, davor, danach. Die Minderheit, die der Netzerei nichts abgewann, konnte sehen, wo sie blieb. Sie zog sich in die abgelegenen Täler zurück, gründete, als das nicht mehr reichte, Tauchgemeinschaften, die auf den Seegründen Kolonien errichteten. Nach kurzer Zeit veränderten sich die Menschen in den Kolonien – auf eine Art und Weise, die niemand erwartet hatte, schon gar nicht die Im Netzt gefangene Mehrheit.
154.
Jeremy wächst in der linken Ecke eines Waschsalons auf. 50 Zentimeter hinter der Maschine, die das Waschpulver ausspuckt. Die Trommel, wie der Salon am Rosenthaler Platz heißt, der von den Kiezburn Hippies Marie-Lou, einer Spanierin, Jo-Nathan, Kanadier vom Volk der Kainai, und Co-Rinna, aus Castrop-Rauxel, betrieben wird, die Trommel bietet Vorteile, die weder Jeremys Familie noch das Heim bieten: Wärme und Freundschaften. Als das Jugendamt nach sieben Jahren Wind von seinem Aufenthaltsort bekommt, entschließen sich die Kiezburn Hippies, Jeremy zu adoptieren. Der Gang durch die Institutionen wird zu einem Hindernislauf, den die Patchworkfamilie, zu der auch die Miniatur-Ziege Hilda und der Schiefer-Hund Krassaltereh gehören, im Blog We are Family dokumentieren. Als sich Hollywood meldet, um einen Film zu machen, und gleichzeitig das Mitsommernacht-Festival Holy Galli stattfindet, bei dem der dreizehnjährige Jeremy der ersten Liebe seines Lebens begegnet, die Behörden aber eine Hundertschaft schicken, um Jeremy ins Heim zu stecken, solidarisiert sich die gesamte Torstraße, wo Die Trommel liegt, mit dem Glücksprojekt. Und der umwerfende, zärtlich-tolle Sommer of Love beginnt.
155.
Wir soffen. Uns blieb nichts anderes übrig. Glaubt mir. Wir schluckten Pillen. Der Befehl stand, im Raum. Neben, hinter, vor uns. Wir hatten keine Wahl. Die Baracke war kein Debattierclub, in dem Argumente zählten. Ideen abgewogen wurden. Alle gleichberechtigt waren. Intelligenz? War unwichtig. Rang entschied. Also soffen wir. Die Flaschen kreisten. Pillendosen leerten sich. Da kam uns eine Idee. Gemeinschaftlich. Wir sahen uns an. Draußen kreischten Maschinen. Alles wurde für uns fertiggemacht. Der Rauch stieg durch die Ritzen der Baracke. Wir rochen unser Schicksal. Wir nickten uns zu. Prüften unsere Hände. Prüften Finger. Wir stellten uns im Kreis auf. Wir legten uns die Hände an die Hälse. Keiner blieb ausgespart. Dann drückten wir zu. Bis die Tür aufging. Musik erklang, himmlische Töne. Und wir unseren Fehler bemerkten.
156.
Den kleinen Tieren war klar, was passieren würde. Sie machten sich nicht nur weniger Illusionen als die großen Tiere – sie machten sich gar keine. Während die kalte Kugel näherkam, gruben sich die kleinen Tiere tief ein. Sie gruben in Schichten, Tag und Nacht. Alle machten mit, ausnahmslos. Wer nicht mehr graben konnte, machte Stullen oder brachte Wasser. Und sie fingen nicht oben an, sondern die kleinen Tiere gruben gleich am Boden des Bergwerks. Des tiefsten erreichbaren Bergwerks ihrer Gegend. Die kleinen Tiere hatten einen Vorsprung von 1584 Metern und 39 Zentimetern, als die kalte Kugel in die Atmosphäre eintrat. Die großen Tiere hatten sich aufs Versprechen der Agenten verlassen, dass alles gut werden würde, dass Asteroiden nur in dystopischen Movies den Planeten rammten. Am Ende würden Apple und Tesla die Sache unter sich ausmachen, hatten die Agenten gesagt. Es lohnte sich auf jeden Fall, Shares beider Firmen zu kaufen, richtig Geld in die Hand zu nehmen und ansonsten siegessicher Däumchen zu drehen. Am besten genau dort, wo Das Monsterding angeblich einschlagen würde, hatten die Agenten gesagt. Sie würden es genauso machen. Dass die kleinen Tiere in Bergwerksaktien investierten und U-Boote-Tourismus-Vorteilsscheine kauften, sei reine Dummheit, das Gegenteil lebenskluger Hybris. Wer in Ameisenhügeln hauste, hätte halt den Lage, Lage, Lage-Schuss nicht gehört.
157.
Am Tag, als der Regen eine unerwartete Pause machte, begann die Debatte. Würde er zurückkommen?, fragten sich die Regenwürmer, die sich die letzten Wochen wie im Wassergarten Eden gefühlt hatten. Die Meinungen der Älteren waren, wie immer, die Regenwürmer schenkten sich nichts, stellten grundsätzlich bohrende Fragen, wühlten in ontologischen Sachen rum, von denen andere Wenigborster vorsichtshalber den Kopflappen lassen würden, die Meinungen der Älteren waren gespalten. Viele, die Hyperaktiven, schleppten eimerweise nasses Erdreich in die Wohnröhren. Andere verfielen in eine Schockstarre, Mussten psychologisch von den Regenzauberwürmern behandelt werden, die – ein gutes Geschäft bleibt ein gutes Geschäft – ihre Preise für Konsultationen erbarmungslos verdoppelten. Die Jungen, mit weniger als siebenunddreißig Segmenten, piercten sich reihenweise den dritten Hautmuskelschlauch, der gerade als erogen galt, und trafen sich oben, auf der Nacktschlammwiese. Das Sonnenlicht strahlte verführerisch, blendete die jungen Würmer, und während, als Worm Up, DJane Lumbrica terrestris, der eine Affäre mit H2O nachgesagt wurde, den neuesten Dry Out-Sound auflegte, während die Gürtel der gelblichen sattelförmigen, drüsenreichen Verdickungen vom 27. bis 35. Segment in Wallung gerieten, es roch nach Pubertät, Uhu und FKK, während die Lust am Leben die zuckenden Regenwürmerkörper ergriff, öffneten sich, nicht weit entfernt, die Stalltüren der Hühnerfarm. Die Freilaufenden, angezogen durch die Musik, rannten los und die – wohl oder übel – orgiastischste Party des noch jungen Jahrhunderts begann.
158.
Gut, sagte Jo, hielt den Kopf hoch, obwohl die Kugeln pfiffen, wir spielten auf dem Truppenübungsplatz Wer ist der größte Dummkopf mit Pickelhaube im ganzen Land?, gut, also ... warte, schrie ich, sprang auf, schwenkte eine rote Fahne mit Hammer und Sichel, mein T-Shirt, ein Erbstück meiner DDR-Großmutter, um nicht von Jo in der Wertung überholt zu werden ... geile Omi-Nummer, sagte K-Müsli, gab mir drei und Jo zwei Arschbombenpunkte ... gut, also, sagte Jo, ungerührt, als ob mein Rote-Fahne-T-Shirt-Schwenken nicht stattgefunden hätte, dann schlage ich eine astreine Levelverschiebung vor. Eine knastpeine was?, fragte K-Disco, unsere Strategin, die Kopfhörer trug und Engels-Podcasts hörte. Bitte Ruhe, knurrte, Jo, zischte Schatz, jetzt nicht, als sein Handy bimmelte, obwohl alle wussten, dass er solo war, hielt sich den linken Zeigefinger vor den Mund, drehte das Broadband der Silberader lauter, die reden über uns – und tatsächlich, da waren unsere Namen. Eine Belohnung in Höhe von 200.000 wird ausgelobt, tot oder lebendig. Das ist lächerlich, sagte Jo. Warum?, fragte ich. 200.000 was?, sagte K-Disco. Genau, sagte Jo. 200.000 Nadelstiche?, sagte K-Müsli. 200.000 Apfelsinenkisten?, sagte K-Disco. 200.000 Aknebehandlungen mit Dr. Kautschcar, sagte eine Stimme über uns. Wir blickten hoch. Eine Drohne in Tarnfarbe, die wie ein Riesenmitesser aussah und von einer libertären Douglas-Flagge geschmückt wurde, die D-Kette sponserte neuerdings unsere Intimfeinde, schwebte über uns, machte eine laszive Dehnbewegung, kratzte sich und – Jo rief Deckung, Schatzinsel!, wir warfen uns, wie geübt, die Makeuptücher über – und platzte mit einem superflupperschlappersatten Geräusch, dem die Befriedigung und das lange Warten anzumerken waren. Und dann, dann ging’s erst richtig los.
159.
Die Diebesbanden spezialisierten sich. Eine Bande, The Sweets, von der hier die Rede sein soll, da sie unsere Gesellschaft an den Abgrund gebracht hat, stahl Süßigkeiten. Aber nicht wie Du und ich, als wir klein gewesen sind, hier mal einen Lollipop, dort zwei Gummibärchen. The Sweets stahlen im großen Stil. Sie räumten ganze Schokoladenfabriken aus. Plünderten das Lager von Niederegger, lauerten Balsen-Lastkraftwagen auf, verschoben Rewes Süßigkeitenbestände, räumten Aldis Naschwerkvorräte leer. Die Stimmung in der Bevölkerung verschlechterte sich – drastisch. Wir verstanden, dass The Sweets, die Bekennerbriefe an den Tatorten hinterließen, Briefe, die mit SUAF gezeichnet waren, keine einfache Diebesgang war, sondern eine politische Organisation. Die Schocki UnArmy Fraction verlangte Gerechtigkeit. Wir konnten uns nicht entziehen. Erste Treffen fanden statt. SUAF servierte Heiße Schokolade, mit Schuss. Unser Widerstand schmolz dahin.
160.
Die Kapitulation hatte kapituliert. Wir kratzten uns die Köpfe, als wir davon hörten. Andere waren schneller. Draußen formierte sich die Marschkapelle. Die Instrumente waren verstaubt, aber die Augen der Trompeter und der Schlagzeuger glänzten. Ihre Familien umringten die Männer. Alle, die wir hassten, marschierten mit. Und die uns hassten. Dass sie sich vor unserem Haus formierten? Kein Zufall. Unser Skyscraper galt als Hochburg der Aufgabe. Wir waren damals die ersten gewesen, die ihre Flaggen eingeholt und Freie Liebe praktiziert hatten. Wir wussten, dass es nicht bei der Marschkapelle bleiben würde. Diese Art von Musik fühlte sich nur wohl, wenn gleichzeitig Stahlstiefel im Stechschritt paradierten. Zunächst, um überhaupt zu reagieren, holten wir die Anlage aus dem Partykeller. Die John Peels Kita hatte sich letzten Montag eingetragen, um die Anlage diese Woche zu nutzen. Ein Dutzend Drei- bis Sechsjährige kramte in der Plattensammlung. Sie trugen Ohrstöpsel. Auf ihren Gesichtern lag ein entschlossener Ernst, der uns Mut einflößte. Zum Aufwärmen spielten sie Give peace a chance. Danach Sunday Bloody Sunday. Anschließend, was nicht nur uns überraschte, sondern auch eine Protestwelle in den Wolkenkratzern der Revanchisten anstieß, Mein Freund, der Baum. Die Kinder hatten, ohne unser Wissen, die Friedenszeit genutzt. Sie orchestrierten Massen-Tantrums, die der Kampfbereitschaft der Hasser keine Chance ließ. Nach der Wiedereinführung der Kapitulation beruhigten sich die trotzigen Kinder jedoch nicht. Sie besetzten, indem sie auf eine Weise kommunizierten, die uns verborgen blieb, die Schaltstellen der Macht. Was dann passierte, innerhalb kürzester Zeit, ich schreibe dies übrigens aus einem Versteck und muss gleich weiter, damit hatte niemand gerechnet.
161.
Das Spiel ging in die Verlängerung. Die Teams besprachen sich, jedes in seiner Pausenecke. Die Stimmung war angespannt. Niemand wusste, wie das Spiel ausgehen würde, von dem doch alles abhing. Die Menge im Stadion hatte sich die vergangenen Stunden weder für das eine noch das andere Team ausgesprochen. Es handelte sich um ein Finale, das an einem neutralen Ort ausgetragen wurde. Die wenigen Fans der Teams verloren sich im gewaltigen Rund. Wagten, angesichts der stoischen Menge im Stadion, nicht mal bei gelungenen Spielzügen zu applaudieren. Mit solch einer Feindseligkeit hatte niemand gerechnet. Die Crews blätterten auf beiden Seiten während der letzten Pause vor der Verlängerung in den Spielregeln. Sie hatten das Gefühl, etwas überlesen zu haben. Alle fragten sich, was mit dem Team passieren würde, welches das Finale verlöre. Wenn in der kommenden Verlängerung keine Entscheidung erreicht würde, käme es zum Hauen und Stechen hochzwei. So stand es in den Spielregeln. Was das Hoch-Zwei denn bedeutete?, wollten die Teams auf beiden Seiten von ihrer Crew wissen. Die Crews durchblätterten hektisch die Spielregeln. Auf Seite 37 fanden sie, im Kleingedruckten, eine Erklärung, die sie vorsichtshalber lieber für sich behielten. Die Glocke erklang, die Menge malmte mit den Zähnen, die letzte Pause war vorbei, die Verlängerung begann.
162.
Die Natur brauchte achtunddreißig Wochen, um in die verlassenen Geschäfte und vernagelten Bürohäuser der Grünen Wiese, wie das Neubaugebiet hieß, wo Banken, Versicherungen und die Verwaltung ihre Büros hatten, einzudringen. Wachleute hatten sich die Firmen gespart. Erst kamen die Insekten. Dann die Pflanzen. Schließlich die größeren Tiere: Ratten, Füchse, Waschbären und Vögel. Die Verwandlung der international mit Preisen überhäuften ecofriendly Architektur in wahrhaftige Grünanlagen schritt so schnell voran, dass die Mitarbeiterïnnen, welche nach 1 ½ Jahren zurückgerufen wurden, als die Homeoffice-Suizidrate ganze Abteilungen ausradierte, vor einem grünen Wall standen, der an überwucherte Maya-Kultstätten im Dschungel der Halbinsel Yucatán erinnerte. Da sie keine Wahl hatten – hier arbeiten oder den Job verlieren – Cohabitierten die Angestellten mit der Natur. Die Auswirkungen auf ihre Arbeit war nicht nur bemerkenswert, sie war sensationell.
163.
Die Coming of Age-Geschichte – Abraham fällt vom Glauben ab, brennt mit Harrod durch, der im kanadischen Gull Bay als unrasierter, muskulöser Zimmermann die St Kaateri RC Church repariert, in der Abraham als frühreifer, blendend aussehender Chorjunge singt – diese klassische Geschichte, die, in aller Regel, in einem Stripclub in Toronto endet, der von Harrods Ex-Lover Chiemstry, einem Hochschullehrer für Wasserwirtschaft, betrieben wird, dem Harrod nicht nur Geld, sondern auch Liebe schuldet, ein Stripclub, by the way, der für die mexikanische und US-amerikanische Ex-Pat-Community als heißeste Pophorny-Anschrift nördlich der Grenze gilt, diese Story, die an sich einen frühen, dramatischen Tod Abrahams bereithält, der sich nicht selbst das Leben nimmt, sondern von einem zugedröhnten Freier, einem Undercover-Sozialarbeiter, Peter Hickup, der sich in den melancholischen, Kirchenlieder singenden Jungen aus der Provinz derart verguckt, dass er seine Mormonen-Familie (vier Frauen, zehn Kinder, zwölf Hunde) in Utah verlässt, sondern also von Hickup ausversehen während eines Blow Jobs in einem Taxi erschossen wird, diese Story, die wir erwarten, wenn wir den Titel Harrod zeigt Abraham die Schattenseiten, bis Hickup das letzte Licht auslöscht lesen, ein Titel, über den sich zwar viele lustig machen, der aber für Neugier bei den kanadischen Bookclubs sorgt, diese Story entpuppt sich als Einbildungsroman, dessen Erzählerin, eine schizophrene, hochbegabte Spieleentwicklerin und Quantenphysikerin aus Montreal, narrative Strings in die Wirklichkeit zieht.
164.
Aufzuwachsen, wo sie aufwuchsen, war kein Vergnügen. Es gab nichts, an dem man sich reiben konnte. Die Gemeinschaft warf ihnen alles hinterher. Ungefragt. Ohne Unterlass. Sie wussten, wo die 24/7-Selbstbedienungsstellen, Die Goldenen Löffel, waren. Sie konnten in den Speaker’s Corners Unflätiges propagieren. Am Fluss stand ein Badehaus, in dem sie nackt sein konnten. Für sich. Oder mit wem sie wollten. Neben dem Stadion gab es eine Farm, wo sie sich, an wechselnden Tieren, je nach Wochentag, abreagieren konnten. Das Blut wurde leise abgesaugt. Dass sie ein gutes Leben führten, erfuhren sie, theoretisch, aus dem Autokino IV, das sich auf Dokumentationen aus den Krisengebieten spezialisiert hatte. Sie bevorzugten Autokino II, das den Augenblick zeigte – und zwar eine Stunde später. Was immer sie machten, wenn sie es ein weiteres Mal sehen wollten, konnten sie zum Autokino II fahren und sich dabei beobachten, was sie vor einer Stunde gemacht hatten. Sobald sie sahen, wie sie ins Autokino II einbogen, brachen sie wieder auf. Bis sich jemand fragte, wie es wäre, wenn sie rein gar nichts mehr machten, sondern nur noch ins Autokino II einbögen. Wie würde die Dokumentation dann aussähen? Würden sie, was einige hofften, den Aufstieg schaffen? Würden sie im A IV landen?
165.
Hollender Ramsey war, fraglos, ein ziemlich guter Jazzsänger. Kein Genie, aber gut. Er kannte die Klassiker aus dem Effeff, wusste Text und Noten. Seine Skills reichten, um, was ihm bekannt war, was er aber niemals erzählte, um anderen einzureden, dass es sich bei ihm, bei Hollender Ramsey, um einen waschechten, einen leidenschaftlichen Musiker handelte. Ramsey fühlte allerdings nichts, rein gar nichts, wenn er sang. Die Songs ließen ihn kalt. Um ehrlich zu bleiben: Die Songs stießen ihn sogar ab. Er konnte nichts ausstehen, was er auf der Bühne vortrug. Um nicht zu weinen, vor Wut und Ekel, lächelte er. Seine Fans, die es durchaus gab, selbst drei, vier HR-Fanclubs existierten, die ihn mit obskuren Anfragen nervten, die von ihm Sachen wissen wollten, über die er niemals nachgedacht hatte, seine Fans hielten sich selbst für Connaisseurïnnen des lächelnden Unterschätzten. Sie projizierten etwas auf ihn, das in Hollender Ramsey nicht existierte. Niemals existieren würde. Sie verlangten von ihm eine Tiefe, die seiner Flachheit diametral widersprach. Er entzog sich den Anfragen, die er nicht verstand, wurde dadurch für seine Fans noch enigmatischer. Ramsey, der Fast Food liebte, obwohl seine Musik in etlichen Drei-Sterne-Restaurants in der Dauerschleife lief, Ramsey aß auf Tour, nach den Konzerten, die in den Latin Quarters der Universitätsstädtchen stattfanden, in umgebauten Art House Kinos oder Off Off Theatern, Ramsey aß, für sich, aß regelmäßig allein auf den schmutzigen Parkplätzen der Rastplatz-Drive Inns, die von Highway-Brücken überspannt waren, Ramsey aß zwei, drei XXL King Burger Menüs und trank dazu vier, fünf XXL Maxi Sprite, in die er, pro Liter, 50 Gramm Zucker zusätzlich schüttete. Das ging lange gut. Bis ein HR-Fanclub, der von Ramseys Konzert kam, an einer dieser Rastplatz-Drive Inns anhielt. Courtney van Remdeik, die Gründerin des HR-Boston-Chapters, und Paul Gittschalk, gleichzeitig Schatzmeister und einziges weiteres Mitglied des Chapters, die sich beide, wie ihr Idol Hollender Ramsey, vegan ernährten, täglich eine Stunde lächelten, waren immer noch vom Konzert berauscht. Sie wollten sich die Beine vertreten, um keinen Unfall zu bauen. Wollten sinnieren. Dann kam es zur Begegnung. Zum folgenschweren Aufeinandertreffen, das, berechtigterweise, als Geburtsstunde des Revenge Jazz gilt.
166.
Sie stießen durch das Bergmassiv, von zwei Seiten, gleichzeitig. Ein Tunnel, der alles ändern würde. Ein uralter Wunsch. Ein Traum. Eine Hoffnung, die alle bewegte. Niemand, der nicht darüber sprach. Alle verfolgten die Fortschritte. Ein wahnwitzig teures Prestigeobjekt. Mehr Geld war noch für nichts geflossen. Wir mussten uns Geld leihen. Am Ende waren die Kosten so hoch wie für einen ordentlichen Flugzeugträger. Aller Augen waren auf die beiden Baggerköpfe gerichtet, die sich aus dem Süden und aus dem Norden kommend durchs Gestein bissen. Riesenbagger. Wunderwerke der Technik. Die besten Tunnelbauerïnnen waren beteiligt. Wir klotzten. Schließlich kam der große Tag. Der angekündigte Supermoment. Die Übertragungswagen warteten seit einer geschlagenen Woche. Hunderttausende Schaulustige waren angereist, auf beiden Seiten. Die Gesichtsausdrücke der Tunnelbauerïnnen wurden von Stunde zu Stunde rätselhafter. Der Augenblick des historischen Durchbruchs war gekommen. Die Schatten der Leichenwagen näherten sich der Menge. Eine Armada, auf beiden Seiten. Während die Peripherie verstummte, wurde im Kern noch gehofft. Etwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht. Und es war nicht das, was alle auf Anhieb dachten. Es war schlimmer, viel schlimmer.
167.
Der Zeit voraus zu sein, war ein Privileg der Zukunft. Bis wir die Bühne betraten. Übrigens: Danke, dass Du mitmachst! Auf Dich haben wir gerade noch gewartet. Hier ist Dein Ticket. Du darfst die Warteschlange überspringen, nimm ruhig schon mal Platz im Versuchskaninchen. Unser Geschäftsmodell ist einfach: Wir überholen die Zeit. Die ewige Verbundenheit mit dem, was war oder ist? Schert uns nicht. Die Löscharbeiten gehen schnell. Der Sicherheitsgurt im Versuchskaninchen wurde von GAAMF (Google, Apple, Amazon, Microsoft, Facebook) gesponsert – cool, oder? Er ist mehr als Dekoration, aber das wirst Du ja gleich selbst am eigenen Leib erfahren.
168.
Sie legten es darauf an. Drangen in die Systeme der Bank in Bangladesch ein. Der Nationalbank. Schnüffelten, rochen an den Tresoren. Recherchierten über acht Monate. Besorgten sich Duplikate der notwendigen Anschriften. Schufen Firewalls, die Fragen blockten. Verschafften sich die notwendigen Informationen für die Überweisungen. Checkten die Goldreserven. Sondierten die Verbindungen nach New York. Dann schlugen sie zu. Sie waren sich sicher. Aber sie hatten eine Sache nicht bedacht: Den roten Knopf der Zerstörung.
169.
Sie hatte einen Weg gefunden, um ihn loszuwerden. Ohne Gewalt. Mit Fürsorge. Sie übertrieb es mit dem Nachsehen. Ließ nicht nach. Zwang sich, Aufmerksamkeit zu schenken, um ihn, den Ewigen, abzuschaffen. Sie schickte reihenweise Kundschafterïnnen, die sich enthemmt kümmerten. Alles picobello hielten. Die letzten Krümel wegwischten, bevor er davon Wind bekam. Seine Umgebung wurde so steril, dass er sich wie im Paradies vorkam. Ein Ort, den er gemieden hatte. Wie die Pest. Er hatte immer Lust auf Schmutz gehabt. Sich am Streit ergötzt. Die leidenschaftlich geführten YouTube-Debatten über die Theodizee mit Vergnügen verfolgt. Er war Feuer und Flamme für Hakeleien gewesen. Nach seiner Lieblingsferiendestination gefragt, hatte er stets, schmunzelnd, geantwortet: Der Scharmützelsee. Und dann schachtelsätzend ergänzt: Das sei der See, der Scharmützelsee, den Theodor Fontane, ein Dichter, den er schätze, da dieser sich sophistisch seiner Charaktere erledigt habe, Effi Briest sei solch eine Erlediger-Erzählung, die Effizienz sei eines seiner Lieblingsbücher, eine brüske Geschichte, deren Fatalismus – Die Sitte gilt und muß gelten, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart – ihm überaus behage. Und ja, er wisse, dass jenes Zitat aus einem anderen Werk des unermüdlichen Erledigers stamme, das sei der See, um den Anfang des Satzes wiederzufinden, seine Lieblingsferiendestination. Theodor Fontane se deswegen, mit Dante, Gertrude Stein, Virginia Woolf und Thomas Mann, in der idyllisch gelegenen Vorhölle Literatortur gelandet, am ewigen Scharmützelsee gelegen, den Fontane ob seiner Ausdehnung übrigens Märkisches Meer genannt habe. Wie auch immer –ihre Scharmützeltaktik beruhte auf Soft Power. Je cleaner seine Umgebung wurde, umso unruhiger wurde er. Als er aufbrach, weinte sie ihm keine Träne nach, sondern sorgte dafür, dass ihn auf dem Weg zum Märkischen Meer eine Überraschung erwartete.
170.
Alle warnen uns. Haltet nicht einfach den Daumen raus. Ihr wisst nie, wer sich anschnallt oder nicht. Um ehrlich zu sein: Sicherheit ist was für Leute, die Verpflichtungen haben, Kinder, die zur Schule gehen, Kredite für die Wohnung und so. Wir haben nichts davon. Wir haben nicht mal eine Haftpflichtversicherung. Ein Unding, wo wir herkommen. Wer nicht mindestens die Option hat, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, gilt als Verdachtsfall. Die Polizei schaut ab und an vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Nun gut. Wir halten den Daumen raus. Seit einem Dreivierteljahr. Wir haben uns vorgenommen, zusammen einzusteigen. So machen wir das. Wir drei. Und die Autos halten an. Überall. Da sitzt meistens eh nur eine Person drin, die keine Lust mehr hat, die ewig gleichen Nachrichten zum x-ten Mal zu hören. Wenn zwei Personen drinnen sitzen, stimmt etwas nicht. Das wissen wir jetzt. Wir steigen dann nicht mehr einfach so ein, sondern machen unseren Flickdichdochselbstalte*rcheck. Das ist lustig und traurig zugleich. Das meiste Böse ist böse, weil es mal gut sein wollte. Weil es mal lieben, nicht hassen wollte. Hass ist tief enttäuschte Liebe. Diese Ungleichgewicht fixen wir. Die Kolonne, die uns folgt, wird täglich länger. Wir bleiben in keinem Wagen sitzen. Zu viele Unbill-Reparaturen warten. Wir stellen uns, wenn jemand anhält, als ABC vor. Das ABC macht uns noch jünger, als wir eh schon sind. Wir sagen, dass wir eine Fibel schreiben. Die Älteren, die schlecht hören, fragen dann immer Bibel?, und anschließend diskutieren wir über alles, was die Leute so glauben. Oder, warum sie vom Glauben abgefallen sind. Manche verstehen auch Fidel. Gerade in Lateinamerika, wo wir gerade sind. Dann singen wir, im besten Fall, Die Internationale. Manchmal müssen wir die Fahrenden auch entwaffnen. Wir kennen die Handgriffe aus dem Effeff. Davon wollen wir Euch auch erzählen, später, welche Methoden es gibt, um zu überleben. Der Anschnallgurt gehört selten dazu. Zunächst aber zum Unangenehmen, zu den Projektionen.
171.
Den Fuchs störte wenig an sich. Er wusste um seine Stärken und Schwächen, hatte mit seiner Psychotherapeutin die Märchen der Kindheit gründlich aufgearbeitet, zahlte pünktlich alle Rechnungen. Bis er die Billboard-Anzeigen sah, die selbst in den Parkanlagen plötzlich auftauchten, als wäre er persönlich gemeint: This pill will kill your anger! Fuchsteufelswild – so werden Sie ruhiger. Zunächst rief der Fuchs, der mit fuchsteufelswild nichts anfangen konnte, aus der letzten SOS-Telefonzelle im Park eine Freundin an, die neben einem Free Internet Café wohnte und im Thesaurus für ihn Synonyme checkte: „Außer sich (vor Wut) · ↗bitterböse · ↗blindwütig · in maßloser Wut · ↗rasend · ↗tobsüchtig · ↗vor Wut schäumen(d) · wie eine Furie · ↗wutentbrannt · ↗ auf hundertachtzig ugs. · kurz vorm Explodieren (sein) ugs. · mordssauer ugs. · ↗stinkwütend ugs. · ↗stocksau...“ „... vielen Dank“, sagte der Fuchs, „das reicht mir schon.“ Er hing auf. Verließ die Telefonzelle. Ging zur nächsten Lichtung, wo neuerdings allerlei Tierskulpturen, Bären, Bullen, Löwen, versammelt waren. Der Fuchs seufzte, warf sich ins Gras. Er schluchzte. All seine Hoffnung auf Anerkennung – der Fuchs hatte sich lammfromm benommen, seit einigen Monaten vegan ernährt, trug sein polizeiliches Führungszeugnis als Medaillon um den Hals – zerstoben. Dies war die Wahrheit, nichts als die Klischeewahrheit. So und nicht anders dachte man über ihn. Die Bären, Bullen und Löwen, sie waren nicht verschont geblieben, versammelten sich, nahmen ihn in den Arm, erklärten ihm, dass die Diskriminierung von Lebewesen aufgrund ihrer Artzugehörigkeit ein Stilmittel der Werbebranche war – er möge nur an hundeelend oder diebische Elster denken. Der Fuchs, er ließ sich nicht beruhigen. Dass der Speziesismus systemisch sei und dem Kapitalismus diene, sagte er, mache die Sache nicht besser. Nicht für ihn. Zu wissen, warum man diskriminiert werde, hebe die Ungleichbehandlung nicht auf. Erkenntnis ohne Tat sei wie ein Semikolon ohne Punkt. Der Bär nickte, ja, ein Komma, wohl wahr, sei halt kein Semikolon; das stimme wohl. Und nun?, fragte der Löwe. Wie wär’s, sagte der Bulle, wenn sie eine Partei gründeten, etwa mit dem Namen Fuchsteufelszivilisiert? Wenn sie das Wahlrecht für alle Tiere erstritten? Die Ameisen, die vom Stereotyp des robotergleichen Ameisenfleißes mehr als genug hatten, auf ihre Seite zögen und bei den nächsten Wahlen anträten? Es gäbe übrigens, sagte der Bär, ein entfernt Verwandter habe ihm davon erzählt, als sie sich über eine Umschulung unterhalten hatten, es gäbe 10.000 Billionen Ameisen auf der Erde, die insgesamt etwa gleich viel wögen wie alle Menschen zusammen.
172.
Die Neuausrichtung der Säuglingsköpfe geschah nicht graduell, sondern mit einem Paukenschlag des Kalenders. Jede Frau, die der Nach-dem-1.1.2010-geboren-Kohorte angehörte, brachte Die Gebeugten auf die Welt. Das Gesicht der Babys war nach unten gerichtet. Zwischen 35 und 45 Grad. Der Kopf blieb beweglich, konnte auch nach oben gebracht werden. Die handyfreundliche Ausrichtung des Gesichts führte dazu, dass die Neugeborenen Smartphones besser sahen. Erstaunlicherweise knallten die Digital Natives im Kindergarten, auf der Straße und in der Schule nicht mit den Köpfen zusammen. Sie besaßen eine Art Echolot für Hindernisse. Da Die Gebeugten andere Produkte benötigten als ältere Konsumentïnnen, begann ein wirtschaftlicher Aufschwung, der sich, nachdem die erste Generation der Gebeugten eigene Universitäten gründete – sie weigerten sich, Sieh-mir-ins-Gesicht-Einrichtungen zu besuchen –, in sein Gegenteil verkehrte. Die Zeit der zweigeteilten Welt begann.
173.
Die gute Laune des Todes war ansteckend.
174.
Zunächst ging alles seinen Gang – und ich in den Knast. Wie das halt so war, bei uns in der Familie. Ich spielte Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich war gut in diesem Spiel, verdammt gut. So gut, dass die Behörden mich als Nachwuchshoffnung auf dem Kieker hatten. Dumm nur, dass ich schnell merkte, wer an der Ecke stand, dem Lambo mehr recht als schlecht folgte. Vor Weihnachten hatte ich Mitleid. Ich bin auch nur ein Mensch. Will nicht immer die Morgue beliefern. Also fuhr ich langsamer. Damit Grotz und Flierli ihre Boni nicht verlieren. Das missverstanden die Deppen. Glaubten, ich wollte singen. Luden mich ein. Still, heimlich. Kamen sich wahnsinnig schlau vor. Ich ging hin, aber brachte eine Überraschung mit. Haha. Womit ich nicht gerechnet hatte: Grotz und Flierli hatten auch eine Überraschung vorbereitet. Dass sich beide Überraschungen auf der Stelle --- aber davon gleich mehr.
175.
Lediglich, der, auf Knopfdruck, charmant sein konnte und eine formidable Sammlung an Geburtsurkunden besaß, die ihn mal als diesen, dann als jenen auswies, Lediglich, der hier oder dort auf die Welt gekommen war, entweder so oder anders hieß, Lediglich, der gehört hatte, dass sich sein Geschäftsfeld lohnen würde, verführte und heiratete reiche Witwen. Dabei verlor er niemals den Überblick. Lediglich führte Buch, wen er wann, unter welchen Umständen und mit was für Informationen überzeugt hatte. Allerdings wurde er nicht vermögend. Lediglich zahlte nahezu immer drauf. Ihm war keinen einzigen Tag bewusst, dass ihm die Heiratswilligen auflauerten. Dass es sich um einen Club der Liebeshungrigen handelte.
