120.
Sich in die Zeiten schicken. Sogar das Wissen muß nach der Mode seyn, und da, wo es nicht Mode ist, besteht es grade darin, daß man den Unwissenden spielt. Denkungsart und Geschmack ändern sich nach den Zeiten. Man denke nicht altmodisch, und habe einen modernen Geschmack. In jeder Gattung hat der Geschmack der Mehrzahl eine geltende Stimme: man muß ihm also für jetzt folgen und ihn zu höherer Vollkommenheit weiter zu bringen suchen. Der Kluge passe sich, im Schmuck des Geistes wie des Leibes, der Gegenwart an, wenn gleich ihm die Vergangenheit besser schiene. Bloß von der Güte des Herzens gilt diese Lebensregel nicht: denn zu jeder Zeit soll man die Tugend üben: man will heut zu Tage nicht von ihr wissen: die Wahrheit reden, oder sein Wort halten, scheinen Dinge aus einer andern Zeit: so scheinen auch die guten Leute noch aus der guten Zeit zu seyn, sind aber doch noch geliebt: inzwischen, wenn es noch welche giebt; so sind sie nicht in der Mode und werden nicht nachgeahmt. O unglückseliges Jahrhundert, wo die Tugend fremd, die Schlechtigkeit an der Tagesordnung ist! – Der Kluge lebe wie er kann wenn nicht wie er wünschen möchte, und halte, was ihm das Schicksal zugestand, für mehr werth, als was es ihm versagte.
Ein ziemlich gelungener Mischmasch, Freund, den Sie da vor uns ausbreiten. Gleichzeitig das moderne Mitderzeitgehen und das tugendhafte Ausderzeitgefallensein zu loben, legt den Schlamassel offen, den ich, älter werdend, fühle. Einfach sei es, die zum Überdruss gedehnte Jeremiade vom Früher-war-alles-besser anzustimmen. Um einiges ergötzlicher, aber eben auch schwieriger, sei es, das Gute in den auf Anhieb manchmal unverständlichen Eruptionen neuen Denkens, Handelns und Schaffens zu goutieren.
Ohne die Vergangenheit zu verraten, im Jetzt zu sein, ist ein wesentlicher Teil der Lebenskunst. Was auch und gerade heißt, erstens nicht alles besser zu wissen und sich zweitens nicht engstirnig am gestrigen Maßstab für Innovationen festzuhalten.
Auch auf die Gefahr hin, wie ein Vademecum im Ausverkauf zu klingen, sei gesagt: Loszulassen befreit, Scheuklappen behindern.
Erfindungen, die radikal sind, fallen ständig aus der Zeit und müssen uns fremd vorkommen. Sind neue Produkte in Wahrheit altbacken, handelt es sich um Kopien, die, oft genug, dem Original nicht das Wasser reichen und nur auf dem Markt sind, um uns zu schröpfen.
Die Zeitgenossenschaft, welche sich nicht zu, aber ernst genug nimmt, geht mit der Mode, ohne sklavisch an ihr zu hängen. Ist das Topaktuelle jedoch eine echte Verbesserung, wäre es bizarr, sich ihr zu verschließen und am Gewohnten festzuhalten.
Ein Sein ohne Veränderung sei ein ungelebtes.
30. April
Sich in die Zeiten schicken. Sogar das Wissen muß nach der Mode seyn, und da, wo es nicht Mode ist, besteht es grade darin, daß man den Unwissenden spielt. Denkungsart und Geschmack ändern sich nach den Zeiten. Man denke nicht altmodisch, und habe einen modernen Geschmack. In jeder Gattung hat der Geschmack der Mehrzahl eine geltende Stimme: man muß ihm also für jetzt folgen und ihn zu höherer Vollkommenheit weiter zu bringen suchen. Der Kluge passe sich, im Schmuck des Geistes wie des Leibes, der Gegenwart an, wenn gleich ihm die Vergangenheit besser schiene. Bloß von der Güte des Herzens gilt diese Lebensregel nicht: denn zu jeder Zeit soll man die Tugend üben: man will heut zu Tage nicht von ihr wissen: die Wahrheit reden, oder sein Wort halten, scheinen Dinge aus einer andern Zeit: so scheinen auch die guten Leute noch aus der guten Zeit zu seyn, sind aber doch noch geliebt: inzwischen, wenn es noch welche giebt; so sind sie nicht in der Mode und werden nicht nachgeahmt. O unglückseliges Jahrhundert, wo die Tugend fremd, die Schlechtigkeit an der Tagesordnung ist! – Der Kluge lebe wie er kann wenn nicht wie er wünschen möchte, und halte, was ihm das Schicksal zugestand, für mehr werth, als was es ihm versagte.
Ein ziemlich gelungener Mischmasch, Freund, den Sie da vor uns ausbreiten. Gleichzeitig das moderne Mitderzeitgehen und das tugendhafte Ausderzeitgefallensein zu loben, legt den Schlamassel offen, den ich, älter werdend, fühle. Einfach sei es, die zum Überdruss gedehnte Jeremiade vom Früher-war-alles-besser anzustimmen. Um einiges ergötzlicher, aber eben auch schwieriger, sei es, das Gute in den auf Anhieb manchmal unverständlichen Eruptionen neuen Denkens, Handelns und Schaffens zu goutieren.
Ohne die Vergangenheit zu verraten, im Jetzt zu sein, ist ein wesentlicher Teil der Lebenskunst. Was auch und gerade heißt, erstens nicht alles besser zu wissen und sich zweitens nicht engstirnig am gestrigen Maßstab für Innovationen festzuhalten.
Auch auf die Gefahr hin, wie ein Vademecum im Ausverkauf zu klingen, sei gesagt: Loszulassen befreit, Scheuklappen behindern.
Erfindungen, die radikal sind, fallen ständig aus der Zeit und müssen uns fremd vorkommen. Sind neue Produkte in Wahrheit altbacken, handelt es sich um Kopien, die, oft genug, dem Original nicht das Wasser reichen und nur auf dem Markt sind, um uns zu schröpfen.
Die Zeitgenossenschaft, welche sich nicht zu, aber ernst genug nimmt, geht mit der Mode, ohne sklavisch an ihr zu hängen. Ist das Topaktuelle jedoch eine echte Verbesserung, wäre es bizarr, sich ihr zu verschließen und am Gewohnten festzuhalten.
Ein Sein ohne Veränderung sei ein ungelebtes.
30. April
121.
Nicht eine Angelegenheit aus dem machen, was keine ist. Wie Manche aus Allem eine Klatscherei machen, so Andre aus Allem eine Angelegenheit. Immer sprechen sie mit Wichtigkeit, Alles nehmen sie ernstlich und machen eine Streitigkeit oder eine geheimnißvolle Sache daraus. Verdrießlicher Dinge darf man sich nur selten ernstlich annehmen: denn sonst würde man sich zur Unzeit in Verwickelungen bringen. Es ist sehr verkehrt, wenn man sich das zu Herzen nimmt, was man in den Wind schlagen sollte. Viele Sachen, die wirklich etwas waren, wurden zu nichts, weil man sie ruhen ließ: und aus andern, die eigentlich nichts waren, wurde viel, weil man sich ihrer annahm. Anfangs läßt sich Alles leicht beseitigen, späterhin nicht. Oft bringt die Arznei die Krankheit hervor. Und nicht die schlechteste Lebensregel ist: ruhen lassen.
Den Ruhepol zu finden, Freund, sei ein Genuss, der zwar x-fach angestrebt, aber viel zu selten errreicht wird. Ihren vernünftigen Ratschlag in allen Ehren - bin ich doch heute früh, am Morgen des 1. Mai, wegen einer Angelegenheit ziemlich verdrießlich geworden. Ich war, kaum aus dem Haus getreten, was mir selbst reichlich engstirnig vorkommt, bereits auf Sauberkrawall und Dumme-Kerle-Abbügeln gebürstet.
Zunächst begegneten mir, in unserer Straße, vier junge Männer. Um die zwanzig Jahre alt. Leicht betrunken. Aber hellwach und durchtrainiert. Der Letzte des Quartetts wedelte mit einem Plakat - in knapp einem Monat findet die Europawahl statt -, das er, wahrscheinlich, von einer Straßenlaterne gepult hatte. Auf dem Poster das Gesicht der SPD-Spitzenkandidatin, Katarina Barley, deren Politik einer grün-sozialen Marktwirtschaft für unseren Kontinent ich sympathisch finde. Dementsprechend war's, in mir, mit der heiteren Morgenstimmung, Blätter raschelten im Nieselregen und Vögel sangen, auf der Stelle vorbei. Schon war ich drauf und dran, den Posterboy zur Rede zu stellen, bevor ich zwei Fragen an mich selbst hatte.
Erstens, eine eher einfache: lohnte sich ein blaues Auge für einen bereits abgerissenen Aushang? Und zweitens, schwieriger zu beantworten: wie hätte ich reagiert, wenn er ein Plakat der ausländerfeindlichen AfD oder neoliberalen FDP stolz überm Kopf geschwenkt hätte?
Die erste Frage war eine hypothetische, da ich ja nicht hundertprozentig wissen konnte, ob die Vier streitlustig genug gewesen wären, ihre acht Fäuste einzusetzen; ich hätte mich also mit dieser schlagkräftigen Abwägung erst im Falle des Falles beschäftigt.
Während die andere Frage eine moralische Ist-Substanz besitzt. Als Demokrat dürfte ich an und für sich nicht nach Lust und Laune mit zweierlei Maß messen. Ist eine Partei zugelassen, darf sie nun mal in der Öffentlichkeit werben, auch wenn ich persönlich ihre Botschaft frauenfeindlich oder rechtsradikal finde. Aus einer privaten Vorliebe den Plakatabpuler anzugehen, ist also, prinzipiell, falsch. Die Konsequenz? Ich habe, Freund, ohne Ihren Rat bereits gelesen zu haben, die Sache zu einer Nicht-Angelegenheit erklärt, ohne, das sei eingestanden, damit glücklich zu sein, da die Tat des Abreißens eine falsche geblieben ist, meine Gründe, die Tat zu kritisieren, allerdings nicht objektiv, also teilweise selbst falsch gewesen wären.
Aus dem Falschen wächst nichts Richtiges.
Nun zum nächsten Zwischen(ab)fall. Auf dem Weg zum CoWorkingSpace, von dem aus ich Ihnen in aller Regel schreibe, daheim fände ich nicht die Ruhe, auf dem Weg habe ich das Vergnügen, durch einen kleinen Park zu laufen. Wird's ein wenig wärmer, überschwemmen allerdings die Mitte-Hipster das schmale Grün und lassen, jeden Nachmittag und jeden Abend, ihre To-Go-Verpackungen liegen. Ich kann, es sei vorab eingestanden, mich einfach nicht an diese Art von Gedankenlosigkeit und diesen unendlichen Egotrip gewöhnen. Beim Verlassen des vollgemüllten Weinbergparks, die Überreste der Walpurgisnacht stapelten sich haufenweise, hatte mich die Lust ergriffen, den nächstbesten Nachtschwärmern mit Buddel und Alupizza in der Hand einen nachhaltigen Saubervortrag zu halten. Sehr wohl wissend, dass eine solche Belehrung für die stinkbesoffene Katz gewesen wäre, mich allerhöchstens noch mehr aufgeregt, meinen Pulsschlag durch die Himmelsdecke getrieben hätte. Wie ich mit den anderen Menschen nun umgegangen bin, wollen Sie wissen. Ich hatte das Glück, nur Hundebesitzern und Joggerinnen zu begegnen.
Eine Angelegenheit wird unsere und tritt dabei gleichzeitig über uns hinaus, wenn sie eine allgemeine und wertige ist. Folglich eine politische Dimension besitzt, die das Allgemeinwohl betrifft.
Ist eine Angelegenheit rein privat, tragen ausschließlich wir die Folgen einer Handlung oder Entscheidung, betrifft eine Angelegenheit, was für diesen Satz als Axiom gilt, dementsprechend tatsächlich nur uns selbst, bleibt es uns überlassen, wie wir handeln. Ist dagegen eine zweite Person beteiligt, verliert das Private automatisch seine Vorrangstellung. Die Angelegenheit wird zur allgemeinen und ist den allgemeinen Regeln und Gesetzen unterworfen. Dabei sei es egal, ob sich die Situation im öffentlichen oder privaten Raum abspielt.
1. Mai
Nicht eine Angelegenheit aus dem machen, was keine ist. Wie Manche aus Allem eine Klatscherei machen, so Andre aus Allem eine Angelegenheit. Immer sprechen sie mit Wichtigkeit, Alles nehmen sie ernstlich und machen eine Streitigkeit oder eine geheimnißvolle Sache daraus. Verdrießlicher Dinge darf man sich nur selten ernstlich annehmen: denn sonst würde man sich zur Unzeit in Verwickelungen bringen. Es ist sehr verkehrt, wenn man sich das zu Herzen nimmt, was man in den Wind schlagen sollte. Viele Sachen, die wirklich etwas waren, wurden zu nichts, weil man sie ruhen ließ: und aus andern, die eigentlich nichts waren, wurde viel, weil man sich ihrer annahm. Anfangs läßt sich Alles leicht beseitigen, späterhin nicht. Oft bringt die Arznei die Krankheit hervor. Und nicht die schlechteste Lebensregel ist: ruhen lassen.