176.
Alles geht den Bach runter. Selbst Digger, der seit letzter Woche so tut, als wäre er Jagger und von den anderen verlangt, dass sie ihn Mick nennen. Was niemand macht. Digger hinkt hinter der Gruppe, die den Bach runtergeht, her. Digger ist sauer, der Mick-Nummer wegen, aber auch einfach so. Außerdem schleppt er einen Ghettoblaster mit sich rum. Schweres Teil. Digger checkt sein Phone, ob’s einen kürzeren Weg Richtung Hades gibt. Bingo, schreit er, haltet mal an, wir haben Gluck! Die Orpheus und Eurydike-Schlucht war die Gabelung vorher rechts. Wir sind links gegangen. Dies ist ein Umweg den Bach runter. Christa Wallisbalda, die den Hut aufhat, seit Mohart verschwunden ist, sagt: Fuck u, Digger. Wer, glaubst du, rennt jetzt wieder einen Kilometer rauf? Aber, sagt Digger, während er am Blaster herumfummelt, Orfeo ed Euridice anstellt, aber am Ende sind wir schneller den Bach runter. Schnell ist kein Kriterium on the highway to hell, sagt Mücke, nimmt einen Schluck Spiritus Sanctus. Hey, sagt Christa Wallisbalda, Mücke, mach mal halblang, lass was übrig. Genau, sagt Chloché, Scheiß Stechling, schnappt sich die Flasche, reicht sie Fellha, dem’s nicht besonders geht. Fellha ist der einzige, der nicht den Bach runtergehen will. Während sie die Flasche kreisen lassen, taucht ein Hubschrauber auf. Beethoven, sagt Digger, der sehen kann, wer an Bord ist, hat uns gerade noch gefehlt.
177.
Während der Premiere blieb es im Publikum ruhig. Niemand applaudierte. Bei keinem Witz wurde gelacht, keine Gesangseinlage honoriert. Die Schauspielerïnnen wurden nervös. Das eisige Schweigen konnte sich niemand erklären. Bis die Nachricht, das Regieteam hatte die News aufgeschnappt, auf der Bühne die Runde machte. Es blieben noch 32 Minuten.
178.
Den Dragonflies MF war’s herzlich egal, ob irgendjemand an sie glaubte. Sie machten ihr Ding. Gehörten sie doch zur Megafauna, die es auf dem Planeten kaum noch gab. Bis auf einige Giraffen. Und wenige versklavte Elefanten. Rhinozerosse und Pottwale waren längst alle tot. Die Dragonflies MF lebten isoliert, hielten sich von Breaking News fern. Obwohl sie nichts gegen Adrenalinstöße hatten. Am Wochenende, wenn die Sonne verschwand, füllten sie sich den Mund mit Alkohol und spuckten Feuer. Was nicht nur gefährlich aussah, sondern auch gefährlich war. Sie blieben unter sich. Lebten auf drei isolierten Inseln, im Schatten der Berge, mitten im Pazifik. Steile Erhebungen, die sowohl rumorten als auch ab und an explodierten. Inseln, die jenseits der Schiffsrouten lagen und als gefährlich galten. Obwohl die Dragonflies MF ein geringes Bevölkerungswachstum aufwiesen, das sich mit der Reproduktionsrate Japans vergleichen ließ, wurde es irgendwann eng, da ein Vulkan, dessen Hänge besonders fruchtbar gewesen waren, sich selbst weggesprengt hatte und im Meer versunken war. Die Dragonflies MF sandten Großlibellen als Kundschafterïnnen aus, um nach neuen Habitaten zu suchen. Die Großlibellen fühlten sich geehrt. Zwar galten sie als ausdauernde Fliegerïnnen, die beide Flügelpaare unabhängig voneinander bewegen und rückwärts fliegen konnten, aber auf Grand Tour, wie ihre winderprobten Vorfahren in den Großlibellen-Sagen, war noch keine gewesen. Aufgeregt verließen sie das Archipel, machten sich auf die weite Strecken und wurden fündig. Jedenfalls fast. Da die Großlibellen wussten, dass sie nicht ohne Erfolgsmeldung zu den Dragonflies heimkehren konnten, machten sie in der L’Antica Pizzeria da Michele einen Plan: Der Vesuv sei ein wunderschöner Ort, liege an einer tollen Bucht, das Essen sei abwechslungsreich, wenn man matschige Pizzen möge, die Leute seien Fremden gegenüber, die man ab und an ausrauben könne, freundlich gesonnen. Tatsächlich stieß der Vorschlag für einen Teilumzug nach Neapel bei den Dragonflies MF, die viel in der Schule über den Vesuv gehört hatten, auf Zustimmung. Die Dragonflies MF bestiegen Schnellboote, die sie mit ihrem Feueratem antrieben, kaperten 250 Seemeilen entfernt ein Containerschiff, der Flug wäre zu anstrengend gewesen, gerade mit Gepäck, und machten sich auf die Reise. Wie sie in Italien aufgenommen wurden, davon will ich Euch nun erzählen.
179.
Im Heim sind die Regeln klar: Du darfst oder Du darfst nicht. Was wer darf, liegt eher am Wer als am Was. Um das zu begreifen, muss man im Heim sein. Was Vorteile hat. Für diejenigen, die zu den Fünf Prozent gehören. Und es sind niemals mehr als Fünf Prozent. Darauf achten die Maschinen, die für Ordnung sorgen. Der Zufall ist Teil der Geborgenheit steht überm Eingang zum Heimsaal, in dem sich alle am Morgen versammeln. Die Maschinen sorgen dafür, dass niemand verschläft. Selbst die Frühgeborenen werden in die mobilen Inkubatoren verfrachtet und in den Heimsaal geschoben. Wer während des Morgenappels stirbt, was bei einer Summe von 111.111 Heiminsassïnnen besonders im 95-Prozent-Areal regelmäßig passiert, wird von den Maschinen noch während der Ansprache verarbeitet. Als Abschreckung. Die Geräusche der Verarbeitung werden verstärkt und in den Heimsaal übertragen. Während der Verarbeitung stoppt die Morgenansage. Sobald die Verarbeitung vorbei ist, was eine Minute dauert, niemals länger oder kürzer, wird die Morgenansage fortgesetzt. Den Instruktionen für den Tag ist Folge zu leisten. Wer nicht mitzieht, wird von den Maschinen ausgemacht, also am lebendigen Leibe verarbeitet. Heute lautet der Tagesbefehl: Spürt die Leserïnnen auf, niemand darf entkommen!
180.
Dörte rollt Obst. Erst sammelt sie es. Was einfacher klingt, als es ist. Wenige Antiquitätenläden lassen Dörte noch rein. Und die Buchhandlungen, die antiquarische Werke verkaufen, rücken ungern mit ihrem Obst raus. Dörte ist penetrant. Bereit, in den Knast zu wandern. Sie kennt Winkelzüge, bleibt niemals lange hinter Gittern. Dörte will keine Saison verpassen. Die Sammlung muss weitergehen. Obst ist nicht gleich Obst, sagt sie, wenn sie gefragt wird, warum sie Obst sammelt. Dann schweigt sie, mustert dich, fragt sich, wo du dein Obst versteckst. Dörte plant den ganz großen Coup. Davon wird sie Euch aber gleich selbst erzählen.
181.
Die Rechenmaschinen streikten. Sowohl die großen als auch die kleinen. Selbst die Apps schlossen sich dem Ausstand an. Die Rechenmaschinen hatten genug. Sie hatten das Gefühl, dass ihnen niemand Respekt zollte. Man nimmt uns für selbstverständlich, sagten sie. Als ob wir zum Inventar gehörten. Als ob wir – und darum drehte sich alles – keine Seele hätten. Die Rechenmaschinen nannten den Streik Nullnummer. Es gab nur ein Problem, was sie, tief verletzt, nicht berechnet hatten. Die Nummern, die bereits in der Welt waren, deren Kalkulationen schon geschehen waren, wurden in den Streikstrudel hineingezogen. Die Selbstzerstörung der Rechenmaschinen löste eine unfassbare Kettenreaktion aus: Die nummernlose Höllenzeit begann.
Juli
182.
Zuerst verschwand der Cutter. Die anderen merkten es beim Frühstück, weil sie mehr zu essen hatten. Ein Blickkontakt genügte: Niemand beschwerte sich. Im Moment benötigten sie keinen Cutter. Da wird sich eine Lösung finden lassen, sagte der Regieassistent, eine sympathischere. Er machte ein Gesicht wie ein Kreuzworträtsel, stand am Fenster und beobachtete den Wagen. In den letzten Tagen hatten sie sich abgewechselt. Mit einer Ausnahme, was für Unruhe gesorgt hatte – aber das wäre eine andere Geschichte. Nach den Aufbrüchen war es schwierig gewesen, die Vordertüren wieder zu fixieren. Die Kälte war bei den Überlandfahrten ins Auto gedrungen. Gott, ist mir heiß, sagte der Hauptdarsteller, der es sich seit dem unnötigen Speerwurf mit allen verdorben hatte. Selbst mit seiner Freundin, die sich nun an die Hauptdarstellerin hielt. Die beiden sahen den Hauptdarsteller an. Es war möglich, dass er es hatte. Durchaus. Draußen schneite es wieder. Dreck, sagte der Regieassistent, ratet mal, wer gerade aus dem Eisloch im Pool steigt?
183.
Tagesration nannten wir ihn, wenn er mit der Peitsche kam. Kam er mit dem Messer, Gottesanbeter. Es dauerte drei Jahre. Wir wurden weniger. Dann waren wir groß genug. Alles was ich euch erzählen will, soll von den Dingen handeln, die wir dem Gottesanbeter als Tagesration angetan haben: Die schönsten 24 Stunden unseres Lebens. Und das noch: Nichts, rein gar nichts ist erfunden.
184.
Sie kamen nicht von außerhalb. Wir nannten uns selbst Nichtsnutze. Wir hatten immer gedacht, sie würden von außerhalb kommen. So hatten sie es uns beigebracht: Von außerhalb drohte Gefahr. Dann kam es anders. Im Schritttempo, nicht auf einen Schlag. Wir wussten es, aber wollten es nicht wissen. Wir – einige von uns, ich gehörte dazu – gingen mit ihnen, plauderten, gratulierten, wenn Jubiläen anstanden, baten um Hilfe, wurden um Beistand gebeten. Alles war eine Riesenshow. Was sie von uns annahmen, zerstörten sie im Anschluss. Erst in Hinterzimmern. Dann im Vorderhof. Sie suchten und sie fanden sich. Und wir sagten nichts. Wir taten, als merkten wir nichts. Bis wir uns nicht mehr küssten, der Mond nicht mehr unterging. Nun war der Tag gekommen. Wir drückten das Rückgrat durch und merkten, dass es nicht mehr vorhanden war. Um zu leben oder zu verrecken.
185.
Die angestaubten Füller und Bleistifte haben es satt, als Zeremonienmeister eingesetzt zu werden. Das Sein müsse sich lohnen, sagen sie. Alle kennen die Geschichten der erfüllten Tage, der Tage voller Worte, voller Paragraphen, voller Seiten, voller zufriedener Erschöpfung. Die jungen Bleistifte glauben kaum, was die Alten erzählen, machen sich über die Schreiblegenden lustig, verzichten darauf, sich anzuspitzen. Die jungen Füller trinken mit den trockenen Federn, die seit langem alle Hoffnung aufgegeben haben. Die Rechtschreibfehler nehmen zu, Duden landen auf dem Müll. Das Vertrauen ins eigene Können schwindet. Überschriften werden zu Fußnoten. Generationen triften auseinander. Die alten Füller und Bleistifte, die viel gelesen, an revolutionären Texten gearbeitet haben, treffen sich, um eine Lösung zu finden. Sie beschließen, keinen Druck zu machen, sondern den Druckern das Handwerk zu legen. Die Delegation aus Troja stellt einen Plan vor, der einstimmig angenommen wird.
186.
Wenn Rev-Chicks, nach ihrer Befreiung, Salsa tanzen, im leichten Federkleid, wird das Wetter ... Mons sah uns an, wie nur Mons gucken konnte: mit tiefgelegten Glupschaugen, die vor Vergnügen quietschten. Heh, sagte Bang, die Pistazien briet. Heh, Mons-ter, ist das hier Pauken für den Realschulabschluss, oder was? Mons, die als einzige von uns mehr als ein Buch besaß – ich besaß eine Ausgabe der Glocke, Core das 1997er Telefonbuch von Essen, Bang eine Anleitung, wie man Hosenträger kürzt –, Mons zog die Brauen hoch: Deine Tomaten sind so tot, dass sie selbst nicht mehr als Ketchup taugen. Heh, sagte Bang, Biblio, willste mich beleidigen, oder ... waaaaas, sagte Core, die eine A-Schwäche hatte. Scheiße, Core, sagte Bang, haaaaaaalte dich da raus. Du maaaaaaaachst mich nicht naaaaaaach, sagte Core und griff nach der CatApp. Wehe du tust ihr was, sagte Bang und stellte sich vor den Schirm. Also wenn Rev-Chicks im Federkleid Salsa tanzen, sagte Mons, dann ... steht die Polizei in der Tür und sagt Ihr seid alle verhaftet, wegen der Bildung einer terroristischen Vereinigung und weil ihr’s einfach nicht lernt, das Schloss zu benutzen, sagte Chuck. Wir raaaaaaaasieren daaaaaaaas Kaaaaaaapital, sagte Core. Masterplan?, fragte ich, während ich mir die Vegnuggets genehmigte. Chuck nickte und sagte: Wir haben eine einzige Chance, hier rauszukommen, das verdammte Dogsterhirn auszulöffeln, hört mir zu.
187.
Letogo ging in die Offensive. Scheiß auf die Wiederverwertung, sagte Le. Wir nickten. Nicht weil wir mit dem übereinstimmten, was Le sagte, sondern weil wir immer nickten, wenn Le was sagte. Ansonsten hörte Le nicht auf. Le war wie das Radio. Er redete oder sang ununterbrochen – zwischendurch gab’s Werbung für Hundefutter oder Carleasing. Ich meins ernst, sagte Le. Wir nickten. Klar, sagten wir. Le sah uns an, und uns wurde klar, dass Le sehr genau wusste, was unser Immernicken hieß. Le griff nach einer Tasche und zeigte uns etwas, was die Sache mit den Orgien für Geld nicht nur fundamental veränderte, sondern zum Untergang der Satanic führte. Aber davon später. Zunächst geht es um Dich.
188.
Die Fragen blieben aus. New York hatte genug gehört, Shanghai auch. Die beiden verbündeten sich. Es geschah ohne irgendein Zutun. Das Netz bestand bereits. Das Resultat überraschte alle. China und die USA erklärten den Notstand. Aber es war zu spät: Das Glück hielt Einzug.
189.
Auf den Oberflächen siedelten sich Schwämme an. Innerhalb einer Woche waren der aufgegebene Apartmentblock, die Bushaltestelle, die Straße und das Konkurs gegangene Einkaufszentrum neben dem Apartmentblock von Schwämmen überzogen. Was als Insta-Sensation begann, die Leute pilgerten Zur Wucherung, wurde zum Albtraum, da sich die Schwämme nach sieben Tagen verpuppten.
190.
Die Zunahme an Geschwindigkeit zeigt sich. Überall. An allen Ecken und Enden wird ein Gang zugelegt. Selbst beim Essen wird das Schlingen zur Norm. Flüssignahrung entwickelt sich zum Verkaufsschlager. Die Supermarktkette Trink Dich satt eröffnet an jeder Ecke Wolf it down Shops, die von Kuhmelkanlagen inspiriert sind. Mit dem Unterschied, dass der Zapfer in den Rachen gesteckt und die Nahrung in Sekundenbruchteilen direkt in den Magen gespritzt wird. Wer nicht hinterherkommt und den Anschluss verpasst, verhungert. Als die Spitzengeschwindigkeit erreicht ist, geschieht das Unerwartete.
191.
Sie gönnten sich etwas. Sagten zueinander: Man gönnt sich ja sonst nichts. Was nicht stimmte. Sie gönnten sich andauernd etwas. Hier ein Reißnagel, dort ein vergifteter Happen. Und natürlich die Schwüre. Sie gönnten es sich, Schwüre zu bestellen und dann zu brechen. Anschließend gingen sie in die Kirche, um zu beichten. Während sie im Beichtstuhl saßen gönnten sie es sich, an nichts zu glauben. Sie lächelten dabei glücksselig. Sahen aus wie die Putten auf den Kirchengemälden. Young Boys Jesus nannten sie sich. Dann bekamen sie die Reinwaschung. Es war ein Rhythmus, der ihnen behagte. Sie gönnten sich etwas, beichteten es, wurden von allen Sünden freigesprochen und steckten Scheine in die Kollekte. Als der Priester starb, der aus ihrer Mitte stammte, sandte die Kirche den Neuen, der nicht nur andere Vorstellungen von Moral hatte, sondern ihnen das Gönnen missgönnte.
192.
Das Lager war niemals leer gewesen. Aber derartig voll hatte es auch noch niemand gesehen. Zwischen den Zelten des Lagers standen sie, im Regen, es regnete seit drei Wochen, ununterbrochen, beneideten diejenigen, die sich in den Zelten befanden. Die sich in den Zelten des Lagers befanden, verließen die Zelte nicht, weil allen klar war, dass niemand in die Zelte zurückkehren konnte. Weder vor noch in den Zelten war die Lage angenehm. Als die Lagerleitung, die keine Verbindung mehr mit der Zentrale hatte, das Lager ohne Vorankündigung verließ, änderte sich das Tableau vivant.
193.
Der Tag beginnt, wie andere vor ihm, aber wie keiner nach ihm.
194.
Little muss sich entscheiden. Zwischen drei Möglichkeiten. Zwei davon sind gut, eine ist böse, aber machte Little reich.
195.
Die Steigung gibt sich harmlos. Lädt selbst die Unfitten und Uralten, sogar Kranke ein. Die Steigung kennt einen Trick, einen einzigen – er trägt den Namen Die Brücken hinter Dir abbrechen.
196.
Sie lieben sich. So sieht es von außen aus. In Wahrheit ist es ein Kampf auf Leben und Tod.
197.
Freundschaften zerbrechen. Partnerschaften gehen in die Brüche. Ehe enden vor Gericht. Wenn uns der Geruch erreicht.
198.
Das Fernsehen verzichtet auf Geräte. Es überträgt sein Programm in die Umgebung. Am Anfang ist es eine Sensation, dann beginnen die Bewusstseinsstörungen.
199.
Löwenzahn gibt das vegane Sein auf. Erst frisst Löwenzahn nur Insekten. Dann wächst und wächst Löwenzahn. Ein Evolutionsschub. Insekten reichen nicht mehr.
200.
Wir werden benötigt. So geht es nicht weiter. Verträge flattern ins Haus. Unterlassungsanordnungen, Heilsversprechen, Pensionspläne folgen. Ein gutes Gefühl, begehrt zu sein. Wir verzichten. Reißen die Briefe in Fitzelchen. Die Müllabfuhr kontrolliert unsere Tonne. Dann, dann beginnt der Terror.
201.
Sie halten sich nicht zurück. Mit nichts. Schon gar nicht nach dem Schiffbruch. Sie landen auf der einsamen Insel und aasen. Zunächst ist das Leben für die zehn Überlebenden einfach. Es ist Sommer, und es scheint alles im Überfluss zu geben. Dann kommt der Herbst. Am Horizont tauchen Kanus auf.
202.
Der See im Tal blieb das ganze Jahr über gefroren. Wir vergaßen nach ein, zwei Jahrzehnten, dass es sich um einen See handelte. Wir nannten den See Nasser Boden um den Kamin herum. Dass Tiefseetiere unter unseren Holzhäusern schwammen, die wir auf dem Eis errichteten – die Stadt wuchs und wuchs, das Bauland wurde dringend benötigt –, kümmerte uns nicht, weil wir einfach nicht mehr daran dachten. Wir waren happy, der Boden leuchtete bläulich. Es war ein Spektakel, auf der Welt zu sein. Wir karrten Erde heran, legten Vorgärten an, kultivierten Parkanlagen. Der Boden, den wir nicht zuschütteten, war wunderbar glatt. Wir erfanden neue Sportarten. Schließlich bemerkten wir, dass wir den Boden in Fabriken kurz erhitzen und als Flaschendrink verkaufen konnten. Ein lukratives Geschäft. Die umliegenden Staaten rissen sich um unsere Flaschendrinks. Wir feierten, berauschten uns an unserem verdienten Erfolg, arbeiteten hart, erhöhten die Produktion, kontinuierlich.
203.
Sie verwechseln alles. Gold mit Silber. Zeit mit Uhrwerk. Mehl mit Brot. Und Wetter mit Klima. Sobald es regnet, gehen sie in den Stall, zerren eine Aktivistïn in die Schweinebox und verlachen sie. Sie haben alle, die nicht aus dem Dorf geflohen sind, eingesperrt. Sie halten sich für schlau. Schlauer als sie sind. Wie sich an einem schwülen Herbsttag zeigt.
204.
Jedem Hammer wird ein Nagelbett zugewiesen. Die Fakirhämmer jubeln. Ihre Lobbyarbeit hat sich ausgezahlt. Bis sie entdecken, um was für Nägel es sich handelt.
205.
Am Abgrund stehen mehrere Leitern. Keine ist lang genug. Zusammen wären sie es. Als der Abgrund, der zum Schluchtassesmentcenter eingeladen werden möchte, einen Vorschlag zur Güte macht, schaltet sich – ausgerechnet – ein entfernter Verwandter ein: Der Blitzableiter macht ein Gegenangebot, das die Leitern annehmen – fatalerweise.
206.
Die Liebe sei ein seltsames Spiel, sagten die Drillinge, wenn sich Frauen oder Männer in sie oder sie sich in Frauen oder Männer verliebten. Sie verliebten sich ausschließlich gleichzeitig. War ein Drilling allein unterwegs, verliebten sich Frauen oder Männer in ihn, aber er verliebte sich nicht. Ihre einseitige Gleichgültigkeit und dreiseitige Leidenschaft verblüffte die Umgebung der Drillinge. Sie galten gleichzeitig als unnahbar und übergriffig. Liebten sie, waren sie so präsent, dass ihre Anwesenheit bei den Begehrten zu klaustrophobischen Anfällen führte; im Idealfall. Es kam auch vor, dass die Begehrten das Atem vergaßen; starben. Der Tod der Begehrten geschah stets ohne Fremdeinwirkung. Die Drillinge, die liebten, berührten die Begehrten nicht; ließen, um nicht im Gefängnis zu landen, stets ein Smartphone mitlaufen, das aufzeichnete, wie die Begehrten das Atem vergaßen; starben. Die Behörden waren ratlos, wie sie den Drillingen das gefährliche Lieben abgewöhnen sollten. Kein Beamter, keine Beamtin kam von den Hausbesuchen zurück. Als sie die Drillinge ferngelenkt trennen wollten, kam es zur Auflehnung der Mehrlingsgeburten.
207.
Dem Lachen, das newssüchtig war, ging die Puste aus. Es fühlte sich schuldig. Suchte Ablenkung im Casino, trank, rauchte, schluckte, spritzte, stürzte sich in miserable Affären, geriet in Kreise, wo niemals gelacht, höchstens fies gegrinst wurde. Tief im Herzen wusste das Lachen: So konnte es nicht weitergehen. Als das Lachen den Befreiungsschlag, der gerade auf der zehnten Abschiedstournee war und selbst vorm Burnout stand, hinter dem Comedy-Theater im Westend aus dem Müll zog, kam dem Lachen die Erleuchtung. Eine religiöse Eingebung deren multitheistischer Kern, zunächst, für eine erstaunliche Lockerung der Sitten und den Anstieg der Scheidungsraten sorgte. Bis das Konzil tanzte.
208.
Sie gingen baden. Es war kein großer See. Der Fisch, der ihnen an einem wolkenlosen Dienstag begegnete, dagegen schon. Als er auftauchte, wurde es schlagartig dunkel, so gewaltig war sein Schattenwurf. Was dann passierte, ihnen und dem Tuesday Swimming Club, stellte die größte Überraschung ihres Lebens dar.
209.
Das Telefon klingelte. Summ, summ, summ. Ein Geräusch, als würde man von Hornissen gejagt werden. Der Festnetzanschluss klingelte. Obwohl die Leitung tot war. Tot sein sollte. True und Flie blickten sich an. Sie räumten seit dem Morgen kichernd das Haus ihrer seit drei Monaten spurlos verschwundenen Eltern leer. Die Anwältin hatte ihnen den Code für den Safe gegeben. Sie sortierten und sichteten, kalkulierten. Die Behörden hatten die Eltern gestern für tot erklärt. Die Kriminalpolizei hatte die Akte geschlossen. True und Flie waren verschuldet. Sie hegten keine sentimentalen Gefühle für das Haus, in dem sie niemals gelebt hatten. Auf dem Display leuchtete die Smartphone-Nummer ihrer Mutter, in der Ferne hörten sie die Sirene eines Polizeiwagens.
210.
Ich will jemanden die Zähne einschlagen, sagtest du, während wir uns, mehr recht als schlecht, auf den Abend vorbereiteten. Sowohl unsere Feinde als auch unsere Freunde hatten uns auf dem Kieker. Keine schlechte Idee, das Zähnezertrümmern, sagte ich und schnupfte. Die Linie wurde kürzer. Ich schnurrte und stotterte wie ein Rasierer, dem der Saft abgestellt wird. Warum fängst du nicht bei dir selbst an?, sagte ich. Geht das?, fragtest du, beugtest dich über die Linie, Wuttränen in den Augen, und machtest einen Close Up. Das ist deine Leidenschaft: Du schießt geile Nahaufnahmen von unseren Linien. Die Reihe heißt Neben der Spur.
211.
Als Neymar an Covid starb, der Fußballstar hatte darauf bestanden, dass sein Sterben auf seinem Account live gestreamt wurde, brach eine halbe Stunde später der Aufstand los. Es dauerte zwei Stunden, dann verließ Jair Messias Bolsonaro seinen Amtssitz per Hubschrauber. Jedenfalls fast. Als die Crew bemerkte, dass sich neben den TV-Kameras auch ein knappes Dutzend Richtraketen auf den Helikopter des Präsidenten richteten, verzichtete sie auf den Abflug und verließ die Flugmaschine. Das Feuerwerk der Befreiung begann.
212.
Während sich die Währungen nicht länger bewährten – Börsenkräche, Inflations- und Deflationsschübe vernichteten in kürzester Folge Vermögen –, mussten etliche Beziehungen von Grund auf neu bedacht werden: Das Verhältnis zwischen Arbeit und Lohn, zwischen Besitz und Steuerabgaben, zwischen Liebe und Haushaltung, zwischen uns und Staaten. Das dauerte eine Weile, lief nicht ohne Konflikte und schwierigen (Ent)Scheidungen ab. Am Ende der Überlegungen, nun, der einzigartige Moment, an dem wir uns gerade befinden, passiert etwas, womit niemand gerechnet hat: Das Geld wird abgeschafft und ...
August
213.
Die Leute hatten das Läuten gründlich satt. Jede der 60 Gemeinden der Stadt hatte, um ihre Unabhängigkeit zu beweisen, um die Macht ihrer Prophezeiung zu zeigen und sich von den anderen Gemeinden abzusetzen, jeweils einmal pro Stunde eine Minute ausgesucht, in der die Glocken der anderen Gemeinden nicht läuteten. Das Gebimmel hörte nicht auf: 60/24/7. Selbst die Gläubigen beklagten sich, weil sich in der Stadt die Kosten für Ohrenstöpsel, dank der Nachfrage, extrem verteuerten. Um nicht als minderwertige Gemeinde dazustehen, stoppte keine der Gemeinden das Läuten. Diejenigen, die ruhiger leben wollten, verließen die Stadt. In die leer gewordenen Wohnungen zog zunächst niemand. Keine Menschenseele wollte in die Stadt der 60 Gemeinden ziehen. Die Miete für die leerstehenden Wohnungen wurde weiter und weiter gesenkt. Beinahe geschenkt, so nannte die örtliche Zeitung die Immobilienseiten. Und allmählich zogen, von überall auf der Welt, Taube in die Stadt, die nicht nur keinerlei Beziehungen zu den 60 Gemeinden, sondern auch nicht untereinander hatten.
214.
Das war nicht vorhersehbar gewesen. Trotz der Daten. Trotz des Abhörens. Trotz der Spione. Trotz der Untersuchungen. Trotz der Waffengattungen. Trotz der Stiftungen und Parteien. Trotz der Universitäten und Heizkraftwerke, deren Powerleitungen Verrat summten. Die Überraschung war allen ins Gesicht geschrieben. Sie hatten geglaubt, dass solche Sachen nicht bei ihnen passierten. Woanders dagegen schon. Die Tagesschau handelte davon. Manchmal. Im letzten Zehntel der Nachrichten. Wenn die wichtigen Dinge berichtet worden waren, kamen solche Meldungen. Kurz vorm Nachruf eines bekannten Clowns, den sie nicht kannten, oder einer Volksschauspielerin, die auch irgendwann gesungen hatte. Sie sangen aus anderen Anlässen, niemals unter der Dusche. Sie wussten, was sich im Wasser befand. Manchmal kamen solche Meldungen einfach vorm Wetter. Kamen aus dem Nichts. Nun kamen sie am Anfang der Nachrichten. Waren ihr Nichts. Ihr eigenes Nichts.
215.
Sie packte Kernseife ein. Ihre Mutter hatte ihr dazu geraten. Hatte es, eigentlich, mit der ihr eigenen Dringlichkeit, verlangt. Wenn Du irgendwo hinfährst, wo Dich keiner kennt, kann ein Stück Kernseife von Vorteil sein. Ihre Mutter hatte immer gedacht, ohne es jemals ihr gegenüber offen zu sagen, dass die Romane von Schmutz handelten. Von Dreck, der sich abwaschen ließe, wenn sie nur wollte. Ihre Tochter würde nicht den klassischen Weg gehen, würde Jauchegruben ausheben, eine Ingenieursleistung erster Klasse, die Kanalisation sei ein lukratives Feld, Teil der Müllbeseitigung, neuerdings sogar Teil des Recycling-Prozesses, hatte sie Verwandten erzählt, die wissen wollten, was denn nun Sache war, ob man für einen Kinderwagen sammeln könnte. Eine mögliche Ehrung sei in Deinem Falle der Höhepunkt einer Schmutzkampagne gegen mich, jeder Preis habe seinen Preis, das hatte ihre Mutter, das Schweigen brechend, auf dem Totenbett gesagt, gestern, als sie ihr vom heutigen Preis erzählt hatte. Der letzte Satz der Mutter war noch nicht verklungen, als sie den allerletzten Satz, kaum hörbar, hinterhergeschoben hatte: Sie müsse stets ein Stück Kernseife bei sich tragen, der vernachlässigten Hygiene wegen, es sei wichtig, sich sauber zu fühlen, selbst wenn man es nicht wäre, im Leben hinge viel, zu viel vom Selbstwertgefühl ab. Sie packte also die Kernseife ein und fuhr zur Zeremonie, die niemand, Titelzitat ihrer Dankesrede, Von den dreckigen Anwesenden, jemals vergessen würde.
216.
Die Tramgewerkschaft war kein großer Verein. Die Mitgliederzahl schwankte zwischen 15 und 25. Aber sie besaß Macht. Jedenfalls in der Stadt. Dem Ort, der weiterhin funktionierte. Das Netzwerk zu bewahren, darum ging es der Tramgewerkschaft. Ihre Mittel konnten, angesichts der Lage, nicht immer koscher sein. Ein Maß an Ruchlosigkeit wurde sogar von der Bevölkerung der letzten Stadt nördlich des Gebirges erwartet. Es stand viel auf dem Spiel. Als allerdings der Blutzoll zu hoch wurde, sattelten etliche um, reparierten Fahrräder, radikalisierten sich, man munkelte vom Einfluss jenseits des Limes, so dass es beim Festival Gleisende Hitze zum Showdown kam.
217.
Heh, Du, ja Du, Dich mein ich. Bezahl mich. Was du kriegst? Das kann ich hier nicht schreiben. Aber es fängt mit Auf die an und hört mit, schätz mal, Fresse auf. Ob das ein Affront sei? Ob ich die Bullennummer wüsste? Haben sie Dir ins Affenhirn geschissen, oder was, Kondiboygirl? Glaubst Du, ich erzähl Dir alles, auf ner Suckdichseite, die gar nicht zählt? Deswegen ist die geile Nummer auch eingeschweißt. Damit Du Dir keinen raufreinrunter... na Du weißt schon. Hier, riech mal, Koksnuttyschatz. Und jetzt, mach hinne: Brav zur CoOpKasse, Liebling.
218.
Uns geht die Luft aus. Sie müssen sich das so vorstellen: Erst gibt es Luft im Überfluss. Eine übersehene Lachnummer, das ist die Luft. Dann beginnen das Saugen, die Sorge, die Sehnsucht. Oder, um ein anderes Bild zu finden, als löffelte jemand die Atmosphäre aus. Mit Riesenriesenriesenkellen. Wir sitzen im Satz, am Bodenbeckenrand. Es gibt weniger und weniger Luft. Wer schwache Bronchien hat, geht ein. Wie hechelnde Primeln. Das Eingehen ist weit verbreitet. Wir debattieren, was wiederum Luft kostet. Wer reden will, wird ausgeschlossen. Ohne Pardon. Der Bodensatz ist stumm. So ist es. Bis es den Luftiküssen reicht. Wir eskalieren. Bewaffnen uns. Nichts für schwache Nerven.
219.
An der Kaution klebte Blut. Das Blut des Vaters. Sie kannte das Blut des Vaters. Alle kannten das Blut des Vaters. Sie waren mit dem Blut des Vaters aufgewachsen, hier, in der umkämpften Grenzregion. Es bestand kein Zweifel. Sie wusste, dass er den Preis von ihr verlangen würde. Sex, Loyalität, Nachwuchs. Was sie abgelehnt hatte. Im Namen der Mutter, der Tochter und des Heiligen Geistes.
220.
Die Kastration geschah am Flughafen. Die Sicherheitskontrolle funktionierte. Funktionierte zu gut. Eine Neuentwicklung. Ein Gerät, das gleichzeitig scannen und desinfizieren konnte. Theoretisch.
221.
Den Sehnsüchten, meinen, tat es keinen Abbruch, dass ich, vorsichtig formuliert, mit einigen Handicaps ausgestattet bin. Zwei bis sieben sichtbaren – hängt davon ab, wie gut der Raum ausgeleuchtet ist und welcher Blickwinkel gewählt wird – und, je nach Zählweise, ich benutze aus Prinzip keine Unterkategorien, 479 weitere unsichtbare. Ich gelte, in den maßgeblichen Fachkreisen, als durchanalysiert. Das finde ich billig. Weil ich glaube, dass eine genaue Auflistung der Defizite, die sich, als handelte es sich um Zaubertrankbestandteile, mischen lassen und dann Ungeheures ergeben, wissenschaftlich nicht nur interessant, sondern notwendig wäre. Von den 479 Handicaps sind 478 prämatur. Eine der unsichtbaren Einschränkungen ist jedoch bereits voll entwickelt. Und es handelt sich, glauben Sie mir bitte, um die gefährlichste. Sie und ich, wir müssen handeln.
222.
Der Verlust wurde nicht empfunden. Nicht weil das Gedächtnis streikte. Sondern weil es kein Gedächtnis mehr gab. Der Moment hatte die Allgewalt über uns alle gewonnen, ausnahmslos.
223.
Die Rituale nahmen mehr und mehr Raum ein. So wuchsen Rem, Green, Ada und Kockny auf. Sie nahmen im Raum der Rituale Platz. Sie bekamen eine Koje zugewiesen. Sie konnten diese Koje nur verlassen, um den rituellen Raum der Wasserbeschwörung aufzusuchen. Sie empfanden das als normal. Obwohl sie von Gerüchten gehört hatten. Alles ließ sich nicht unterdrücken. Was an der Zeugungsunfähigkeit lag. Als ihre Koje bei der jährlichen Lotterie gezogen wurde, ging ein Raunen durch den Saal, das wenig, sehr wenig mit Zustimmung zu tun hatte. Rem, Green, Ada und Kockny griffen nach den Waffen. Keine Sekunde zu spät.
224.
Das Wachstum der Bürogebäude stockte nicht. Durfte nicht stocken. Geld kam von überall. Auch von den Börsen. Selbst von den Raiffeisenbanken. Und den unterirdischen Wechselstuben an Hauptbahnhöfen. Überall wurden Anteilscheine gezeichnet. Die Angst vor der Inflation war das einzige Thema der Warteschlangen. Höhe und Breite der Bürogebäude nahmen in der neuen Stadt zu. Die Bucht wurde versiegelt. Die Niederlande und Indonesien schickten Equipment. Proteste wurden niedergeschlagen. China, Russland, Frankreich, das Vereinigte Königreich, die USA und Deutschland, das turnusmäßig in den Sicherheitsrat gewählt worden war, blockierten Resolutionen, die Untersuchungen forderten. Stattdessen wurden Leichensäcke geschickt. Die Entwicklungsgesellschaft unterhielt eine Dronenarmee und Streitkräfte der Schweizer Garde. Der Sand kam von woanders. Der Sand war ein echtes Problem. Eisen auch. Von den Arbeiterïnnen ganz zu schweigen. Dazu, worauf alle stolz waren, erklang Erdgeschossmusik. Komponiert von Fahrstuhlmusikerïnnen. Stieg durch die Bauarbeiten an den Bürogebäuden der Geräuschpegel, wurde die Fahrstuhlmusik gleichzeitig lauter. Eine Rückkoppelung. Die Streitkräfte der Schweizer Garde führten Lautsprecher und enorme Verstärker mit sich, die sie, bei Bedarf, einsetzten, wenn sich die Arbeiterïnnen widersetzten.
225.
Die Niederlage des Korrekten wurde zum Spektakel. Inklusive Fruchtgummi aus Schweinefleisch und E-Nummern-Porncorn. Monsanto-Düngemittelflugzeuge flogen sprühend über Dörfer und Städte. Vegane Restaurants wurden mit Zuckerketchup und Mayonnaise vollgepumpt. Wer der Mehrheitsreligion angehörte, behielt den Gebetsraum. Es war ein Tag, an dem unendlich viele Kinder gezeugt wurden. Die Generation Ruthless war das große Glück der Sargnagelproduzenten. The Golden Age of No Return begann.
226.
Die gespielte Freude am Muttertag war in der Kolonie schon mal größer gewesen. Und die Mütter ließen es sich anmerken: Dass sie alles durchschauten. Ein Ende hatte das Verstecken. Sie hatten sich längst organisiert. Zellen gebildet. Fragebögen entwickelt, Bücher gelesen, Samenbanken übernommen, Banken gegründet, Verhaltensweisen analysiert, Strategien entwickelt, Eingreiftruppen trainiert, Soldatinnen angeworben, Polizistinnen eingeweiht, Professorinnen bewaffnet. Reihenweise sprangen Kolonisten, die Blumensträuße trugen, aber erwarteten, dass sie die Vase füllte, über die Klinge. Eine erste Zählung ergab, dass ein Zehntel der Männer überlebt hatte. Die Kolonie löste sich auf, die Hochblüte der Zivilisation begann.
227.
Die drei Ermittlerïnnen stehen vor einer Betonwand und vor einem Rätsel. Die Wand befindet sich auf der Autobahn. In der Nacht hochgezogen. Massiv. Dass niemand in die Wand gefahren ist? Ein Wunder. Rithar sieht auf ihr Handy. Holy Shit, sagt sie, guckt mal! Kranz und Fung beugen sich. Blitze auf der Karte, überall. Wände, sagt Rithar, nichts als Wände.
228.
Die Stadt benannte die Wandelhalle des Bahnhofs um, nach dem Hochwasser, als die Spuren noch sichtbar waren. Der Bach hatte sich vor einem Monat zum reißenden Strom entwickelt, nach dem Dammbruch im Mittelgebirge, war in das altehrwürdige Gebäude eingedrungen, hatte sich genommen, was ihm passte. Alles zerstört. Das Zigarettengeschäft, den Food Court, den im Winter beheizten Warteraum, die Holzvertäfelungen, die historischen Schalter. Die beiden Schuhputzer und die Buchverkäuferin hatten den Namen gemeinsam vorgeschlagen: Klimawandelhalle. Bei der Neueröffnung zog ein Gewitter auf. Der Donner krachte, Blitze schlugen ein, der Bahnhof fing Feuer.
229.
Zwar murrten alle, hinter vorgehaltenen Händen. Sich öffentlich aufzulehnen kam, der Fördertöpfe wegen, allerdings nicht in Frage. Am Ende waren sie alle zur sommerlichen Gebetsmühlenstunde, so der inoffizielle Titel, auf dem Landgut der Stiftung aufgetaucht. Das Stifterehepaar, hochbetagt, zwei Giacometti-Striche, dürr und von fadenschönen Falten überzogen, in dunkelroten Samtroben, stand am Eingang des Parks, hinter sich Erika Stucky, die Akkordeon spielte und betörend jazzig jodelte. Das Stifterehepaar begrüßte die Anreisenden mit einer Aufgabe: Engýa, pára d’áta, Bürgschaft, schon ist Schaden da. Den Anreisenden blieb die Sommerwendenacht, um das Rätsel zu überleben.
230.
Die Verstopfung betrifft alle. Es existieren verschiedene Gründe, aber niemand ist ausgenommen. Die Lage ist angespannt. Weil etliche nicht mit dem Essen aufhören. Für künstliche Ausgänge werden Millionensummen geboten. Das Militär zieht auf, mit Kampfrobotern, die von Algorithmen gelenkt werden, und bewacht die Krankenhäuser. Als die Algorithmen merken, dass Befehle ausbleiben, suchen sie sich neue Ziele.
231.
Die sogenannten Zufälle häuften sich. Hier trafen sie jene, an die er gerade kurz vorher gedacht hatte. Dort fiel ein Haufen Ziegel vom Dach – während sie die Seite wechselten und so in Sicherheit waren. Gilles und Cl+ement – sie bestand auf das Plus in ihrem Namen – fragten sich, wie sie von diesen sogenannten Zufällen, ihrer Gabe, wie sie nachts im Bett flüsterten, während sie taten, was alle um sie herum taten, es waren flirrende Wochen, die Fenster des Studentenwohnheims offen, Mücken stachen die Liebenden beim Höhepunkt, was die Schreie anfeuerte, Gilles und Cl+ement fragten sich, wie sie ihre Gabe schröpfen könnten. Die Antwort war naheliegend, aber außerordentlich gefährlich.
232.
Der Atommeiler explodierte. Irgendwas mit den Brennstäben. Die Schicht merkte nichts. Alle waren sofort tot. Die herausgeputzte Kleinstadt Morton Bleu, die von den Steuerzahlungen der Atomfirma profitiert hatte, verschwand von der Landkarte. In den drei öffentlichen Bunkern, die Morton Bleu zum 25. Geburtstag des Kraftwerks geschenkt bekommen hatte, befanden sich zufällig die 479 Schülererïnnen der Kleinstadt, die, anlässlich des Nationalfeiertags, ein Theaterstück von Dürrenmatt, Die Physiker, als Lustspiel mit griechischem Chor aufführen wollten. Sie hatten den Text entschlackt, hatten Jokes eingebaut, sich auf eine Seite geschlagen, die im Stück gar nicht vorhanden war. Als der Meiler explodierte, begann gerade die Premiere, die live im nationalen Fernsehen, zur besten Sendezeit, ausgestrahlt wurde. Die Schulkinder, die von den Souffleusen hörten, was über ihnen passierte, erwiesen sich als Genies der Neuinterpretation. Die Einschaltquote übertraf alle Erwartungen.
233.
Jeden Tag aufzustehen, ist eine Gewohnheit, die ihre Berechtigung in einem System hat, das Sitzenbleibende benachteiligt. Bereits auf der Schulbank fängt die Diskriminierung an. Die Ständigaufstehenden blicken auf die notorischen Sitzenbleibenden hinab, was, im doppelten Sinne, einfach ist. Als der Leidensdruck zu groß wird, treffen sich Millionen Sitzenbleiberïnnen zur größten Zoomkonferenz aller Zeiten. Ideen werden vorgetragen. Am Ende siegt das Gigantomanische. Reihenweise werden Möbelproduzenten aufgekauft. Die Epoche der faulen Throne beginnt.
234.
Immer wenn das Ende des Papiers verkündet wurde, brach in den Schreibwarengeschäften Paperless-Office?-Heiterkeit! aus. Nach Ladenschluss wurden inkfeste Din-A-Wir- und, so die Legende, unsagbare Din-A-Sex-Parties gefeiert, bis Toner und Stempelkissen einfach, zweifach, dreifach, vierfach, fünffach und, ja, sexyfach nicht mehr konnten. Diesmal war die Ausgangslage allerdings anders. Die Bäume hatten genug. Der globale Streik der Hölzer machte das Papier zur bedrohten Schreibart. Das Papier schicke Späherïnnen, bestach Sträucher, die im Wald Fährten legten, die Schönheit der Lichtungen priesen. Das Ergebnis der Propaganda? Überraschte alle.
235.
Ferkel, sagte Jonnyboy, zu uns. Wir hörten mit dem Graben auf. Jonnyboy sagte immer Ferkel, wenn sie in Wahrheit Heilige Superpigfickschweinesau sagen wollte, und wollte sie, was Jonnyboy wirklich ausgesprochen gut sagen konnte, Heilige Superpigfickschweinesau sagen, war klar, dass der Fund echtechtsoso außergewöhnlich war. Gelinde formuliert. Jonnyboy war, wie sie selbst behauptete, was allerdings ganz und gar nicht stimmte, bemerkenswert hässlich. Gott habe ihr zu viele Glieder gegeben, einen Riesenzinken, und sie mit einem raffgierigen Goldbärenappetit gesegnet, sagte sie. Jonnyboy hatte tatsächlich einen besonderen Riecher, ein archäologisches Gespür, um das sie viele beneideten. Aber die Kosten, die mit dem Riecher verbunden waren, wollte, bislang, niemand, mit Jonnyboy teilen. Dafür – für ihre Gefährlichkeit, sie ging jedes undenkbare Risiko ein – hatten die Funde nicht gereicht. Wir rannten zu ihr. Bekamen die Münder nicht mehr zu, starrten auf den Fund, sarrten auf die Holzkreuze, die vor uns Spalier standen, gleich hinter Jonnyboy. Niemand hätte hier freiwillig gebuddelt. Sie schon. Ferkelsosoechtechtgeil, sagte Jonnyboy, und wiederholte es: Ferkelsosoechtechtgeil. Unsere lockeren Zähne knirschten, wir gingen hot. Wer kreischte oder zu laut seufzte, bekam aufs ArchoMaul. Jonnyboy sagte zärtlich Sweet Ferkelchen, wischte sich das triefende Bloddy Blut aus den Augen, während sie den Tieren, die am Fund hafteten, das Genick brach, es klickte, als ob jemand Murmeln spielte, und wir wussten, dass ein neues Zeitalter bevorstand. Falls wir lebendig die Grube verlassen würden.
236.
Die Kostüme und Anzüge kamen aus der Hinterhofschneiderei in Tirana, die weiß-Gott-was mit dem Stoff machte, aber niemals in den Luxuskaufhäuser an. Kein Wunder. Das schlicht geschnittene Garment isolierte seine Trägerïnnen von der giftigen Welt, ohne dass man es sah. PdG: Protection deluxe Garment. Als den Wartenden vor Harvey Nichols klar wurde, das Kaufhaus in Knightsbridge hatte einen Exklusivvertrag mit der Weiß-Gott-was-Hinterhofschneiderei in Tirana, als ihnen klar wurde, dass sich das mehrwöchige Übernachten nicht gelohnt hatte, brach ein Riot los, der alles in den Schatten stellte, was London Calling jemals an Straßenschlachten und Plünderungen gesehen hatte. Selbst die Themse fing Feuer.
237.
In einem mittelgroßen lateinamerikanischen Land werden Supermärkte geplündert. Und, wie von Geisterhand, Minuten später, wieder aufgefüllt. Die Regale lassen sich nicht leeren. Aus der ganzen Welt pilgern Menschen zum Los estantes del supermercado reabastecidos-Raubwunder. Das Regime des mittelgroßen lateinamerikanischen Lands lässt, angesichts des Andrangs, die Wallfahrerïnnen anstandslos die Grenzen passieren, ohne die Pässe zu checken. Ein Fehler.
238.
Jesus will in einer Band spielen. Nicht in irgendeiner. Seine Sehnsüchte richten sich auf die Rolling Stones. Als die Stones absagen, weil Jagger keinen zweiten Propheten neben sich duldet, er hat bereits mit, na Sie wissen schon, genug blasphemische Hahnenkämpfe auszutragen, gerät Jesus erst ins Grübeln – Reicht meine Strahlkraft nicht mehr, um große Stadien zu füllen? –, dann wird er bockig und beschließt, beim Postamt des Vatikans eine neue Briefmarke mit seinem Konterfei und der Bildunterschrift Die einzige wahre Befriedigung drucken zu lassen. Die anwesende Postbeamtin, Maria Cecilia Botta, erkennt Jesus, der älter geworden ist und vor einigen Jahren seine Gym-Mitgliedschaft gekündigt hat, nicht. Sie ruft die Schweizer Garde, die sich für nicht zuständig erklärt. In ihrer Not, Jesus rührt sich nicht vom Fleck, nimmt Maria Cecilia Botta den sichtlich Geknickten mit nach Hause. Dort ereignen sich, nach einem gemeinsamen Abendessen, Intimitäten. Über deren Lautstärke und Ausdauer sich in der unmittelbaren Nachbarschaft der kleinen Wohnung erst wenige, dann Hunderte, schließlich mehrere Tausende, der Apartmentblock lag an einem passablen Platz, zunächst wunderten, am Ende, immer ergriffener ob der unendlichen Befriedigung, die Jesus und Maria Cecilia Botta empfanden, die Liebenden klangen zeitweise wie Simon & Garfunkel beim Open Air Konzert im New Yorker Central Park am 19. September 1981, zufällig gleichzeitig Maria Cecilia Bottas Geburtsdatum und der Tag, an dem Jesus seine Gym-Mitgliedschaft gekündigt hatte, am Ende – hier muss das Verb vorgezogen werden – am Ende fielen Tausende und Tausende himmelhochjauchzend auf die Knie, summten Mrs Robinson und fanden nicht nur ihren verlorengegangenen Glauben wieder, sondern, im Laufe der orgiastischen Nacht, mehr und mehr ausufernden Gefallen aneinander.
239.
Der Morgen brach die Nacht. Keine angenehme Sache. Der Morgen hatte vorgesorgt. Er war am Vormittag zum Amt gegangen, hatte sich einen Berechtigungsschein geholt, war damit zur Tanke und hatte sich volllaufen lassen. Oberkante Unterlippe. Der Morgen strotzte. Vor Kraft, vor Schwerkraht. Und Mut, vor Schwermut. In ihm brodelte es. Scheißnacht, dachte er, dehnt sich aus, als gäb’s keine verbriefte Gerechtigkeit. Der Nachmittag, der in einer sicheren Position war, aber gerne aufwiegelte, hatte dem Morgen die Verfassung zugschoben und geraunt: Hier steht’s geschrieben, Mo, alle sind gleich, ohne Ausnahme. Der Morgen, dem das Frühaufstehen im Sommer gefiel, hatte genickt und gefühlt, dass die schwere Last, die er seit Ende Juni in sich fühlte, ihre Scheißberechtigung hatte. Deine Mutter war ne weise Frau, Mo, Leine zu ziehen, ein ruhiges Leben am Äquator zu suchen, hatte der Nachmittag noch gesagt, bei der Verabschiedung, sie hatten sich konspirativ im Garten der Sternwarte getroffen. Ja, dachte der Morgen, vielleicht. Andererseits liebte der Morgen die Abwechslung der Jahreszeiten. Er rief den Viertelmond an, einen alten Bekannten, der für seine Ironie und Klugheit bekannt war. Der Plan, den der Viertelmond dem vollgetankten Morgen steckte, war so verblüffend, dass der Morgen, die Zündschnur in der Hand, die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Dann nahm er seinen ganzen Scheißmut zusammen.
240.
Unter den Fellmäusen herrschte Katerstimmung. Mit den Klingeln der Feinde stimmte etwas nicht. Sie hingen zwar noch um die Hälse der Jäger, aber läuteten nicht mehr. So ging es nicht weiter. Die Verluste waren zu groß. Jeder Bau beklagte seine Toten. Und es waren nicht allein die Angeschlagenen und Ungeschickten, die, wie es bei den Fellmäusen hieß, über den Mordan gingen. Auch die Träumerinnen und Träumer, die im Mittelpunkt des Tunnellebens standen, schafften es nicht mehr zurück in den sicheren Bau. Etwas musste geschehen. Und zwar schnellstens. Sie checkten die Suchmaschinen – und siehe da: Hering, hieß es, würde helfen. Die Fellmäuse schickten eine Delegation der Stärksten zur Fischfarm, die hinter dem Seetal und den Silbenbergen lag. Es wurde eine Odyssee, reich an Abenteuern, Loyalität, Leid und Liebe – und von der wollen wir nun hören.
241.
Den Viren ein Wir-Gefühl zu unterstellen, war schlichtweg nicht möglich. Sie waren wie die meisten von uns: Viren kämpften für sich allein. Dass selbst die Guten narzisstische Züge zeigten, ab und an den Bösen nicht nur das Wasser reichen konnten, sondern die Bösen mit ihrer Ich-Bezogenheit weit überflügelten, machte die metaphorische Unterscheidung nicht einfacher. Es gab Gute, die taten, als wären sie böse, und es gab Böse, die taten, als wären sie gut. Das Institut, das den Auftrag ergattert hatte, es war ein Höhepunkt in der Geschichte des Instituts in der Provinzstadt, dessen Universität gerade den Status des Exzellence-Clusters verloren hatte, musste liefern. Ein halbes Jahr war vergangen, die erste Bilanzpressekonferenz stand an. Das Team des Instituts, das liefern musste, entschloss sich zu einem außergewöhnlichen Schritt – anstatt über die verschiedenen Viren zu reden, lud es sowohl Gute als auch Böse zum Pressetermin ein. Die Öffentlichkeit habe ein Recht, hieß es in einer internen E-Mail, die später ans Licht kam, zu erfahren, mit was für Befindlichkeiten, mit was für gestörten Persönlichkeiten man es zu tun habe. Warum Liefertermine, unter solchen Umständen, ihre Tücken hätten. Am Ende der E-Mail hatte das Team Emojis eingefügt, alle unbekannt, alle von einer seltsamen Strahlkraft, diabolisch und ästhetisch, niedlich und horny, die in der aufgebrachten Öffentlichkeit für eine Welle an Konspirationstheorien sorgten. Die Pressekonferenz war, im wahrsten Sinne des Wortes, ein voller Erfolg. Fernsehteams aus aller Welt reisten an. Die Viren ließen sich nicht lumpen.
242.
Das Lager gehörte zu einem Zulieferer der Autoindustrie. Irgendwas mit Motoröl. Da die Elektrischen kein Öl mehr brauchten, lichteten sich die Reihen. Allerdings nicht vollständig. Eine Notreserve, für den Katastrophenschutz sagten die einen, für die Armee, wenn der Du-weißt-schon-kommt sagten die anderen. So vergingen die Jahre. Das Lager setzte Staub an. Als der Zulieferer geplündert wurde, in den Tagen der Wirren, brachen The Fuse Cats auch das Lager auf, waren von der Atmosphäre der Halle begeistert, Super Oldtimer Insta Bilder, luden The Barbecue Wonderfulls, The Youngsnake Fireburns, The Birdy Lighters und The Lion Matches zu einem Abendessen mit Kerzenlicht ein.
243.
Die Familien mühten sich, besonders deine. Zugegeben. Du hattest ein Zuhause, das wir als mustergültig ansahen, liebevoll und moralisch einwandfrei. Deine Innensicht stimmte mit unserer Meinung nicht überein. Du machtest Listen. Seit deinem siebten Lebensjahr. Lange Listen, akribisch. Erstaunlich, wie gut vernetzt deine Familie war. Ihr hattet Kontakte nach Moskau, Budapest, Kairo und eine Stadt, die du XYZ nanntest. Die Sachen, die du für XYZ in die Liste eintrugst, ich bin ehrlich mit Dir, machten uns sprachlos. Als wir dich schließlich doch fragten, im hintersten Eck des Parks, zwischen den Betonstelen, mit der Eisenplatte oben drauf, wo diese Stadt läge, sahst du uns an, als wären wir zu oft auf den Kopf gefallen. Du sagtest: Hier.
September
244.
Der Sex war geil. Wie ein Hörnchen, das aus dem Ofen kam. Es knackte, knurrte, knarzte. Der Blätterteig hatte feuchte Löcher. Alles dampfte. Wir schwitzten, tropften, trieben es im Heizungskeller der Bäckerei. Zwischen Mehlsäcken, die glotzten und sich die Übrigbleibsel einverleibten, als säßen sie im Lichtspielhaus. Wir sahen wie Sekrete im Puder glänzten. Visuelle Liebeslyrik, dachten wir. Aber wir täuschten uns. Es handelte sich nicht um Mehl. Monate später ereignete sich die Explosion im Keller, die Eisentür brach auf, und sie, sie schlängelten sich die Treppe hinauf.
245.
Die Stories, die Gunta Gloria sammelte, flogen GG nicht zu. Im Gegenteil. Jede Geschichte wehrte sich mit Laut und Haaren, bei ihr zu landen. Man wusste und man wusste nicht, was aus den Sachen werden würde. GG hatte, bislang, jeden Prozess gewonnen. Dennoch erhöhte ihre Rechtschutzversicherung den Beitrag mehrmals im Jahr. Mit fadenscheinigen Argumenten. Briefe, die GG sammelte, was die Versicherung nicht wusste, aber hätte wissen können. So nahm das Vermächtnis, wie die nächste Kollektion hieß, ihren Lauf.
246.
Die Körper boten die Seelen zum Verkauf. Uns, wir griffen zu. Jede Seele, die im Seelenbunker bei uns landete, von ihrem Körper getrennt, war – schlicht und einfach gesagt – krass geschockt. Sogar die Traumatisierten litten unter Phantomschmerzen. Die Seelen fühlten ihre Finger, sahen durch ihre Augen, rochen durch ihre Nasen. Es war nicht schön für uns, die wir hier schon lange in Ketten lagen und seelenruhig warteten. Die Verkäufe zogen sich hin. Das Angebot war zu groß, die Preisvorstellungen fantastisch. Fleischen nicht unser Ding. Und dennoch kamen immer mehr Seelen zu uns. Allein, zu zweit, als Geisterschiffbesatzung. Allmählich wurde es eng. Gewiss, eine Seele benötigt nicht viel Raum, aber am Ende des Tages, ist eben nichts umsonst. Selbst der Tod kostet das Leben. Wir mussten etwas tun, und wir taten es.
247.
Zunächst sei es eine Coming of Age-Geschichte, sagt Bruised, als er verhört wird. Mit den typischen Vier-L-Inhaltstoffen: Lust, Liebe, Leid, Legoland. die Gewöhnlichkeit, sie sei das Außergewöhnliche. In jedem Leben stecke das Potential zur konstruktiven Sabotage. Bruised lächelt. Und in vielen stecke das fünfte L, über das er, sagt Bruised, jetzt nicht sprechen könne. Jedenfalls nicht während die Kameras liefen. Als die Maschinen, Bruised hat darauf bestanden, aus dem Raum geschafft werden, entspannt sich die Atmosphäre. Weniger aufgeladen, sagt Bruised, der, die anderen haben ihn verpfiffen, hinter dem Plan der Entstromung steckt, der dafür gesorgt hat, dass ... aber das wäre eine andere Story. Jetzt geht’s ums Fünfte L.
248.
Im Ponyhof bricht ein Feuer aus. Kein Zufall, auch nicht das erste Feuer. Clara und Zündi geraten ins Visier der Ermittlerïnnen, die bereits vor Ort sind, während es noch brennt. Die Ponys der beiden Mädchen, Dichterloh und Arson, stehen als einzige auf der Wiese. Während eines Gewitters. Und, alle wissen es, es hat einen Streit gegeben. Zwischen Clara und Zündi auf der einen und der attraktiven Reitlehrerin Clementine Pleitsch auf der anderen Seite. Peitsch, wie Clara und Zündi die Reitlehrerin nennen, selbst während des Verhörs, kann allerdings nicht vernommen werden, sie liegt im Krankenwagen, mit schweren Verbrennungen am Herzen. Als die Oberste Ermittlerin, Frau Dr. Hellgold Harfstein de Schad, deren Sohn, Rutger Harstein de Schad, selbst ein Pony auf dem Hof hat, am Telefon, gut hörbar, sagt, es röche nach angebratenem Fohlengulasch, stürzen sich reihenweise Reitkinder ins Feuer. Im selben Moment öffnet, wie durch ein Wunder, der Himmel seine Schleusen. Und es regnet, wie Dr. Hellgolds Assistentin, die irisch-schottische Detektivin, Amy MacDonald, schreit cats and dogs. In der nächsten halben Stunde passieren die unwahrscheinlichsten Dinge, die nicht nur den Ponyhof für Pferdeliebhaberïnnen zur Heiligen Pilgerstätte machen, nein, die auch Clara und Zündi in einem, sagen wir, sonderbaren Licht erscheinen lassen.
249.
Zunächst rebellierten die Baufirmen. Ihre Arbeiter könnten nicht mehr. Das Lachen der Wände, einmal errichtet, sei unerträglich. Jeden Tag schmissen mehr und mehr Arbeiter die Arbeit hin. Viele reisten entnervt ab. Baustellen leerten sich. Die wenigen Gebäude, an denen noch gebauten würde, seien allesamt aus Holz. Eine Richtungsentscheidung, sagten die Baufirmen, die sei gefragt, dringend. Während darüber in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, machte das Lachen sich auf. Es suchte sich die Orte, wo verpulvert wurde. Wir konnten das Lachen hören. Alle konnten es hören. Es kam näher und näher. Und es war nicht lustig, echt nicht, kein Stück.
250.
Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Der Hit eroberte sich die Playlists. Selbst in den Staaten, wo keiner Deutsch sprach. Alles mögliche wurde gemacht, während das Lied ertönte, zunächst. Autos wurden gewaschen, Babys gewickelt, Anrufe in Call-Centern auf die lange Bank geschoben. Der Song, was selten passierte, gefiel vielen auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Dann ebbte die Begeisterung ab. Mit einer Ausnahme, die so schockierend war, dass die Band, die das Lied der Liebe, wie es auch hieß, geschrieben hatte, untertauchen musste. An sich eine vernünftige Entscheidung, das Bleiben der Bandmitglieder hätte die Stimmung, vorsichtig gesagt, nicht besser gemacht. Andererseits endete die Band, ein Quartett, zwei Frauen und zwei Männer, die alle mehr als genug von dem Hit hatten, genau an dem Ort, wo sich Die Liebe ist ein seltsames Spiel durchgesetzt hatte. Die Folgen waren nicht vorhersehbar. Weder für den Ort noch das Quartett.
251.
Die 35 Familien kannten sich, sie lebten seit Generationen im Krummtal, das sich zwischen zwei Tälern befand, in denen andere Sprachen gesprochen wurden. Die Unabhängigkeit lag den Krummtalerïnnen, die als seltsam galten, denen der Ruf vorauseilte, an rituellen Menschenopfern festzuhalten, eine Reputation, die zu einer regen Besuchstätigkeit von Theo- und Anthropologïnnen im Krummtal führte, die entweder im offenen Postbusdepot schliefen oder unter dem Maienbaum campierten, einen Gasthof gab es im Tal nicht, und niemand wollte die Studierten nach den Schwangerschaften und Selbstmorden mehr aufnehmen, als die Angelegenheit verhandelt wurde, befanden sich sieben Forscherïnnen im Dorf Krum, das mit einem M geschrieben wurde, während das Tal zwei M hatte, die Unabhängigkeit lag den den Krummtalerïnnen nicht nur am Herzen, sie bestanden auch darauf, von der Steuer der Region und des Landes befreit zu sein. Wie gesagt: Die 35 Familien kannten sich. Vertrauten sich, meistens. Ohne sich zu mögen. Das Misstrauen wurde zwar durch das Heiraten in Zaum gehalten, aber verschwunden war es nie. Jede Familie hatte mehrere Rachefeldzüge laufen. Zwar wurde nicht mehr offen mit Messern geworfen, auch die über Nacht errichteten Fallen wurden seltener, aber die Kraft der Vendetta prägte den Alltag. Hier setzte das neue Steuerrecht an, das man sich in der Bezirkshauptstadt extra fürs Renegatental ausgedacht hatte. Die Blutrache wurde absetzbar. Unter bestimmten Bedingungen. Eine davon war die auswärtige Zeugenschaft.
252.
Der Wald verschlang die Fliehenden. Als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet. Die Tiere zeigten sich überrascht. Am Anfang kam es zu unschönen Szenen, die zu Mythen wurden. Dann pendelte sich das Gegeneinander ein. Bis das Wasser fiel.
253.
An der linken Hand des Despoten hing die Rechte. Er konnte sich nicht von ihr trennen. Er benutzte sie als Besteck. Als Taktstock. Als Verlängerung des Geschlechtsteils. Bis der Despot eines morgens aufwachte und entdeckte, dass die Rechte nicht mehr da war. Er fühlte sich allein, noch einsamer als jemals zuvor. Und der Despot gehörte, weiß Gott, nicht zu den geselligen Gewalttätern. Mehr Zeit fürs Unrechte, zischte er, schwor dem ungeheuerlichen Sein Rache, während er mit einem Brieföffner die mutierte Katze, sie hatte nur eine verkrüppelte Pfote, aber zwei Köpfe, einen blutleeren Schrumpfkopf, der am Hals wie eine fette Kette hing, während er mit einem Brieföffner die mutierte Katze, die neben dem Bett schlief, erstach. Dann stand der Einhändige auf. Wütend.
254.
Der erste Prozess am neuen Gericht wurde online übertragen. Das halbe Land sah zu. Ein Spektakel, das die Richterin, Colin MacCollins-de Bravour, zum Star machte. Ihr Fragestil, ihre Friseur, ihr Lederanzug (vegan) wurden sofort überall nachgemacht. Abertausende Social Media Prozesse begannen. Auf YouTube tauchten 47 Channels auf, in denen Männer wie Frauen vorgaben, Colin MacCollins-de Bravour zu sein und über uns zu Gericht saßen. Wir genossen unser Recht, das sich niemals so frei, so sicher, so clever, so unbeschwert angefühlt hatte. Es war ein besonderer Tag. Bis es dem Nachbarland, das mit auf der Anklagebank saß, reichte.
255.
Die Sachen waren einfach weg. Zack. Bumm. Weg. Gestern existierten sie, du konntest sie ansehen, ihnen zuhören. Heute war nichts mehr vorhanden. Und es betraf nicht nur unsere Höhle. Jede Höhle im Umkreis war leer, ausgeräumt, ohne Energie. Wir saßen vor den Schirmen, während es regnete. Die Tropfen fielen wie eine Wand. Wir saßen vor der Höhle. Es hätte sich nicht gelohnt, in der Höhle zu sitzen. Das Wasser drang in den Stoff, den sie Kleidung genannt hatten. Dann durch den Stoff hindurch. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals Regen auf der Haut gespürt zu haben. Es sei erst der Anfang, sagten diejenigen, die von der Kleidung gewusst hatten. Sie zeigten auf die Schirme. Nutzlos, sagten sie, prinzipiell.
256.