Den Ruhepol zu finden, Freund, sei ein Genuss, der zwar x-fach angestrebt, aber viel zu selten errreicht wird. Ihren vernünftigen Ratschlag in allen Ehren - bin ich doch heute früh, am Morgen des 1. Mai, wegen einer Angelegenheit ziemlich verdrießlich geworden. Ich war, kaum aus dem Haus getreten, was mir selbst reichlich engstirnig vorkommt, bereits auf Sauberkrawall und Dumme-Kerle-Abbügeln gebürstet.
Zunächst begegneten mir, in unserer Straße, vier junge Männer. Um die zwanzig Jahre alt. Leicht betrunken. Aber hellwach und durchtrainiert. Der Letzte des Quartetts wedelte mit einem Plakat - in knapp einem Monat findet die Europawahl statt -, das er, wahrscheinlich, von einer Straßenlaterne gepult hatte. Auf dem Poster das Gesicht der SPD-Spitzenkandidatin, Katarina Barley, deren Politik einer grün-sozialen Marktwirtschaft für unseren Kontinent ich sympathisch finde. Dementsprechend war's, in mir, mit der heiteren Morgenstimmung, Blätter raschelten im Nieselregen und Vögel sangen, auf der Stelle vorbei. Schon war ich drauf und dran, den Posterboy zur Rede zu stellen, bevor ich zwei Fragen an mich selbst hatte.
Erstens, eine eher einfache: lohnte sich ein blaues Auge für einen bereits abgerissenen Aushang? Und zweitens, schwieriger zu beantworten: wie hätte ich reagiert, wenn er ein Plakat der ausländerfeindlichen AfD oder neoliberalen FDP stolz überm Kopf geschwenkt hätte?
Die erste Frage war eine hypothetische, da ich ja nicht hundertprozentig wissen konnte, ob die Vier streitlustig genug gewesen wären, ihre acht Fäuste einzusetzen; ich hätte mich also mit dieser schlagkräftigen Abwägung erst im Falle des Falles beschäftigt.
Während die andere Frage eine moralische Ist-Substanz besitzt. Als Demokrat dürfte ich an und für sich nicht nach Lust und Laune mit zweierlei Maß messen. Ist eine Partei zugelassen, darf sie nun mal in der Öffentlichkeit werben, auch wenn ich persönlich ihre Botschaft frauenfeindlich oder rechtsradikal finde. Aus einer privaten Vorliebe den Plakatabpuler anzugehen, ist also, prinzipiell, falsch. Die Konsequenz? Ich habe, Freund, ohne Ihren Rat bereits gelesen zu haben, die Sache zu einer Nicht-Angelegenheit erklärt, ohne, das sei eingestanden, damit glücklich zu sein, da die Tat des Abreißens eine falsche geblieben ist, meine Gründe, die Tat zu kritisieren, allerdings nicht objektiv, also teilweise selbst falsch gewesen wären.
Aus dem Falschen wächst nichts Richtiges.
Nun zum nächsten Zwischen(ab)fall. Auf dem Weg zum CoWorkingSpace, von dem aus ich Ihnen in aller Regel schreibe, daheim fände ich nicht die Ruhe, auf dem Weg habe ich das Vergnügen, durch einen kleinen Park zu laufen. Wird's ein wenig wärmer, überschwemmen allerdings die Mitte-Hipster das schmale Grün und lassen, jeden Nachmittag und jeden Abend, ihre To-Go-Verpackungen liegen. Ich kann, es sei vorab eingestanden, mich einfach nicht an diese Art von Gedankenlosigkeit und diesen unendlichen Egotrip gewöhnen. Beim Verlassen des vollgemüllten Weinbergparks, die Überreste der Walpurgisnacht stapelten sich haufenweise, hatte mich die Lust ergriffen, den nächstbesten Nachtschwärmern mit Buddel und Alupizza in der Hand einen nachhaltigen Saubervortrag zu halten. Sehr wohl wissend, dass eine solche Belehrung für die stinkbesoffene Katz gewesen wäre, mich allerhöchstens noch mehr aufgeregt, meinen Pulsschlag durch die Himmelsdecke getrieben hätte. Wie ich mit den anderen Menschen nun umgegangen bin, wollen Sie wissen. Ich hatte das Glück, nur Hundebesitzern und Joggerinnen zu begegnen.
Eine Angelegenheit wird unsere und tritt dabei gleichzeitig über uns hinaus, wenn sie eine allgemeine und wertige ist. Folglich eine politische Dimension besitzt, die das Allgemeinwohl betrifft.
Ist eine Angelegenheit rein privat, tragen ausschließlich wir die Folgen einer Handlung oder Entscheidung, betrifft eine Angelegenheit, was für diesen Satz als Axiom gilt, dementsprechend tatsächlich nur uns selbst, bleibt es uns überlassen, wie wir handeln. Ist dagegen eine zweite Person beteiligt, verliert das Private automatisch seine Vorrangstellung. Die Angelegenheit wird zur allgemeinen und ist den allgemeinen Regeln und Gesetzen unterworfen. Dabei sei es egal, ob sich die Situation im öffentlichen oder privaten Raum abspielt.
1. Mai
122.
Im Reden und Thun etwas Imponirendes haben. Dadurch setzt man sich allerorten bald in Ansehn und hat die Achtung vorweg gewonnen. Es zeigt sich in Allem, im Umgange, im Reden, im Blick, in den Neigungen, sogar im Gange. Wahrlich, ein großer Sieg, sich der Herzen zu bemeistern. Es entsteht nicht aus einer dummen Dreistigkeit, noch aus einem übellaunigen Wesen bei der Unterhaltung; sondern es beruht auf einer wohlgeziemenden Autorität, die aus natürlicher, von Verdiensten unterstützter Ueberlegenheit hervorgeht.
Seltsam, Freund, ich habe eben, noch den frühen Morgensand in den Augen, Ihren Eintrag studiert oder, bleiben wir ehrlich miteinander, ein erstes Mal überflogen und prompt etwas Improvisierendes gelesen. Dann bin ich, davon beschwingt, lächelnd aufgestanden, um mir einen starken Kaffee zu machen, und habe darüber nachgedacht, was ich Ihnen auf diese adrette Idee antworten soll. Das Aus-dem-Stegreif-Handeln ist ein riskantes, aber oftmals lohnenswertes Unterfangen, besonders wenn wir uns darauf regelmäßig einlassen, habe ich gedacht und mir vorgestellt, wie Sie, als bärbeißiger Improvisator, Ihre Schriften verteidigen und die hartnäckigen Kirchenfürsten auf dem falschen Fuß erwischen, die orthodoxen Traditionsbewahrer pfeilschnell überholen und mit Ihrem Ad-hoc-Talent in den blindgläubigen Schatten stellen.
Gerne, eine andere Frage, die jedoch sehr wohl in diesen Zusammenhang gehört, gerne, zu gerne wüsste ich, wie Sie Ihr Orakel angelegt haben: verfügen Sie über ein umfangreiches Archiv? Mit allerlei Notizen, die keiner außer Ihnen entziffern kann? Und mit Querverbindungen? Oder treten Sie unvorbereitet ans Pult und schöpfen aus einem stets vollen Brunnen?
Wer denken will, scheint mir, braucht Vorbereitung - und Mut. Und zwar ein ganzes Leben lang. Das Denken erlaubt, das ließe sich womöglich sagen, durchaus die Improvisation, aber nur die bestens gerüstete.
Gleichfalls ein gehöriges Maß an Vorbereitung benötigt, wer handeln will. Aber sollte es mit dem Herrichten nicht übertreiben. Allerdings: vom Mut brauchen die Handelnden wahrscheinlich noch mehr. Gibt's keine Zeit, um sich auf die notwendige Tat vorzubereiten, wäre es dennoch falsch, sie zu unterlassen. Momente, die unsere Handlungen erfordern, kommen so gut wie nie zurück; anders sieht es mit dem Bedauern über das Nicht-Handeln aus, das uns auf immer unbarmherzig verfolgt.
2. Mai
Im Reden und Thun etwas Imponirendes haben. Dadurch setzt man sich allerorten bald in Ansehn und hat die Achtung vorweg gewonnen. Es zeigt sich in Allem, im Umgange, im Reden, im Blick, in den Neigungen, sogar im Gange. Wahrlich, ein großer Sieg, sich der Herzen zu bemeistern. Es entsteht nicht aus einer dummen Dreistigkeit, noch aus einem übellaunigen Wesen bei der Unterhaltung; sondern es beruht auf einer wohlgeziemenden Autorität, die aus natürlicher, von Verdiensten unterstützter Ueberlegenheit hervorgeht.
Seltsam, Freund, ich habe eben, noch den frühen Morgensand in den Augen, Ihren Eintrag studiert oder, bleiben wir ehrlich miteinander, ein erstes Mal überflogen und prompt etwas Improvisierendes gelesen. Dann bin ich, davon beschwingt, lächelnd aufgestanden, um mir einen starken Kaffee zu machen, und habe darüber nachgedacht, was ich Ihnen auf diese adrette Idee antworten soll. Das Aus-dem-Stegreif-Handeln ist ein riskantes, aber oftmals lohnenswertes Unterfangen, besonders wenn wir uns darauf regelmäßig einlassen, habe ich gedacht und mir vorgestellt, wie Sie, als bärbeißiger Improvisator, Ihre Schriften verteidigen und die hartnäckigen Kirchenfürsten auf dem falschen Fuß erwischen, die orthodoxen Traditionsbewahrer pfeilschnell überholen und mit Ihrem Ad-hoc-Talent in den blindgläubigen Schatten stellen.
Gerne, eine andere Frage, die jedoch sehr wohl in diesen Zusammenhang gehört, gerne, zu gerne wüsste ich, wie Sie Ihr Orakel angelegt haben: verfügen Sie über ein umfangreiches Archiv? Mit allerlei Notizen, die keiner außer Ihnen entziffern kann? Und mit Querverbindungen? Oder treten Sie unvorbereitet ans Pult und schöpfen aus einem stets vollen Brunnen?
Wer denken will, scheint mir, braucht Vorbereitung - und Mut. Und zwar ein ganzes Leben lang. Das Denken erlaubt, das ließe sich womöglich sagen, durchaus die Improvisation, aber nur die bestens gerüstete.
Gleichfalls ein gehöriges Maß an Vorbereitung benötigt, wer handeln will. Aber sollte es mit dem Herrichten nicht übertreiben. Allerdings: vom Mut brauchen die Handelnden wahrscheinlich noch mehr. Gibt's keine Zeit, um sich auf die notwendige Tat vorzubereiten, wäre es dennoch falsch, sie zu unterlassen. Momente, die unsere Handlungen erfordern, kommen so gut wie nie zurück; anders sieht es mit dem Bedauern über das Nicht-Handeln aus, das uns auf immer unbarmherzig verfolgt.
2. Mai
123.
Ohne Affektation seyn. Je mehr Talente man hat, desto weniger affektire man sie: denn solches ist die gemeinste Verunstaltung derselben. Die Affektation ist den Andern so widerlich, als dem, der sie treibt, peinlich: denn er ist ein Märtyrer der darauf zu verwendenden Sorgfalt und quält sich mit pünktlicher Aufmerksamkeit ab. Die ausgezeichnetesten Eigenschaften büßen durch Affektation ihr Verdienst ein, weil sie jetzt mehr durch Kunst erzwungen, als aus der Natur hervorgegangen scheinen: und überall gefällt das Natürliche mehr als das Künstliche. Immer hält man dafür, daß dem Affektirenden die Vorzüge, welche er affektirt, fremd sind. Je besser man eine Sache macht, desto mehr muß man die darauf verwandte Mühe verbergen, um diese Vollkommenheit als etwas ganz aus unserer Natur Entspringendes erscheinen zu lassen. Auch soll man nicht etwa aus Furcht vor der Affektation grade in diese gerathen, indem man das Unaffektirtseyn affektirt. Der Kluge wird nie seine eigenen Vorzüge zu kennen scheinen: denn grade dadurch, daß er sie nicht beachtet, werden Andre darauf aufmerksam. Doppelt groß ist der, welcher alle Vollkommenheiten in sich, aber keine in seiner eigenen Meinung hat: er gelangt auf einem entgegengesetzten Pfade zum Ziel des Beifalls.
Das ist fleißig kreiselndes Slapstickdenken, Freund, dem Sie sich hier verschrieben haben - und, Sie dürften nicht überrascht sein, dass ich Ihnen das entgegenhalte, und, nun ja, es klingt auch, zumindest aus der langen Entfernung zwischen uns, ein wenig affektiert. Trotzdem ein Kompliment: ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie Sie, am Ende, den Verkehrt-Kreisel als Überlebender des Errorritts hoch zu Ross gallopierend verlassen und uns, dem Fußvolk, dabei noch zwei, drei bemerkenswerte Sätze um die Ohren pfeffern. Vielleicht, je mehr ich darüber nachsinne, ist das, jedenfalls für mich, Ihre größte Leistung. Sie spotten und zetteln, weil Sie glauben, Recht zu haben, alles ganz genau und, wie viele Männer, besser zu wissen, und zetteln großartigen Streit an, keilen wutschnaubend aus, bohren zynisch in der Wunde, verlieren sich dabei selbst, und kehren doch, sowohl zwischendurch als auch am Ende, ganz wundersam als Vertrauter zurück, der uns seine erkenntnisreiche, ambivalente Weltsicht zur Obhut anbefiehlt. Ihre Impfkunst ist, obwohl antiquiert, beachtenswert. Auch wenn nebenbei allerlei Nutzpflanzen ausgerupft werden, halbieren Sie umschweifend Ihre Fressfeinde und antichambrieren bei uns so eloquent, dass wir Ihnen, moralische Ökologie hin oder her, erstaunlich gewogen bleiben und Sie samt Orakel ins nächste Jahrhundert schleppen.
Sich selbst zu widersprechen, sei eine Kunst, die tiefe Erkenntnis schafft; tiefere als das langweilige Eigenlob. Wer sich ununterbrochen auf die eigene Schulter klopft, endet mit Blutergüssen.
Dem Entschlossenen stehen Türen offen. Zu hadern, heißt, die Klinke erst gar nicht anzurühren und vor dem offenbar verriegelten Tor das Schicksal anzuklagen, das es schlecht mit uns meint. Wer sich in die Nesseln setzt, lernt zweierlei: der Ausschlag ist nicht lebensgefährlich und, was das Interessantere ist, wir können die Nesseln essen, sie munden sogar außerordentlich.
3. Mai
Ohne Affektation seyn. Je mehr Talente man hat, desto weniger affektire man sie: denn solches ist die gemeinste Verunstaltung derselben. Die Affektation ist den Andern so widerlich, als dem, der sie treibt, peinlich: denn er ist ein Märtyrer der darauf zu verwendenden Sorgfalt und quält sich mit pünktlicher Aufmerksamkeit ab. Die ausgezeichnetesten Eigenschaften büßen durch Affektation ihr Verdienst ein, weil sie jetzt mehr durch Kunst erzwungen, als aus der Natur hervorgegangen scheinen: und überall gefällt das Natürliche mehr als das Künstliche. Immer hält man dafür, daß dem Affektirenden die Vorzüge, welche er affektirt, fremd sind. Je besser man eine Sache macht, desto mehr muß man die darauf verwandte Mühe verbergen, um diese Vollkommenheit als etwas ganz aus unserer Natur Entspringendes erscheinen zu lassen. Auch soll man nicht etwa aus Furcht vor der Affektation grade in diese gerathen, indem man das Unaffektirtseyn affektirt. Der Kluge wird nie seine eigenen Vorzüge zu kennen scheinen: denn grade dadurch, daß er sie nicht beachtet, werden Andre darauf aufmerksam. Doppelt groß ist der, welcher alle Vollkommenheiten in sich, aber keine in seiner eigenen Meinung hat: er gelangt auf einem entgegengesetzten Pfade zum Ziel des Beifalls.
Das ist fleißig kreiselndes Slapstickdenken, Freund, dem Sie sich hier verschrieben haben - und, Sie dürften nicht überrascht sein, dass ich Ihnen das entgegenhalte, und, nun ja, es klingt auch, zumindest aus der langen Entfernung zwischen uns, ein wenig affektiert. Trotzdem ein Kompliment: ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wie Sie, am Ende, den Verkehrt-Kreisel als Überlebender des Errorritts hoch zu Ross gallopierend verlassen und uns, dem Fußvolk, dabei noch zwei, drei bemerkenswerte Sätze um die Ohren pfeffern. Vielleicht, je mehr ich darüber nachsinne, ist das, jedenfalls für mich, Ihre größte Leistung. Sie spotten und zetteln, weil Sie glauben, Recht zu haben, alles ganz genau und, wie viele Männer, besser zu wissen, und zetteln großartigen Streit an, keilen wutschnaubend aus, bohren zynisch in der Wunde, verlieren sich dabei selbst, und kehren doch, sowohl zwischendurch als auch am Ende, ganz wundersam als Vertrauter zurück, der uns seine erkenntnisreiche, ambivalente Weltsicht zur Obhut anbefiehlt. Ihre Impfkunst ist, obwohl antiquiert, beachtenswert. Auch wenn nebenbei allerlei Nutzpflanzen ausgerupft werden, halbieren Sie umschweifend Ihre Fressfeinde und antichambrieren bei uns so eloquent, dass wir Ihnen, moralische Ökologie hin oder her, erstaunlich gewogen bleiben und Sie samt Orakel ins nächste Jahrhundert schleppen.
Sich selbst zu widersprechen, sei eine Kunst, die tiefe Erkenntnis schafft; tiefere als das langweilige Eigenlob. Wer sich ununterbrochen auf die eigene Schulter klopft, endet mit Blutergüssen.
Dem Entschlossenen stehen Türen offen. Zu hadern, heißt, die Klinke erst gar nicht anzurühren und vor dem offenbar verriegelten Tor das Schicksal anzuklagen, das es schlecht mit uns meint. Wer sich in die Nesseln setzt, lernt zweierlei: der Ausschlag ist nicht lebensgefährlich und, was das Interessantere ist, wir können die Nesseln essen, sie munden sogar außerordentlich.
3. Mai
124.
Es dahin bringen, daß man zurückgewünscht wird. Eine so große Gunst bei den Leuten erwerben Wenige, und wenn gar noch bei den gescheuten Leuten; so ist es ein großes Glück. Gegen die Abtretenden ist Lauheit gewöhnlich. Jedoch giebt es Wege, sich jenen Lohn der allgemeinen Liebe zu erwerben: ein ganz sicherer ist, daß man in seinem Amte und durch seine Talente ausgezeichnet sei, auch das Einnehmende im Betragen thut viel: durch dies Alles macht man seine Vorzüge unentbehrlich, so daß es merklich wird, daß das Amt unsrer bedurfte, nicht wir des Amtes. Einigen macht ihr Posten Ehre; Andere ihm. Das aber ist kein Ruhm, wenn ein schlechter Nachfolger uns vortrefflich macht: denn das heißt nicht, daß wir schlechthin zurückgewünscht werden; sondern nur, daß er verabscheut wird.
In Amt und Würden zu stehen, Freund, sei eine süße Pflicht, die ein Leben mit Sinn erfülle, so heißt's nicht umsonst in Feiertagsreden. Selbst beim verlogenen Abschied schlechter Beamtinnen und schlechter Beamter, die das Staatssäckel als ihr eigenes und die Behörde als Selbstbedienungsmarkt betrachtet haben, wird die Lauterkeit der Position beschworen, obwohl alle Anwesenden wissen, dass es anders gewesen ist, dass während vieler Jahre geplündert und gezündelt worden ist, um sich am Niedergang oder Aufbau zu bereichern. Warum in den Festansprachen gelogen wird, dass sich die Balken zwar biegen, aber nicht brechen? Weil`s die Balken sind, auf denen alle stehen. Will sagen: Sie haben Recht, ein hohes Lied auf die geschätzten Staatsdienerinnen und Staatsdiener anzustimmen, die sich im System bewährt haben. Es bleibt jedoch unerwähnt - und ich will nicht zynisch sein und unterstreichen, dass wir Liebe eben auch aus purer Gewohnheit und sogar Angst erwerben und empfinden können -, Sie verlieren kein Wort darüber, ob's sich um ein unlauteres System handelt.
Nicht zu selten dienen wir dem Bösen gut. Oft erklimmen wir eine Position - um's drastisch zu machen, sei der Henkersknecht eines Gewaltherrschers erwähnt -, die unsere ganze Kraft erfordert, der wir uns mit all unseren Talenten stellen. Glauben Sie, dass diejenigen, denen wir artig und schlagkräftig die Köpfe abhacken, Häupter, die niemals eine faire Richterin oder einen fairen Richter gesehen haben, glauben Sie wirklich, dass diejenigen, im Angesichts des Todes, sich auch nur ansatzweise darum scheren, dass wir im Dunstkreis der Despotie beliebt sind, dass man uns und unsere Arbeit schätzt?
Sich wirklich in der Öffentlichkeit zu bewähren, erfordert das entschlossene Nein, trägt man uns amoralische Positionen an. Ob sie lukrativ sind, darf nicht unsere Entscheidung beeinflussen. Ob wir uns einreden, dass andere in dieser Stellung noch mehr Schaden anrichten würden, steht ebenso nicht zur Debatte.
Sind wir erst mal eingespannt, reißt uns die Bewegung mit. Auszusteigen, das fällt zumeist deutlich schwerer, als einzusteigen.
Wer aus sittenlosen Gründen von den falschen Leuten geliebt wird, den verachten die sittsamen Leute aus den richtigen Gründen.
Alles Gute, schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft sei, sei nichts als Schein und schimmerndes Elend.
4. Mai
Es dahin bringen, daß man zurückgewünscht wird. Eine so große Gunst bei den Leuten erwerben Wenige, und wenn gar noch bei den gescheuten Leuten; so ist es ein großes Glück. Gegen die Abtretenden ist Lauheit gewöhnlich. Jedoch giebt es Wege, sich jenen Lohn der allgemeinen Liebe zu erwerben: ein ganz sicherer ist, daß man in seinem Amte und durch seine Talente ausgezeichnet sei, auch das Einnehmende im Betragen thut viel: durch dies Alles macht man seine Vorzüge unentbehrlich, so daß es merklich wird, daß das Amt unsrer bedurfte, nicht wir des Amtes. Einigen macht ihr Posten Ehre; Andere ihm. Das aber ist kein Ruhm, wenn ein schlechter Nachfolger uns vortrefflich macht: denn das heißt nicht, daß wir schlechthin zurückgewünscht werden; sondern nur, daß er verabscheut wird.
In Amt und Würden zu stehen, Freund, sei eine süße Pflicht, die ein Leben mit Sinn erfülle, so heißt's nicht umsonst in Feiertagsreden. Selbst beim verlogenen Abschied schlechter Beamtinnen und schlechter Beamter, die das Staatssäckel als ihr eigenes und die Behörde als Selbstbedienungsmarkt betrachtet haben, wird die Lauterkeit der Position beschworen, obwohl alle Anwesenden wissen, dass es anders gewesen ist, dass während vieler Jahre geplündert und gezündelt worden ist, um sich am Niedergang oder Aufbau zu bereichern. Warum in den Festansprachen gelogen wird, dass sich die Balken zwar biegen, aber nicht brechen? Weil`s die Balken sind, auf denen alle stehen. Will sagen: Sie haben Recht, ein hohes Lied auf die geschätzten Staatsdienerinnen und Staatsdiener anzustimmen, die sich im System bewährt haben. Es bleibt jedoch unerwähnt - und ich will nicht zynisch sein und unterstreichen, dass wir Liebe eben auch aus purer Gewohnheit und sogar Angst erwerben und empfinden können -, Sie verlieren kein Wort darüber, ob's sich um ein unlauteres System handelt.
Nicht zu selten dienen wir dem Bösen gut. Oft erklimmen wir eine Position - um's drastisch zu machen, sei der Henkersknecht eines Gewaltherrschers erwähnt -, die unsere ganze Kraft erfordert, der wir uns mit all unseren Talenten stellen. Glauben Sie, dass diejenigen, denen wir artig und schlagkräftig die Köpfe abhacken, Häupter, die niemals eine faire Richterin oder einen fairen Richter gesehen haben, glauben Sie wirklich, dass diejenigen, im Angesichts des Todes, sich auch nur ansatzweise darum scheren, dass wir im Dunstkreis der Despotie beliebt sind, dass man uns und unsere Arbeit schätzt?
Sich wirklich in der Öffentlichkeit zu bewähren, erfordert das entschlossene Nein, trägt man uns amoralische Positionen an. Ob sie lukrativ sind, darf nicht unsere Entscheidung beeinflussen. Ob wir uns einreden, dass andere in dieser Stellung noch mehr Schaden anrichten würden, steht ebenso nicht zur Debatte.
Sind wir erst mal eingespannt, reißt uns die Bewegung mit. Auszusteigen, das fällt zumeist deutlich schwerer, als einzusteigen.