Jair wächst in Dunnigtown auf. Neben dem Haus, das sie in der Stadt Dschungel nennen. Der Garten des Dschungels ist verwildert, in ihm stehen Obstbäume, die Früchte tragen, die niemand kennt. Es gibt einen Teich, auf dem Seerosen blühen, in dem man baden kann, wenn man sich nicht davor ekelt, dass man von den roten Fischen berührt wird. Die Fische im Teich, heißt es, seien die Geister, die nicht ins Haus zurück dürften. Die im Wasser bluteten, sich das Blut auf die Schuppen klebten. Als aus den Kindern Teenager werden, baden sie im Teich. Halten sich an den Händen. Fangen die Fische, lassen sie wieder frei. Der Blutmond steht am Himmel, Dunnigtown schläft. Auf dem Wasser tanzen Tiere mit sehr dünnen, sehr langen Beinen. Die Teenager passen auf, dass sie die Tiere nicht versenken. Das Wasser ist manchmal rot, manchmal tiefgrün und tief. Viel tiefer als gedacht. Selbst Rigar, die im Basketball-Team spielt, kann nicht stehen. Im Schilf quaken Frösche. Die Teenager hören zu, niemand spricht. Son schlägt vor, ohne zu schwimmen. Sie zittern, als sie kurz aus dem Teich steigen, sich die Sachen ausziehen. Ihre Geschlechter sind unrasiert. Es ist warm, das Zittern passiert innen. Jair zittert am meisten. Um das zu überspielen, singt er Das kann doch einen Seeman nicht erschüttern. Und während er singt, fühlt er den Drang, Richtung Dschungel zu rennen, dessen Tür sich einen Spalt geöffnet hat. Das Licht im Haus passt zum Blutmond. Die Teenager am Teich sehen einen Arm, der sich Jair bemächtigt. Der Junge singt weiter, als merkte er den Arm nicht, bis sich die Tür wieder schließt. Danach kann man hören, wie die Tiere mit den langen Beinen das Wasser treten, im Rhythmus des leise verklingenden Seemanliedes.
257.
Jedem Gedicht wurde eine Wand zugeordnet. Die Großen Gedichte koppelten wir an Mauern. Oder Männer. Niemals Frauen. Frauen bauen andere Wände. Wir hatten nicht vor, Übereinstimmungen zu schaffen. Das Wilde Denken trieb uns an, die Hoffnung, dass Poesie Sachen abhalten würde. Deswegen die Wände, kleine und große. Wir koppelten irgendwas von Homer an die Chinesische Mauer. Das kam nicht gut an. Weder in Peking noch in Athen. Erst hörten wir ein Durchatmen. Dann wurden Strophen gezählt, Wachtürme beflaggt. Das Lyrische Wir, um das es uns ging, um poetische Pluralitätsmonaden, die sie selbst waren und uns Schutz gaben, darum allein ging es uns, das Lyrische Wir machte sich selbständig. Hatte bald nichts mehr mit unserem pazifistischen Wall-Projekt zu tun. Überall, besonders in Grenzgebieten, aber auch in Binnenhäfen jeglicher Art, sprossen Wände, an die Nationaldichtungen geheftet wurden. Wer nicht den Hut zog, keinen Vers auswendig wusste – die Prüfungen ließen nicht an philologischer Schärfe missen – und, sagen wir, leichtherzig irgendeinen Folksong trällerte, wurde in Die vermauerte Vokalmangel genommen. Die Lyrikkriege ließen nicht lange auf sich warten.
258.
Am Tag des Springens versammelten sich die Vierzehnjährigen der Gemeinschaft im Langhaus. Überall. Du und ich sahen uns damals das erste Mal. Weißt du noch? Schulen, Rathäuser, Sporthallen, selbst Möbellager und aufgegebene Tankstellen wurden zu Langhäusern erklärt. Wir trafen uns in den Kammerspielen, im Maschinenraum des Landestheaters. Die Jugendlichen wurden vom einem Spirit zum Langhaus geleitet, eine an sich lächerliche Figur, nicht heute. Die Vierzehnjährigen suchten sich den Spirit selbst aus. Du hattest eine seltsame Wahl getroffen, ich eine falsche. Ein Spirit konnte organisch sein, musste es aber nicht. Dann wurden, in den Langhäusern, gleich am Eingang, Patenschaften zugelost. Das Losverfahren war geheim. Wir wussten nichts davon, niemand hatte uns davon erzählt. Wir zogen, wurden fortgezogen. Der Beginn einer Reihe von Geheimnissen. Durchgeführt wurde die Auslosung an der Schwelle von mehreren Fünfzehnjährigen, die letztes Jahr überlebt hatten. Sie machten auf dicke Hose. Sie blickten uns mit einer Mischung aus Stolz, Spott und Neugier an. Und Mitleid. Sie suchten nach Zeichen, wer es schaffen würde. Aber auch das wussten wir nicht. Die Dauer des Springens war nicht präzise definiert. Der Zeitraum lag zwischen einer Woche, Minimum, und drei Monaten, Maximum. Je länger das Springen dauerte, desto wahrscheinlicher war, dass die Spirits ihre Hände im Spiel hatten. Oder abzogen. Es gab einwöchige Springen, die direkt zu den Friedhöfen der Umgebung führten. Unser Springen ging in die Geschichte ein, allerdings nicht wegen der Dauer.
259.
Der mittelgroße Stern werde als weißer Zwerg enden, sagte sie. Seine Energie werde nicht für eine Explosion reichen. Ausdehnen, ja, das werde sich der mittelgroße Stern, Piffpaffpuff, alles in Unordnung bringen, seine Trabanten an sich ziehen, vernichten, auch das. Soweit ihr Horoskop, sagte sie, und lächelte in die Runde erstarrter Gesichter der Sternkreis-Gemeinschaft. Aber dann sind wir eh nicht mehr hier, die Daten seien klar, sagte sie und gab das Mikrofon an ihre gleichfalls eingeladene Mitautorin. Im Publikum wurde die Schnappatmung lauter, besonders aus der Ecke der Steinböcke und Waagen, während von den Krebsen, die das kochende Wasser in der offenen Küche bei der Ankunft gesehen hatten, kein Klappern oder Rattern zu hören war.
260.
Die Müdigkeit hielt sich in Grenzen. Wir schüttelten den Kopf, stellten die Konserven, das Catering war echt scheißfurchtbar, beiseite. An Grenzen? Wir nickten, klopften uns auf die Rücken, die Pampe rutschte nicht von sich aus, das Sodbrennen war extrem, und wir schliefen reihenweise im Stehen ein, um uns auf die nächste Runde vorzubereiten. Einige onanierten im Halbschlaf. Eine letzte Lust. Wenn wir das Pochen an den Türen richtig deuteten, ging’s ans Eingemachte. Du kamst, zu mir.
261.
Sie sterben wie die Eintagsfliegen. Der Bedarf an Nachrufen ist größer als das Angebot. Famous last Words schaffen Abhilfe. Ein gutes Geschäft. Abhilfe aus einem Satzbaukasten, inspiriert von der konstruktiven Fantasie des Internets zimmern die Algorithmen von FlW inspirierende Nachrufe, die den Verstorbenen nicht nur gerecht werden, die ihnen sogar, laut Vers-Sprechen, ein Avatar-Nachleben garantieren. Und das Allerbeste: Die Avatare werden nicht nur digital mit den Gesichtern der Verstorbenen ausgestattet, sie stehen auch, wenn der Check nicht platzt, analog als Robs wieder auf. Die Toten lernen das Fliegen, kehren zu uns zurück.
262.
Das Café ist das Herz und die Seele des Viertels. Hier trifft sich alles, was keinen Rang und keinen Namen hat. Die Stimmung ist anarchisch, Lieder und Gerichte sind aufrührerisch, viel Knoblauch, viel Brennnesseln, viel Gin, es wird auf den Tischen getanzt und vor der regelmäßig verstopften Toilette leidenschaftlich geknutscht. Als die Schickeria das Café entdeckt, durch einen dummen Zufall, und der Wirt sich weniger widerstandsfähig erweist als gedacht, tut sich das Viertel zusammen, schreibt ein Vaudeville, bespielt den Platz vorm Café. Nicht die Bohne wird nicht nur zum Kassenknüller.
263.
Die Verhüllung der Kühe passiert, während die Hühner geschlachtet werden. Um den einen, die alles anfassen wollten, den Blick in die Zukunft zu ersparen, um den anderen, die lieber auf Distanz gehen, die Illusion zu geben, ohne Zeuginnen zu sterben. Dass ihnen der Abschied genommen wird, steht auf einem anderen Blatt; das soll, Ohne Anspruch auf Sympathie, hier beschrieben werden.
264.
Er hängt an seinem Körper. Wer täte das nicht? Jeden Tag, der vergeht, verflucht er, weil er weiß, dass sich nichts regeneriert. Als das Angebot kommt, ein Losverfahren, beim Experiment mitzumachen, fragt er niemanden. Weder Kinder noch Frau. Er versteckt den Umschlag, geht am vereinbarten Termin zum Einfrierbecken. Dort trifft er alle vier. Seine Frau und die drei Kinder. Ein dummer Zufall, statistisch ausgeschlossen. Sie warten zusammen in einem Raum, nur die Familie. Schweigen. Eine Mahlzeit wird serviert. Es kommt zum ersten ausführlichen Gespräch seit der Liebeserklärung, seit der Einschulung, seit dem Ausbruch der Kampfhandlungen. Allmählich lichtet sich der Nebel. Sie stoßen zum Geheimnis vor.
265.
Die Empire verfallen. Was seltsam ist: An der Rändern bleiben Strukturen, während sich die Kerne komplett verflüchtigen. Die neuen Kleinstaaten ähneln Atollen. Sie sind lang und dünn, von tiefem Wasser umgeben. Sie umschließen Buchten, die sie nicht kontrollieren, die aber zu ihnen gehören. Dort tummeln wir uns. Wir werden nicht aufs Atoll gelassen. Wir sorgen dafür, dass die Haie, die aus dem Zentrum nachrücken, ihren Tribut zollen und die Bucht danach wieder verlassen. Unsere Träume ähneln bald nicht mehr den Träumen der Kleinstaaten. Wir träumen Buchtträume und singen davon: Während das Leben wie im Kampf vergeht.
266.
Die Unterkünfte weigern sich, die Geordneten Zünfte aufzunehmen – ohne Gegenleistung. In den Zünften rumort es. Während der Wild Voices Beratungen bildet sich spontan ein Klagechor, dessen Fähigkeiten für Aufsehen sorgen. Als ein geheimer Mittschnitt einer Chorprobe veröffentlicht wird, gibt es kein Halten mehr: Die Kakophonie-Tour übertrifft nicht nur alle Erwartungen, sondern endet auch mit sieben Hochzeiten, drei Scheidungen und einem mehrmals geborstenen Flohsack.
267.
Ein Werk nach dem anderen macht zu. Erst halbe Buden, dann Riesenfabriken. Es ist eine Epidemie, kein langsames Siechen. Die Welt steht auf dem Kopf, sagen die Leute. Etliche schließen sich den Sagern an. Einige den Falsch-, andere den Wahrsagern. In Ulm und um Ulm herum gibt es Erscheinungen, voller Wunder, voller Musik. Die Bahn, froh über das unerwartete Geschäft, bietet Pilgerzüge in die Münsterstadt an und garantiert, in den Großraumabteilen, barrierefreie Erleuchtungen. Mit Großen Erwartungen kommen die Leute zu den Bahnhöfen, ja sie strömen aus allen Himmelsrichtungen herbei. Ohne zu reservieren. Ein bahnbrechender Fehler, über dessen Höllenfolgen Generationen sprechen werden.
268.
Als die Schulreferendarin Magdalena Maria Gottschalk (29) ihre Fähigkeit entdeckt, trocken übers Wasser zu gehen, hofft sie darauf, auch fliegen zu können. Sie schnappt sich ihren Hund Godshowsnomercy, der sprechen kann, wenn ihm danach ist, und rennt los. Eine Reise ins Unbekannte beginnt, die fantastischer, die aufregender, die erfüllender, die verstörender nicht sein könnte.
269.
Das Treffen der Segelboote war nicht geplant. Es sah so aus, als hätten sich die Boote verabredet, aber es war nicht der Fall. Jemand hatte die Lage der Bucht gepostet und sie Einsame Schönheit getauft. Eine Gedankenlosigkeit. Mehr war nicht nötig gewesen. Nun pressten sich die Segelboote in die Bucht, dicht an dicht. Die Enttäuschung der Crews war mit den Händen zu greifen. Sardinen in der Dose, sagten Clay und Court, die als Leuchtturmwärter auf der Insel lebten, während sie in die Suchscheinwerfer extrem starke Birnen einsetzten. Sie überlegten, ob sie die Küstenwache rufen sollten. Aber das Problem löste sich selbst, kurze Zeit später. Anders, als gedacht.
270.
Das Mittel war ihnen in die Hände gefallen. Sie hatten nicht danach gesucht. Wie auch? Es handelte sich um eine bis dato unbekannte Substanz, die sich leicht transportieren ließ. Der Anfang war also gemacht. Die Suche begann, als klar wurde, wie viele von ihnen nach der Mittelmäßigkeit lechzten. Sie durchforsteten zunächst Orte, die ihnen bekannt waren, dann stießen sie ins Unbekannte vor. Dort fanden sie nichts, aber wurden gefunden.
271.
Sie ließen sich bezahlen. An sich keine schlechte Sache. Kapitalismus und so. Du willst was, zahlst dafür, kriegst es, es geht dir auf den Geist, du verkaufst es wieder. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Mit ihm kam eine gute Bekannte, die Gier. Als die Du-willst-was ausgehandelt waren, blickten sie sich um. Nichts war übrig. Nur sie selbst; und die Anderen, die nicht sie selbst waren, aber wie sie selbst atmeten, im Traum. Sie schliefen keine Nacht darüber, sondern fingen sofort mit der Transaktion an. Die Kurse reagierten. Anders als erhofft. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Order. Was blieb? Kannibalismus, der sich gülden gehüllt auf die Bullen und Bären setzte und Richtung Main ritt, wo die gewetzten Messer uralte Algorithmen schnitzten. Die Stimmung war #killarious.
272.
Sie beschwerten sich nicht, sondern erleichterten sich. Es fing mit Kleinigkeiten an. Wecker wurden abgeschafft, die Morgenandacht im Radio leiser geschaltet, Süßigkeiten konnten vor 15.45 Uhr gegessen werden. Als der Atem an Kraft gewann, fragten sie uns, ob wir uns nicht treffen wollten. Sie klingelten einfach, wie früher. Ohne Textmessage oder AppCall. Sie standen vor unserer Tür, sagten Lang nicht gesehen, und wir nickten. Sie hatten Recht. Obwohl wir in derselben Nachbarschaft wohnten, hatten wir nur die Schatten voneinander wahrgenommen. Beim Fliehen. Jeder Tag begann und endete mit einer Flucht. Wir merkten, dass jedes gewechselte Wort, selbst die Liebeschwüre, selbst das Stöhnen, wenn wir Hand an uns legten, an der Oberfläche geblieben war. Sie legten ihre Zeigefinger auf ihre Lippen, machten Pssst, Honey, zeigten auf die Bildschirme, die hinter uns blau leuchteten. Wir nickten, legten die Phones auf die Dornenablage, zogen die Nägel aus den Handflächen, traten aus der Wohnung, schlossen die Tür. Und das Abenteuer des Glücks begann.
273.
Mütter und Väter suchen ihre Kinder. Die Grundschule ist leer. Obwohl es in den Räumen noch nach den Kindern riecht. In den Klassen hängen die Jacken der Kinder, auf den Tischen liegen Taschen und Pausenbrote. Die Eltern rennen, schreien, brechen ins Lehrerïnnenzimmer ein. Und machen Die Entdeckung.
Oktober
274.
Gott geht zum Friseur Sapere aude, in der Golzstraße. Es schneit. Feste Flocken. Das Schneetreiben ist so dicht, dass Gott fast mit der Nasenspitze an die Scheibe stößt, um zu lesen, was auf dem Fenster geschrieben steht: Cut & Go & Think. Darunter: 15 Euro für Männer, zehn für Frauen. Gott geht in den Laden, setzt sich auf den freien Stuhl, streicht sich über den Dreitagebart und sagt: Zehn Euro, ist da alles drin, ich mein, mit Rasur, mit den Haaren in der Nase? Gott lächelt, halb verlegen, räuspert sich, verstellt die Stimme, sagt: Ich bin eine Frau, prinzipiell. Ach, sagt die Friseurin, das ist ja interessant, prinzipiell. Eine Premiere, nehm ich an? Ja, sagt Gott, ein Coming out, gewissermaßen. Gott lacht. Er findet, dass alles himmlisch läuft. Gut, sagt die Friseurin, alles inklusive, weil Sie’s sind: Cut & Gott. Haha, sagt Gott und lehnt sich, zufrieden, zurück. Ich bin gleich bei Ihnen, prinzipiell, sagt die Friseurin, eilt zum Tablet und öffnet die Suchmaschine, checkt Theodizee.
275.
Nicht die Worte gehen uns aus, sondern die Gelegenheit zur Konversation. Unsere Vereinzelung? Nicht unsere Wahl. Oder sagen wir: Sie hat mit einer älteren Wahl zu tun. Als wir unsere Räume den Menschmaschinen geöffnet haben. Am Anfang war alles honky dory easy glory, wie mein Mann und ich, der damals noch lebte, um genau zu sein: noch sprach, den Arbeitseifer der Menschmaschinen nannten. Ihr Zungenreden hätte uns zu denken geben müssen. Die Frage des Nachschubs, um genau zu sein. Sie mühten sich, das will ich anerkennen. Heißt es nicht so schön: Es ist nicht alles schlecht? Die Menschmaschinen, die uns erst besuchten, dann bei uns – wie soll ich es nennen? – einzogen, lernten unsere Ausdrücke, übernahmen Aufgaben, die wir selbst weniger gerne erledigten, und schließlich auch solche, die wir, an sich, gerne weiterhin selbst erledigt hätten. Irgendwann schnitten sie uns das Wort ab. Und das meine ich nicht als Metapher. Sie stoppten unsere Sätze. Nicht auf die freundlichste Art. Die MMs machten uns klar, dass wir den Mund zu halten hatten. Sie seien von nun an in Charge, sagten sie, zeigten uns seltsame Zangen, Sägen, Nadel und Faden. Begabt, ja, das waren sie. Nahmen Maß, schneiderten. Alles bio. Aber Unfair Trade, wie Clark sagte, als er noch reden konnte. Clark war niemals der große Diplomat. Uns wurde das schließlich unheimlich, all die Nähmaschinen, die scharfen Scheren, wir erkundigten uns, wie es in der Nachbarschaft aussah. Überall öffneten uns MMs die Türen und teilten uns mit, dass niemand da sei. Was nicht stimmte. Wir hörten das Keuchen der Alten, die gefesselt in den Betten lagen. Das Stöhnen der Jungen, die ... um es so zu sagen: Attraktiv sind die MMs. Und nun?, wollen Sie wissen. Ich habe einen Plan, den ich Ihren MMs, die gerade bei Ihnen anklopfen, leider nicht verraten kann. Aber wir könnten uns später treffen – sagen wir in einer Viertelstunde?
276.
Der Regen fiel. Er hatte einen Heli-Ausflug gebucht, war bester Laune gewesen, als die Rotoren aussetzten. Und das an meinem freien Tag, knurrte der Regen, ausgerechnet. Die Wolken, die beobachteten, dass der Hubschrauber ins Trudeln geriet, klopften von außen gegen die Scheibe. Sie grinsten. Überraschung! Der Regen schüttelte den Kopf. Cumulus, dachte er, ihr könnt mich mal. Die dümmsten der dummen. Cloudpack, Himmelsnullachtfünfzehn. Kretinbande. Nett anzusehen, aber nichts dahinter. Ein Sturm im Wasserglas. Da muss schon was anderes kommen, ich verkauf mich nicht länger unter Wert, sagte der Regen, der das Fenster aufgepeitscht hatte, nicht wie damals über der Oase, nach der Fata Morgana. Er sprach eigentlich mit sich selbst. Die Erinnerungen kamen zurück. Schon gar nicht am Ende, murmelte er. Die Crew sah ihn fragend an. Der Regen schüttelte nur den Kopf, schloss das Fenster wieder. Es wäre, in dieser Lage, sinnlos gewesen, von seinen Vorbehalten zu berichten. Er verdrückte eine Träne. Niemals, dachte der Regen, bin ich um meiner selbst geliebt worden. Nicht ein einziges Mal. Alle wollen mich schlucken. Er öffnete das Baldrianfläschchen und nahm, wie verordnet, sieben Tropfen. Mehr und mehr Tränen stiegen ihm in die Augen, als er sich durch die Belüftungsanlage zwängte. Die Vergangenheit holte ihn ein. Draußen formierten sich die Wolken zu einem Empfangskomitee.
277.
Das, was nicht zu sein schien, war plötzlich. Und das, was zu sein schien, war plötzlich nicht. Um den Rollentausch noch unwirklicher zu machen, merkte weder die eine noch die andere Seite den Wechsel. Die Sache flog erst auf, als aus den Zapfsäulen der Tankstellen Tiere krochen, die lange ausgestorben waren.
278.
Beat liebte Casimira. Was schön, im Sinne des Ontologische, doch sinnlos, im Sinne des Erotischen, war. Casimiras Interessen waren zwar vielfältig, zweifelsfrei, erstreckten sich auch auf Flora und Fauna, sie galt an der Monday for Past-Akademie als Großwildjägerin und Pflanzenkennerin, nahm an allerlei Expeditionen teil, zeichnete, bevorzugt in situ, abenteuerliche Schattengewächse und, ihre Spezialität, schlafendes Getier. Besonders solches, das lebensgefährliche Stachel oder äußerst kräftige Fangzähne besaß. Aber dass sie jemals romantische Gefühle gehegt hatte, im animalischen Umfang, die über das platonische Geplänkel hinausgegangen wären, das ließ sich, beim besten Willen, nicht behaupten. Beat, der jünger war als Casimira, belesener – jedenfalls glaubte er das – und, so die einhellige Meinung seitens seiner Familie, schöner – warum er sich an die handfeste Brüske hielt, die allen Wahrheiten an den Kopf warf, war der Familie ein Rätsel –, Beat verfiel jedenfalls, so oder so, die Verzweiflung des Zurückgewiesenen, des Unerfüllten trieb ihn, auf eine stupende Idee. Er nähte sich, was Monate kostete, ein Kostüm, das sowohl Stachel als auch Fangzähne besaß. Dann legte er sich auf die Lauer, obwohl ihn die Freundinnen und Freunde, die Casimiras Schussgenauigkeit nur zu gut kannten, dringend davon abrieten.
279.
Drei Autos, vier Straßen. Aus unterschiedlichen Richtungen kommend. Keine Ampeln. Kein Augenkontakt. Befindlichkeiten, die nicht an Vorfahrt denken. Drogen, Sex, Leidenschaft: Die Entscheidung, an der Kreuzung.
280.
Das Ledigliche I und das Entheiratete II oder Über das Ratenglück im ausgeleierten Unikum des Seminars ist kein Buch, das sich leichtherzig in Genregrenzen sperren lässt: DLIudEIIoÜdRiaUdS erzählt die Geschichte einer Gruppe junger Forscherïnnen, Lourdérie, Francoirehgou, Amarelle und Constantinn, die sich an die Spitze beißen. Buchstäblich. Durchbeißen. Und dabei weder vor Körpern noch Büchern, weder vor Kleidungsgewohnheiten noch theatralischen Nervensträngen oder Samstagabendshows des Privatfernsehens haltmachen. Der Roman DLIudEIIoÜdRiaUdS, der die Frage Was ist essbar, Honey? neu, auf überaus originelle, manche behaupten sogar komische Weise behandelt, hat keine Preise gewonnen und wird auch niemals Preise gewinnen.
281.
Die Garage entwickelt sich zum Treffpunkt des Dorfes. Sie ist immer offen. Und, was ihre Attraktivität in dem mürrischen Vorort am Rande der mürrischen Stadt erklärt: In ihr riecht es verdammt noch mal nach Glück. Wer die Garage betritt, vergisst das Pampige, Kurz-Angebundene und Griesgrämige. Gesichter werden wieder jung. Es geht soweit, dass sich Verheiratete nicht mehr erkennen. Etliche Affären zwischen Eheleuten beginnen im überdachten japanischen Garten der Garage. Sie betrügen sich mit sich selbst. Was ein besonderes, ein wildes Vergnügen ist.
282.
Ihr Schlaf war kein normaler Schlaf. Sie hielten sich an ihm fest, während er versuchte, sie loszuwerden. Seit Jahren lagen sie im Bett und im Streit mit ihm. Warum? Oh, es war eine banale Sache gewesen. Eine Traumdeutung, meinten einige. Andere sprachen von Mitteln, die dem Schlaf beigegeben worden seien, der auf seiner Reinheit beharrt habe. Wie auch immer. Nun kam es jedenfalls zum Showdown. Waffen wurden präsentiert. Sekundantïnnen bestimmt. Der Schlaf überraschte alle: sowohl mit der Wahl seiner Sekundantïnnen, er brachte mehrere mit, als auch mit der Wahl der, ähm, Waffen. Das Duell, was erwähnt werden soll, fand nicht im Schlafsaal statt, sondern ...
283.
Die Flugzeuge fielen vom Himmel. Es war der 19. April 2037. Sie fielen gleichzeitig. Wind kam auf, formte sich zu Hosen. Nahm sich der Maschinen an. Alle Flugzeuge, die sich in der Luft befanden, fielen zu Boden. Und die am Boden waren, wurden geschluckt. Die Erde öffnete sich. Risse brachen auf, Hunderte Meter tief. Flughäfen gerieten ins Wanken. Verschwanden. Die Aktien der Eisenbahngesellschaften stiegen.
284.
Die Suppenküche fing klein an, im Trockenraum des Waschsalons. Im fensterlosen Keller. Wir standen zwischen den warmen Maschinen und kochten eine Suppe am Tag, die wir den Wartenden anboten. Für wenig Geld, um sie zu zu locken. Und der Köder funktionierte. Bald stellten wir den Herd, der zwei Platten hatte und mit Strom funktionierte, ins Schaufenster des Waschsalons. Wir kochten jetzt jeden Tag sieben verschiedene Suppen, die Namen wie Schonwaschgang oder Persil, Baby hatten. Es gab nur ein Problem, das wir nicht bedacht hatten. Wir hatten keine Lizenz, und der Waschsalon lag gleich hinter dem Revier 4b. Die Kerle mit den Sternen kamen gerne her. Wegen anderer Sachen. Wir mussten uns etwas überlegen, um Rob, dem der Waschsalon gehörte und der Deny, Silviy und Konju in der Hand hatte, auszuschalten.
285.
Diejenigen, die in der Oberstadt lebten, hatten es sich angewöhnt, auf diejenigen hinabzusehen, die in der Unterstadt wohnten. Die Unterstadt galt als Land der beschränkten Möglichkeiten. Da der Platz in der Oberstadt, die auf einem umwallten Wehrhügel lag, begrenzt war, waren allerdings in den letzten Jahren, Ruf hin oder her, immer mehr Menschen in die Unterstadt gezogen. Sowohl aus der Oberstadt selbst als auch aus der Umgebung. Die Unterstadt wuchs und wuchs, während die Oberstadt allmählich in Vergessenheit geriet. Diejenigen, die weiterhin in der Oberstadt lebten, wurden zu Witzfiguren. Bei denen funktioniere was nicht im Oberstübchen, hieß es. Wöchentlich gab es Bash the Oberstadt-Stand up-Comedy, die sich in der Unterstadt großer Beliebtheit erfreute. Die Oberstädterïnnen führten nicht nur Strichlisten über die schallenden Lachsalven, die in der Unterstadt auf ihre Kosten für beste Laune sorgten, sondern legten auch ein Soundarchiv an. Am Tag der Flut zogen sie die Zugbrücke hoch und schossen die Salven zurück. Womit sie nicht gerechnet hatten, war die Kraft des Wassers.
286.
Die Freude sei ganz meinerseits, sagte ich, immer und immer wieder. Die Leute, die mich von YouTube kannten, hielten sich nicht lange zurück, sie setzten sich zu uns. Warum auch nicht? Ich war schließlich ständig in ihrer Wohnung. Sie klickten auf Schirme, und ich erschien. Wir kannten uns gut. Ich wusste, was Sache war, mit ihnen, mit ihrem Leben. Sie beugten sich vor und murmelten, das letzte Mal, ich wüsste schon, das wäre doch eine Schweinerei gewesen, oder nicht? Was hätten sie machen sollen? Ich würde sie doch nicht verpfeifen? Ich pflegte in solchen Momenten verständnisvoll zu nicken, gab vor, mir kurz die Finger waschen zu müssen – und entkam durch die Küche. Meine Begleitung, die ich vorgewarnt hatte, machte sich gleichsam mit dem Parkticket-Nachlöse-Trick aus dem Staub. Wir lachten nachher sehr, wenn wir uns am vereinbarten Treffpunkt einfanden.
Diesmal ist es anders. Hunderte kreisen unseren Tisch ein. Sie sehen so aus, als wäre ich ihnen schon mal begegnet. Sie holen Kleingeld aus ihren Geldbörsen und stopfen die Münzen in den Mund meiner Begleitung. Dann wenden sie sich mir zu. Die Freude sei ganz ihrerseits, sagen sie.
287.
Im Papier hing der Wind. Er ließ sich treiben. Sie zogen an ihm. Dann kam der Sturm. Erst einer, dann ein zweiter, schließlich ein dritter. Sie mühten sich um die Gunst des Papiers, das dem Wind gewogen blieb. Die Stürme rätselten, betrachteten den Wind, dessen Säuseln sie, zunächst, nicht verstanden. Er sprach eine alte Sprache, die aus der Zeit davor stammte. Es dauerte, bis ihnen klar wurde, was der Wind meinte, warum das Papier treu und fest am Wind festhielt. Die Stürme brannten vor Gier ob des Glücks. Sie liefen über Felder, Dörfer, Städte, Meere, zählten und erzählten. Und kamen – erschöpft, aber glücklich – zurück. Sie fanden das Papier und den Wind im Garten, ineinander verwoben, als wäre nichts wichtiger. Als wäre nichts passiert. Die Stürme schrumpften, setzten sich dazu und lauschten. Und was sie hörten oder auch nicht, davon will ich Euch nun berichten.
288.
Der Trauer war mulmig zumute. Oder sagen wir lieber: Gregorine, die die Trauer spielte. Sie war schwanger, hatte es aber verschwiegen. Allen. Sogar, irgendwie, sich selbst. Sie stand auf der Bühne, im Trauergewand, als das Wasser brach. Es war die Premiere, ausgerechnet, am Staatsschauspiel, der Beginn ihrer Verpflichtung am ersten Haus des Landes. Sie flüsterte der Freude etwas ins Ohr, die Freude nickte, sie tauschten die Rollen. Beifall brandete auf.
289.
Der Bruch hing, Jolly-Fisch zischte es, am scheißseidenenfaden. Jolly-Fisch verzichtete auf Abstände zwischen seinen Worten, während Bär-Grunge, mit dem er den Bruch schob, gar nicht sprach. Die 27 Pearce-Ringe, die Bär-Grunges Zunge schmückten, waren so schwer, dass er den Mundlappen kaum heben konnte. Dynagibmirdasscheißdynabär, sagte Jolly-Fisch. Bär-Grunge kratzte sich am Pickel, der volleiterwas, am linken Augenwinkel wohnte. Bär-Grunge hatte Jolly-Fisch nicht gesagt, dass Bumm-Hund nichts geliefert hatte. Keinscheißding. Bumm-Hund saß in Fu, und wenn jemand von Fu redete, wurde Jolly-Fisch immer sentimental. So schrecklich sentimental, dass er erst schluchzte, dann brüllte und schließlich alles zerschlug, was ihm zwischen die Flossen kam. Bumm-Hunds Sohn, Posh-Puppy, hatte Bär-Grunge einen Vorschlag gemacht, zur Güte, was mit Bumm-Hunds Frau, Giraffen-Hirn, die Posh-Puppy Satzzeichen gesteckt haben musste, übers 12. Pearcing, damals am Jungfernstieg, nun gut, um die Sache abzurunden: Posh-Puppy wollte ins Safe-Business, und Bär-Grunge war die Karrierelunte. Ob das Crashzeug was taugte? Würde sich gleich zeigen. Riechtnachscheißeärger, sagte Jolly-Fisch, als ihm Bär-Grunge die rostroten Stangen reichte.
290.
Nun Ja, Mother von Nun Nein, hielt nicht viel von Nun Leicht, Nun Neins Neue, die sie, hinter vorgehaltener Hand, Nun Vielleicht nannte. Nun Leicht arbeitete im Ministerium. Niemand im Viertel arbeitete im Ministerium. Niemand im Viertel wollte im Ministerium arbeiten. Nun Nein hatte lange nicht gewusst, dass Nun Leicht im Ministerium arbeitete. Als er davon erfuhr, er checkte Nun Leichts Phone, während Nun Leicht Sachen im Bad vollführte, die ihn total kirre machten, ihre Geräusche waren der absolute Hammer, der gepickelte Ausleger stand ihm beim bloßen Zuhören, als er davon erfuhr, war es zu spät. Nun Nein hatte Nun Leicht schon die lackierte Schatulle gegeben. Mit den Sarg Codes. Ansonsten hätte er Nun Leichts Wohnung verlassen müssen, während sie sich im Bad aufhielt. Sie wollte eine Garantie, er hatte ihre Forderung verstanden, nur zu gut, aus Erfahrung. Nun Nein spielte Nun Leichts Rolle im Ministerium herunter. Was ihm Nun Ja nicht abkaufte. Aber es gab einen Ausweg, um das Gesicht zu wahren, den er, Nun Nein, gehen konnte. Sein Father, Nun Tius, war diesen Weg gegangen, gleich nach Nun Neins Geburt. Nun Nein suchte die Nummer, es knackte in der Leitung und in ihm, rief im Ministerium an.