Wer aus sittenlosen Gründen von den falschen Leuten geliebt wird, den verachten die sittsamen Leute aus den richtigen Gründen.
Alles Gute, schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft sei, sei nichts als Schein und schimmerndes Elend.
4. Mai
125.
Kein Sündenregister seyn. Sich Andrer Schande angelegen seyn lassen, ist ein Zeichen, daß man selbst schon einen befleckten Ruf hat. Einige möchten mit den fremden Flecken die ihrigen zudecken, oder gar abwaschen; oder sie suchen einen Trost darin, der aber ein Trost für den Unverstand ist. Einen übelriechenden Athem haben die, welche die Kloake des Schmutzes der ganzen Stadt sind. Wer in Dingen dieser Art am meisten wühlt, wird sich am meisten besudeln. Wenige werden ohne irgend einen eigenthümlichen Fehler seyn, er liege nun hier oder dort: aber die Fehler wenig bekannter Leute sind nicht bekannt. Der Aufmerksame hüte sich, ein Sündenregister zu werden: denn das heißt ein verabscheuter Patron seyn, herzlos, wenn auch lebendig.
Schande, Freund, ist ein seltsamer Begriff. Wir suchen ihn uns nicht aus, er sucht sich uns aus. Jedenfalls ist das bei mir der Fall. Mein Sündenregister ist ein historisches. Dank meines Geburtsortes Hamburg, etwas über zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam ich in Barmbek auf die Welt, bin ich Deutscher, und der Holocaust ist und bleibt meine Erbsünde, die tiefste Schande meiner Nation im Zwanzigsten Jahrhundert. Mit nichts zu vergleichen. Ich habe mit Überlebenden des Terrorregimes gesprochen, ich habe Konzentrationslager besucht, ich habe gelesen und gelesen und gelesen. Und mich nicht ins Hirn der deutschen Täter und deutschen Täterinnen hineindenken können. Das einzige, was mir möglich ist, ist die Kloake des ganzen Dritten Reichs als meine Kloake zu verstehen. Es gibt Sündenregister, Freund, denen wir uns nicht entziehen können. Dies ist keine sophistische Anmerkung, es handelt sich um eine Tatsache.
Blicken wir, ohne den Holocaust mit anderen Untaten auf eine Stufe zu stellen, über Ihren persönlichen Tellerrand - schließlich darf Aragonien, wo Sie daheim snd, als Urzelle des spanischen Reichs im Mittelmeerraum im 13. und 14. Jahrhundert gelten, so wurden Sizilien, Sardinien, Neapel und selbst Territorien im heutigen Griechenland ins aragonische Herrschaftsgebiet eingegliedert -, blicken wir auf die folgenden Jahrzehnte, die Eroberungszüge nach der sogenannten Entdeckung Amerikas 1492 durch den genuesischen Seefahrer Christoph Columbus im Dienste der kastilischen Krone, so begann zweifelsohne von der iberischen Halbinsel aus die blutrünstige Conquista des amerikanischen Doppelkontinents. Viele Veteranen der Reconquista segelten in die Neue Welt, um, auf Kosten der Einheimischen, zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. All das, Freund, ging während Ihrer Lebenszeit vonstatten. Hernán Cortés, der das Reich der Azteken niedergemacht hat, und Francisco Pizarro, der Zerstörer des Großreichs der Inka, lebten nur ein Jahrhundert vor Ihnen. Sie haben, ich bin mir sicher, mit Interesse verfolgt, was während Ihrer Lebenszeit in den spanischen Kolonien passiert ist. Ob Ihnen die Schuld aufgegangen ist? Ob Sie sich besudelt gefühlt haben? Wahrscheinlich nicht. Kaum jemand, der gleichzeitig mit Ihnen gewandelt ist, hat Schuld und Scham empfunden. Allein, wenn ich Ihre Religion richtige verstehe, war's doch eine Sünde, zu stehlen, zu vergewaltigen und zu töten.
Legen wir zweierlei Maß an, verrücken wir die Prüfsteine. Und das Zugunsten, was wir uns ausbedungen haben, wird sich, in Wahrheit, als ewige Last um unseren Hals legen und uns langsam, aber sicher erdrosseln.
So sei's mit Entscheidungen, man muss sie treffen, ansonsten treffen sie uns.
5. Mai
Kein Sündenregister seyn. Sich Andrer Schande angelegen seyn lassen, ist ein Zeichen, daß man selbst schon einen befleckten Ruf hat. Einige möchten mit den fremden Flecken die ihrigen zudecken, oder gar abwaschen; oder sie suchen einen Trost darin, der aber ein Trost für den Unverstand ist. Einen übelriechenden Athem haben die, welche die Kloake des Schmutzes der ganzen Stadt sind. Wer in Dingen dieser Art am meisten wühlt, wird sich am meisten besudeln. Wenige werden ohne irgend einen eigenthümlichen Fehler seyn, er liege nun hier oder dort: aber die Fehler wenig bekannter Leute sind nicht bekannt. Der Aufmerksame hüte sich, ein Sündenregister zu werden: denn das heißt ein verabscheuter Patron seyn, herzlos, wenn auch lebendig.
Schande, Freund, ist ein seltsamer Begriff. Wir suchen ihn uns nicht aus, er sucht sich uns aus. Jedenfalls ist das bei mir der Fall. Mein Sündenregister ist ein historisches. Dank meines Geburtsortes Hamburg, etwas über zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam ich in Barmbek auf die Welt, bin ich Deutscher, und der Holocaust ist und bleibt meine Erbsünde, die tiefste Schande meiner Nation im Zwanzigsten Jahrhundert. Mit nichts zu vergleichen. Ich habe mit Überlebenden des Terrorregimes gesprochen, ich habe Konzentrationslager besucht, ich habe gelesen und gelesen und gelesen. Und mich nicht ins Hirn der deutschen Täter und deutschen Täterinnen hineindenken können. Das einzige, was mir möglich ist, ist die Kloake des ganzen Dritten Reichs als meine Kloake zu verstehen. Es gibt Sündenregister, Freund, denen wir uns nicht entziehen können. Dies ist keine sophistische Anmerkung, es handelt sich um eine Tatsache.
Blicken wir, ohne den Holocaust mit anderen Untaten auf eine Stufe zu stellen, über Ihren persönlichen Tellerrand - schließlich darf Aragonien, wo Sie daheim snd, als Urzelle des spanischen Reichs im Mittelmeerraum im 13. und 14. Jahrhundert gelten, so wurden Sizilien, Sardinien, Neapel und selbst Territorien im heutigen Griechenland ins aragonische Herrschaftsgebiet eingegliedert -, blicken wir auf die folgenden Jahrzehnte, die Eroberungszüge nach der sogenannten Entdeckung Amerikas 1492 durch den genuesischen Seefahrer Christoph Columbus im Dienste der kastilischen Krone, so begann zweifelsohne von der iberischen Halbinsel aus die blutrünstige Conquista des amerikanischen Doppelkontinents. Viele Veteranen der Reconquista segelten in die Neue Welt, um, auf Kosten der Einheimischen, zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. All das, Freund, ging während Ihrer Lebenszeit vonstatten. Hernán Cortés, der das Reich der Azteken niedergemacht hat, und Francisco Pizarro, der Zerstörer des Großreichs der Inka, lebten nur ein Jahrhundert vor Ihnen. Sie haben, ich bin mir sicher, mit Interesse verfolgt, was während Ihrer Lebenszeit in den spanischen Kolonien passiert ist. Ob Ihnen die Schuld aufgegangen ist? Ob Sie sich besudelt gefühlt haben? Wahrscheinlich nicht. Kaum jemand, der gleichzeitig mit Ihnen gewandelt ist, hat Schuld und Scham empfunden. Allein, wenn ich Ihre Religion richtige verstehe, war's doch eine Sünde, zu stehlen, zu vergewaltigen und zu töten.
Legen wir zweierlei Maß an, verrücken wir die Prüfsteine. Und das Zugunsten, was wir uns ausbedungen haben, wird sich, in Wahrheit, als ewige Last um unseren Hals legen und uns langsam, aber sicher erdrosseln.
So sei's mit Entscheidungen, man muss sie treffen, ansonsten treffen sie uns.
5. Mai
126.
Dumm ist nicht, wer eine Dummheit begeht; sondern wer sie nachher nicht zu bedecken versteht. Seine Neigungen soll man unter Siegel halten; wie viel mehr seine Fehler. Alle Menschen begehn Fehltritte, jedoch mit dem Unterschiede, daß die Klugen die begangenen verhehlen, die Dummen aber die, welche sie erst begehn wollen, schon zum voraus lügen. Unser Ansehn beruht auf dem Geheimhalten, mehr als auf dem Thun: denn nisi caste, tamen caute. Die Verirrungen großer Männer sind anzusehn wie die Verfinsterungen der großen Weltlichter. Sogar in der Freundschaft sei es eine Ausnahme, daß man seine Fehler dem Freunde anvertraut; ja, sich selber sollte man sie, wenn es seyn könnte, verbergen: doch kann man sich hiebei mit jener andern Lebensregel helfen, welche heißt: vergessen können.
Gar nicht schwierig, Freund, kommt's mir vor, Ihnen heute wohlgemut ins Siegeldraufversteck zu folgen. Es klingt simpel, gar verführerisch, lieber zu schweigen, wenn wir mit unseren Taten danebenliegen, damit niemand vom Dilettantismus und von der Ignoranz erfährt, welche die fraglichen Handlungen scheitern ließen.
Ich habe mir einst, als ich, wie ich mir einredete, aus persönlichen Gründen in schrecklicher Zeitnot war, mit einem Federstrich das Leben an der Universität einfacher gemacht. Ich musste einen Kurs nicht, sagen wir, vorsitzen, um Fähigkeiten nachzuweisen, die ich zwar besaß, aber nicht ad hoc, ohne tief, für meine Verhältnisse: zu tief in die Brieftasche zu greifen, belegen konnte.
Die Sache ging, äußerlich, gut. Ich durfte das Proseminar belegen und mich im Curriculum beweisen, was schließlich, so die Entschuldigung, die ich für mich selbst entwickelt hatte, an sich - oder etwa nicht? - die wahre Prüfung darstellte. Ich redete mir ein, dass der Budenzauber des notwendigen Papiers vorher nicht mehr zählte. Durch meine Leistung, ich hatte mir vorgenommen, in genau diesem Kurs alle anderen auszustechen, würde ich die halb erschwindelte Teilnahme mehr als rechtfertigen - und so kam's. Die Sache hat, Freund, Sie merken's, nur einen Haken. Das schlechte Gewissen über den vermeintlich schwerelosen Federstrich hat mich niemals verlassen. Egal, wie unbedeutend die Verfehlung auch gewesen ist. Dass ich, bislang, noch mit keinem Menschen über diese Schwindelei geredet habe und mir dieser marginale Fehltritt auf der Stelle beim Lesen Ihrer Zeilen eingefallen ist, zeigt, dass es sowohl mit der Geistesdeckung, dem Cover-up der Dummheit, als auch dem Vergessen, das Sie uns als Primus inter Pares-Heilmittel für unsere Stümperhaftigkeiten anraten, nicht weit her ist.
Was andere von uns halten, ändert, sind wir vernunft- und gefühlsbegabt, letztendlich nichts daran, was wir über uns selbst denken.
Lob ohne Substanz verursacht mehr Schmerz als urteilskräftige Kritik.
Sich selbst zu belügen, gelingt nicht einmal den wahrhaft Dummen. Der moralische Kompass schlägt in uns aus, ohne dass wir ihn in die Hand nehmen müssten.
Freunde und Freundinnen, die nichts von unseren Fehlern wissen wollen, die uns lieber vergöttern möchten, sind schlimmer als Feinde und Feindinnen, die uns unsere Irrtümer nicht durchgehen lassen, für jedwede doppelzüngige Amnestie nur Verachtung kennen.
Läuterung setzt Lauterkeit voraus; oder zumindest den Willen dazu.
Allein wer sich öffnet, bekommt Hilfe. Die Verschlossenen ersticken in letzter Konsequenz qualvoll an sich selbst.
6. Mai
Dumm ist nicht, wer eine Dummheit begeht; sondern wer sie nachher nicht zu bedecken versteht. Seine Neigungen soll man unter Siegel halten; wie viel mehr seine Fehler. Alle Menschen begehn Fehltritte, jedoch mit dem Unterschiede, daß die Klugen die begangenen verhehlen, die Dummen aber die, welche sie erst begehn wollen, schon zum voraus lügen. Unser Ansehn beruht auf dem Geheimhalten, mehr als auf dem Thun: denn nisi caste, tamen caute. Die Verirrungen großer Männer sind anzusehn wie die Verfinsterungen der großen Weltlichter. Sogar in der Freundschaft sei es eine Ausnahme, daß man seine Fehler dem Freunde anvertraut; ja, sich selber sollte man sie, wenn es seyn könnte, verbergen: doch kann man sich hiebei mit jener andern Lebensregel helfen, welche heißt: vergessen können.
Gar nicht schwierig, Freund, kommt's mir vor, Ihnen heute wohlgemut ins Siegeldraufversteck zu folgen. Es klingt simpel, gar verführerisch, lieber zu schweigen, wenn wir mit unseren Taten danebenliegen, damit niemand vom Dilettantismus und von der Ignoranz erfährt, welche die fraglichen Handlungen scheitern ließen.
Ich habe mir einst, als ich, wie ich mir einredete, aus persönlichen Gründen in schrecklicher Zeitnot war, mit einem Federstrich das Leben an der Universität einfacher gemacht. Ich musste einen Kurs nicht, sagen wir, vorsitzen, um Fähigkeiten nachzuweisen, die ich zwar besaß, aber nicht ad hoc, ohne tief, für meine Verhältnisse: zu tief in die Brieftasche zu greifen, belegen konnte.
Die Sache ging, äußerlich, gut. Ich durfte das Proseminar belegen und mich im Curriculum beweisen, was schließlich, so die Entschuldigung, die ich für mich selbst entwickelt hatte, an sich - oder etwa nicht? - die wahre Prüfung darstellte. Ich redete mir ein, dass der Budenzauber des notwendigen Papiers vorher nicht mehr zählte. Durch meine Leistung, ich hatte mir vorgenommen, in genau diesem Kurs alle anderen auszustechen, würde ich die halb erschwindelte Teilnahme mehr als rechtfertigen - und so kam's. Die Sache hat, Freund, Sie merken's, nur einen Haken. Das schlechte Gewissen über den vermeintlich schwerelosen Federstrich hat mich niemals verlassen. Egal, wie unbedeutend die Verfehlung auch gewesen ist. Dass ich, bislang, noch mit keinem Menschen über diese Schwindelei geredet habe und mir dieser marginale Fehltritt auf der Stelle beim Lesen Ihrer Zeilen eingefallen ist, zeigt, dass es sowohl mit der Geistesdeckung, dem Cover-up der Dummheit, als auch dem Vergessen, das Sie uns als Primus inter Pares-Heilmittel für unsere Stümperhaftigkeiten anraten, nicht weit her ist.
Was andere von uns halten, ändert, sind wir vernunft- und gefühlsbegabt, letztendlich nichts daran, was wir über uns selbst denken.
Lob ohne Substanz verursacht mehr Schmerz als urteilskräftige Kritik.
Sich selbst zu belügen, gelingt nicht einmal den wahrhaft Dummen. Der moralische Kompass schlägt in uns aus, ohne dass wir ihn in die Hand nehmen müssten.
Freunde und Freundinnen, die nichts von unseren Fehlern wissen wollen, die uns lieber vergöttern möchten, sind schlimmer als Feinde und Feindinnen, die uns unsere Irrtümer nicht durchgehen lassen, für jedwede doppelzüngige Amnestie nur Verachtung kennen.
Läuterung setzt Lauterkeit voraus; oder zumindest den Willen dazu.
Allein wer sich öffnet, bekommt Hilfe. Die Verschlossenen ersticken in letzter Konsequenz qualvoll an sich selbst.
6. Mai
127.
Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. Diese ist das Leben der Talente, der Athem der Rede, die Seele des Thuns, die Zierde der Zierden. Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. Sogar im Denken wird sie sichtbar. Sie am allermeisten ist Geschenk der Natur und dankt am wenigsten der Bildung: denn selbst über die Erziehung ist sie erhaben. Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät. Sie ist ein feiner Richtweg, die Geschäfte abzukürzen, oder auf eine edle Art aus jeder Verwicklung zu kommen.
Selten, Freund, gehen zwei Dinge so weit auseinander wie die Unbefangenheit und das Schreiben. Ausnahmen, denen ich Respekt zolle, die mich jedoch aus unterschiedlichen Gründen zunehmend befremden, wären das aufgenommene und dann niedergeschriebene Zungenreden und die Écriture automatique, eine surrealistische Schreibmethode, bei der Gefühle und Ausdrücke unzensiert und, idealerweise, ohne Eingreifen des kritischen Ichs gleichsam im Schaffensrausch verfasst werden. Die Willkür, spirituell und künstlerisch, regiert dabei die Unbefangenheit, was die Ergebnisse, im besten Fall, zum vergnüglichen oder verstörenden Rorschachtest werden lässt.
Wohl verstehe ich, dass es Ihnen nicht um die umzäunte Unbefangenheit geht, die ein Produkt der Moderne ist, eine exklusive Einsicht des im Unterbewussten fischenden Menschen. Was Sie andererseits anstimmen, klingt für mich wie das Hohelied der Naivität. Solch eine leichtgläubige Unbefangenheit hat ihren theoretischen Charme, findet aber praktisch nicht statt.
Selbst die Unbefangesten sind in sich selbst gefangen. Naivität, auch die arglose, von der arglistigen möchte ich eher nicht sprechen, hat entweder mit der Faulheit zu tun, die Augen zu öffnen und die Welt wahrzunehmen, oder mit dem doppelten Blindsein, was, naturgemäß, das Nichtgesehenwerden einschließt; Blindheit sei niemals eine Einbahnstraße.
Vollkommenheit ist per se ein Begriff der Befangenheit, der Absichten hegt, die der Unbefangenheit (Natur) entgegenstehen. Als Menschen sind wir zur Befangenheit verdammt, da wir uns seit jeher die Natur unterwerfen. Bereits in den Begriffen steckt das Ergreifen, was dem An-sich-Sein unmöglich entspricht. Wer begreift, vergreift sich, über kurz oder lang; eine Zwangsläufigkeit, die nur der Tod abschließt.
7. Mai
Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. Diese ist das Leben der Talente, der Athem der Rede, die Seele des Thuns, die Zierde der Zierden. Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. Sogar im Denken wird sie sichtbar. Sie am allermeisten ist Geschenk der Natur und dankt am wenigsten der Bildung: denn selbst über die Erziehung ist sie erhaben. Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät. Sie ist ein feiner Richtweg, die Geschäfte abzukürzen, oder auf eine edle Art aus jeder Verwicklung zu kommen.
Selten, Freund, gehen zwei Dinge so weit auseinander wie die Unbefangenheit und das Schreiben. Ausnahmen, denen ich Respekt zolle, die mich jedoch aus unterschiedlichen Gründen zunehmend befremden, wären das aufgenommene und dann niedergeschriebene Zungenreden und die Écriture automatique, eine surrealistische Schreibmethode, bei der Gefühle und Ausdrücke unzensiert und, idealerweise, ohne Eingreifen des kritischen Ichs gleichsam im Schaffensrausch verfasst werden. Die Willkür, spirituell und künstlerisch, regiert dabei die Unbefangenheit, was die Ergebnisse, im besten Fall, zum vergnüglichen oder verstörenden Rorschachtest werden lässt.
Wohl verstehe ich, dass es Ihnen nicht um die umzäunte Unbefangenheit geht, die ein Produkt der Moderne ist, eine exklusive Einsicht des im Unterbewussten fischenden Menschen. Was Sie andererseits anstimmen, klingt für mich wie das Hohelied der Naivität. Solch eine leichtgläubige Unbefangenheit hat ihren theoretischen Charme, findet aber praktisch nicht statt.
Selbst die Unbefangesten sind in sich selbst gefangen. Naivität, auch die arglose, von der arglistigen möchte ich eher nicht sprechen, hat entweder mit der Faulheit zu tun, die Augen zu öffnen und die Welt wahrzunehmen, oder mit dem doppelten Blindsein, was, naturgemäß, das Nichtgesehenwerden einschließt; Blindheit sei niemals eine Einbahnstraße.
Vollkommenheit ist per se ein Begriff der Befangenheit, der Absichten hegt, die der Unbefangenheit (Natur) entgegenstehen. Als Menschen sind wir zur Befangenheit verdammt, da wir uns seit jeher die Natur unterwerfen. Bereits in den Begriffen steckt das Ergreifen, was dem An-sich-Sein unmöglich entspricht. Wer begreift, vergreift sich, über kurz oder lang; eine Zwangsläufigkeit, die nur der Tod abschließt.
7. Mai
128.
Hoher Sinn: eines der ersten Erfordernisse zu einem Helden, weil er für Größe jeder Art entflammt. Er verbessert den Geschmack, erweitert das Herz, steigert die Denkkraft, veredelt das Gemüth und erhöht das Gefühl der Würde. Bei wem auch immer er sich finden mag, erhebt er strebend das Haupt, und wenn auch bisweilen ein mißgünstiges Schicksal sein Streben vereitelt; so platzt er, um zu strahlen, und verbreitet sich über den Willen, da ihm das Können gewaltsam benommen ist. Großmuth, Edelmuth und jede heldenmäßige Eigenschaft erkennen in ihm ihre Quelle.
Ein furioses Bild, Freund, das Sie uns da präsentieren: dem strahlenden Beinahe-Held, natürlich handelt's sich um einen Mann, stehen die Sterne nicht günstig. Schade, sehr sogar. Zappenduster ist's im Heroenstadel. Egal. Denn der Hohe Sinn entschließt sich zum Bersten, und, I PRESSED THE FIRE CONTROL ... AND AHEAD OF ME ROCKTES BLAZED THROUGH THE SKY ... WHAAM!, um Roy Lichtensteins Pop Art-Ikonenbild zu zitieren, gibt's auf einmal Fiat Lux. Heerlich, um wiederum das potentielle Schlacht- und Leichenfeld, könnte es stöhnen, zu Wort kommen zu lassen. Apropos Fiat. Der italienische Autohersteller besaß einst den Ruf, wunderschöne Fahrzeuge zu bauen, die aber nicht immer zuverlässig waren. Besonders der Unterboden, hieß es von den Gegnern der Turiner, rostete in Gegenden nördlich der Alpen leichtsinnig weg, was, schätze ich, da man ja den Wagen nicht von unten betrachtete, den Kritisierten ein müdes Lächeln und strammato abgerungen haben dürfte. Der Hohn gegen die übermütige Schönheit führte dazu, dass Fiat kleinmütig mit Fehlern in allen Teilen übersetzt wurde. Als ich das hörte, musste ich unbedingt, sofort, auf der Stelle einen Turiner haben. Mein erster eigener Wagen: ein Schöngeist. Traumhaft. Die Idee, dass die Ästhetik, Famos in allen Teilen, dem ubiquitären Nullsummenspiel eines VW-Golfs die Show stahl, überzeugte mich. Fremde bedauerten mich, sobald ich den Wagen parkte, sprachen mir, allen Ernstes, ich erinnere mich an mehrere gleichlautende Unterhaltungen, den Hohen Sinn für die deutsche Ingenieurskunst ab. Aber lassen wir das, denn selbstverständlich ließen sich Argumente für einen stahlharten Unterboden finden, und außerdem haben wir uns, Freund, bereits recht weit von Ihrem Heldenmut entfernt.
Umwege - ich zitiere mich, wie Sie, in der Zwischenzeit selbst - bringen uns auch ans Ziel. Wir haben sogar die Chance, Dinge zu entdecken, die uns auf dem direkten Wege entgangen wären. Zeit füllt sich mit neuen Erlebnissen, wenn wir ihr weniger vorschreiben. Ein rigides Korsett hält uns zwar gerade, aber das Atmen ist reichlich unangenehm.
8. Mai
Hoher Sinn: eines der ersten Erfordernisse zu einem Helden, weil er für Größe jeder Art entflammt. Er verbessert den Geschmack, erweitert das Herz, steigert die Denkkraft, veredelt das Gemüth und erhöht das Gefühl der Würde. Bei wem auch immer er sich finden mag, erhebt er strebend das Haupt, und wenn auch bisweilen ein mißgünstiges Schicksal sein Streben vereitelt; so platzt er, um zu strahlen, und verbreitet sich über den Willen, da ihm das Können gewaltsam benommen ist. Großmuth, Edelmuth und jede heldenmäßige Eigenschaft erkennen in ihm ihre Quelle.