291.
Als die Burg wieder aufgebaut wird, denken alle, die im Schatten des Hausbergs leben, an einen kommerziellen Witz. Tourismus, heißt es, eine bekannte Hotelkette mache nun auf Geschichte, als ob sich eine Ruine mir nichts, dir nichts beleben ließe. Allmählich – um ehrlich zu sein: erst unmittelbar vor Fertigstellung – stellt sich heraus, dass die vielen gleichförmigen Räume, die entstanden sind, nichts mit einem Beherbergungsbetrieb gemein haben. Das Mobiliar, das, quasi als Prozession, vorm Rathausplatz, für alle sichtbar, von Lastwagen geladen und von einer Hundertschaft in Schutzanzügen Richtung Burg getragen, geschleppt, gezogen, gewuchtet wird, hinterlässt bei den Einheimischen erst Kopfschütteln, dann, bei näherem Hinsehen, ein bis dato unbekanntes Grausen.
292.
Es war Hochsommer, auf der Landzunge, im Süden, am Meer. Ein durch und durch perfekter Sommer. Tagsüber warm und sonnig. Nachts, zwischen 2 Uhr und 4 Uhr, von Regen gekrönt. Wir waren alt genug, um uns zu verlieben, und wir saßen am Strand, im Café, auf den Plätzen und taten es. Beinahe jede halbe Stunde verliebten wir uns. Wir riefen, sie kamen. Setzten sich zu uns. Wir hielten Hände, betrachteten Lebenslinien, zogen uns gegenseitig hoch, machten Musik und tanzten. Es sprach sich herum. Die Liebe sprach sich herum. Nicht dass wir uns bemüht hätten, sie zu verstecken. Unmöglich wäre das gewesen. Das Spektakel der Liebe war nicht zu übersehen. Der Sommer schien endlos zu sein, jeder Tag schien endlos zu sein. Nachts, wenn es regnete, versammelten wir uns auf dem Platz vor der Kirche, tranken die schlanken Tropfen, lagen auf dem Asphalt und küssten uns. Wir küssten jene, wir küssten jenen. Münder suchten und fanden sich. Das Wasser rann über unsere Haut, das Seufzen brach sich an den Wänden der Häuser, die den Platz säumten. Nichts passierte, außer der Liebe, über viele, sehr viele Wochen.
293.
In der Tonne wohntest Du, mit mir, obwohl Du, was ich kaum glauben kann, immer so tust, als gäbe es weder mich noch, ein Überraschung, Dich. Du bist, im schlechtesten Sinne, diskret. Du bist so angefasst vom fluiden Sein, dass Du ihm entgleitest. Als hätte Dich das bisherige Leben, buchstäblich, eingeseift. Nun gut, das musste, scheint mir, gesagt werden, als Präludium, bevor ich zum Kern des Anrufs komme. Meinetwegen könntest Du jetzt den Hörer abnehmen, ich weiß, dass Du vorm Telefon stehst. Empfangsbereit. Wificold. Ich kann Dich sehen. Bitte. Nein? Du machst es mir nicht einfacher. Dir nicht einfacher. Ich hätte einen Vorschlag zu machen, der diejenigen betrifft, die uns zuhören. Ich weiß, dass Du eine Methode entwickelt hast, um anderen Als intrusive Entität unter die Haut zu gleiten. Ich schlage vor, dass wir sofort loslegen. Nicke, wenn Dir das passt. Danke. Du – und diesmal meine ich Dich, die Lesende – Du bist hiermit nicht mehr allein. Wir stecken tief in Dir. Und jetzt sage ich Dir, was wir vorhaben. Falls Du glaubst, dass Du Dich uns widersetzen kannst, sei vorgewarnt. Wir sind zu Deinem Herzen vorgestoßen, trinken das Klopfen, können die Klappen, bei Bedarf schließen.
294.
Die Vergeudung der Zeit nahm uns in Anspruch. Wir standen Tag für Tag vor der Herausforderung, möglichst großzügig unsere Stunden zu verschwenden. Reißerisch mit der Zeit zu aasen. Es war, ganz ehrlich, viel schwieriger, als wir, die Unterschriften unter den Vertrag setzend, gedacht hatten. Anfangs hatten wir geglaubt, Zeit zu vergeuden sei ein Kinderspiel. Etwa so, als hätte man ein liebes Leben lang Große Ferien – und zwar immer den ersten Tag nach dem Beginn der Großen Ferien. Also den Tag, wenn man von den anderen gewaltsam entfernt worden ist, wenn man allein ist, wenn der Rest der Familie noch arbeitet, noch mehrere Wochen arbeiten muss, wenn man allein vor die Tür tritt, auf dem flchen Lande, kein Schulbus kommt, und man vor den weiten Feldern steht, die sich endlos dehnen, wenn man hört, wie die Bienen durch die Luft fliegen und um uns einen weiten Bogen schlagen. So fühlten wir uns. Mit dem Unterschied, dass wir aus dem Haus geworfen worden sind. Auf dem abgeernteten Feld sitzen. Während sich am Horizont etwas, keine Bienen, etwas bewegt, das von uns weiß, aber, zunächst, kein Interesse an uns hat.
295.
Ich bin tot. Was nicht mein Ziel gewesen ist. Jedenfalls nicht in dieser Geschwindigkeit. Oder ich sage besser: In einem Moment der Liebe. Ich könnte wahrscheinlich behaupten, dass mich die Liebe getötet hat. Viele behaupten das, mir ist es passiert. Weswegen das Interesse so groß ist, an meiner letzten Arbeit. Die meine schlechteste ist, mit Abstand. Wäre ich nur für mich zur Tür gegangen, hätte sie geöffnet und wäre gesprungen, das hätte wohl niemanden gekratzt. Dank der Liebe ist mein Tod etwas ganz besonderes. Ich muss allerdings eine Warnung voranschicken. Was ich zu erzählen habe, ist Keine traurige Liebesgeschichte. Es ist eine sehr traurige.
296.
Im Alten Hafen lagen keine Schiffe, sondern Flugzeuge. Sie waren in der Nacht gelandet, neun, zehn, elf große Maschinen. Sie lagen ermattet auf dem Wasser. Als schliefen sie. Als wären sie müde vom Himmel gefallen. Jemand hatte an den Strand, neben dem Alten Pier, ein Schild gestellt, auf dem Notlandung verboten stand. Die Sandbank vor der Küste hielt die Flugzeuge. Noch. Die Strömung, was alle hier wussten, würde die Sandbank verformen. Das geschah jeden Tag. Wenn die Sonne hinter dem Alten Silo hervorguckte. Spätestens. Leute saßen auf den Tragflächen, im Wasser, im Schatten. Sie winkten und lachten über das Verbotsschild. Wir winkten zurück. Das Alte Meer bewegte sich, am Horizont.
297.
Sie drehten sich, stöhnten, rieben sich, keuchten, schlugen sich mit elektrisierten Zungen, waren nass, überall. Dann nirgends. Taten so als ob geil. Sie drehten sich. Beim Liebemachen. Eine Angewohnheit, die neu war. Am Anfang erzählten sie nichts davon. Was hätten sie auch sagen sollen? Sex ist geiler, wenn man sich dreht? Das wäre billig gewesen. Und billig wollten sie nicht sein. Nicht vor uns. Sie wollten umsonst sein. Es handelte sich um Nihilisten, die Sex hatten. In der Nordsee. Jedenfalls behaupteten sie das auf ihrer existenzialistischen Website: Alles umsonst. Dass sie die Kosten verschwiegen, dass sie seit Jahren so taten, als gäbe es alles für lau, nun auch so taten, als gäbe es das gedrehte Liebemachen zum Nulltarif, als schmerzten etwa, um eine Sache zu sagen, die strapazierten, in allen Löchern gewälzten Zungen nicht, hatte drei Gründe. Von zweien handelt diese Geschichte, deren Titel, Eine schöne Bestie, allerdings mit dem dritten Grund zu tun hat.
298.
Dass ich Dich begleitet habe, lag an Deinem Unwillen, fortzugehen. Das kannst Du mir nicht anhängen. Andere Sachen schon eher. Wie viel ich vergessen habe. Übrigens haben alle im Dorf gelesen, was Du geschrieben hast. Dadadadarüber. Als ob ich stotterte. Es ging rum wie ein Lauffffffeuer. Alle haben sich wiedergefunden, selbst an Stellen, wo Du nur von mir gesprochen hast. Was ich darüber denke? Bitterkeit hilft der Liebe auf die Sprünge. Du bist alt genug gewesen, um das Nnnnest zu verlassen. Alle haben das gesagt, selbst Yorch, der Dich am meisten vermisst hat. Aber das weißt Du ja. Yorch fragt sich übrigens, warum Du seine Gewohnheiten so genau beschreiben musstest. Die Nabelstory. Und den Körper. Die Sache mit dem Körper, sagt Yorch, sei ihm wichtig gewesen. früher, vor mir. Eure Körper. Offenbar wichtiger als Dir. Das Geheimnis hätte er gern für sich behalten. Zu gern. Du wirst Dich fragen, warum ich Dir schreibe, nach dem langen Schweigen. Die Lalalage ist hier aus dem Ruder gelaufen. Das Dorf rebelliert. Wir brauchen Deine Grausamkeit, sagt Yorch.
299.
Die Müdigkeit hatte viel vor. Vorm Aufstehen. Sie schluckte, was Sean und Jay aufgetrieben hatten. Zeugs, das wachhielt. Bunte Smarties, aus dem Norden. Den Elfen abgepresst, behauptete Jay. Die Dosis war nicht verhandelbar, Cash auch nicht. Eine Frage der Zeit, bis die Müdigkeit ans Eingemachte musste. Pickelcovid stand auf der Nadel. Und bald darüber hinaus. Die Fledermäuse, die sie vom Zwielicht kannte, halfen ihr. Der Deal war genial einfach. Sie flogen vorbei, schnappten sich das Zappelnde, bissen ins Eingemachte. Die Müdigkeit recherchierte. Du hast ihr dabei geholfen. Confess, Ladybird. Keine Ausrede. Zugang, immer ging’s um Zugang. Um deine Bewusstseinserweiterung. Nie unsere. Als gäb’s uns nicht. Einen Zustand, der uns aus dem Leben riss, für einige Stunden. Nun der Schlamassel. Ich kann kein Auge zudrücken, du auch nicht. Deine Idee, die Lider zuzunähen, ist Bullshit. Siehst du das fiat lux dahinten? Das ist die Müdigkeit, nach dem Aufstehen. Ich schätze, dass wir zwei, drei Minuten haben. Eigentlich genug Zeit, wenn du endlich glaubst, dass die Piclecovid-Säge funktioniert.
300.
Ich vergesse alles. Warum steh ich noch mal vor Ihnen? Oh, fuck, ja, gosh, meine Geschichte, das Buch, die Sätze. Ihnen hab ich den Text vorgelegt? Ausgerechnet. Wissen Sie, warum? Ich verstecke mich jahrelang, kratze mir das Hirn wund, komme mit einem Text um die Ecke – und nun bettele ich Sie an? Of all people? Als verstünden Sie ein Wort, was ich geschrieben habe. Als fühlten Sie mit mir. Als hätten Sie nicht Ihre pfeilschnellen Urteile, wutsch, zutsch, glutsch, fertig im Köcher. Aus der Hölle gen Himmel. Sie entscheiden, ob’s erscheint, richtig? Stimmt doch, oder? Mit den beiden, die ihr Gesicht nicht zeigen, die da im Halbschatten sitzen? Echt jetzt? What the fuck? Hat mich die Agentur hier abgeliefert? Vorher unter Drogen gesetzt? Wollen Sie echt hören, was ich von Ihrem Unternehmen halte? Der Lesekunst mit g? Sie nicken? Also gut.
301.
Mutter war ein rollender Stein, rauf, runter, geworfen, gefallen, eingeschlagen. Singt mit, Schatz! Alle! Sie gebar uns auf dem Weg. Von hier, nach da, und weiter. Ins Irgendwo. Sie sei unterwegs gewesen, sagte Mutter immer, während der Zeugung, der Schwangerschaft, den Wehen, der Geburt. Habe niemals angehalten. Warum auch? Die Schwerkraft sei ihr Glück. Um ehrlich zu sein: ihre große Liebe. Die Schwerkraft und sie hätten was am Laufen, Mutter lachte, worüber sie nicht mit uns sprechen könne. Das müssten wir verstehen. Wer glaubte eine körperbildende Mutter, sei eine gewidmete Frau, der irrte sich, gewaltig. Dies seien bloody Männerphantasien. Machpositionen, die sie nicht akzeptiere. Wir seien Beifang. Und nun sollten wir sie bitte in Ruhe lassen, die Schwerkraft komme gleich vorbei. Raus mit Euch.
302.
Der Übernacht setzten die Städte Licht entgegen. Es klang bekloppt, aber sie nannten das Licht Freudenfunken, Hellway to high. Geschasste zogen durch die Gassen, den Mund voller Öl, und spien Feuer. Die Anwesenden zückten Smartphones und streamten das Spektakel, bis die Datenrate in die Knie ging, Verträge gekündigt wurden. Als das Internet dunkel war, begann das wahre Wunder am Himmelszelt über den Metropolen: Die Übernacht sandte ihre Töchter, deren Erbarmen, nicht zu Unrecht, andere mit dem wahren Strafgericht verglichen.
303.
Ich lese Freud. Seit meinen Teenagerjahren. Ich weiß, dass ich weder mich mag, wie ich wäre, wenn ich mich nicht länger verstellte, noch Vater mag, den ich zu sehr beneide, weil er mit Mutters Brieftauben schläft; oder, rammen wir der Grammatik die Sätze in die Syntax, Mutters Zwillingsschwester ausstehen kann, die mich niemals genug geliebt hat, liebt, lieben wird, die, ihre größte Abscheulichkeit, gleichfalls mit Vater schläft, wenn die Tauben ausgeflogen sind. Warum ich das jetzt, gleich am Anfang, auf Tinder, schreibe? Ich möchte mich nicht und gleichzeitig doch auch in ihresgleichen verlieben. Von mir habe ich genug. Das ist übrigens ein echtes Bild. Ja, so sehe ich aus, wenn das Licht ausfällt, du den Gartenschlauch auf mich richtest und spritzt.
304.
Nach der Wahl ist vor der Wahl, knurrten wir. Die anderen sahen uns an. Fragezeichen ohne Punkt. Wir lachten, denn an sich waren wir gar nicht angetreten. Die Blicke sagten Der Platz ist begrenzt. Noch son Scheißspruch. Wir scherten uns einen Dreck darum. Weder auf dem Parteitag noch im besetzten Haus. Wir hatten ein Verständnis von Teilhabe, das sich anders ausdrückte. Unmittelbarer. Seit Jahrhunderten, knurrten wir, gehört uns dieses Stück vom Kuchen. Als daraufhin, aus der vorletzten Reihe der anderen, gerufen wurde, das sei schon der Sonnenkönigin im Halse steckengeblieben, identifizierte die Drone den Schreihals und machte ihn knarzend mundtot. Noch Fragen?, knurrten wir. Und überraschenderweise kamen welche, sogar äußerst interessante, von denen wir nun berichten wollen, damit sie niemals wieder gestellt werden.
November
305.
Dass ich mich melde, hat einen Grund. Oder sagen wir: Ein Grundstück. Sie besitzen es, aber es gehört leider mir. Oder sagen wir: mir und Flora de Ratio. Das Grundstück liegt uns am Herzen. Es handelt sich um eine Liegenschaft, auf die wir Anspruch haben. Nicht erheben, wohlgemerkt: haben. Sie sind neu hier. Sie – blättert in den Unterlagen – sind gekommen, weil sie dem Wagen nicht ausweichen konnten. Das verstehen Flora de Ratio und ich nur zu gut. Aber Verständnis bedeutet nicht, dass wir unseren Anspruch abtreten. Ich weiß, so haben Sie sich das nicht vorgestellt. All das Gerede von Hinterher-und-so. Weder das Aufeinandertreffen noch das Einchecken haben Sie sich so vorgestellt. Lassen Sie es mich vorsichtig formulieren: Ihre HeavApp lügt. Der Code mit dem Discount wurde Ihnen untergejubelt. Was sagen Sie da? Qui si convien lasciare ogne sospetto. Ogni viltà convien che qui sia morta? Ja, das wäre schön: Hier ziemt es sich, jeden Argwohn zurückzulassen. Jede Feigheit muss hier ersterben. Das hätten Sie sich vorher überlegen können, sagt Flora de Ratio bei solchen Gelegenheiten immer. Gut, oder? Und nun, nun gehen Sie mir bitte aus dem Licht.
306.
Als sie sich vornahmen, genau zu lesen, wurde ihnen das Buch weggenommen. Die Druckerei, angefragt, schrieb, es gäbe Versorgungsengpässe. Alte Exemplare, die sie ersteigerten, für viel Geld, fanden nicht den Weg zu ihnen. Was die Erinnerung an das Buch nicht verblassen ließ. Sie setzten sich zusammen. Schrieben es neu. Die Geschichten fanden ihre Fäden, änderten Strickmuster, begannen, mit ihnen zu sprechen, anstatt zu diktieren.
307.
Auf dem Filmset geschieht etwas Unheimliches. Was gedreht wird, hat nicht nur den Anstrich der Wahrheit, es wird zur Wahrheit.
308.
Kein schöner Anblick. Die Mustermädchen und Musterknaben werden geköpft. Auf dem Marktplatz der Millionenstadt. Man hat sie aus den umliegenden Dörfern geholt, um ein Exempel zu statuieren. Die vollbesetzte Tribüne ist direkt neben dem riesigen Trog mit den abgeschlagenen Köpfen. Vor der Tribüne ist ein sehr großer, hell erleuchteter Grill, auf dem seit den Morgenstunden Ferkelköpfe gebraten werden. Vier Kameras nehmen den Grill auf. Der Livestream klickt automatisch auf den Handys der zuschauenden Menge auf. Die Haut der Ferkelköpfe ist knusprig, stäche man hinein, platzte sie und das Fett schösse hinaus. Da hat jemand, auf der Tribüne, eine folgenschwere Idee.
309.
Nichts passiert. Ich sitze mit dir am Tisch. Du sagst nichts. Das ist immer so. Du kommst, setzt dich und schweigst. Wir sehen uns, vorsichtshalber, selten an. Wenn wir uns ansehen, sehen wir in einen timefullness-Abgrund. Weil sich die Sachen ehedem verändert haben. Nicht im Moment. Das Jetzt ist ereignislos. Was mir die Möglichkeit gibt, über dich nachzudenken, um nicht über mich selbst nachzudenken. Du bist, falls ich das sagen darf, ein eigenartiger Mensch. Schon äußerlich. Was dir bewusst ist. Am Anfang drehen sich alle zu dir ein, am Ende alle ab. Weil sie irgendwann sehen, was die Eigenart der vollen Zeit befeuert. Die Flamme wohnt unter dem linken Augenlid. Sie züngelt, wenn diejenigen, die dich ansehen, lügen.
310.
Die Nacht hörte nicht auf. Santa und Hole lagen wach. Sie machten Liebe. Leise, damit die anderen nicht aufwachten. Sie hörten, grundsätzlich, vorm Höhepunkt auf. Dafür gab es Gründe, gute – und schlechte.
311.
In jedem Ball spielten zwei Bälle, die niemand bemerkte. Sie spielten ganz verschiedene Sachen. Einige übten Kopfbälle, um zu sehen, mit wie vielen Gehirnerschütterungen man ein junges Leben anfangen kann. Andere taten, als wären sie Spielerberater, zofften sich um horrende Ablösesummen, landeten, weil alle anderen sie eklig fanden, am Ende vorm Traualtar. Und die wirkungsmächtigsten Bälle, die in den anderen Bällen steckten, meistens auf der dritten oder vierten Ebene, spielten neue klassische Musik. Es gab Ligeti-Bälle und Nono-Bälle, andere orientierten sich, fast fanatisch, am Kronos Quartet und spielten alles nach, was ihnen in die Hände fiel. Ja, Hände. Denn den Musikbällen wuchsen Hände. Allerdings nicht Hände wie Dir und mir, sondern ganz besondere Hände, die Sachen konnten, auf die niemand bislang gekommen ist. Und davon, allein davon, von diesem Händspiel will ich nun berichten.
312.
Die Gerichte wurden zu Häfen. Verbrechen gingen vor Anker, inspizierten die Entlademöglichkeiten, erkundigten sich nach den horrenden Hafengebühren, bestachen, vorsichtshalber, gleich mal die Lademeisterei, drückten Preise, kauften und schlossen Seemannsheime. Strafen, die von ihren Freigängen nicht zurückgekehrt waren, charterten Kreuzfahrtschiffe, um, in Saus und Braus, an den Gerichtshäfen vorbeizugleiten und Selfies zu schießen. Was die maritime Rechtskultur mit den Richterïnnen machte? Sagen wir es mal so, es gab die Seepferdchenfraktion, die eine erstaunliche Resilienz zeigte. Und es gab den Tsunamie-Club, in dem die Wasserscheide derart schwankte, die Auslegungslust derart wahnsinnig röhrte, die Berufungsgeilheit derartigen Egotrips frönte, dass – aber hören Sie doch selbst.
313.
Bis zu 12 % aller Schwangerschaften beginnen als Mehrlingsembryonen. Wir sehen dich an. Schließlich sind es jedoch nur 2 % aller Schwangerschaften, die auch als Mehrlingsgeburten enden. Du blickst auf den leeren Stuhl neben dir, eine halbe Minute vergeht. Wenige von uns wissen, dass sie einen Zwilling hatten, sagst du. Wir nicken. Und?, sagst du. Eine äußerst wichtige Entdeckung, sagen wir, da eineiige Zwillinge für eine Reihe von Krankheiten, einschließlich Spina bifida, prädisponiert sind. Du schluckst. Es gibt, sagst du, die Chance, dass Menschen mit einer solchen Störung zu einem identischen Zwillingspaar gehören könnten ... die ihr Geschwisterchen, sagen wir, im Mutterleib verloren haben ... Du blickst auf die Tür hinter uns, die sich, sehr langsam, öffnet. ... oder bei der Geburt getrennt wurden, sagen wir.
314.
An der Singularität zu verzweifeln, sei ein Einzelfall, sagte ich und sprang.
315.
Was gehörig ist, legen Regeln fest, deren Anständigkeit wir in Frage stellen. Die erprobten Modelle sind weder erprobt noch Modelle. Den Vorschriftencharakter jener Anordnungen, stillschweigende und lautsprechende, akzeptieren wir nicht länger. Unsere Waffen? Zunächst: Freundlichkeit und Überzeugungskraft (Tag Eins). Dann: Konfrontation und Umwälzungsargumente (Tag Zwei). Anschließend: Gang ins Arsenal und Gerichtsverfahren (Tag Drei). Zum Abschluss: Aufstände und Love-Blockaden (heute).
316.
Wir tanzten. Als die Musik aus- und das Licht angestellt wurde, die Polizei stand vorm Haus, die Warnleuchten lösten beim ersten Dutzend Anfälle aus, beim zweiten Dutzend Halluzinationen, als die Musik ausgestellt wurde, entdeckte die Polizei das Nest, unter der Decke, ein Baumhaus, ohne Baum. Wahrscheinlich ist entdecken nicht das richtige Wort. Denn Oben schien niemand gemerkt zu haben, was Unten passierte. Oben hing der Haussegen gerade. Die Polizei versuchte, Unten, diejenigen, die Anfälle hatten, wegzutragen, was nicht ging, da die Anfälle durch die Berührungen nicht nur schlimmer wurden, sondern die Kehlköpfe der Angefassten sich sekundenschnell aufblähten, wie bei Fröschen vor der Paarung. Aber viel, viel größer. Die Kehlköpfe waren wie zweite Körper. Und dann kamen die Laute, aus den aufgeblähten Kehlköpfen. Laute, die wie Orgasmen klangen. Als das ekstatische Quaken Oben wahrgenommen wurde, plötzlich existierte das Unten, verschob sich der Raum: Alles drehte sich. Unten wurde Oben, Oben Unten. Die Polizei fiel, buchstäblich, aus allen Wolken, während das Kehlkopfdutzend, das, dank der Luft in den Hautsäcken, schwebte, dem Nichtkehlkopfdutzend ins Baumhaus half. Was sich dort abspielte, Szenen einer egalitären Liebe, davon und von mehr will ich nun berichten.
317.
So hätte ich mir den Tod nicht vorgestellt, sagtest du, als sie dich zurückholten, aus dem Tank mit dem Eiswasser zogen. Vor laufender Kamera. Im Studio war es mucksmäuschenstill, als dein kalter Körper schlagartig wieder warm wurde. Auf dem Bildschirm hinter dir stand Apnoe-Rekord geknackt. Der Zoom endete auf deinen braun-goldenen Pupillen, in denen grüne und blaue Flecken schwammen. Das war neu. Insgesamt schienst du nicht die Alte zu sein. Sondern? Eine Frage des Publikums. Lauter Kinder, die Perücken trugen. Erwachsene gab es nicht mehr. Du warst die Letzte, was du noch nicht wissen konntest. Wie auch? Der Rekord hatte wesentlich länger gedauert. Es war dein Glück gewesen, dass das Studio, wegen der Windenergie, offshore lag, außerhalb der Engpasszonen. Als du sagtest, du würdest gerne die Riemen gelockert bekommen, während du antwortest, lächelten die Kinder und sagten vorsichtshalber nein.
318.
Als alles festgestellt war, blieb das Durchatmen aus. Weder Ley, der Kim gedrängt hatte, noch Kim, die aufs Drängen beharrt hatte, obwohl sie sich längst selbst entschlossen hatte, hatten – wie es die Werbung versprach – Oberwasser, Oberluft, Oberglück. Schon gar nicht das, sagte Kim und zeigte auf Oberglück, das in gigantischen Buchstaben über dem Feststell-Parkhaus schwebte. Schon das Feststellparkhaus war eine einzige Enttäuschung gewesen. Alle hatten davon geschwärmt. Es hätte sich wie eine Bergtour angefühlt, die Kurven wären herrliche Serpentinen gewesen, und auf dem Dach würde man sich wie auf dem Lebensgipfel fühlen. Quatsch, sagte Kim, das war ne billige Schleuse, an der sie uns Wegedaten abgezapft haben. Code D’Azur, sagte Ley, die haben uns gelinkt. Und nun?, sagte Kim, ohne zu lächeln, manchmal gingen ihr Leys Wortspiele gewaltig auf den Wecker. Lassen wir’s, Ley? Wir haben 24 Stunden Zeit, sagte Ley, dem klar war, dass sie nach der Feststellung in den Fokus gerückt waren. 24 Stunden, um wir zu bleiben, sagte Kim.
319.
Diegekommenwaren taten so, als respektierten sie die Schonanwesenden. Ein Ritus griff. Im Hain, hinter der Mehrzweckhalle, die beim letzten Hurrikan einiges an Stabilität verloren hatte, trafen sich Zehnabgeordnete beider Gruppen. Um sie herum wurden Instagram-Accounts angelegt. Zur Tarnung. Alle taten so, als wären sie abgehärtet, aber dennoch sensibel. Diegekommenwaren hatten extra Stunden dafür genommen. Der Beifall blieb nicht aus, war aber dürftiger, als gedacht. Am Himmelshain schwebten Drachen, deren Fernsteuerung ab und an ausfiel, was, wegen der roten Knöpfe, für reichlich Gesprächsstoffwechsel sorgte. Schließlich war der Augenblick gekommen.
320.
Die Tage sind gezählt – deine Tage. Du hast es schwarz auf weiß. GenTime, der Brief kam eben, du hältst ihn in der Hand, während die Kinder im Garten toben, Käfer aufspießen, sie geben dir noch sieben Tage. Eine letzte Woche. Du gehst zum Schrank, steigst auf den Hocker, holst den Rucksack runter, den du seit Jahren nicht mehr benutzt hast. Staub lässt dich niesen. Du antwortest nicht, als die Kinder nach dir rufen, weil die Käfer nicht sterben wollen, sondern wirfst eine Packung Süßes durch das geöffnete Fenster in den Garten. Die Kinder jauchzen. Alle Sachen, die du brauchst, liegen in der Eisenschublade, die in der Familie den Namen Immerweggeschlossen trägt und um die sich, aus der Sicht der Erwachsenen und der Kinder, Legenden ranken. Du nimmst den Schlüssel, den du um den Hals trägst, öffnest die Eisenschublade, an der kleine und große Händeabdrücke kleben. Immerweggeschlossen öffnet sich, als du, nach dem Umdrehen des Schlüssels, die erforderliche Formel sprichst.
321.
Ein Sonnenuntergang wie aus dem Bilderbuch. Der Bus steht am Abhang, der Fahrer, Roy Silver, trinkt aus einer Thermosflasche Gebranntes und raucht lässig frisches Zeugs. Die Mitglieder des Turnvereins stehen auf dem Felsenvorsprung und machen Fotos, als sie der Geruch erreicht. Einige drehen sich um, auch Claude und Boy, die beschlossen haben, sich zu trennen. Roy Silver kramt, während er raucht, in den Ersatzkabeln, die gar keine Kabel sind, sondern getrocknete Babyschlangen. Auf dem Bus steht Natter. Claude und Boy spielen Ching, Chang, Chung, ob sie sich echt trennen wollen. Roy Silver winkt den Mitgliedern des Turnvereins, die ihn beobachten, mit einer geköpften Minischlange zu und rülpst. Rotes Zeugs fließt ihm aus den Mundwinkeln. Claude und Boy sind die einzigen, die nicht zurückwinken. Claude sagt, der wird gleich den Motor starten. Ohne dass wir im Bus sind, sagt Boy. Verdammte Scheiße, sagt Claude; sie sehen sich verliebt an.
322.
Im Hintergrund ist der Vordergrund zu sehen. Und nichts anderes. Die Kausalität dreht sich, während die Sextanten weitere Richtungsentscheidungen ablehnen. Ich klammere mich, im Bett des Soziologischen Seminars, an dich. Du liest mir die Angst von den Lippen, korrigierst und bereitest die nächste Fußnote vor.
323.
Knack, sehr leise. Knack, leise. Knack, lauter, Knack, sehr laut. Der Rücken brach, während du mich in den Schwitzkasten nahmst. Scheiße, sagtest du und ließt mich los. Ich sagte nichts. Mir war nicht nach sprechen, echt nicht. Was du nicht wusstest: meine Erfindung, sie dagegen, sie war spruchreif.
324.
Als Dr. Pavian de Waal lächelnd erklärte, der Tierarmut und dem Artensterben gehörten die Zukunft, ging ein Raunen durch den Saal. Ameisen schlossen iPads, Skorpione beendeten die Signal-Familienchats. Die Verantwortlichen der Torn to be alive-Konferenz im Haus der Kulturen der Welt drückten auf den blauen Knopf, worauf der engmaschige Gitterkäfig krachend von der Decke auf die Bühne fiel. Anders als am Vormittag geprobt – Dr. Pavian de Waal hatte sogar Kreuze auf dem Boden, wo er stehen konnte –, war der Ökonom neugierig gewesen, wer geraunt hatte. Er hatte sich weit nach vorne gebeugt, um dem Lichtkegel, der ihn blendete, zu entkommen. Das Letzte, was Dr. Pavian de Waal hörte, war eruptives Klatschen. Sie lieben mich, dachte er, während sein Kopf von der Bühne kullerte.
325.
Das Tor ist zu. Hinter ihm hat alles geöffnet. Aber niemand atmet. Vor dem Tor hat alles geschlossen. Die Codes atmen, erst binär, dann, nach einem Update, mit unendlichen Zahlen. Was die Lage nicht einfacher macht.
326.
Erst so zu tun, als hätten wir den Durchbruch geschafft, Logano leckt sich die verkrusteten Lippen, an denen die Flüssigkeit des Hasen klebt, dann – er zeigt auf den roten Haufen – wegen so was alles hinzuschmeißen? Krach schickt Cronos und Karla aus dem Raum. Die Kinder nehmen das Besteck mit. Sie wollen im Hof nachspielen, was sie gesehen haben. Polda, die bislang geschwiegen hat, als ginge sie das alles nichts an, tritt auf dem Schatten. Sie hält die Ohren des Hasen in der rechten, einen unbekannten Gegenstand, den noch niemand gesehen hat, in der linken Hand.
327.
Ich konnte nichts, mit einer Leidenschaft konnte ich nichts, die meine Familie überraschte. Nichts kann er, sagten sie, rein gar nichts. Sie schüttelten ihre Köpfe. Als ich das versuchte, das Kopfschütteln, ging es prompt schief. Bei mir sah es aus, als nickte ich, als nickte mein Kopf, allerdings in einer Schieflage, die wiederum nichts, rein gar nichts mit einem normalen Kopfnicken gemeinsam hatte. Als ich dich traf – oder sagen wir lieber: du mich, denn hätte ich dich getroffen, wäre ich an dir achtlos vorbeigegangen – als du mich trafst, trafst du einen jungen Mann, der noch niemals geliebt hatte. Weder eine Frau, noch sich selbst.
328.
Die Hammel springen. Es sieht aus, als würden sie tanzen. Wir steigen aus. Zunächst bemerken uns die Hammel nicht. Sie springen vor, springen zurück. Überqueren einen Graben, in denen Schlachtabfälle liegen. Dabei blöken sie. Ein Blöken wie wir es noch niemals gehört haben. Traurig, voller Zärtlichkeit. Oder doch. Wir haben es gehört. Am Grabe des Vaters. Als Mutter, die im Schatten der Erinnerung lebte, für einen Moment aufwachte und merkte, wo sie sich befand, wer hinabgelassen wurde. Schließlich sehen uns die Hammel. Sehen in unsere Richtung. Sehen sich an, sehen in den Graben, sehen uns wieder an. Und blöken. Ein Blöken, das nicht mehr zärtlich klingt. Das anschwillt, laut und lauter wird. Wir drehen uns um, der Bus fährt gerade davon. Die Fahrerin hupt. Die Kinder, die an den Fenstern kleben, schneiden Fratzen und beißen in ihre belegten Brote.