Ein furioses Bild, Freund, das Sie uns da präsentieren: dem strahlenden Beinahe-Held, natürlich handelt's sich um einen Mann, stehen die Sterne nicht günstig. Schade, sehr sogar. Zappenduster ist's im Heroenstadel. Egal. Denn der Hohe Sinn entschließt sich zum Bersten, und, I PRESSED THE FIRE CONTROL ... AND AHEAD OF ME ROCKTES BLAZED THROUGH THE SKY ... WHAAM!, um Roy Lichtensteins Pop Art-Ikonenbild zu zitieren, gibt's auf einmal Fiat Lux. Heerlich, um wiederum das potentielle Schlacht- und Leichenfeld, könnte es stöhnen, zu Wort kommen zu lassen. Apropos Fiat. Der italienische Autohersteller besaß einst den Ruf, wunderschöne Fahrzeuge zu bauen, die aber nicht immer zuverlässig waren. Besonders der Unterboden, hieß es von den Gegnern der Turiner, rostete in Gegenden nördlich der Alpen leichtsinnig weg, was, schätze ich, da man ja den Wagen nicht von unten betrachtete, den Kritisierten ein müdes Lächeln und strammato abgerungen haben dürfte. Der Hohn gegen die übermütige Schönheit führte dazu, dass Fiat kleinmütig mit Fehlern in allen Teilen übersetzt wurde. Als ich das hörte, musste ich unbedingt, sofort, auf der Stelle einen Turiner haben. Mein erster eigener Wagen: ein Schöngeist. Traumhaft. Die Idee, dass die Ästhetik, Famos in allen Teilen, dem ubiquitären Nullsummenspiel eines VW-Golfs die Show stahl, überzeugte mich. Fremde bedauerten mich, sobald ich den Wagen parkte, sprachen mir, allen Ernstes, ich erinnere mich an mehrere gleichlautende Unterhaltungen, den Hohen Sinn für die deutsche Ingenieurskunst ab. Aber lassen wir das, denn selbstverständlich ließen sich Argumente für einen stahlharten Unterboden finden, und außerdem haben wir uns, Freund, bereits recht weit von Ihrem Heldenmut entfernt.
Umwege - ich zitiere mich, wie Sie, in der Zwischenzeit selbst - bringen uns auch ans Ziel. Wir haben sogar die Chance, Dinge zu entdecken, die uns auf dem direkten Wege entgangen wären. Zeit füllt sich mit neuen Erlebnissen, wenn wir ihr weniger vorschreiben. Ein rigides Korsett hält uns zwar gerade, aber das Atmen ist reichlich unangenehm.
8. Mai
129.
Nie sich beklagen. Das Klagen schadet stets unserm Ansehn. Es dient leichter, der Leidenschaftlichkeit Anderer ein Beispiel der Verwegenheit an die Hand zu geben, als uns den Trost des Mitleids zu verschaffen: denn dem Zuhörer zeigt es den Weg zu eben dem, worüber wir klagen, und die Kunde der ersten Beleidigung ist die Entschuldigung der zweiten. Einige geben durch ihre Klagen über erlittenes Unrecht zu neuem Anlaß, und indem sie Hülfe oder Trost suchen, erregen sie Schadenfreude und sogar Verachtung. Viel politischer ist es, die von dem Einen erhaltenen Gunstbezeugungen dem Andern zu rühmen, um ihn zu ähnlichen zu verpflichten: indem wir der Verbindlichkeiten erwähnen, welche wir gegen die Abwesenden fühlen, fordern wir die Anwesenden auf, sich eben solche zu erwerben, und verkaufen dergestalt das Ansehn, in welchem wir bei dem Einen stehen, dem Andern. Nie also wird der Aufmerksame erlittene Unbilden oder eigene Fehler bekannt machen, wohl aber die Hochschätzung, deren er genießt: dadurch hält er seine Freunde fest und seine Feinde in den Schranken.
Wir sind, obwohl Sie den Begriff nicht benutzen, erneut beim Punkt angekommen, Freund, was Öffentlichkeit ist und soll, welche Schnittmenge unsere privaten Gefühle mit der Lebensbühne, coram publico, besitzen. Mir scheint, dass Ihre Position des Gleichzeitig-im-Zuschauerraum-und-auf-der-Bühne-Seins etliche bemerkenswerte Vor- und Nachteile hat. Ein Pluspunkt ist wohl, dass man sich, wie Sie's vorschlagen, vom Parkett aus selbst ausgiebig beklatschen und andere, überwältigt man den Saal, zu Jubelstürmen und Rosenwürfen mitreißen kann. Das erfordert einen strategischen, ich könnte auch sagen: narzisstischen Charakter.
Wir werden zum Mittelsmann oder zur Mittelsfrau unserer eigenen Botschaft. Und weil uns alle Mittel recht sind, verführen wir unsere Freunde und Freundinnen - nun spitze ich zu - zur berechenbaren Mittelmäßigkeit. Da wir unser eigener Claquer sind, sollen auch sie uns in den Himmel loben - oder zumindest die Kritik unterlassen. Wir sammeln Jubelperser und Jubelperserinnen um uns herum.
Da solch eine Dauerwerbung in eigener Sache ziemlich nach Selbstbeweihräucherung stinkt, bleiben nur die bei uns, die verlernt haben, beim unsittlichen Verhalten die Nase zu rümpfen. Wir sind, ein hartes Wort, für das ich mich vorab entschuldigen möchte, das mir aber richtig und notwendig erscheint, wir sind schlussendlich nur noch von Masturbanten und Masturbantinnen umgeben, die, nachdem sie unsere Selbstbefriedigung öffentlich gelobt haben, von uns zu Recht erwarten, dass wir ihrer Ewigonanie gleichfalls Beifall zollen. Zwar, und ich weiß wohl, wovon ich spreche, da jeder und jede von uns, ohne Ausnahme, seien wir in diesem Punkt ehrlich, mehr oder minder oft den seelischen und körperlichen Handbetrieb anwirft, mich eingeschlossen, zwar sind mir die unschätzbaren Vorteile der Erfüllung meiner Lust und Begierden bekannt, zumal wenn sie auf friedlichem Weg erreicht werden, und doch ist der produktive, skeptische Austausch mit der Welt, die uns am Schopfe packt und kräftig durchrüttelt, sobald wir uns und anderen schaden, und doch ist eben diese kritische Interaktion die schönste und ehrlichste Art zu leben.
Handle so, schreibt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
Die Klage, was die Selbstanklage einschließt, macht uns zum vollständigen Menschen. Wer das Visier permanent unten lässt, legt sich eine Maske zu, die irgendwann so fest sitzt, dass das Ich dahinter elendig verrottet.
Im Grunde werden wir nur richtig geliebt, wenn wir unsere Schwächen offenbaren. Der oder die ewig Starke verkommt zum Geschmackstyrannen oder zur Geschmackstyrannin. Menschen, die das Selbstlob als Lebensmaxime bis zum Exzess ausreizen, werden von den Vernünftigen alsbald lieber gemieden. Sterben die Reklamefachtleute, weint man ihnen allein falsche Tränen nach und kündigt sogleich, spätestens am Tag nach der Beerdigung, erleichtert die Grabpflege.
9. Mai
Nie sich beklagen. Das Klagen schadet stets unserm Ansehn. Es dient leichter, der Leidenschaftlichkeit Anderer ein Beispiel der Verwegenheit an die Hand zu geben, als uns den Trost des Mitleids zu verschaffen: denn dem Zuhörer zeigt es den Weg zu eben dem, worüber wir klagen, und die Kunde der ersten Beleidigung ist die Entschuldigung der zweiten. Einige geben durch ihre Klagen über erlittenes Unrecht zu neuem Anlaß, und indem sie Hülfe oder Trost suchen, erregen sie Schadenfreude und sogar Verachtung. Viel politischer ist es, die von dem Einen erhaltenen Gunstbezeugungen dem Andern zu rühmen, um ihn zu ähnlichen zu verpflichten: indem wir der Verbindlichkeiten erwähnen, welche wir gegen die Abwesenden fühlen, fordern wir die Anwesenden auf, sich eben solche zu erwerben, und verkaufen dergestalt das Ansehn, in welchem wir bei dem Einen stehen, dem Andern. Nie also wird der Aufmerksame erlittene Unbilden oder eigene Fehler bekannt machen, wohl aber die Hochschätzung, deren er genießt: dadurch hält er seine Freunde fest und seine Feinde in den Schranken.
Wir sind, obwohl Sie den Begriff nicht benutzen, erneut beim Punkt angekommen, Freund, was Öffentlichkeit ist und soll, welche Schnittmenge unsere privaten Gefühle mit der Lebensbühne, coram publico, besitzen. Mir scheint, dass Ihre Position des Gleichzeitig-im-Zuschauerraum-und-auf-der-Bühne-Seins etliche bemerkenswerte Vor- und Nachteile hat. Ein Pluspunkt ist wohl, dass man sich, wie Sie's vorschlagen, vom Parkett aus selbst ausgiebig beklatschen und andere, überwältigt man den Saal, zu Jubelstürmen und Rosenwürfen mitreißen kann. Das erfordert einen strategischen, ich könnte auch sagen: narzisstischen Charakter.
Wir werden zum Mittelsmann oder zur Mittelsfrau unserer eigenen Botschaft. Und weil uns alle Mittel recht sind, verführen wir unsere Freunde und Freundinnen - nun spitze ich zu - zur berechenbaren Mittelmäßigkeit. Da wir unser eigener Claquer sind, sollen auch sie uns in den Himmel loben - oder zumindest die Kritik unterlassen. Wir sammeln Jubelperser und Jubelperserinnen um uns herum.
Da solch eine Dauerwerbung in eigener Sache ziemlich nach Selbstbeweihräucherung stinkt, bleiben nur die bei uns, die verlernt haben, beim unsittlichen Verhalten die Nase zu rümpfen. Wir sind, ein hartes Wort, für das ich mich vorab entschuldigen möchte, das mir aber richtig und notwendig erscheint, wir sind schlussendlich nur noch von Masturbanten und Masturbantinnen umgeben, die, nachdem sie unsere Selbstbefriedigung öffentlich gelobt haben, von uns zu Recht erwarten, dass wir ihrer Ewigonanie gleichfalls Beifall zollen. Zwar, und ich weiß wohl, wovon ich spreche, da jeder und jede von uns, ohne Ausnahme, seien wir in diesem Punkt ehrlich, mehr oder minder oft den seelischen und körperlichen Handbetrieb anwirft, mich eingeschlossen, zwar sind mir die unschätzbaren Vorteile der Erfüllung meiner Lust und Begierden bekannt, zumal wenn sie auf friedlichem Weg erreicht werden, und doch ist der produktive, skeptische Austausch mit der Welt, die uns am Schopfe packt und kräftig durchrüttelt, sobald wir uns und anderen schaden, und doch ist eben diese kritische Interaktion die schönste und ehrlichste Art zu leben.
Handle so, schreibt Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.
Die Klage, was die Selbstanklage einschließt, macht uns zum vollständigen Menschen. Wer das Visier permanent unten lässt, legt sich eine Maske zu, die irgendwann so fest sitzt, dass das Ich dahinter elendig verrottet.
Im Grunde werden wir nur richtig geliebt, wenn wir unsere Schwächen offenbaren. Der oder die ewig Starke verkommt zum Geschmackstyrannen oder zur Geschmackstyrannin. Menschen, die das Selbstlob als Lebensmaxime bis zum Exzess ausreizen, werden von den Vernünftigen alsbald lieber gemieden. Sterben die Reklamefachtleute, weint man ihnen allein falsche Tränen nach und kündigt sogleich, spätestens am Tag nach der Beerdigung, erleichtert die Grabpflege.
9. Mai
130.
Thun und sehn lassen. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. Werth haben und ihn zu zeigen verstehn, heißt zweimal Werth haben. Was nicht gesehn wird, ist als ob es nicht wäre. Das Recht selbst kann seine Achtung nicht erhalten, wenn es nicht auch als Recht erscheint. Viel größer ist die Zahl der Getäuschten als die der Einsichtigen. Der Betrug herrscht vor, und man beurtheilt die Dinge von Außen: viele aber sind weit verschieden von dem, was sie scheinen. Eine gute Außenseite ist die beste Empfehlung der inneren Vollkommenheit.
Peter Singer schreibt in seinem Buch The Live you can save davon, Freund, dass wir von den guten Dingen, die wir für andere tun, möglichst offen sprechen sollen. Er hält nichts davon, dass man aus Bescheidenheit oder Tradition über Wohltaten schweigt. Hören wir beispielsweise, dass alle Angestellten einer Firma regelmäßig zusammen eine Summe X für ein Hilfsprojekt spenden, fragen wir uns wahrscheinlich, warum wir das in unserem Betrieb nicht auch machen. Singer vermutet sogar, dass wir es den anderen mit unserer Großzügigkeit mal richtig zeigen und sie mit unserem Edelmut ausstechen wollen. Hier passiert nun zweierlei: das Engagement für das Gute gilt sowohl für das, was es tatsächlich ist, als auch für das, was es scheint. Beides zusammen ist also möglich.
Auch wenn Sie mit der Annahme durchaus richtigliegen, dass ohne das Gesehenwerden die Chance der Anerkennung erheblich sinkt, bezweifele ich, dass sich der Wert einer Handlung automatisch verdoppelt, wenn sie von anderen wahrgenommen wird. Was eine Handlung ist und was sie erreicht, entscheidet über ihre Geltung. Habe ich etwas gemacht, das mich befreit, sich anderen aber nicht offenbart, ist es trotzdem geschehen und wertvoll.
Jede Handlung hat einen Kern, der unabhängig von der äußeren Bewertung ist. Wird das Gute für böse gehalten, bleibt es dennoch gut. Wer um den Kern der Handlung weiß, sich nur um diesen kümmert, ist wahrhaft in seinem Tun und Lassen unabhängig.
Der Ruf sei ein wechselhafter Geselle. Er folgt den Moden und kleidet sich, wie es dem Moment, aber selten der Ewigkeit passt.
10. Mai
Thun und sehn lassen. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind, sondern für das, was sie scheinen. Werth haben und ihn zu zeigen verstehn, heißt zweimal Werth haben. Was nicht gesehn wird, ist als ob es nicht wäre. Das Recht selbst kann seine Achtung nicht erhalten, wenn es nicht auch als Recht erscheint. Viel größer ist die Zahl der Getäuschten als die der Einsichtigen. Der Betrug herrscht vor, und man beurtheilt die Dinge von Außen: viele aber sind weit verschieden von dem, was sie scheinen. Eine gute Außenseite ist die beste Empfehlung der inneren Vollkommenheit.
Peter Singer schreibt in seinem Buch The Live you can save davon, Freund, dass wir von den guten Dingen, die wir für andere tun, möglichst offen sprechen sollen. Er hält nichts davon, dass man aus Bescheidenheit oder Tradition über Wohltaten schweigt. Hören wir beispielsweise, dass alle Angestellten einer Firma regelmäßig zusammen eine Summe X für ein Hilfsprojekt spenden, fragen wir uns wahrscheinlich, warum wir das in unserem Betrieb nicht auch machen. Singer vermutet sogar, dass wir es den anderen mit unserer Großzügigkeit mal richtig zeigen und sie mit unserem Edelmut ausstechen wollen. Hier passiert nun zweierlei: das Engagement für das Gute gilt sowohl für das, was es tatsächlich ist, als auch für das, was es scheint. Beides zusammen ist also möglich.
Auch wenn Sie mit der Annahme durchaus richtigliegen, dass ohne das Gesehenwerden die Chance der Anerkennung erheblich sinkt, bezweifele ich, dass sich der Wert einer Handlung automatisch verdoppelt, wenn sie von anderen wahrgenommen wird. Was eine Handlung ist und was sie erreicht, entscheidet über ihre Geltung. Habe ich etwas gemacht, das mich befreit, sich anderen aber nicht offenbart, ist es trotzdem geschehen und wertvoll.
Jede Handlung hat einen Kern, der unabhängig von der äußeren Bewertung ist. Wird das Gute für böse gehalten, bleibt es dennoch gut. Wer um den Kern der Handlung weiß, sich nur um diesen kümmert, ist wahrhaft in seinem Tun und Lassen unabhängig.
Der Ruf sei ein wechselhafter Geselle. Er folgt den Moden und kleidet sich, wie es dem Moment, aber selten der Ewigkeit passt.
10. Mai
131.
Adel des Gemüths. Es giebt eine Großherzigkeit der Seele, einen Edelmuth des Geistes, dessen schöne Aeußerungen den Karakter in das glänzendeste Licht stellen. Dieser Adel des Gemüths ist nicht Jedermanns Sache: denn er setzt Geistesgröße voraus. Seine erste Aufgabe ist, gut vom Feinde zu reden und noch besser an ihm zu handeln. Im größten Glanz erscheint er bei den Gelegenheiten zur Rache: diese läßt er sich nicht etwa entgehn, sondern er verbessert sie sich, indem er, grade wann er recht siegreich ist, sie zu einer unerwarteten Großmuth benutzt. Und dabei ist er doch politisch, ja sogar der Schmuck der Staatsklugheit: nie affektirt er Siege, weil er nichts affektirt: erlangt solche jedoch sein Verdienst, so verhehlt sie sein Edelmuth.
Einigen wir uns darauf, Freund, dass wir den Begriff Adel mit edler Gesinnung gleichsetzen, was etymologisch ja stimmt, dass wir den ganzen Hochgeborenenschmarrn also folgerichtig beiseiteschieben, dann bin ich ganz bei Ihnen, was die Großherzigkeit der Sieger und Siegerinnen betrifft. Sie klingen, falls ich das erwähnen darf, erneut wie Sun Tzu, dessen Kunst des Krieges Ihnen möglicherweise bekannt gewesen ist, auf den wir, wenn ich mich nicht irre, ja bereits zu sprechen gekommen sind. Und wie bei Sun Tzu überschleicht mich auch bei Ihnen das Gefühl, dass, am Ende, folgende Maxime die Oberhand gewinnt: Dein höchstes Ziel sei stets der Sieg. Im Falle eines Angriffs auf uns ist das, unbezweifelbar, die richtige Einstellung. Stehen wir für das Gute, dürfen, ja müssen wir uns verteidigen. Eine ganz andere, moralisch hoch interessante Ausgangslage ergäbe sich dagegen, wenn man uns angriffe, weil wir die Schlechten wären oder, aus welchen Gründen auch immer, mit auf der Seite der Schlechten kämpften; in diesem Falle, scheint mir, wäre es an uns, die Seite zu wechseln oder uns kampflos in unser verdientes Schicksal des Geschlagenwerdens zu fügen.
Und wiederum noch ganz anders verhält's sich, falls wir die Angreifer sind, die, ohne Provokation, ohne guten Grund, beispielsweise das Aus-dem-Weg-Räumen eines Tyrannen, eine Attacke auf unsere friedlichen Nachbarn und Nachbarinnen gestartet haben. Hier wird der Großmut der Sieger zum puren Zynismus.
Ein Sieg des Bösen wird nicht durch Nachsicht den Feinden gegenüber geadelt. Das Schlechte bleibt schlecht, auch wenn es sich gut verkauft. Die Propaganda des Bösen, die das Gemeine im Kern als gutmütig anpreist, ist, was wir niemals vergessen sollten, stets eine kurzzeitige.
Tyrannei schmust, will sie uns einlullen, heuchlerisch mal eben mit uns und beißt uns dann, zeigen wir uns demokratisch und aufmüpfig, die Zunge ab.
11. Mai
Adel des Gemüths. Es giebt eine Großherzigkeit der Seele, einen Edelmuth des Geistes, dessen schöne Aeußerungen den Karakter in das glänzendeste Licht stellen. Dieser Adel des Gemüths ist nicht Jedermanns Sache: denn er setzt Geistesgröße voraus. Seine erste Aufgabe ist, gut vom Feinde zu reden und noch besser an ihm zu handeln. Im größten Glanz erscheint er bei den Gelegenheiten zur Rache: diese läßt er sich nicht etwa entgehn, sondern er verbessert sie sich, indem er, grade wann er recht siegreich ist, sie zu einer unerwarteten Großmuth benutzt. Und dabei ist er doch politisch, ja sogar der Schmuck der Staatsklugheit: nie affektirt er Siege, weil er nichts affektirt: erlangt solche jedoch sein Verdienst, so verhehlt sie sein Edelmuth.
Einigen wir uns darauf, Freund, dass wir den Begriff Adel mit edler Gesinnung gleichsetzen, was etymologisch ja stimmt, dass wir den ganzen Hochgeborenenschmarrn also folgerichtig beiseiteschieben, dann bin ich ganz bei Ihnen, was die Großherzigkeit der Sieger und Siegerinnen betrifft. Sie klingen, falls ich das erwähnen darf, erneut wie Sun Tzu, dessen Kunst des Krieges Ihnen möglicherweise bekannt gewesen ist, auf den wir, wenn ich mich nicht irre, ja bereits zu sprechen gekommen sind. Und wie bei Sun Tzu überschleicht mich auch bei Ihnen das Gefühl, dass, am Ende, folgende Maxime die Oberhand gewinnt: Dein höchstes Ziel sei stets der Sieg. Im Falle eines Angriffs auf uns ist das, unbezweifelbar, die richtige Einstellung. Stehen wir für das Gute, dürfen, ja müssen wir uns verteidigen. Eine ganz andere, moralisch hoch interessante Ausgangslage ergäbe sich dagegen, wenn man uns angriffe, weil wir die Schlechten wären oder, aus welchen Gründen auch immer, mit auf der Seite der Schlechten kämpften; in diesem Falle, scheint mir, wäre es an uns, die Seite zu wechseln oder uns kampflos in unser verdientes Schicksal des Geschlagenwerdens zu fügen.
Und wiederum noch ganz anders verhält's sich, falls wir die Angreifer sind, die, ohne Provokation, ohne guten Grund, beispielsweise das Aus-dem-Weg-Räumen eines Tyrannen, eine Attacke auf unsere friedlichen Nachbarn und Nachbarinnen gestartet haben. Hier wird der Großmut der Sieger zum puren Zynismus.
Ein Sieg des Bösen wird nicht durch Nachsicht den Feinden gegenüber geadelt. Das Schlechte bleibt schlecht, auch wenn es sich gut verkauft. Die Propaganda des Bösen, die das Gemeine im Kern als gutmütig anpreist, ist, was wir niemals vergessen sollten, stets eine kurzzeitige.
Tyrannei schmust, will sie uns einlullen, heuchlerisch mal eben mit uns und beißt uns dann, zeigen wir uns demokratisch und aufmüpfig, die Zunge ab.
11. Mai
132.
Zweimal überlegen. An Revision appelliren, giebt Sicherheit: zumal wenn man mit der Sache nicht ganz im Klaren ist, gewinne man Zeit, um entweder einzuwilligen oder sich zu verbessern. Es bieten sich neue Gründe dar, die Beschlüsse zu bekräftigen und zu bestätigen. Handelt sich's um's Geben; so wird die Gewißheit, daß die Gabe mit Ueberlegung verliehen sei, sie werther machen, als die Freude über die Schnelligkeit, und das lang Ersehnte wird immer am höchsten geschätzt. Muß man hingegen verweigern; so gewinnt man Zeit für die Art und Weise, wie auch um das Nein zur Reife zu bringen, daß es weniger herbe schmecke; wozu noch kommt, daß wenn die erste Hitze des Begehrens vorüber ist, nachher, bei kaltem Blut, das Zurücksetzende einer Weigerung weniger empfunden wird. Dem aber, der plötzlich und eilig bittet, soll man spät bewilligen: denn jenes ist eine List, die Aufmerksamkeit zu umgehn.
Alles, prinzipiell, gut und schön, Freund, was Sie zum Geben und Verweigern anbringen. Gerade der fundamentale Grundsatz der Revision, Redigieren und Prüfen, erneut Durchsehen und wieder Ändern, macht wichtige Entscheidungen, was Gesetzesvorgaben oder Rechtsprechung betrifft, erst akzeptier- und nachvollziehbar.
Eine Sache, die mir übel aufstößt, ist und bleibt Ihr machiavellistischer Duktus, der, so ist's nun mal, von einer Untertanengesellschaft ausgeht. Gewiss, als Realist, der ich auch bin - wer wäre das nicht, der essen muss und wirken will? -, als Realist erkenne ich die Vorzüge einer soliden Herrschaftspyramide, mit Klassen und Personen, die das Sagen haben, mit Potentaten (bei Ihnen sind's wieder nur Männer), die Urkunden unterzeichnen und Almosen verteilen, Beförderungen ausschlagen und Pfründe vergeben, Steuern eintreiben und als Symbolfiguren eines Gemeinwesens dienen.
Aber, ein Aber, das ich großschreiben möchte, ABER der Kreis, Freund, bitte lassen Sie sich auf die Vorstellung ein, der Kreis, eine Art utopischer, offener, grenzenloser Gesellschaftsball, der sich dreht, uns mal hier, mal dort sein lässt, mal mit jenen, mal mit diesen reden, uns untereinander beratschlagen, die Hilfe von Expertinnen und Experten heranziehen, und schließlich, nach einer echten Abstimmung, gemeinsam Beschlüsse fassen und zusammen handeln lässt, ein solcher urdemokratischer Kreis ist`s doch, denke ich, der eine, theoretisch, größtmögliche Zufriedenheit und Teilhabe aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewährt. Ein Beteiligtsein, das dem Spitzwinkligen, dem autokratischen (Ab)Gabemodus, dem frivolen Gottesgnadentum, dem Paterfamilias-Unfug - alles unverrückbare Unterdrückungsmechanismen, die Ihnen vorschweben -, ein Beteiligtsein, das dem unumschränkten Elitedenken ganz und gar fremd ist.
Wer alles berechnet, verkalkuliert sich auf Dauer zwangsläufig.
Die Spontanität gewährt ein Glück, das der offenen Rechnung und dem Zinsenszinsdenken fremd bleibt.
Zu geben, wenn es wirkt, erlaubt oftmals kein Zaudern. Das Jetzt kennt, in schwierigen Lagen, kein Morgen.