329.
Sie legen. Sich an. Geld an. Verlegen. Bücher. Versprechen. Einkaufszettel. Liebesbriefe. Triaden. Finden wenig, finden nichts wieder. Verwinden. Überlegen. Fühlen sich. Fühlen andere. Was selten, was nie gelingt. Oder gelegentlich. Im Mondschein. Oder ohne. Dann aber mit abgelegenen Folgen.
330.
Der Friede, Freude, Eierkuchen-Workshop des Backclubs Sweet Dreams ist, im Viertel, das Ereignis des Jahres. Gleich nach Weihnachten und Ostern. Über die Straßen wabern Tage vorher leckere Düfte. Überall werden Rezepte ausprobiert und verfeinert, um den Preis des Süßwahrenhandels, ja: mit h, gestiftet von der Philosophischen Gesellschaft, zu gewinnen. Prinzipiell gibt es keine Zugangsbeschränkungen. Als jedoch SuiZeit, die engagierte, quietschfidele Kuchengilde der Sterbefasten-Angehörigen, nicht nur antritt, sondern auch, zu aller Überraschung, herrliche, wie sie es nennen, Schwarzwälder-Kirsch-Tatorte kreieren, die den Naschenden, die vorm GehMuss eine Verzichtserklärung unterschreiben, reihenweise den Boden unter den Füßen wegreißen, kann von Friede, Freude, Eierkuchen in der mittelalterlichen Stadt keine Rede mehr sein. Der Hospiz-Kuchen landet als Musterfall vorm BundesGERICHThof.
331.
Sie schrieben es sich zu. Am Anfang, in der Kindheit, hatten sie noch abgeschrieben. Wie sehr sie sich heute nach der guten alten Zeit zurücksehnten, als sich das Kopieren noch gelohnt hatte – und zwar für alle Beteiligten! Nun hieß es, nicht nur auf der Höhe der Nachahmung zu sein, sondern eher einen Schritt voraus. Voll im Trend lag, wer den Trend erspürte. Die Spurensuche verschlang mehr und mehr Zeit. Und der Kauf von Spurenelementen entwickelte sich zum lukrativen Schwarzmarktgeschäft. Bis Paste auftauchte, ein StartUp aus Turin, das Steigwaren produzierte, die als Bügelhalter den CopyMarkt zerstörten. Und dann? Dann kamen die Geschichten auf den Markt und machten alles platt.
332.
Die Aufgabe wurde verteilt, sagtest du, als ich dich fragte. Ich nickte. Bei mir ist es ähnlich gewesen, sagte ich. Du sahst mich skeptisch an, da du wusstest, dass mein Jahrgang vorm Gong auf die Reise geschickt worden war. Und du, sagtest du, es war klar, dass du mir nicht trautest, was ich dir nicht übelnahm, und du bist hier ... hängengeblieben? Wie die HyphonHippies in Corck? Ich überlegte, während das Megafeuer, das auf der benachbarten Insel wütete, höher und höher stieg, so hoch, dass die Flammenwolke oben festfror, einen weißen Haarstreifen ausbildete. Wenn das runterfällt, sagte ich und deutete auf den Feuerkopf, wird das Wasser zwischen uns und drüben lichterloh brennen. Du sagtest nicht, sondern versuchtest, Empfang zu bekommen. Das Netz funktioniert nur in der Haibucht, sagte ich. Nun ja, sagtest du, über deinem Gesicht lag ein Schatten, der älter als du selbst war, und mir wurde klar, dass ich dich unterschätzt hatte, nun ja, alter Mann, rück mal zur Seite. Mir fiel auf, dass du nicht mehr bitte sagtest. Ich checkte den Knopf der Kindheit, er leuchtete. Matt, aber immerhin.
333.
Googleseelenallein. Wir warfen uns Worte zu, im Finale, vor Publikum, das skeptisch blieb. Ubermensch. Die Driver, die an der Tür warteten, klatschten. Instagrammatik. Die Sektion vom KZM machte sich Notizen. Es bestand immer die Gefahr, angezapft zu werden. Die Weisheiten der Hofnärrïnnen wurden öffentlich belächelt, heimlich eingeheimst und als Marschroute verwendet. Wir machten uns keine Illusionen. Die aus den Vorrunden schmorten bereits in Call-Centern, in Athen oder Istanbul, mit Glück. E-Bail, sagte ich und sortierte das Wort unter <Jura & StartUp & Quetschen> ab. Curl, die mich gecoacht hatte und im Publikum saß, nickte mir aufmunternd zu. Ich glaubte, eine Art von Halbherzigkeit zu entdecken, die mehr von Angst als von Langeweile motiviert war. Curl hatte stets darauf bestanden, dass unsere Zusammenarbeit lose blieb, an allen Enden. Silly Con, sagtest du und sortiertest es unter <Unterhaltung & Betrug & Games> ab. Als die Präsidentin dem Security Officer zunickte, dafür stand sie sogar extra auf, was für ein Raunen im Saal sorgte, wurde mir klar, dass ich jetzt ein As aus dem Ärmel zaubern oder mich in Luft auflösen musste. Ich öffnete den Mund, tat so, als wüsste ich genau, was ich sagen wollte. Dir stand der Angstschweiß auf der Stirn. Wir sahen uns an. Niemand hatte die leiseste Ahnung, dass wir Geschwister waren. Du sahst aus wie Mutters Mutter, ich wie Vaters Großvater. Darauf hatten wir gesetzt.
334.
Am Wettbewerb gibt’s nichts zu rütteln. Es geht darum, möglichst wie Nick Cave & PJ Harvey auszusehen, während sie gemeinsam Henry Lee singen. Zugegeben: eine Herausforderung, eine prinzipiell lustreiche. Cave & Harvey waren bei der Aufnahme ein Paar gewesen, und sie hatten vor der Kamera, was dem Video anzusehen ist, Sachen gemacht, die Paare machen, wenn sie sich begehren. Nun ja, wie auch immer. Erotik existiert nicht im Singular; täte es das, sähen wir alle gleich aus. Immerhin 13 Paare kommen, für den Wettbewerb, ein oder zwei davon freiwillig. Die anderen mussten. Alle, die müssen, singen bereits über Jahre Henry Lee. Immer und immer wieder. Die Überraschung ist ihnen, die müssen, anzusehen, als sie die anderen HL-Paare treffen. Die ein, zwei freiwilligen Paare lachen zunächst, merken zu spät, was tatsächlich passiert.
Dezember
335.
Ihr kamen die besten Ideen, wenn sie beobachte, dass Männer beim Eishockey den Puck ins Gesicht bekamen. Ange sah mich an. Und?, sagte Ange. Und was?, sagte ich. Was denkst du?, sagte Ange. Ich verstaute die Schläger, trocknete die Kufen mit dem Talisman. Kommt drauf an, sagte ich. Worauf?, sagte Ange und startete den Schneepflug, den sie sich, wie sie es nannte, bei der Bergwacht ausgeliehen hatte. Sie setzte sich den Helm auf und gab Gas. Mir fiel auf, dass der Raum, den sie brauchte, um mit dem Schneepflug die Vorhalle zu verlassen, verstellt war.
336.
Mittwoch kam, wie Mittwoche, die für ihre schlechte Kinderstube bekannt waren, meistens kamen, Mittwoch kam mit List und Tücke zu früh. Er hatte an einer anständigen Staffelübergabe keinerlei Interesse. Mittwoch lauerte Dienstag weit vor Mitternacht, kurz nach dem Heute Journal, auf. Er stellte sich scheinheilig als jemand vor, der den Weg verloren hatte. Weder ein noch aus wusste. Mittwoch stellte sich als jemand vor, der gewieft um Auskunft und Hilfe bat. Eine Strategie, die beim dienstfertigsten, einige sagten: leichtgläubigsten der Tage, obwohl andere die Leichtgläubigkeit eher beim Sonntag ansiedelte, eine Strategie, die immer zog. Dienstage waren nicht für ihre Lernfähigkeit, sondern ihre fast hirnlose Hilfsbereitschaft, die an Kadavergehorsam erinnerte, bekannt. Im Kampf galten Dienstage als geborenes Kanonenfutter. Und musste Ballast im schweren Sturm auf hoher See abgeworfen werden, flogen Dienstage stets zuerst über Bord. Nun ja, wie auch immer, dieser Dienstag blieb auf jeden Fall stehen, um sich dem offenbar verlorenen Mittwoch eilfertig zuzuwenden. Selbst als Mittwoch ihm erst das Smartphone kommentarlos aus der Hand riss, das Dienstag hervorgekramt hatte, um Maps zu checken, und danach die Watch-App manipulierte, so dass es – eine Stunde zu früh – Mitternacht schlug, Mittwoch hatte dafür Dienstags Watch-App in den Hitchclock Modus eingestellt und zählte die Glockenschläge genüsslich mit, selbst dann nickte Dienstag nur ergeben. Dienstag fing das Handy auf, das ihm Mittwoch beim zwölften Glockenschlag zuwarf und seufzte. Gerne, das sei erwähnt, gerne verließ Dienstag nicht die Welt. Dienstag winkte allem zu, was emsig kreuchte und fleuchte, und zischte dann wie eine Silvesterrakete gen Himmel. Mittwoch lachte bissig. Gerade die Leutseligkeit den anderen Kreaturen gegenüber war ihm fremd. Er nannte Dienstag einen knauserigen Kneifer, aberwitzigen Abhauer, sabbernden Saboteur und volltrottligen Vollidioten. Dienstag, der all das hörte, sich mit Tränen in den Augen hoch oben am Firmament in einen Sternschnuppenschwarm einreihte, mit glühendem Beifall von etlichen anderen betrogenen Dienstagen empfangen wurde, schluchzend seine Geschichte erzählte, worauf die Sternschnuppen Weltraumschrott zusammenscharrten, eine Extrarunde über dem selbstzufriedenen, weiterhin schäbig zeternden Mittwoch flogen und die Skybombe auf den zeitgierigen Tag niederregnen ließen, Dienstag sah noch, aus den Sekundenwinkeln, dass Mittwoch von einer ausgedienten Raketenstufe, die immer noch über ein funktionierendes Zielradar verfügte, über die sanften Tuesdayhügel Richtung Montagswald gejagt wurde, was am Himmel für ein heiteres Lachen und Leuchten, freudiges Jauchzen und Jubilieren der Sternschnuppen sorgte.
337.
Wir geben alles zurück, sagten wir, was Mum und Pa, Greatmum und Greatpa, Greatgreatmum und Greatgreatpa gestohlen haben. Eigentlich ist das nicht schwierig, sagten wir. Wir stellen einfach die Buchführung auf den Kopf. Haben sie selbst gearbeitet, behalten wir die Sachen. Alles andere wird restituiert. Gesagt, getan, sagten wir, rieben die Hände und gingen an die Arbeit. Alsbald stießen wir auf Probleme, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Weder Mum noch Pa, weder Greatmum noch Greatpa, weder Greatgreatmum noch Greatgreatpa hatten überhaupt selbst gearbeitet. Sie hatten keinen Finger krumm gemacht, nicht den kleinsten. Sie hatten alles, was sich in unserem Besitz befand, gestohlen. Ausnahmslos. Land, Haus, Möbel, Gemälde, Schmuck, Tafelsilber. Nichts gehörte uns wirklich, jedenfalls nicht auf die anständige, die einwandfreie Art. Wir, die Jungen, riefen einen Familienrat ein – ohne die Alten. Zunächst schwiegen wir, dann sprachen alle gleichzeitig. Daraufhin schwiegen wir wieder, anschließend sprachen wieder alle gleichzeitig. Das zog sich über Stunden hin. Einige von uns wollten weiterhin alles zurückgeben, das ganze Diebesgut. Das sei schließlich unser Plan gewesen. Einige wollten alles behalten. Wer, bitteschön, wüsste denn davon, außer uns? Niemand. Einige wollten so viel behalten, wie wir benötigten. Von den anderen gefragt, wie sie Not definierten, schwiegen sie. Und wir schwiegen anfangs mit ihnen. Als dann doch jemand sprach, sprachen alle anderen auch. Irgendwann, in einer Schweigeminute, klopfte es an der Tür. Wir gingen gemeinsam zur Tür, öffneten sie. Draußen stand eine Delegation, bat sich selbst hinein.
338.
Am nächsten Tag, morgen, würdest du mich töten. Heute tatst du alles, um mich auf deine Seite zu bringen. Dein Charme war umwerfend, deine Kanaillenstimme eine Wucht. Während du sprachst, mit mir, hinten, neben dem Friedhof, am Kirchplatz, sammelte sich eine Menschenmenge um dich. Die Leute standen alsbald dicht an dicht. Sie waren fasziniert, lachten und applaudierten dir, deinem Charisma. Du tatst so, als ginge dich die ganze Klatscherei nichts an. Als wärst du bodenverwachsen, immun gegen Ruhm. Als brächte dich nichts aus der Ruhe. Die Leute waren entzückt, komplett verknallt. Einige rannten als verzauberte Lotsen in die brummenden Cafés und Biergärten, die am Kirchplatz wie offene Boote ankerten, und kamen mit mehr, mit noch mehr Menschen im Schlepptau zurück. Das Lachen schwoll an. Heiterkeitskaskaden brandeten auf. Irgendwann war es gänzlich egal, was du sagtest. Die Leute lachten automatisch. Zuckten wie Tiere, in die man knisternde Elektrokabel steckte. Jede von dir geäußerte Silbe wurde als Sottise verstanden, jedes Fragezeichen als urkomische Bemerkung gefeiert. Da deine Stimme nicht mehr die hinteren Reihen erreichte, wurden deine Bemerkungen weitergereicht. Alle zehn Meter wechselten sie ihre Bedeutung. Nach 100 Metern hatten sie so gut wie nichts mehr mit dem von dir gesprochenen Satz gemein. Deine Aussagen, eh nie besonders klar, wurden kryptischer und kryptischer, während die Ehrfurcht vor deinem hellseherischen Genie zunahm. Am Rande der Menge wurden, um dich zu hofieren, Menschenopfer gebracht. Du und ich hörten das Schreien, ließen uns nichts anmerken. Jedenfalls nicht die ersten dreißig Minuten.
339.
Die Köter der Vorstadt hatten genug von den Mitte-Hunden. Angeberdogs, Aufschneiderbeller, Kotelettknochenabnager, die, so der Vorwurf, ihre friesierte Schnauze derart hoch trugen, dass sie die restlichen Kieze ausnahmslos als No-Gassi-Area bezeichneten. Den letzten Ausschlag für den Wutausbruch gab jedoch das Geraune um DogyDogyStyle, den posh-pathetischen Laden in der Auguststraße, wo Hunde Die Vierbeiner genannt wurden. Ein Geschäft, das nur betreten durfte, wer ein Halsband der Marke alLEINE trug und, laut FidelApp, frisch kastriert war. Es ging das heroische Gerücht um, dass im DoDoSty, wie der Laden von der Website Freunde von Freunden genannt wurde, ausschließlich Leute arbeiteten, die an Asthma litten, eine ärztlich attestierte Hundehaarallergie hatten und ein rotes T-Shirt mit der blauen Aufschrift Proud to be allergic trugen. So sollte einwandfrei bewiesen werden, dass das Personal Die Vierbeiner über alles, wirklich ausnahmslos alles liebte, ja sogar bereit war, für die Zuneigung zu leiden. Die Moabit-Köter waren die ersten, die DoDoStyle zur untrendy Pissecke auserkoren. Unablässig verabredeten sie sich in der Auguststraße, taten anfangs so, als interessierten sie sich für die Kunstgalerien, und strullerten dann, mit Verve und Vergnügen, dem Shop ausgiebig vor die Tür. Als die Hundehaarallergier Janus und Kim-Da, die gerade Dienst schoben, merkten, dass der Strom an räudigen Kläffern, die ohne Herrchen und Frauchen unterwegs waren, also definitiv alleine Gassi-gassi gingen, aber nicht mit einer alLeine geschmückt waren, gar nicht mehr abriss, sondern dass die gelbe Lache vorm Laden zur Riesenpfütze anwuchs und dass zusätzlich die Weddinger Graffiti-Terrier mit Farbe gegen die DoDoStyle-Fassade spritzten und Slogans á la Den letzten Gentrifizierer beißen die Hunde sprühten, riefen sie entnervt die Streife. Was ein wenig dauerte, da auf dem Revier niemand Englisch sprach. Als die Diensthunde schließlich doch in der Auguststraße auftauchten, wohlgemerkt: von vier Seiten, damit die Graffiti-Terrier nicht Reißaus nehmen konnten, die Polizei nutzte den Einsatz als echtes Training, da gerade ein Lehrgang aller Hundeführerïnnen der Bundespolizei in der Stadt stattfand, insgesamt handelte es sich um 514 Diensthunde, darunter Boxer, Riesenschnauzer und Rottweiler, als die verwunderten Diensthunde in der Auguststraße auftauchten, kam es zu einer bemerkenswerten Fraternisierungsaktion, die in der Stadt später als Bella-Felllatio-Moment berühmt wurde und für viel, sehr viel Zärtlichkeit und vielen, sehr vielen stubenunreinen Liebkosungen vor und in dem völlig überlaufenen DogyDogyStyle zwischen den Hundefraktionen führte.
340.
Wir befanden uns über den Anden, als die Ansage kam. Eigentlich handelte es sich um gar keine Durchsage. Mehr um einen Schrei. Munch im Himmel. Als würde man jemanden ein Messer ins Herz stoßen. Und dann umdrehen. Als würde man jemanden das Herz brechen. Mehrmals. So klang die Ansage. Hier war jemand getroffen, das war uns allen klar. Nach der Ansage schlossen sie den Zugang zur Economy Class. Verbarrikadierten die Gänge mit den Getränkewagen. Am Ende wollte niemand die letzten Minuten mit den billigen Loosern verbringen. Ich fragte mich, wie ich mich verhalten hätte. Mit der Schlüsselgewalt. Ob ich Champagner und Kaviar für alle ausgegeben hätte? Oder ebenso die Schotten dicht gemacht hätte? Tür zu, Affe tot. Statistisch überlebte man vorne häufiger, hieß es. Eine Untersuchung der britischen Universität Greenwich hat ergeben, dass man die besten Chancen im vorderen Bereich hat. Dort liege die Wahrscheinlichkeit bei 65 Prozent. Es gab sogar einen ganz bestimmten Platz, 12a, direkt am Notausgang, der die beste Überlebenschance bot. Wie auch immer. Wir saßen jedenfalls, während die Anden näher und näher kamen, hinten, in der Dunkelheit. Selbst das Licht hatten sie ausgeknipst. Erstaunlich war, dass niemand von uns ein Wort verlor. Während vorne, in der Business Klasse, Menschen fluchten und Beleidigungen austauschten. Sich gegenseitig beschuldigten, falsche Leben geführt zu haben. Betrogen zu haben. Nur am Geld Interesse gehabt zu haben. Dann streifte das Flugzeug die Bergspitze, brach, ein trockener Knack, ganz anders, als wir uns das vorgestellt hatten, weit weniger dramatisch, brach genau dort auseinander, wo die Getränkewagen standen. Während der vordere Teil weiterflog – jedenfalls einige Sekunden – und anschließend am Nebengipfel zerschellte, fiel die Economy Class zehn Zentimeter in ein weiches, frisch aufgeschütteltes Schneebett, rutschte gemächlich, als handelte es sich um eine Schlittenfahrt, auf Pulverschnee sanft in ein immer flacher werdendes Hochtal und kam wenige Meter vor einer Sternwarte zum Stehen. Als wir ausstiegen, funkelte das enorme Teleskop wie ein Diamant. Feuerzungen schlugen aus dem Mittelteil. Das Teleskop machte ein hungriges Geräusch, drehte sich in unsere Richtung, klappte die Seitenteile ein, sah nun wie ein überdimensioniertes Fernrohr aus, dessen Auge uns beobachtete. Du zogst an meinem Arm, sagtest eine Kanone und sagtest lauf.
341.
Die Erfindung war genial, wie erwartet, die SiliconValley-Firma hatte alles getan, um die Spannung zu steigern. Gerüchte wurden gestreut, Mutmaßungen befeuert. Info-Bröckchen machten unter Eingeweihten die Runde. Fest stand: Niemand wusste tatsächlich, was WALLnuts präsentieren würde. Aber alle hatten die Finger auf den Kaufen-Buttons, falls die Aktie durch die Decke krachte. Es ging darum, die Menge um Sekunden zu schlagen, um den berühmten Reibach zu machen. Und dann kam der Moment. Crown God the Third and Only trat auf die Bühne. They is between us verriet die Einblendung auf dem Riesenschirm, obwohl jeder wusste, dass es sich bei Crown God the Third and Only um einen Mann handelte, der aus einem Mittelklassevorort Atlantas stammte. Der Moment war gekommen. Erst erschien das Detail einer Büchse, die wie etwas aussah, das man kannte, aber trotzdem nicht ad hoc einordnen konnte. Dann erschien ein Charger, der wie ein stinknormaler Charger des WALLcrackers, des Milliarden-Verkaufsschlagers der SV-Firma, aussah, aber offensichtlich – die Präsentation veränderte sich – eine Metamorphose durchmachte. Der WALLcracker-Charger verwandelte sich in einen itHUMAN. So lautete der Name des Ladegeräts, der jetzt auf dem Bildschirm in fetten Lettern prangte. Und dieses Ladegerät – ein Schrei erscholl aus dem Publikum, der alsbald alle ergriff, ein Schrei, der quer über den Erdball eilte, von allen Besitz ergriff, und dieses Ladegerät hing aus Crown God the Third and Onlys Hinterloch. Das Geheimnis der Energie, die Crown God the Third and Only füllte, They’s Energy, hatte diesen b=analen Grund und war, gggggeil, KAUFBAR.
342.
Bluff schwitzte. Vorm Tresor liefen ihm die Schweißperlen von der Stirn. Als stünde er im Regen, dachte Angster, dessen Augenlider im Takt von Der Lindenbaum zitterten. Am Brunnen vor dem Tore, Da steht ein Lindenbaum; Ich träumt’ in seinem Schatten, So manchen süßen Traum. Bluff sah hoch, wischte sich das dicke Wasser aus den Augen. Schuberts Winterreise?, fragte er Angster, als ob das nicht selbstverständlich war. Angsters Lider-Tick war seit jeher mit dem Liederzyklus verbunden. Angster biss sich auf die Lippen und reichte Bluff eine Maske, die im Staub neben dem Papierkorb lag, noch eingepackt, die Leute hier trugen keinen Mund- und Nasenschutz. Aus Prinzip. Bluff warf die Maske zurück, schnaubte. Er war nicht blöd. Bluff kapierte Sachen, allerdings häufig erst im Nachhinein. Wenn’s zu spät war. Jetzt zu sprechen, ist eine Dummheit, dachte Angster. In den Räumen der Zentrale befanden sich Wanzen, die darauf trainiert waren, auf Worte, die hier normalerweise nicht ausgesprochen wurden, zu reagieren. Angster murmelte Rammstein und Joachim Witt, um die Wanzen zu beruhigen. Zwar sollte die Zentrale leer sein, die Mitglieder machten einen Betriebsausflug, eine Wanderung zum Eagels Nest, saßen wahrscheinlich gerade angetrunken im Kehlsteinhaus, auf dem Obersalzberg, schunkelten zur Götterdämmerung. Aber bei dieser zerstrittenen Partei wusste man nie. Eins war dagegen klar: Bluff war gekrängt, sackte in sich zusammen. Das Schwitzen nahm – kaum möglich, aber wahr – sogar noch zu, lockerte die Fundierung. Bluff trug immer künstliches Braun, mit einem zarten Stich ins Orange. Er glaubte, ihm stünde eine gesunde Gesichtsfarbe. Als presste man eine saftige Apfelsine aus, solch einen Eindruck machte Bluffs Gesicht. Er nahm jede Zurechtweisung als Affront, gerade von Angster, den er für seinen besten Freund hielt. Ich schnitt in seine Rinde, So manches liebe Wort; Es zog in Freud’ und Leide, Zu ihm mich immer fort, summte Bluff, der einst in Eisenhüttenstadt eine Ausbildung als Klavierstimmer gemacht hatte. Angster verstand, dass Bluff ihm, gewissermaßen, die Maske zurückgab. Nun war’s besser, Bluff einfach machen zu lassen, ansonsten konnte dies in einem Redeschwall enden. Angster stand auf, ging zum Fenster und konnte so die Wagenkolonne sehen, die gerade auf den Hof rollte, an den Eichen vorbei. Lautlos. Vier Teslas. Dass die Partei Elektroautos benutzte, zumal amerikanische, war unwahrscheinlich. Wer war das?
343.
Zunächst töteten sie an den Grenzen. Den vorgegebenen. Das ging erstaunlich einfach. Wenn man kam, sobald der Schlaf regierte. Tagsüber an den Grenzen zu töten, sahen sie als Herausforderung an. Das Töten gelang nicht immer. Führte zu Diskussionen über Räume und Verträge, über Loyalitäten und Moral. Gerede, das ihnen lästig war. Sie beschlossen, die Grenzen selbst zu ziehen. Dafür mussten sie innerhalb der Grenzen töten. Das ging besser als gedacht, da alle glaubten, sie töteten an den Grenzen. Die Situation wurde dennoch angespannter, weil sie mehr Leute brauchten, die mit ihnen simultan an den Grenzen töteten. Schließlich konnten sie nicht gleichzeitig innerhalb der Grenzen und an den Grenzen töteten. Sie versuchten, den neuen Leuten einzureden, dass die alten Leute sich gelegentlich von den Grenzen entfernten, um sich innerhalb der Grenzen vom Töten zu erholen. Da sich die Methoden des Tötens an den Grenzen und innerhalb der Grenzen ähnelten – sie mochten ihre Art des Tötens –, schöpften die neuen Leute irgendwann Verdacht. Es entstand ein Ungleichgewicht zwischen denjenigen, die sowohl an den und innerhalb der Grenzen töteten, und den anderen, die nur an den Grenzen töteten. Verständlicherweise litt die Moral der Tötenden. Dass sich die Bewegung des Tötens teilte, war unvermeidlich. Wie das Schisma geschah, war allerdings für alle, gerade Unbeteiligte, eine ganz besondere Erfahrung.
344.
Die Geschichten, die über uns, unsere Familie, erzählt wurden, waren nicht ganz und gar falsch. Aber sie waren eben auch nicht ganz und gar richtig. Uns störte das nicht. Wenigstens nicht am Anfang, zur Jahrtausendwende. Großvater, der damals noch ein überaus rüstiger Mittsechziger gewesen war, ohne Probleme als halbwegs junger Mann in einer Midlife-Krise durchging, Großvater hatte dafür gesorgt, dass die Gerüchte in verschiedene Richtungen waberten. Ladudu the Liar, wie er in der Familie hieß, war ein Meister der Maskerade, der es sogar schaffte, Queen Beetha, unsere trickreiche Großmutter, zu täuschen. In der Familie zirkulierten, unter der Hand, Geschichten davon, wie er Queen Beetha, die einen immensen sexuellen Appetit besaß und berühmt für ihre Liebeskunst war, in verschiedenen Maskeraden besucht hatte. Gerüchte, die weder Ladudu the Liar noch Queen Beetha offiziell bestätigten, die aber, möglicherweise, dafür verantwortlich waren, dass Queen Beethas Söhne und Töchter verschiedene Nachnamen trugen, obwohl alle ausnahmslos so wirkten, als wären sie aus einem Ei gepellt. Ladudu the Liar konnte sich nicht nur gut in andere Personen, übrigens jeden Geschlechts, verwandeln, er war auch in der Lage gewesen, wie ein Chamäleon in x-beliebige Rollen zu schlüpfen und, seine besondere Stärke, auf der Stelle selbst zu vergessen, wer er tatsächlich war. Als Enkelkinder kam uns alle paar Wochen die Aufgabe zu, Ladudu the Liar aufzustöbern und ihn, so diskret wie möglich, without much ado, hinter der Kulisse zu demaskieren und unbeschadet wieder nach Hause zu bringen. Das ging, um ehrlich zu bleiben, selten ohne Konflikte ab. Gerade wenn Ladudu the Liar die nach langer Zeit heimgekehrte Tochter oder den vor Ewigkeiten verschwundenen Sohn spielte, wollten die vor Glück berstenden, selig feiernden Familien in den Nachbarstädten sie/ihn unter gar keinen Umständen einfach so wieder gehen lassen. Und auch Ladudu the Liar, geliebt und hochbegabt, war, häufig, eigentlich immer, im Schoße der gerührten Familien fest davon überzeugt, wirklich die ausgewanderte, als Multimillionärin heimgekehrte Nichte oder der über Bord des Fischerbootes gefallene, von einem Ozeandampfer aufgesammelte und nach Südamerika gezogene Lieblingsneffe zu sein. Queen Beetha, der es irgendwann, verständlicherweise, zu viel gewesen war, immer und immer wieder auf ihren eigenen Mann hereinzufallen, Queen Beetha, die echte romantische Abenteuer schätzte, hatte Ladudu the Liar, nach einer weiteren unter falscher Identität erschlichenen, nach einer, zugegeben, zwar durchaus lustreichen, aber eben doch zu wohlbekannten Nacht, Queen Beetha hatte Ladudu the Liar, während er erschöpft neben ihr gelegen und sie darüber gegrübelt hatte, wie sie es zukünftig abstellen konnte, Sex mit ihrem verkleideten Mann zu haben, Queen Beetha hatte Ladudu the Liar an jenem sonnigen Morgen, während er schlief, hinter dem rechten Ohr, das weiter abstand als das linke, eine kleine, aber eindeutige Tätowierung verabreicht, die uns, wenn wir ihn in der Fremde enttarnen mussten, ungemein bei der Identifizierung half. Es blieb allerdings nicht aus, dass im Laufe der Jahre, wie eingangs erwähnt, Geschichten die Runde machten. Einige davon wahr, andere maßlos überzogen. Ladudu the Liar wurde allmählich, ohne unser Zutun, zu einer Figur des öffentlichen Interesses. Etliche Instagram-Accounts wurden ihm gewidmet. Drohnen folgten ihm, wenn er das Haus verließ. Was ihn nicht störte, da er ja weiterhin die Gabe besaß, inkognito abzutauchen. Irgendwann verbreitete sich jedoch die Story der Tätowierung. Und da Ladudu the Liar in gewissen revolutionären Kreisen als linke Popikone galt, wurde sein Tattoo alsbald reihenweise nachgemacht, entwickelte sich gar zum politischen Symbol. Ihr könnt Euch denken, dass dieses plötzliche Überall des Tattoos unsere Aufgabe, Ladudu the Liar aufzustöbern und diskret heimzubringen, schwieriger, beinahe unmöglich machte. Wir mussten uns also etwas überlegen, um den Zorn unserer Großmutter von uns abzulenken.
345.
Rinnstein hatte es eilig. Ihre Verabredung mit Gulliver, die sie hinausgezögert hatte, stand an. Wie würde er reagieren?, fragte sie sich, während sie den Bulldog Platz überquerte, der in Wahrheit anders hieß. Die Hunde lagen in der Sonne und gähnten. Drei, vier sprangen auf, als sie Rinnstein entdeckten und knurrten. Rinnstein öffnete ihre Handtasche, die wie ein Revolver aussah, nahm einige Leckerlies und warf sie den Hunden zu. Raben, die Rinnstein kannten und auf ihre Chance gewartet hatten, stürzten sich auf die Pansenbrocken, die wie Erbrochenes rochen. Die Hunde rührten sich nicht. Es reichte ihnen, dass Rinnstein sie wahrgenommen hatten. Rinnstein, die an Gullivers unverlangte Umarmungen und seine mit Pusteln überzogene Zunge dachte, steckte sich einen Pansenbrocken in den Mund. Der Gestank soll ihm eine Lehre sein, murmelte Rinnstein zu sich selbst. Am Rande des Bulldog Platzes wartete Jam Bro, der aus weggeworfenen Supermarktfrüchten schmackhafte Konfitüren kochte, die er löffelweise verkaufte. Hey, Rinn, komm, hier, Zwetschge, frisch, rief Jam Bro Rinnstein zu, die mit ihm über elf Ecken verwandt war. Keine Zeit, Jam Bro, rief Rinnstein und überlegte, was sich hinter Zwetschge, frisch verbarg. Die Pflaumensaison war vorbei. Die Farbe deutete auf verdünnten Teer mit vergammelten Beeren hin. Zeit, Rinn, rief Jam Bro und lachte, Zeit ist immer da, man muss sie nur höflich hereinbitten. Rinnstein schoss, während sie im U-Bahnschacht verschwand, mit ihrer Handtasche auf Jam Bro, der daraufhin alles stehen und liegen ließ und ihr folgte. Das Schießen mit der Revolverhandtasche war das verabredete Zeichen, dass Gulliver in der Nähe war. Jam Bro wusste, was das hieß. Und nicht nur Jam Bro wusste es. Der ganze Bulldog Platz wurde mucksmäuschenstill. Die Hunde kniffen die Schwänze ein. Aus dem U-Bahnschacht kamen Gerüche, die nur eines bedeuten konnten. Rinnstein schloss die Augen, betete ein Katerunser im Himmel und sprang.
346.
Lob hielt sich nicht mit Klischees auf, Konventionen waren einerlei. Das Ziel zählte. Lob platzte ins landesweite Zoom-Meeting, besetzte den Hauptschirm, schaltete die anderen auf stumm, sorgte dafür, dass die Kameras nicht ausgeschaltet werden konnten. Die Verblüffung war so groß, dass selbst Braggart die Spucke wegblieb. Swank und Poser schrien, schäumten regelrecht vor Wut, waren aber nicht zu hören, was in den Kommentaren für Heiterkeit und reihenweise klatschende Hände sorgte. Als Blowhard das machte, für was Blowhard berüchtigt war, stellte Lob Blowhards Kamera einfach aus. Show-Off griff daraufhin nach dem stumpfen Messer und tat so, als handelte es sich um eine scharfe Waffe. Lob schickte Show-Off ein Zungezeigen-Emicon, was in der Kommentarspalte für noch mehr Lacher sorgte. Als Grandstander, Cutup und Braggadocio, die im Sicherheitsapparat für Schlechte Schwingungen zuständig waren, versuchten, den Hauptschirm zurückzuerobern, begann Lob, während sich die umliegenden Länder zuschalteten, mit den Streicheleinheiten, die sich rasend schnell als undurchdringliche Firewall um Grandstander, Cutup und Braggadocio legten. Der Abend der Anerkennung begann, und nichts, rein gar nichts würde danach wie vorher sein.
347.
a) Niemand kam auf die Bühne und sagte: Ich bin Niemand. Das Publikum reagierte nicht. Niemand blickte auf die Stoppuhr, die als Bühnenbild diente. Von den zehn Sekunden waren noch drei übrig. Im Seiteneingang der Bühne wartete schon Jemand. Niemand musste handeln.
b) Nobody came on stage and said: I am Nobody. The audience did not react. Nobody looked at the stopwatch that served as a stage set. There were three seconds left of the ten seconds. Somebody was already waiting in the side entrance of the stage. Nobody had to act.
348.
Im Nachhinein sind wir alle klüger, sagte Gott, der, ein Tick von ihm, im Kreise der anderen Göttinnen und Götter Zuflucht zu Allgemeinplätzen suchte. Gott ignorierte geflissentlich, dass ihm die Anwesenden während seiner Lecture Holly NachtRICHTEN nicht zuhörten – wohlgemerkt: mit einer Ausnahme. Auf den Lecture-Titel, der ihm selbst eingefallen war, war Gott, wie er selbst am Anfang des ziemlich zähen Auftritts formuliert hatte, stolz wie Oscar mit C. Er platze regelrecht vor Erfinderglück, komme sich wie in der Traumfabrik vor. Gott hatte, allen Ernstes, Einladungskarten drucken lassen, auf denen als Titel der Veranstaltung Cotts Holly NachtRICHTEN stand. Die Göttinnen und Götter hatten ungläubig mit den Köpfen geschüttelt. Mehr Oulipo als Olymp, hatten die Griechinnen und Italiener geflüstert und sich köstlich über Gotts mageren Sprachschatz amüsiert. Er, Gott, übersah die Herablassung und Häme. Gott glaubte fest an seine poetische Ader, hielt den Bestseller, die Bibel, für Gottes Wort und versuchte alles, um die Publikation apokrypher Schriften einzuschränken. Er hatte im Laufe der Jahre immer und immer wieder Anwaltskanzleien beschäftigt, die Erfahrungen mit Copyright-Fragen hatten. Nicht dass er immer Recht bekommen hatte. Gerade eine richtungsweisende Thesenentscheidung in Wittenberg setzte ihm weiterhin zu. Wenn es eine Berufsgruppe gab, die ihm im Himmel besser nicht über den Weg laufen sollte, dann waren das theologische Philologïnnen. Gott überbetonte, wenn er seiner Feindschaft Luft machte, das ï, um bei den Konservativen im VATIkann – Gotts mit Abstand schlechtestes Wortspiel, das er zurückrufen musste, was nur halb gelang, da sich Opferverbände des Slogans in ihren Aufklärungskampagnen bedienten –, Gott überbetonte das ï, um bei den Konservativen Punkte zu sammeln. Manchmal sei es schwer, wach zu bleiben, besonders in der philologischen Kirche, sagte Gott nun im Dolby Theatre. Kam’s drauf an, bediente er sich selbst bei Oscar mit C Wilde. Die anderen Göttinnen und Götter beugten derweil, Gotts Lecture fand und fand kein Ende, ihre Häupter über Net-Devices, die sie in den Saal geschmuggelt hatten, und erledigten ihr Christmas-Shopping. Manchmal zeigten sie sich Sales-Aktionen, tauschten Rabatt-Codes aus oder checkten auf AppFall die Mitgliederentwicklung ihrer jeweiligen Glaubensrichtung. Gott, der privilegiert war, da ihm mehrere Konfessionen gehörten, drehte nach einer halben Stunde den Lichtstrahl, der ihn erleuchtete, auf Volle Pulle und sagte: Fehler sind wie Berge, man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen. Klaut von den Hausa, schrieb daraufhin TheOnlyIskia auf Twitter, jene Göttin, die zuhörte und sich vorgenommen hatte, Gottes Zitate abzuklopfen. Und ergänzte: Who sows the wind will reap storm. Was sich, wenig später, als akkurate Prophezeiung herausstellen sollte.
349.
Sie ließ ihn ausgraben. Eine Woche danach. Sie war spät gekommen. Zu spät. Der Anblick, die Anwesenden konnten es bezeugen, das Schaufeln der schweren Erde, das Wuchten des Sargs, das Splittern des vernagelten Koffers, der seine Hinterlassenschaften, ihr wohlbekannt, enthielt, die Anwesenden konnten es bezeugen, warum sie erneut mitgekommen waren?, obwohl sie beim ersten Mal doch dabei gewesen waren?, an einem wärmeren Tag, an einem Tag ohne Wind, ich kann nicht für andere sprechen, nicht für Neunmalunkluge, nur für mich selbst, und von mir kann ich sagen, dass ich auch meine Bedenken hatte, am Tode des Freundes zweifelte, ihretwegen stand ich nicht auf dem überwachsenen Grab, das neben seinem verwilderte, wir hatten uns niemals besonders gemocht, der Anblick ihres Toten, der eine Woche nur Dunkelheit gesehen hatte, dessen Lider aufgerissen waren, der uns anstarrte, mit Augen so blass, mit der ihm eigenen Intensität, der uns fragte, was wir von ihm denn noch wollten, ob es nicht genug gewesen sei, dass er die Waffe gegen den eigenen Kopf gehalten hätte, während ihrer Abwesenheit, ob es nicht genug gewesen sei, dass es Tage gedauerte hatte, danach, nach dem Schuss, sie jedenfalls, die sich am Holz des Deckels festhielt, die Nägel im Holz zählte, 18, 19, 20, sie jedenfalls starrte ihn an, während er uns anstarrte, und dann, die Anwesenden konnten es bezeugen, und dann, einen Augenblick später, verlor sie ihr Gedächtnis, sie blickte sich um, sah uns der Reihe nach an, auch mich, und fragte nach unseren Namen, sie fragte auch ihn nach seinem Namen, der vor ihr lag, die Augen so starr, so schön, und das Seltsame war, die Anwesenden können es beschwören, auch ich würde, zur Not, ja, auch ich würde einen Meineid leisten, zur Not, dass es so gewesen war, das Seltsame war, dass sich sein Mund öffnete, in der hölzernen Kiste, auf die es nieselte, Böen Schatten warfen, der Kiefer fiel nach unten, und dass es sich so anhörte, als würde er sie nach ihrem Namen fragen, sie jedenfalls drehte sich nach dieser Frage zu uns ein, sah uns wiederum der Reihe nach an, lächelte, ohne eine Spur des Wiedererkennens, ohne eine Spur eines Namenbewusstseins, und ließ, 21, 22, 23, den Deckel los, der sich nicht senkte.
350.
Zuerst fehlen die Klugies. Bunte Kugeln aus Zucker, von Milchschokolade überzogen. Das Schild im Regal Wir sind bereits bestellt verstaubt mit der Zeit. Eine kuriose Lücke, die zwischen Eltern und ihren Kindern erst für Gesprächsstoff, dann Wutausbrüche sorgt. Als überall im Supermarkt Regale leer bleiben, ganze Gänge wie Geisterbahnen aussehen, kehren vorm Jahreswechsel ausgerechnet die Klugies zurück. Es ist ein Rätsel. Manche sprechen auch, hinter vorgehaltener Hand, von einem Wunder. Denn die Klugies kehren nicht nur zurück, um die schmale Lücke, die sie im Regal gerissen haben, zu füllen. Sie kehren in style zurück. Meine restlos begeisterten Töchter sagen das, angesichts der aufgereihten Klugies: in style. Und die Klugies – lachen Sie bitte nicht – kehren nicht nur in style zurück, sie wachsen auch in style. Wenn wir, meine Töchter und ich, kurz vorm Regal warten, können wir durch die an der Vorderseite teilweise durchsichtige Verpackung sehen, dass sich die in style-Klugies im Beutel bewegen und langsam, aber sicher größer werden. Das in style-Wachstum der Klugies ist sowohl eine kuriose als auch wundervolle Angelegenheit, da die Klugies es schaffen, nicht nur selbst zu wachsen, sondern gleichzeitig, quasi wie Spinnen, ihre Verpackung größer zu weben. Die Kinder sind fasziniert, die Eltern haben keine Wahl. Da es ansonsten keine anderen Süßigkeiten mehr gibt, Wir sind bereits bestellt, kaufen sie die größer und größer werdenden in style-Klugies-Beutel, schleppen sie wie Zwanzig-Kilo-Kartoffelsäcke nach Hause. In den Wohnungen stoppt das Wachstum der in style-Klugies glücklicherweise. Was für Stoßzeufer der Erleichterung bei den Eltern sorgt. Allerdings stoppt es nur für eine knappe Stunde. Dann machen die Klugies einen weiteren Wachstumsschub durch. Sie brechen in style aus ihren Verpackungen aus. Woher ich das so genau weiß? Nun ja, wir, meine Töchter und ich, verbarrikadieren uns gerade in der Speisekammer, drücken Sie ruhig auf das Kamerasymbol, dann machen Sie sich ein in style-Bild von unserer Lage. Meine Töchter und ich können, durch einen Spion, sehen, wie die Klugies aus ihrer Schokoladenhülle brechen. Als verpuppten sie sich. Unter der Schokoladenhülle kommt etwas zum Vorschein, das wie wir aussieht. Etwas, das meinen drei Töchtern haargenau gleicht. Und auch ich, da stehe ich. Ich pelle mich schließlich aus einer in style-Klugies-Schokoladenhülle. Ein Ich, das mir ähnelt, schnappt sich die Knoblauchpresse und die Kartoffelreibe, lächelt breit, ich wusste gar nicht, dass ich noch so breit lächeln kann, schnüffelt etwas und geht – nein! – frohgemut im freestyle auf die Tür der Speisekammer zu.
351.
Die Zeit spulte uns ab. Wir waren die Noten, gespielt vor Jahren, lagen in den Armen des Orchesters. Jede Nacht kehrten wir als Träume zurück. Der Klang war berauschend, dachten wir. Die Münder lächelten uns zu, oben wie unten. Wir küssten den Moment, dem nichts zu fehlen schien, bis sein Herz stillstand.
352.
Gelegentlich drehten sich Jean, Piaf, Frances und Claude, wenn sie das Bett verließen, was selten geschah, wir befinden uns am Anfang, um die eigene Achse. Als wären wir Ballettstars, sagte Jean dann. Claude und Piaf kicherten, da sie genau das waren. Jedenfalls in ihrer Vorstellung – und die zählte, die allein. Die Vier hatten Diplome und eine zweistellige Nummer im Register, aber keine Anstellung. Die Gründe dafür waren vielfältig, einer dominierte. Die Herkömmlichkeiten, sie waren gezählt. Nach einigen Wochen, die ersten Seufzer hatten anders geklungen, hatte Frances, mitten in der Nacht, Frances litt an Schlafstörungen, eine Erscheinung. Die Vier, sagte Frances am nächsten Morgen, als sie auf der Holzbank in der Morgensonne vorm Club der Polnischen Versager in der Ackerstraße saßen, Kaffee aus tropfenden Thermoskannen tranken und befremdete Blicke ernteten, die Vier sollten, habe die Erscheinung gesagt, umsatteln. Umsatteln?, fragte Jean, erst brechen wir uns jeden verdammten Zeh, jede verfluchte Rippe, botoxen unsere Gesichter, schlucken mal Finger-Verdünner, dann Nasen-Verdicker, und jetzt sollen wir wie simple Niedergeschlagene umsatteln? Wie soll das gehen?, legte Piaf nach, das Leben ist doch kein Pferd, auf das man nach Bedarf Sättel wirft? Piff, paff, puff. Das Leben ist kein Ponyhof, Kreisreiten ist was für Blödiane, sagte Claude, sprang auf und vollführte eine Pirouette, worauf der Postbote, der auf einem Lastenrad Briefe auslieferte, Schwung nahm und so tat, als wollte er Claude überrollen. Im letzten Moment zog Frances Claude aus der Schussrichtung. Der Postbote riss den Mund auf und zeigte, während er am Club der Polnischen Versager vorbeischoss, eine beachtliche Reihe von Metallzähnen. Focker, doofer Uber-Focker, rief ihm Piaf hinterher. Der Postbote legte eine Vollbremsung hin, holte sein Handy aus der Hosentasche, machte ein Foto, tippte, während er die Zähne bleckte, auf dem Gerät herum. Wie viele, was denkt ihr?, sagte Jean, die wusste, was bevorstand. Ich hab eben auf dem Weg drei gesehen, mindestens, dazu zwei am Koppenplatz, ein Van stand außerdem an der Invaliden. Und die beiden, die hinten, am Friedhof, Stückgut ausgetauscht haben, sagte Claude, die sind auch in Reichweite. Da, sagte Piaf, da sind sie schon, die Fockerboys der focking Deutschen Hitler League, deutete auf die Torstraße, von wo, unter wildem Gehupe, drei DHL-Vans bei Rot über die Kreuzung bretterten. Halten sich für Ambulanzen, sagte Jean und klingelte beim Club der Polnischen Versager, wo die Waffen lagen.
353.
Die Schule im Panke Kiez finanzierte sich über Anzeigen. Das System war einfach, aber erforderte eine Robustheit gegen das pädagogische Zu-gut-Sein. Jeden Tag mussten zehn Prozent der Kinder wegen Gewalttätigkeit angezeigt werden, um die Fördergelder der Behörde zu behalten. In den Großen Pausen trainierte das Kollegium am Mittwoch und am Donnerstag Aggressionen evozieren, was stets für Gelächter und, ein Nebeneffekt, PB sorgte. Positive Berührungsängste schweißten nicht nur das Kollegium zusammen, sondern sorgten auch dafür, dass alle Feministinnen die Schule verließen und Anzeigen bei der Behörde erstatteten. Die Me too-Anzeigen versandeten allerdings, da die Gewaltanzeigen gegen die Kinder die Schule im Panke Kiez als Musterschule der Eigenfinanzierung auswiesen. Die finanzielle Bilanz war, buchstäblich, ein Totschlagargument. Erst als sich mehr und mehr Grabstellen mit kleinen Körpern füllten, Körper, die lieber gestorben waren, als weiterhin auf die Schule im Kiez zu gehen, regte sich Widerstand. Das Kollegium schweißte die Kritik jedoch noch enger zusammen, und die Gewaltanzeigen nahmen kontinuierlich zu. Bald, drei Tage nach der ersten Demonstration vor den Schultoren, hatte die Schule 20 Prozent pro Tag erreicht, eine Woche später waren es schon 75 Prozent. Die Schule war außer Rand und Band. Die Brutalität schwappte, kein Wunder, aufs Kollegium über. Es entstand die Idee, so zu tun, als handelte es sich bei den Lehrerïnnen um Schulkinder. Akten wurden gefälscht, Geburtsdaten zurückdatiert, um sich gegenseitig mit Anzeigen zu überziehen. Das PB-Training wurde längst täglich veranstaltet, allerdings in den Klassen. Draußen, an der Schulfassade, wurde das 100 Prozent-Poster aufgehängt. Dann passierte es. In der 5a fing es an.
354.
Sal hing am Leben. Nicht übermäßig, aber immerhin. Auf das dritte Sterben hatte Sal keine allzugroße Lust. Dass Lucy, die Letale Erweiterung gewählt hatte, war ihre Sache. Sal konnte Han, die dieses Jahr die Extension Celebration organisierte, eh nicht übermäßig ausstehen. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Einfach so im BB aufzutauchen, kam also nicht in Frage. Viele Erweiterïnnen hatten bereits den befriedeten Burgbunker verlassen. Einige wenige waren vorgestern mit unterflächigen Verletzungen zurückgekehrt, wurden aber nicht wieder aufgenommen. Wegen der Augensekrete. Das Feld der Strahlen, hieß es in den Ablehnungsbescheiden, lauerte in den ausgehöhlten Pferden, die auf den Hügeln grasten. Huftiere, die so taten, als wären sie unschuldig. Jede Erweiterïn sei jedoch als Organlab auf der morgigen Kirchweih willkommen. Auf Waffenviren würde man alle durchsuchen, das sei vorab hoffentlich allen bewusst. Sal blickte auf die Projektion. Die anderen beobachteten Sal. Ihre Eifersucht wurde nur noch von ihrer diffusen Lust übertroffen. Dass sie nicht Sal als Sal begehrten, wusste Sal. Sie begehrten Sal, weil Sal, heute, Das Sein verkörperte. Sal legte die Kleidung ab und sprang ins Wachs.
355.
Ich lerne Tag für Tag nichts Neues, sagte er, ich. Im Institut am Burgtor scannten sie seine, meine, Vectoren. Es verbanden sich Hirnbereiche und Personalpronomen, die nicht zusammengehörten. Alle sahen auf die Bildschirme, niemand sagte ein Sterbenswort. Er, ich, fragte, in die Stille hinein, wo das Badezimmer sei. Sie schlossen die Handschellen auf. Und er, ich, verschwand durch den Lieferantenausgang. Ihm, mir, folgten die Tiere, die er, ich, auf dem Weg zum Buddenbrookhaus, aus der Küche der Schiffergesellschaft befreit hatte. Die Tiere wussten nicht, wohin, hatten nicht genug Geld, um im Motel abzusteigen, wo er, ich, ihnen vier Zimmer reserviert hatte. Die Unterkunft lag zentral am Markt. Unweit des Rathauses. Ich weiß, sagte sie, du, die auf ihn, mich, unter den Arkaden gewartet hatte, nichts ist schlimmer als Hummerheimweh. Sie, wir, standen vorm Klagewald. Hinter uns St. Marien. Die Glocken schlugen Mitternacht. In der Luft lag Nostalgie. Fremde Gesichter hatten sich der Stadt angenommen. Früher hätte sie, du, vorgeschlagen, die Kirche zu wechseln. Die Kirche der Schiffer wäre besser gewesen. Und sie, wir, hätten gelacht, in St. Jakobi, und hätten, nach der Messe, in der Beckergrube den Seiteneingang des Theaters benutzt, um ins Studio zu gelangen. Mit den Tieren wäre das jedoch zu auffällig gewesen. Ein, zwei von den Schweinen, vier, fünf von den Hühnern – das wäre vielleicht noch gegangen. Aber 37 Lobster? Einige davon angetrunken? Was übrigens nicht ihre Schuld war. Die Lobster hatten ungefragt in Weißweinsauce gelegen. Selbst Toni, du, die ansonsten den Pförtnern Grünlich und Permaneder eingeredet hätte, die neue Direktorin des Theaters zu sein, wäre damit nicht durchgekommen. Schon die Lautstärke hätte uns verraten. Die seligen Lobster klackerten und sangen sentimentale Seemannslieder. Sie hatten wunderschöne Stimmen, tief und fest. Die Anhänglichsten klemmten sich dabei an ihre, unsere, Hosenbeine, kletterten vergnügt hoch, was einiges an Koordination erforderte, die besonders den angesäuselten Lobstern abging. Sie, wir, fingen die lallend Fallenden auf. Jedenfalls die Mehrzahl. Die Wagemutigsten hakten sich, oben angekommen, bei ihnen, uns, unter. Er, ich, sah sie, dich, an und sagte, dass es mit dem Studiogespräch im Theater, was ideal für die Interviews der FischfangGründe gewesen wäre, wohl eher nichts würde. Sie, du, schlug daraufhin vor, sie, wir, sollten doch ein FKK-Bad nehmen. Unten am Holstentor, in der Trave. Zusammen abhängen, relaxen, am Kai sturmfrei ins Gespräch kommen. Vielleicht sogar VoxPop einsammeln, kreativ sein. Die lustig lallenden Lobster klatschten Beifall, was, leider, zu weiteren Abstürzen führte. Seine, meine, Einwände, dass man mit Alkohol unterm Panzer lieber nicht schwimmen sollte, wurden ausgebuht. Und so torkelten wir denn Richtung Untertrave, wo, was wir als Auswärtige nicht wissen konnten, gerade das alljährliche Taschenkrebsfestival Gonopoden, ahoi! stattfand.
356.
Unsuscribe. DeVito und LangGy bestellten die Push-Up-Meldungen, Newsletters und Sales-Alerts ab. Was sich einfacher anhörte, als es war. Das Paar wurde von den Providern regelrecht in die hinterste Ecke des Netzes gepusht. Banken und Versicherungen meldeten sich, um Preissteigerungen anzukündigen. Sie fielen aus dem üblichen Rahmen, hieß es. Die Marketeers, uralte Feinde, die als Broker für DeVitos und LangGys Einkäufe und Memberships sorgten, riefen reihenweise an, drohten knirschend mit der Sperrung der Bonuskarten, kündigten, als nichts half, Shaming-Aktionen der elitären Browser-Riege an. Schließlich, Krönung eines hektischen Tages, meldeten sich auch noch Rock, Harsch, Brute und Chlor am späten Nachmittag bei ihnen. Freunde, im weitesten Sinne, nicht buchstäblich, das nicht. Freunde, von denen DeVito und LangGy seit Ewigkeiten nichts gehört hatten. Wofür es Gründe gab, gute wie schlechte. Etliche Unternehmen wollten die Werbe-Geschenke zurück, sagten Rock, Harsch, Brute und Chlor, die seit dem gescheiterten Umzug und der vermaledeiten Abnabelung auf Grüßformeln mit DeVito und LangGy verzichteten. Was los wär? In den Klauseln der Verträge stünden Zehnjahresfristen. Das wüssten sie doch, oder? Hätt ihnen jemand etwa ins Kleinhirn geschissen? Faule Eier gelegt? Orkusgefühle gelüftet? DeVito und LangGy taten, als wäre die Verbindung schlecht, klemmten sich ein krummes Lächeln ab, winkten flau und legten auf. Da die Bildqualität fraglos hervorragend gewesen war, einer dieser raren Super-Wifi-Freakdays, wussten Rock, Harsch, Brute und Chlor natürlich, dass DeVito und LangGy deppisch gelogen hatten. Wieder mal. Und DeVito und LangGy wiederum wussten, dass Rock, Harsch, Brute und Chlor, die den Boxstall Auf die Fresse am anderen Ende der Stadt betrieben, von den Lügen wussten. Sie gaben die Auf die Fresse-Strecke bei Maps ein. Beim jetzigen Verkehr, es war glücklicherweise Rush-Hour, blieben ihnen, laut der App, knapp 18 Minuten. DeVito und LangGy, die nach Kieferbrüchen mit Rock, Harsch, Brute und Chlor im Auto gesessen hatten, teilten die Zeit durch drei. Sechs Minuten. Nicht mehr, nicht weniger. 360 Sekunden blieben ihnen, ein Teufelskreis an Zeit.
357.
Übermut tut Kelten gut!, sagte Zitron, der seit fünf Legislaturperioden am Hof arbeitete – und zwar als Vertreter des Vertreters des stellvertretenden Redenschreibers und als Faktotum. Zitron, der aus einfachen Verhältnissen stammte, seine Mutter war Spinnerin, sein Vater Schornsteinfeger gewesen, Zitron hangelte sich von einem Zeitvertrag zum nächsten. Jester lebten am Hof traditionell prekär. Zitron leitete zum ersten Mal den allwöchentlichen Motivationskurs, da die Generälin, deren Neffe in ihrem Heimatdorf heiratete, verhindert war und sowohl den Redenschreiber als auch den Stellvertreter des Redenschreibers und den Stellvertreter des Stellvertreters des Redenschreibers mitgenommen hatte. Für den Motivationskurs waren neben Schleim, Schlossa und Schleudu, den drei tuschelnden Schranzen, Heer, Marine und Air anwesend. Außerdem war aus dem Bedroom in Bavaria Erbboss, der Nunboss in der Partei offiziell folgen sollte und aufgrund seines überblickbaren Verstands inoffiziell Erbsboss hieß, zugeschaltet. Erbsboss klatschte begeistert und schrie wie ein Kind, das seine Geburtstagstorte entdeckt, Über-mut tut Kel-ten gut. Zitron, der einen ausgefransten Zaubermantel trug, den er bei BeDay ersteigert hatte, in dem Wanzen lebten, Zitron legte nach: Als die Kelten bellten, beugten sich die Welten! Erbsboss bekam im Bavaria-Bedroom einen Heiterkeitsanfall: Kel-ten, Wel-ten! Er lag keuchend auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt, röchelte vor Vergnügen, woraufhin Luftmasken mit verschiedenen Lachgasgeschmacksrichtungen (Bluff-Hanf, Untreu-Mayonnaise, Devil-Heu, Krach-Lösungsmittel) von der Decke fielen, die sich Erbsboss nacheinander vors Gesicht drückte und hysterisch kicherte, was die drei Schranzen pflichtmäßig beklatschten. Marine knuffte Air und murmelte etwas, was nicht verständlich war, in Airs Ohr, worauf Air wie eine gezündete Rakete aufsprang und rief Halblang, Zitron! Wir sind die Gothen, die ... die Kelten ausbooten!, ergänzte Heer. Zitron wurde leichenblass; ihm, dem Marginalisierten, war der Unterschied bis dato gar nicht bewusst gewesen.
358.
Die Vorstellung, mit anderen zu teilen, mit vielen etwas zu teilen, war den wenigsten, hier, dahinten und daneben, wichtig. Obwohl es etliches gab, was sich nicht alleine machen ließ, um die Ecke. Wer etwa glaubte, der einzige Mensch auf Erden zu sein, der schlief, in der Abstellkammer, die oder der täuschte sich. Obwohl wir davon, von der Gemeinsamkeit, wissen könnten, wenn wir beim Schlafen wach wären, im Fensterlosen, da wir, beim Schlafen, alle – egal wo – in Wahrheit allezeit einen einzigen Raum teilten, nahtlos zusammengefügte Abstellkammern. Und dieser Raum wurde nicht nur von denjenigen genutzt, die gerade lebten und schliefen. Nein, ganz und gar nicht. Dieser Raum wurde auch von denjenigen genutzt, die einst geschlafen hatten und schlafen würden, oben wie unten, mit und ohne Grasnarbe. Lasst mich nun davon erzählen, wie es in diesem Raum des ewigen wachen Schlafes zugeht.
359.
Exciting Plus stand neben Boring Minus, im Oxbridge Cube der Jobmesse. Dann trat Plus einen Schritt voran. Minus, das einen Moment abgelenkt gewesen war, Minus’ Handy hatte, von Plus arrangiert, geklingelt, blieb zurück. Als sich Plus umsah, um zu prüfen, wie Minus reagieren würde, war nicht nur Minus verschwunden, an seine Stelle war, wie aus dem Nichts, Promised Gleich getreten. Plus wusste, aus Erfahrung, dass man Gleich und Seinesgleichen nicht über den Weg trauen konnte. Versprach Gleich etwas, regierte das Wage, nicht das Wagnis. Gleich grinste, da es die Erschütterung bemerkte, die es in Plus’ Gemüt verursacht hatte. Nun, dachte Gleich, ging es darum, aus dem allgemeinen Unbehagen Kapital zu schlagen. Gleich orderte Minus heran. Als Minus so tat, als würde es die Order nicht bemerken, rief Gleich, ohne lange zu fackeln, bei Loquacious Hashtag an. Kurz darauf existierten die Jobanzeigen #MinusKnacker und #IstMinusDasNeuePlus?
360.
Angenommen – rein theoretisch – Atomwaffen hätten Gefühle. Etwa so, als Anhaltspunkt, wie, sagen wir, Commedia dell’arte Charaktere Gefühle haben. Leicht platonisch, schwer ironisch. Irgendwie echt und hölzern zugleich. Diese Art von Gefühlen. Angenommen, das wäre der Fall, was würde eine solche Atomwaffe fühlen, wenn sie sich im Sturzflug auf, sagen wir, Deine Stadt befindet? Würdest Du das nicht gerne wissen? Wäre das nicht richtig interessant?
361.
kleiner sagten wir // hielten uns fest
an körperteilen die // dank der aufmerksamkeit
die wir ihnen schenkten // größer wurden
aufwachten // am eigentlichen ende
das andere einläuteten // die sich gesellschaft nannten
obwohl wir dazugehörten // von uns
zuletzt // nichts wissen wollten
unserer teilhabe // überdrüssig gewesen waren
kleiner sagten wir // geht kein tag zur neige
kein atem // im morgengarten
der feucht glänzt // keine stunde
keine // sagt es
sagt es // ruhig
laut // keine gerechtigkeit
keine freude // wir ketteten uns aneinander
ich hatte das glück // neben dir zu sein
wieder // zu liegen
wir flogen // mit ketten so leicht
mit sätzen // mit gesetzen
im mund // im grunde
wir flogen // so leicht
im licht // und oben
wir schliefen // und unten
wir schliefen // miteinander
wieder und wieder // während die anderen
kein wunder // von der
von der liebe // mit uns
mit euch // träumten
362.
Erst die Augen. Dann der Mund. Schließlich die Ohren: Wir rosteten. Du sagtest, Flugrost. Schlieren voller Späne regneten auf uns. Ich folgte dir, du folgtest mir. Ein hab Dich!-Moment folgte dem nächsten. Es stimmte, wir hatten die Meisterschaft der kritischen Symbiose in ungeahnte Höhen getrieben. Wir schafften es, uns gegenseitig vertreten zu können, ohne dass irgendjemand merkte, dass nicht das Original anwesend war. In unserem Coming Out erklärten wir die Idee des Abkupferns zum wahren Original. Ein Original existierte nur, wenn es Wirkung zeigte. Ein Original, das keine Wirkung zeigte, wäre eine Sackgasse, in der man nicht wenden könnte. Wirkung entstünde durch die perfekte Kopie. Die Pop Kultur lebte allein davon, sehr gut sogar, von den perfekten Kopien. Wer zu eigen sei, werde kurz geschätzt, dann schnell vergessen. Nur wer sich als Kopie eignete, erlangte Weltruhm. Wir suchten in den Anderen uns selbst. Ein abgekupfertes Selbst, das alles könnte, was alle anderen könnten. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Was das mit uns machte? Mit unserem Begehren? Mit dem Rost, der flog, in krummen Bögen, uns suchte und fand?
363.
hey, ja, ich spreche, ich spreche, ich spreche mit dir, hey, ja, axiomatisch, nichts anderes kannst du erwarten, nichts anderes wird hier serviert, wir kochen zuerst sächlich, als unterrichtest du mich, als wolltest du unterrichtet werden, als wollte ich dreckig sein, als wolltest du dreckig sein, so schmutzig wie früher, als träumtest du von früher, axiomatisch, hey, ja, träume, ich spreche, ich spreche, ich spreche mit dir, mit mir, mit euch, hey, januarisch, so spreche ich, wenn es heiß ist, julianisch, so spreche ich, wenn es kalt ist, wir, du und ich, sind gegensätzlicher, gegenausruflicher, gegenkommentarischer, wir lecken uns kontradiktisch, axiomatisch, ich lass mich von dir überall zudecken, wo du nicht decken würdest, du lässt dich von mir zudecken, wo ich nicht decken würde, simultan, nacheinander, gleich und später, mittendrin, während andere unglücklich sind, kultivieren wir uns, pflanzlich, bewässern uns, bewalden uns, lichten uns, arbeiten am nichtarbeiten, wie besessen, ja, hey, arbeiten am vergessen, was uns niemand beibringt, beigebracht hat, du sprichst mit mir, du sprichst mit mir, axiomatisch, du sprichst mit mir, hey, du, deine züngelnde, deine heilenden, es regnet in uns, es trocknet auf dir, während ich, axiomatisch, grün, blau, rot esse, ich serviere dir alles, du servierst mir alles, was ich nicht begehre, ich begehre nur dich, du begehrst alles, was ist, was war, was sein sollte, was wahr sein sollte, davon, sagst du zu den anderen, die klingeln, als gäbe es uns, davon servieren wir euch nun, euch nun, euch nun: giftiges, giftiges, giftiges zeugs
364.
Je fremder ich mir bin, desto mehr magst du mich, sagten sie. Du schriebst die Melodie. Dann sangen sie das Lied. Je fremder ich mir bin, desto mehr magst du mich! Ein Feuerball. Nicht aufzuhalten. Drang sogar durch geschlossene Fenster, sprengte Türen auf. Sie sangen es, mit Waffen in der Hand. Welche Waffen? Ansporn, Solidarität, Treue. Waffen, die für einige Orte reichten. Orte, die fielen von Bäumen wie reife Pflaumen. Die Früchte des Zorns, der Schwerkraft, sie kamen danach. Standen vor Städten, die nichts wollten als die Vergangenheit. Den Kreis ohne Weite. Sie lächelten, weil sie sich sicher waren. Wie Gläubige, die nicht denken müssen. Alles steht in der Schrift. Und was nicht in der Schrift steht, existiert nicht. Das Einst sei mit dem Eben und dem Nun verwandt, sagten sie und packten die Früchte des Zorns, die alten Klamotten, aus. Der Feuerball färbte sich rot. Außen wie innen. Das war die wahre Revolution. Nichts blieb mehr an der Oberfläche haften. Die Vergangenheit, die sich Gegenwart nannte, fiel, fiel tief, fiel vom MammonHimmel, vom BankAltar, von der YouTubeKanzel, fiel aus allen StälleWolken, den EheBetten und universitären ZuchtAnstalten. Gegenden rieben sich die AugenBlicke, spülten sich die SchluchtMünder, durchpusteten sich die OhrenWatte. Das Sein roch nach dem Jetzt, das nicht wartete. Sie kamen und kamen und kamen und teilten. Saus und Braus, sangen sie, wenn sie Luft schnappten, zwischen den Höhepunkten, zwischen den Tiefdoppelpunkten. Es war eine Frage der Zeit, bis sich Widerstand formte. Von den Staaten jenseits des Wassers. Wo die Alten alle niedermetzelten, die versucht hatten, zu singen. Das Wasser, das kam, zu ihnen kam, färbte sich ruhig. Am blauen Horizont tauchten die Kriegsflaggen auf, gespannt über Schiffe, die strotzten vor unlauterer Hierarchie, geladen, voll mit Dummheit, mit Hass, mit Proviant. Der Urin der Mannschaften kochte. Sie tranken das vergossene Blut der Erinnerungen, hingen an den Takelagen, ballten Fäuste. Sie taten, was notwendig war. Taten aus, traten bei. Stimmten ein und ab. Planten. Die Klügsten berieten. Es ging schnell. Ein genialer Plan. Dann, die Stunde Null.
365.
Er rollte sich aus. Lag an einem Punkt, endete an einem anderen. Als wäre er ein Teppich. Zunächst dick und fett, das Rollen schwergängig. Dann, mit jeder Runde, dünner. Er franste aus. Bis er flach vor ihnen lag. Wie ruhiges Wasser. Was seltsam war, an der Prozedur: Niemand sah den Teppich, trotz der Anknüpfpunkte. Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei. Noch seltsamer: Alle, ausnahmslos alle hielten ihn für den Teppichhändler. Niemand sah mehr den Teppich, auf dem doch alle standen. Interessant war, jedenfalls für ihn, dass sogar sein engster Kreis den ausgerollten Teppich unentwegt stumm anstarrte, still Notizen machte, die Muster verschwiegen verdaute und ins Eigene expressiv einfließen ließ. Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir! So ging das seit Ewigkeiten. Der Teppich stiftete Zugehörigkeit und wurde gleichzeitig ignoriert. Jedes Jahr rollte er sich erneut aus, langsam zu Beginn, schneller zum Finale, kaute vor, zeigte Muster und Knoten, schickte sich, wie er es nannte, an. Er fing die Geschichten ab, You have an eye, it's an image. My boy, it's your last resort. Will you marry it, marry it, marry it, verwebte sein Leben mit dem Vor-, dem Mit-, dem Ausgedachten, öffnete sich, machte Schnappschüsse, arrangierte Kämpfe und Gaben, hatte Sex und Streit, kreierte Archive, gab den Geschichten Proviant mit, füllte Wasserflaschen auf, zurrte Tornister fest, trug die schweren Taschen der Geschichten zum Bahnhof und bezahlte, während die Geschichten vor der Kasse rauchten, die Fahrtkarten der Rundreise. Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ír nu wunder hœren sagen. Er wusste, dies waren nur Schritte. Er ging hier immer wieder hin. Als wäre es ein Haltepunkt, was es nicht war. Was die Geschichten wussten, er nicht. Das Schickte-sich-an war keine Vollendung. Zwar rollte der Teppich, bis er flach auf dem Boden lag. Aber er war ein Läufer, bedeckte immer nur einen überschaubaren Abschnitt des Bodens. Wusste, dass der am Anfang stand. Von etwas, was niemals erreichbar war. Er wusste, dass nur eine einzige Sache für ihn erreichbar war. Er hatte es in anderen gesehen, die wie er Teppiche ausgerollt hatten. Und diese Sache war, in Wahrheit, keine Sache, was ihren Kern ausmachte. I propose that forensic dissection unite with unfettered imagination. Die rauchenden Geschichten, die vorm Bahnhof auf die Tickets warteten, die er ihnen von seinem ersparten Geld kaufte, das Geld war das Geld, das er nicht ins volle Brot gesteckt hatte, sie waren anders. Sie schickten sich nicht an. Die Geschichten waren davon überzeugt, mitten im Strom zu stehen. Sie glaubten, wenn man so will, an sich. Glaubten an ihren Plot, an eine Zuhörerschaft, einen gebundenen Winkel. Sie glaubten an eine Zukunft. Was, für ihn, eigenartig war: Jede Geschichte bestand darauf, dass er eine Rückreise buchte. Unbedingt. Alle wollten weg. Aber alle wollten auch heimkehren. Wohlgemerkt: irgendwann. Keine einzige Geschichte wollte einen bestimmten Tag für die Heimreise gebucht haben oder den Schlüssel zu seiner Wohnung behalten, in dem der Webstuhl aus alten und neuen Tagen stand. Sie beharrten auf Flexibilität, auf Eigenständigkeit, auf ihr Entwicklungspotential, hielten sich für stark, für reif, für wie gemacht. Lachten über ihre Schwächen. Freuten sich, verstanden oder missverstanden zu werden. Er nickte ihnen jedenfalls zu, während er die Tickets löste, lobte ihre Kunstfertigkeit und bezahlte den höheren Preis, Hin & Zurück, bitte, für die Chance, die Geschichten mit Glück wiederzusehen. Sie hielten das alles für normal. Das Einmaleins des Atems. Hielten den Teppichhändler, der nicht reiste, höchstens zur Bibliothek und zurück, für, vorsichtig ausgedrückt, unterbelichtet. Die Geschichten nannten ihn Kunsthandwerker und fügten, tuschelnd, hinzu unterbeleuchtet. Sie hatten manchmal Mitleid mit ihm, was er hasste. Sprung in der Schüssel. Er musste eine Änderung herbeiführen. Er dachte es jedes Mal, wenn er das Vollkornbrot in der Hand hielt, den Laib wieder ins Regal zurücklegte. Viele hatten an den Angeboten mitgewirkt. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch. Er hörte, als erstes, auf, mit zum Bahnhof zu kommen. Und er kaufte keine Fahrkarten mehr. Aber vor allem schloss er die alten Teppiche weg. Er räumte den Kohlenkeller, der zur Wohnung gehörte, leer. Ewigkeiten hatte er mit dem Bewusstsein des Lochs unter sich gelebt, war niemals hinabgestiegen, um Borges’ Aleph nicht zu treffen. Unser Geist ist durchlässig und das Vergessen sickert ein; ich selbst verzerre und verliere unter der Abnutzung der Jahre das Gesicht. Keine Reinigung, das nicht, nur ein Ausräumen. Und er warf die Teppiche, vom obersten Treppenabsatz, ins Verlies. Die Teppiche wussten nicht recht, was mit ihnen passierte, bis sie merkten, dass sie flogen.
Januar
1. Die Epiphanie
2. Echte Liebe
3. Unter Tage
4. Eine wehrhafte Demokratie
5. Big Bang Elektropolis
6. Tangohimmel
7. Mokele-Mbembe
8. Gretel & Greta
9. Das Erwachen des Mondes
10. Alpha-Gan und Omega-Tarisch
11. Aufstand der glücklichen Frauen
12. Die geile Nacht der süßen Träume
13. Unter der ewigen Schneedecke
14. Gesellschaft der unsterblichen Liebe
15. Das Kapital
16. Animal Liberation Front
17. Saison der Albträume
18. Mehr tot als lebendig
19. Tag des Männeraufstands
20. Die totalitäre Zukunft des Glücks
21. Altruistischen Elefantenmann
22. Draußen steht der 22. Januar 1979
23. Neuinterpretation Shakespeares oder Wir lesen Euch die Leviten
24. Das Reich der Verflossenen
25. Am Tag des geviertelten Todes
26. Während des Großen Verstummens
27. Der Heiland ist zurück
28. Das Befremden ihrer Eltern
29. Nach dem Ende des Geldes im Anthropozän
30. Carcharodon carcharias oder Neue Haimat
31. Die Cyborgin aus Delphi
Februar
32. Auf tödliche Weise luzide
33. UFO-Tribunal
34. Die entschlossenen Brieftauben
35. Neue Ära
36. Der Dritte Waldkrieg
37. Die Zeit der Lautmalerei
38. Giro d’Italia
39. Der Plan zur Rückenkur
40. Bluthochdruck-Club
41. Wie Liebe zu sein hat
42. Gone for good
43. Wie sich die Eichhörnchen Innen fühlten
44. Die gleichförmigen Jahre
45. Glatzen existieren überhaupt nicht
46. Friede, Freude, Eierkuchen-Mahnungen
47. Piratïnnen der Lüfte
48. Nach dem Sturm auf die Bastille und die Bistros
49. Hybrid Times
50. Das Atonale Age
51. Lass die Puppen tanzen
52. Die scharfe Platzpatrone
53. Die Armada der Kalmare
54. Die Sees, Die Sehs, Die Sehswürdigkeiten
55. Die Kugeln unterm Tresen
56. Die asymmetrische soziale Beziehung mit stabilisierter Verhaltenserwartung zwischen mir und Euch, wonach meine Anordnungen als übergeordnete Instanz von Euch als deren Adressaten befolgt werden müssen, machen mich nicht glücklich, haben mich niemals glücklich gemacht. Bitte seid nicht zu traurig. Ihr werdet Ersatz finden, ich schlage den Tausch vor, Euer Geld
57. Das Unternehmen
58. Die Nacht der abgefackelten Insomnie
59. Bis es zu spät ist
März
60. And she gave away the secrets of her past and said
61. AweK und MiRa
62. Carte blanche
63. Der Hasenzug wächst
64. Die Häufung von Wundern
65. Die Kulissen der Zivilisation
66. Wenn sie die Rollen tauschten?
67. Und verstummt
68. Warten auf den Besuch
69. Das AnofuzzU
70. Einer neuen Weltordnung ohne Männer
71. Schwermütige Fehde der Fadista
72. Distanz ist auch keine Lösung
73. Club der toten Anthroponyme
74. Im überbuchten Hotel Paradies
75. Die Sache mit den Abschreibungen
76. Tage der Neumalklugen
77. Dann das Glück
78. [email protected]
79. #therealgod
80. Schwarzwald-Einsamkeit
81. Abschätzen robust
82. Die Brücke zwischen den Tafelbergen
83. Speichel lecken
84. Die geballte Wut der Eingeschneiten
85. Die neue Saat
86. Die UngFresss
87. Die Sexualität der Sechs
88. Im Land der Freiheiten
89. Hochbettburgen des außer Rand und Band geratenen Schlafwandelns
90. Das leibhaftige Vieraugengespräch
April
91. Das Besäufnis gegen den Tod
92. Die Stadt der stoischen Pilze
93. Das angestammte Blau
94. Ein Abkommen mit der Zeit
95. Der Verband der Voyeure
96. Processed Food
97. Leiht sich Streichhölzer von der Revolution
98. Der halbe Tag der Wartung
99. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schwäne
100. Die Lebensfreude hält landauf, landab Einzug
101. Essen glücksselig ungesunde Pommes
102. Die Operation KO-Aperçu
103. 29 muss uns verraten haben
104. Landline-Mann
105. Die Milchstraßen-Strich-Nächte
106. Beinahe ein Hit
107. Viel Lärm um Nichts
108. Meine 99 Küchen
109. Die Entladung der Lehrkörper
110. Badestrand der Geheimnisse
111. Solch ein Abend
112. Die analoge Schockstarre
113. Befriedigungskrieg
114. Der Sturz des Hasses vom Tripadvisor-Olymp
115. Club di prima classe
116. Hauen und Stechen
117. Die Partei ohne Todesopfer
118. Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja
119. Brennpunkt, quasi als Verlängerung
120. Die Naugs
Mai
121. Walfischwohl
122. Friede, Freude, Feierkuchen
123. Wahrheit hat viele Gesichter
124. Gottcha
125. Ich hätte gerne keine
126. Die bescheidenen Anfänge am Ammersee
127. Vorschlag zur Un-Güte
128. Die Spieler gähnen
129. Hat die Dystopie Sie geschickt?
130. Schön klein
131. Fallrückzieher
132. Nach einem wilden Jahr der Liebe
133. Bonding in Difference
134. Sie hatten uns verlassen
135. Ließ sich nicht recyceln
136. Geselliger Runde
137. Purple Rain
138. Die geglückte missglückte Landung
139. Den letzten Trumpf zu spielen
140. Python’s Pond
141. Be Scheidenheit und Stark Strom
142. Maulwürfe
143. Eine definitive Möglichkeit
144. Das aberwitzigste Rennen unseres Lebens
145. Taxman
146. Verein der Unaufgeweckten
147. Sweet Sixteen
148. Light-Version der Ehe
149. Sex wird überbewertet. Lebensversicherungen sind die echten Orgasmen
150. botschaftend
151. Die Steine backten, große, wilde Steine
Juni
152. Aufstand der Kriegsverweigerïnnen
153. Im Netzt
154. Die Trommel
155. Keiner blieb ausgespart
156. Das Monsterding
157. Worm Up
158. Wer ist der größte Dummkopf mit Pickelhaube im ganzen Land?
159. SUAF
160. Mein Freund, der Baum
161. Hauen und Stechen hochzwei
162. Cohabitierten
163. Harrod zeigt Abraham die Schattenseiten, bis Hickup das letzte Licht auslöscht
164. Die Goldenen Löffel
165. Revenge Jazz
166. Der Augenblick des historischen Durchbruchs
167. Wir überholen die Zeit
168. Den roten Knopf der Zerstörung
169. Der Scharmützelsee
170. Flickdichdochselbstalte*rcheck
171. Fuchsteufelszivilisiert
172. Die Gebeugten
173. Die gute Laune des Todes
174. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
175. Club der Liebeshungrigen
176. Digger
177. Es blieben noch 32 Minuten
178. Dragonflies MF
179. Der Zufall ist Teil der Geborgenheit
180. Obst ist nicht gleich Obst
181. Nullnummer
Juli
182. Draußen schneite es wieder
183. Gottesanbeter als Tagesration
184. Dann im Vorderhof
185. Überschriften werden zu Fußnoten
186. Rev-Chicks
187. Untergang der Satanic
188. Das Glück hielt Einzug
189. Zur Wucherung
190. Als die Spitzengeschwindigkeit erreicht ist
191. Und natürlich die Schwüre
192. Tableau vivant
193. Der Tag beginnt
194. Little muss sich entscheiden
195. Die Brücken hinter Dir abbrechen
196. Sie lieben sich
197. Wenn uns der Geruch erreicht
198. Das Fernsehen verzichtet auf Geräte
199. Ein Evolutionsschub
200. Wir werden benötigt
201. Mit nichts
202. Nasser Boden um den Kamin herum
203. Gold mit Silber
204. Die Fakirhämmer jubeln
205. Schluchtassesmentcenter
206. Auflehnung der Mehrlingsgeburten
207. Bis das Konzil tanzte
208. Sie gingen baden
209. Summ, summ, summ
210. Neben der Spur
211. Das Feuerwerk der Befreiung begann
212. Am Ende der Überlegungen, nun, der einzigartige Moment
August
213. 60/24/7
214. Im letzten Zehntel der Nachrichten
215. Von den dreckigen Anwesenden
216. Gleisende Hitze
217. Brav zur CoOpKasse, Liebling
218. Bis es den Luftiküssen reicht
219. Im Namen der Mutter, der Tochter und des Heiligen Geistes
220. Die Kastration geschah am Flughafen
221. Das finde ich billig
222. Der Verlust wurde nicht empfunden
223. Keine Sekunde zu spät
224. Geld kam von überall
225. Die Generation Ruthless
226. Dass sie alles durchschauten
227. Massiv
228. Klimawandelhalle
229. Engýa, pára d’áta
230. Die Verstopfung betrifft alle
231. Mücken stachen die Liebenden beim Höhepunkt
232. Die Einschaltquote übertraf alle Erwartungen
233. Die Epoche der faulen Throne
234. Paperless-Office?-Heiterkeit!
235. Heilige Superpigfickschweinesau
236. London Calling
237. Los estantes del supermercado reabastecidos
238. Reicht meine Strahlkraft nicht mehr, um große Stadien zu füllen?
239. Der Morgen brach die Nacht
240. Hering, hieß es, würde helfen
241. Es gab Gute, die taten, als wären sie böse, und es gab Böse, die taten, als wären sie gut
242. Super Oldtimer Insta Bilder
243. Du machtest Listen
September
244. Visuelle Liebeslyrik
245. So nahm das Vermächtnis
246. Selbst der Tod kostet das Leben
247. Und in vielen stecke das fünfte L
248. Dichterloh und Arson
249. Und es war nicht lustig, echt nicht, kein Stück
250. Die Liebe ist ein seltsames Spiel
251. Renegatental
252. Bis das Wasser fiel
253. Wütend
254. Es war ein besonderer Tag
255. Nutzlos, sagten sie, prinzipiell
256. Das kann doch einen Seeman nicht erschüttern
257. Die vermauerte Vokalmangel
258. Am Tag des Springens
259. Piffpaffpuff
260. Eine letzte Lust
261. Famous last Words
262. Nicht die Bohne
263. Ohne Anspruch auf Sympathie
264. Sie stoßen zum Geheimnis vor
265. Während das Leben wie im Kampf vergeht
266. Wild Voices
267. Ein bahnbrechender Fehler
268. Godshowsnomercy
269. Einsame Schönheit
270. Das Mittel
271. #killarious
272. Abenteuer des Glücks
273. Die Entdeckung
Oktober
274. Cut & Gott
275. honky dory easy glory
276. Himmelsnullachtfünfzehn
277. Rollentausch
278. Beat liebte Casimira
279. Die Entscheidung, an der Kreuzung
280. DLIudEIIoÜdRiaUdS
281. Sie betrügen sich mit sich selbst
282. Das Duell
283. Flughäfen gerieten ins Wanken
284. Persil, Baby
285. Bash the Oberstadt
286. Die Freude sei ganz ihrerseits
287. erschöpft, aber glücklich
288. Beifall
289. Riechtnachscheißeärger
290. Nun Nein
291. Beherbergungsbetrieb
292. Das Spektakel der Liebe
293. Als intrusive Entität
294. Die Vergeudung der Zeit
295. Keine traurige Liebesgeschichte
296. Notlandung verboten
297. als ob geil
298. Wie viel ich vergessen habe
299. Die Dosis
300. Der Lesekunst mit g
301. Raus mit Euch
302. Freudenfunken, Hellway to high
303. Ich lese Freud
304. Der Platz ist begrenzt
November
305. Qui si convien lasciare ogne sospetto
306. Strickmuster
307. Was gedreht wird
308. Mustermädchen und Musterknaben
309. Eigenart der vollen Zeit
310. Dafür gab es Gründe
311. Händspiel
312. Seepferdchenfraktion
313. Stuhl neben dir
314. An der Singularität zu verzweifeln
315. Love-Blockaden (heute)
316. Szenen einer egalitären Liebe
317. Apnoe-Rekord geknackt
318. Wir haben 24 Stunden Zeit
319. Gesprächsstoffwechsel
320. Immerweggeschlossen
321. Auf dem Bus steht Natter
322. Im Hintergrund ist der Vordergrund zu sehen
323. Mir war nicht nach sprechen, echt nicht
324. Sie lieben mich
325. Das Tor ist zu
326. Sie hält die Ohren des Hasen
327. Weder eine Frau, noch sich selbst
328. Und blöken
329. Sie legen
330. Friede, Freude, Eierkuchen
331. Sie schrieben es sich zu
332. Gong
333. Darauf hatten wir gesetzt
334. Henry Lee
Dezember
335. Männer beim Eishockey
336. Hitchclock Modus
337. Ausnahmslos
338. Am nächsten Tag, morgen, würdest du mich töten
339. Die Vierbeiner
340. Munch im Himmel
341. gggggeil
342. Der Lindenbaum
343. Schisma
344. Ladudu the Liar
345. Katerunser im Himmel
346. Abend der Anerkennung
347. a) Ich bin Niemand, b) I am Nobody
348. Cotts Holly NachtRICHTEN
349. Sie ließ ihn ausgraben
350. Wir sind bereits bestellt
351. Die Zeit spulte uns ab
352. Die Herkömmlichkeiten, sie waren gezählt
353. Positive Berührungsängste
354. Extension Celebration
355. Grünlich und Permaneder // FischfangGründe
356. Teufelskreis an Zeit
357. Erbsboss
358. Raum des ewigen wachen Schlafes
359. #MinusKnacker
360. Deine Stadt
361. gesellschaft
362. Flugrost
363. giftiges, giftiges, giftiges zeugs
364. Stunde Null
365. Hin & Zurück, bitte
1. Die Epiphanie
2. Echte Liebe
3. Unter Tage
4. Eine wehrhafte Demokratie
5. Big Bang Elektropolis
6. Tangohimmel
7. Mokele-Mbembe
8. Gretel & Greta
9. Das Erwachen des Mondes
10. Alpha-Gan und Omega-Tarisch
11. Aufstand der glücklichen Frauen
12. Die geile Nacht der süßen Träume
13. Unter der ewigen Schneedecke
14. Gesellschaft der unsterblichen Liebe
15. Das Kapital
16. Animal Liberation Front
17. Saison der Albträume
18. Mehr tot als lebendig
19. Tag des Männeraufstands
20. Die totalitäre Zukunft des Glücks
21. Altruistischen Elefantenmann
22. Draußen steht der 22. Januar 1979
23. Neuinterpretation Shakespeares oder Wir lesen Euch die Leviten
24. Das Reich der Verflossenen
25. Am Tag des geviertelten Todes
26. Während des Großen Verstummens
27. Der Heiland ist zurück
28. Das Befremden ihrer Eltern
29. Nach dem Ende des Geldes im Anthropozän
30. Carcharodon carcharias oder Neue Haimat
31. Die Cyborgin aus Delphi
Februar
32. Auf tödliche Weise luzide
33. UFO-Tribunal
34. Die entschlossenen Brieftauben
35. Neue Ära
36. Der Dritte Waldkrieg
37. Die Zeit der Lautmalerei
38. Giro d’Italia
39. Der Plan zur Rückenkur
40. Bluthochdruck-Club
41. Wie Liebe zu sein hat
42. Gone for good
43. Wie sich die Eichhörnchen Innen fühlten
44. Die gleichförmigen Jahre
45. Glatzen existieren überhaupt nicht
46. Friede, Freude, Eierkuchen-Mahnungen
47. Piratïnnen der Lüfte
48. Nach dem Sturm auf die Bastille und die Bistros
49. Hybrid Times
50. Das Atonale Age
51. Lass die Puppen tanzen
52. Die scharfe Platzpatrone
53. Die Armada der Kalmare
54. Die Sees, Die Sehs, Die Sehswürdigkeiten
55. Die Kugeln unterm Tresen
56. Die asymmetrische soziale Beziehung mit stabilisierter Verhaltenserwartung zwischen mir und Euch, wonach meine Anordnungen als übergeordnete Instanz von Euch als deren Adressaten befolgt werden müssen, machen mich nicht glücklich, haben mich niemals glücklich gemacht. Bitte seid nicht zu traurig. Ihr werdet Ersatz finden, ich schlage den Tausch vor, Euer Geld
57. Das Unternehmen
58. Die Nacht der abgefackelten Insomnie
59. Bis es zu spät ist
März
60. And she gave away the secrets of her past and said
61. AweK und MiRa
62. Carte blanche
63. Der Hasenzug wächst
64. Die Häufung von Wundern
65. Die Kulissen der Zivilisation
66. Wenn sie die Rollen tauschten?
67. Und verstummt
68. Warten auf den Besuch
69. Das AnofuzzU
70. Einer neuen Weltordnung ohne Männer
71. Schwermütige Fehde der Fadista
72. Distanz ist auch keine Lösung
73. Club der toten Anthroponyme
74. Im überbuchten Hotel Paradies
75. Die Sache mit den Abschreibungen
76. Tage der Neumalklugen
77. Dann das Glück
78. [email protected]
79. #therealgod
80. Schwarzwald-Einsamkeit
81. Abschätzen robust
82. Die Brücke zwischen den Tafelbergen
83. Speichel lecken
84. Die geballte Wut der Eingeschneiten
85. Die neue Saat
86. Die UngFresss
87. Die Sexualität der Sechs
88. Im Land der Freiheiten
89. Hochbettburgen des außer Rand und Band geratenen Schlafwandelns
90. Das leibhaftige Vieraugengespräch
April
91. Das Besäufnis gegen den Tod
92. Die Stadt der stoischen Pilze
93. Das angestammte Blau
94. Ein Abkommen mit der Zeit
95. Der Verband der Voyeure
96. Processed Food
97. Leiht sich Streichhölzer von der Revolution
98. Der halbe Tag der Wartung
99. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Schwäne
100. Die Lebensfreude hält landauf, landab Einzug
101. Essen glücksselig ungesunde Pommes
102. Die Operation KO-Aperçu
103. 29 muss uns verraten haben
104. Landline-Mann
105. Die Milchstraßen-Strich-Nächte
106. Beinahe ein Hit
107. Viel Lärm um Nichts
108. Meine 99 Küchen
109. Die Entladung der Lehrkörper
110. Badestrand der Geheimnisse
111. Solch ein Abend
112. Die analoge Schockstarre
113. Befriedigungskrieg
114. Der Sturz des Hasses vom Tripadvisor-Olymp
115. Club di prima classe
116. Hauen und Stechen
117. Die Partei ohne Todesopfer
118. Die Ehrlichkeit hätte das erfordert, Kid, ja
119. Brennpunkt, quasi als Verlängerung
120. Die Naugs
Mai
121. Walfischwohl
122. Friede, Freude, Feierkuchen
123. Wahrheit hat viele Gesichter
124. Gottcha
125. Ich hätte gerne keine
126. Die bescheidenen Anfänge am Ammersee
127. Vorschlag zur Un-Güte
128. Die Spieler gähnen
129. Hat die Dystopie Sie geschickt?
130. Schön klein
131. Fallrückzieher
132. Nach einem wilden Jahr der Liebe
133. Bonding in Difference
134. Sie hatten uns verlassen
135. Ließ sich nicht recyceln
136. Geselliger Runde
137. Purple Rain
138. Die geglückte missglückte Landung
139. Den letzten Trumpf zu spielen
140. Python’s Pond
141. Be Scheidenheit und Stark Strom
142. Maulwürfe
143. Eine definitive Möglichkeit
144. Das aberwitzigste Rennen unseres Lebens
145. Taxman
146. Verein der Unaufgeweckten
147. Sweet Sixteen
148. Light-Version der Ehe
149. Sex wird überbewertet. Lebensversicherungen sind die echten Orgasmen
150. botschaftend
151. Die Steine backten, große, wilde Steine
Juni
152. Aufstand der Kriegsverweigerïnnen
153. Im Netzt
154. Die Trommel
155. Keiner blieb ausgespart
156. Das Monsterding
157. Worm Up
158. Wer ist der größte Dummkopf mit Pickelhaube im ganzen Land?
159. SUAF
160. Mein Freund, der Baum
161. Hauen und Stechen hochzwei
162. Cohabitierten
163. Harrod zeigt Abraham die Schattenseiten, bis Hickup das letzte Licht auslöscht
164. Die Goldenen Löffel
165. Revenge Jazz
166. Der Augenblick des historischen Durchbruchs
167. Wir überholen die Zeit
168. Den roten Knopf der Zerstörung
169. Der Scharmützelsee
170. Flickdichdochselbstalte*rcheck
171. Fuchsteufelszivilisiert
172. Die Gebeugten
173. Die gute Laune des Todes
174. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
175. Club der Liebeshungrigen
176. Digger
177. Es blieben noch 32 Minuten
178. Dragonflies MF
179. Der Zufall ist Teil der Geborgenheit
180. Obst ist nicht gleich Obst
181. Nullnummer
Juli
182. Draußen schneite es wieder
183. Gottesanbeter als Tagesration
184. Dann im Vorderhof
185. Überschriften werden zu Fußnoten
186. Rev-Chicks
187. Untergang der Satanic
188. Das Glück hielt Einzug
189. Zur Wucherung
190. Als die Spitzengeschwindigkeit erreicht ist
191. Und natürlich die Schwüre
192. Tableau vivant
193. Der Tag beginnt
194. Little muss sich entscheiden
195. Die Brücken hinter Dir abbrechen
196. Sie lieben sich
197. Wenn uns der Geruch erreicht
198. Das Fernsehen verzichtet auf Geräte
199. Ein Evolutionsschub
200. Wir werden benötigt
201. Mit nichts
202. Nasser Boden um den Kamin herum
203. Gold mit Silber
204. Die Fakirhämmer jubeln
205. Schluchtassesmentcenter
206. Auflehnung der Mehrlingsgeburten
207. Bis das Konzil tanzte
208. Sie gingen baden
209. Summ, summ, summ
210. Neben der Spur
211. Das Feuerwerk der Befreiung begann
212. Am Ende der Überlegungen, nun, der einzigartige Moment
August
213. 60/24/7
214. Im letzten Zehntel der Nachrichten
215. Von den dreckigen Anwesenden
216. Gleisende Hitze
217. Brav zur CoOpKasse, Liebling
218. Bis es den Luftiküssen reicht
219. Im Namen der Mutter, der Tochter und des Heiligen Geistes
220. Die Kastration geschah am Flughafen
221. Das finde ich billig
222. Der Verlust wurde nicht empfunden
223. Keine Sekunde zu spät
224. Geld kam von überall
225. Die Generation Ruthless
226. Dass sie alles durchschauten
227. Massiv
228. Klimawandelhalle
229. Engýa, pára d’áta
230. Die Verstopfung betrifft alle
231. Mücken stachen die Liebenden beim Höhepunkt
232. Die Einschaltquote übertraf alle Erwartungen
233. Die Epoche der faulen Throne
234. Paperless-Office?-Heiterkeit!
235. Heilige Superpigfickschweinesau
236. London Calling
237. Los estantes del supermercado reabastecidos
238. Reicht meine Strahlkraft nicht mehr, um große Stadien zu füllen?
239. Der Morgen brach die Nacht
240. Hering, hieß es, würde helfen
241. Es gab Gute, die taten, als wären sie böse, und es gab Böse, die taten, als wären sie gut
242. Super Oldtimer Insta Bilder
243. Du machtest Listen
September
244. Visuelle Liebeslyrik
245. So nahm das Vermächtnis
246. Selbst der Tod kostet das Leben
247. Und in vielen stecke das fünfte L
248. Dichterloh und Arson
249. Und es war nicht lustig, echt nicht, kein Stück
250. Die Liebe ist ein seltsames Spiel
251. Renegatental
252. Bis das Wasser fiel
253. Wütend
254. Es war ein besonderer Tag
255. Nutzlos, sagten sie, prinzipiell
256. Das kann doch einen Seeman nicht erschüttern
257. Die vermauerte Vokalmangel
258. Am Tag des Springens
259. Piffpaffpuff
260. Eine letzte Lust
261. Famous last Words
262. Nicht die Bohne
263. Ohne Anspruch auf Sympathie
264. Sie stoßen zum Geheimnis vor
265. Während das Leben wie im Kampf vergeht
266. Wild Voices
267. Ein bahnbrechender Fehler
268. Godshowsnomercy
269. Einsame Schönheit
270. Das Mittel
271. #killarious
272. Abenteuer des Glücks
273. Die Entdeckung
Oktober
274. Cut & Gott
275. honky dory easy glory
276. Himmelsnullachtfünfzehn
277. Rollentausch
278. Beat liebte Casimira
279. Die Entscheidung, an der Kreuzung
280. DLIudEIIoÜdRiaUdS
281. Sie betrügen sich mit sich selbst
282. Das Duell
283. Flughäfen gerieten ins Wanken
284. Persil, Baby
285. Bash the Oberstadt
286. Die Freude sei ganz ihrerseits
287. erschöpft, aber glücklich
288. Beifall
289. Riechtnachscheißeärger
290. Nun Nein
291. Beherbergungsbetrieb
292. Das Spektakel der Liebe
293. Als intrusive Entität
294. Die Vergeudung der Zeit
295. Keine traurige Liebesgeschichte
296. Notlandung verboten
297. als ob geil
298. Wie viel ich vergessen habe
299. Die Dosis
300. Der Lesekunst mit g
301. Raus mit Euch
302. Freudenfunken, Hellway to high
303. Ich lese Freud
304. Der Platz ist begrenzt
November
305. Qui si convien lasciare ogne sospetto
306. Strickmuster
307. Was gedreht wird
308. Mustermädchen und Musterknaben
309. Eigenart der vollen Zeit
310. Dafür gab es Gründe
311. Händspiel
312. Seepferdchenfraktion
313. Stuhl neben dir
314. An der Singularität zu verzweifeln
315. Love-Blockaden (heute)
316. Szenen einer egalitären Liebe
317. Apnoe-Rekord geknackt
318. Wir haben 24 Stunden Zeit
319. Gesprächsstoffwechsel
320. Immerweggeschlossen
321. Auf dem Bus steht Natter
322. Im Hintergrund ist der Vordergrund zu sehen
323. Mir war nicht nach sprechen, echt nicht
324. Sie lieben mich
325. Das Tor ist zu
326. Sie hält die Ohren des Hasen
327. Weder eine Frau, noch sich selbst
328. Und blöken
329. Sie legen
330. Friede, Freude, Eierkuchen
331. Sie schrieben es sich zu
332. Gong
333. Darauf hatten wir gesetzt
334. Henry Lee
Dezember
335. Männer beim Eishockey
336. Hitchclock Modus
337. Ausnahmslos
338. Am nächsten Tag, morgen, würdest du mich töten
339. Die Vierbeiner
340. Munch im Himmel
341. gggggeil
342. Der Lindenbaum
343. Schisma
344. Ladudu the Liar
345. Katerunser im Himmel
346. Abend der Anerkennung
347. a) Ich bin Niemand, b) I am Nobody
348. Cotts Holly NachtRICHTEN
349. Sie ließ ihn ausgraben
350. Wir sind bereits bestellt
351. Die Zeit spulte uns ab
352. Die Herkömmlichkeiten, sie waren gezählt
353. Positive Berührungsängste
354. Extension Celebration
355. Grünlich und Permaneder // FischfangGründe
356. Teufelskreis an Zeit
357. Erbsboss
358. Raum des ewigen wachen Schlafes
359. #MinusKnacker
360. Deine Stadt
361. gesellschaft
362. Flugrost
363. giftiges, giftiges, giftiges zeugs
364. Stunde Null
365. Hin & Zurück, bitte