12. Mai
Zweimal überlegen. An Revision appelliren, giebt Sicherheit: zumal wenn man mit der Sache nicht ganz im Klaren ist, gewinne man Zeit, um entweder einzuwilligen oder sich zu verbessern. Es bieten sich neue Gründe dar, die Beschlüsse zu bekräftigen und zu bestätigen. Handelt sich's um's Geben; so wird die Gewißheit, daß die Gabe mit Ueberlegung verliehen sei, sie werther machen, als die Freude über die Schnelligkeit, und das lang Ersehnte wird immer am höchsten geschätzt. Muß man hingegen verweigern; so gewinnt man Zeit für die Art und Weise, wie auch um das Nein zur Reife zu bringen, daß es weniger herbe schmecke; wozu noch kommt, daß wenn die erste Hitze des Begehrens vorüber ist, nachher, bei kaltem Blut, das Zurücksetzende einer Weigerung weniger empfunden wird. Dem aber, der plötzlich und eilig bittet, soll man spät bewilligen: denn jenes ist eine List, die Aufmerksamkeit zu umgehn.
Alles, prinzipiell, gut und schön, Freund, was Sie zum Geben und Verweigern anbringen. Gerade der fundamentale Grundsatz der Revision, Redigieren und Prüfen, erneut Durchsehen und wieder Ändern, macht wichtige Entscheidungen, was Gesetzesvorgaben oder Rechtsprechung betrifft, erst akzeptier- und nachvollziehbar.
Eine Sache, die mir übel aufstößt, ist und bleibt Ihr machiavellistischer Duktus, der, so ist's nun mal, von einer Untertanengesellschaft ausgeht. Gewiss, als Realist, der ich auch bin - wer wäre das nicht, der essen muss und wirken will? -, als Realist erkenne ich die Vorzüge einer soliden Herrschaftspyramide, mit Klassen und Personen, die das Sagen haben, mit Potentaten (bei Ihnen sind's wieder nur Männer), die Urkunden unterzeichnen und Almosen verteilen, Beförderungen ausschlagen und Pfründe vergeben, Steuern eintreiben und als Symbolfiguren eines Gemeinwesens dienen.
Aber, ein Aber, das ich großschreiben möchte, ABER der Kreis, Freund, bitte lassen Sie sich auf die Vorstellung ein, der Kreis, eine Art utopischer, offener, grenzenloser Gesellschaftsball, der sich dreht, uns mal hier, mal dort sein lässt, mal mit jenen, mal mit diesen reden, uns untereinander beratschlagen, die Hilfe von Expertinnen und Experten heranziehen, und schließlich, nach einer echten Abstimmung, gemeinsam Beschlüsse fassen und zusammen handeln lässt, ein solcher urdemokratischer Kreis ist`s doch, denke ich, der eine, theoretisch, größtmögliche Zufriedenheit und Teilhabe aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gewährt. Ein Beteiligtsein, das dem Spitzwinkligen, dem autokratischen (Ab)Gabemodus, dem frivolen Gottesgnadentum, dem Paterfamilias-Unfug - alles unverrückbare Unterdrückungsmechanismen, die Ihnen vorschweben -, ein Beteiligtsein, das dem unumschränkten Elitedenken ganz und gar fremd ist.
Wer alles berechnet, verkalkuliert sich auf Dauer zwangsläufig.
Die Spontanität gewährt ein Glück, das der offenen Rechnung und dem Zinsenszinsdenken fremd bleibt.
Zu geben, wenn es wirkt, erlaubt oftmals kein Zaudern. Das Jetzt kennt, in schwierigen Lagen, kein Morgen.
12. Mai
133.
Besser mit Allen ein Narr, als allein gescheut, sagen politische Köpfe. Denn, wenn Alle es sind, steht man hinter Keinem zurück: und ist der Gescheute allein, wird er für den Narren gelten. So wichtig ist es dem Strohm zu folgen. Bisweilen besteht das größte Wissen im Nichtwissen oder in der Affektation desselben. Man muß mit den übrigen leben, und die Unwissenden sind die Mehrzahl. Um allein zu leben, muß man sehr einem Gotte, oder ganz einem Thier ähnlich seyn. Doch möchte ich den Aphorismus ummodeln und sagen: besser mit den Uebrigen gescheut als allein ein Narr: denn Einige suchen Originalität in Schimären.
Wie Sie die Kurve gekratzt haben, Freund, ist wirklich beeindruckend. Weniger beeindruckend ist, dass ich eben eine ausführliche Antwort geschrieben und sogar poliert habe, die ich anschließend, übermüdet, mit einem nachlässigen Klick auf die Menüleiste des Browsers selbst gelöscht habe. Die Dummheit der Technik, die mir eine falsche Sicherheit vorgaukelt, hält und macht mich zum Narren. Übrigens regelmäßig. Die Idee, dass uns Systeme die Arbeit erleichtern, stimmt wohl nur in den seltensten Fällen. Die meisten Systeme verlangen von uns Gehorsam - und wenn ich etwas nicht besitze, Disziplin hin oder her, dann ist`s eilfertige Gefügigkeit. Ich bewundere Anarchisten, die sich gegen unsinnige Ordnungen auflehnen. Andererseits: auch Libertäre kennen ihre Hierarchien, dienen falschen Göttern, halten Hof und beuten aus.
Die Tätigen rollten, wie der Stein rolle, gemäß der Dummheit der Mechanik, schreibt Friedrich Nietzsche, der Sie übringes wie Ihr Translator gelesen und bewundert hat, in Menschliches, Allzumenschliches.
Nur weil wir mit anderen gegen den Strom rudern, bedeutet halt noch lange nicht, dass wir das selbe Ziel haben.
Ob ich mich ärgere, nicht mit der Hand geschrieben zu haben? Ja, durchaus. Andererseits ist das Stegreifdenken, welches meine Auseinandersetzung mit Ihren Texten prägt, auch dem Medium geschuldet, das ich, wenigstens für die erste Fassung, benutze. Die Wehmut über den Verlust - auf einmal wurde sie das Thema dieser Korrespondenz. Wir, die Frau, die mich liebt und die ich liebe, wir denken oft darüber nach, Freund, wie's wäre, ohne die oder den anderen zu sein. Ja, das Leben ginge weiter, aber es wäre ein anderes. Kühler der Wind, arger der Winter, dunkler die Sonne. Da ich älter bin, zwölf Jahre, ist die Chance, dass sie mich überlebt, außerordentlich hoch. Ich versuche alles, nicht demnächst zu sterben, und weiß doch, dass es nicht in meiner Hand liegt.
Schlägt das Schicksal um sich, trifft es selten die Richtigen.
Ein Satz sei noch zum eigentlichen Thema angebracht.
Dass das Nichtwissen, ab und an, wie Sie erwähnen, als größtes Wissen gelten soll, ist dem theologischen nicht dem teleologischen Denken geschuldet. Die Unbekümmertheit des Glaubens, Basis jedweder religiöser Machtausübung, kann und darf nicht zum Rahmen des Forschens und Lehrens werden. Wissenschaft basiert auf Kenntnissen, Religion auf Unkenntnis. Fortschritt lässt den Glauben hinter sich.
13. Mai
Besser mit Allen ein Narr, als allein gescheut, sagen politische Köpfe. Denn, wenn Alle es sind, steht man hinter Keinem zurück: und ist der Gescheute allein, wird er für den Narren gelten. So wichtig ist es dem Strohm zu folgen. Bisweilen besteht das größte Wissen im Nichtwissen oder in der Affektation desselben. Man muß mit den übrigen leben, und die Unwissenden sind die Mehrzahl. Um allein zu leben, muß man sehr einem Gotte, oder ganz einem Thier ähnlich seyn. Doch möchte ich den Aphorismus ummodeln und sagen: besser mit den Uebrigen gescheut als allein ein Narr: denn Einige suchen Originalität in Schimären.
Wie Sie die Kurve gekratzt haben, Freund, ist wirklich beeindruckend. Weniger beeindruckend ist, dass ich eben eine ausführliche Antwort geschrieben und sogar poliert habe, die ich anschließend, übermüdet, mit einem nachlässigen Klick auf die Menüleiste des Browsers selbst gelöscht habe. Die Dummheit der Technik, die mir eine falsche Sicherheit vorgaukelt, hält und macht mich zum Narren. Übrigens regelmäßig. Die Idee, dass uns Systeme die Arbeit erleichtern, stimmt wohl nur in den seltensten Fällen. Die meisten Systeme verlangen von uns Gehorsam - und wenn ich etwas nicht besitze, Disziplin hin oder her, dann ist`s eilfertige Gefügigkeit. Ich bewundere Anarchisten, die sich gegen unsinnige Ordnungen auflehnen. Andererseits: auch Libertäre kennen ihre Hierarchien, dienen falschen Göttern, halten Hof und beuten aus.
Die Tätigen rollten, wie der Stein rolle, gemäß der Dummheit der Mechanik, schreibt Friedrich Nietzsche, der Sie übringes wie Ihr Translator gelesen und bewundert hat, in Menschliches, Allzumenschliches.
Nur weil wir mit anderen gegen den Strom rudern, bedeutet halt noch lange nicht, dass wir das selbe Ziel haben.
Ob ich mich ärgere, nicht mit der Hand geschrieben zu haben? Ja, durchaus. Andererseits ist das Stegreifdenken, welches meine Auseinandersetzung mit Ihren Texten prägt, auch dem Medium geschuldet, das ich, wenigstens für die erste Fassung, benutze. Die Wehmut über den Verlust - auf einmal wurde sie das Thema dieser Korrespondenz. Wir, die Frau, die mich liebt und die ich liebe, wir denken oft darüber nach, Freund, wie's wäre, ohne die oder den anderen zu sein. Ja, das Leben ginge weiter, aber es wäre ein anderes. Kühler der Wind, arger der Winter, dunkler die Sonne. Da ich älter bin, zwölf Jahre, ist die Chance, dass sie mich überlebt, außerordentlich hoch. Ich versuche alles, nicht demnächst zu sterben, und weiß doch, dass es nicht in meiner Hand liegt.
Schlägt das Schicksal um sich, trifft es selten die Richtigen.
Ein Satz sei noch zum eigentlichen Thema angebracht.
Dass das Nichtwissen, ab und an, wie Sie erwähnen, als größtes Wissen gelten soll, ist dem theologischen nicht dem teleologischen Denken geschuldet. Die Unbekümmertheit des Glaubens, Basis jedweder religiöser Machtausübung, kann und darf nicht zum Rahmen des Forschens und Lehrens werden. Wissenschaft basiert auf Kenntnissen, Religion auf Unkenntnis. Fortschritt lässt den Glauben hinter sich.
13. Mai
134.
Die Erfordernisse des Lebens doppelt besitzen: dadurch verdoppelt man sein Daseyn. Man muß nicht von Einer Sache abhängig, noch auf Eine beschränkt seyn, so außerordentlich sie auch seyn möchte. Alles muß man doppelt haben, besonders die Ursachen des Fortkommens, der Gunst, des Genusses. Die Wandelbarkeit des Mondes ist überschwenglich, und sie ist die Grenze alles Bestehenden, zumal aber der Dinge, die vom menschlichen Willen abhängen, der ein gar gebrechlich Ding ist. Gegen diese Gebrechlichkeit schütze man sich durch etwas im Vorrath, und mache es zu einer Haupt-Lebensregel, die Veranlassungen des Guten und Bequemen doppelt zu haben. Wie die Natur die wichtigsten und ausgesetztesten Glieder uns doppelt verlieh: so mache die Kunst es mit dem, wovon wir abhängen.
Der letzte Bericht der UN, Freund, zur Lebensvielfalt auf unserem Planeten war abzusehen, aber dennoch so schockierend, dass mir die furchtbaren Aussichten für die Erde durch Mark und Bein gegangen sind. Von den acht Millionen Arten, die uns bekannt sind, ist eine Million vom Aussterben bedroht. Raten Sie mal, warum. Genau. Unseretwegen. Wir haben uns die Erde Untertan und dabei alles gnadenlos platt gemacht, was kreucht und fleucht, wächst und gedeiht. Wir sind mit unserem Doppel- und Dreifachanspruch die wirkliche und, blicken wir der Wahrheit ins Gesicht, einzige ernsthafte Plage.
Die sechste Vernichtung droht. In den vergangenen 550 Millionen Jahren gab's fünf Massenaussterben. Mindestens 40 Prozent aller Gattungen haben bei diesen Ereignissen das Zeitliche gesegnet. Die Kreide-Paläogen-Artenauslöschung vor 66 Millionen Jahren ist die bekannteste. Etwa die Hälfte der Gattungen und ein Fünftel aller Familien wurden ausgetilgt. Darunter alle Nicht-Vogel-Dinosaurier. Als Ursachen dieses Massensterbens gelten ein Meteoriteneinschlag oder Vulkanismus, einige Forscher und Forscherinnen vermuten eine Koppelung beider Ereignisse. Wir, Freund, sind derzeit unser eigener Meteoritenhagel. Jeden Tag lassen wir's richtig krachen und schlagen auf die Erde mit einer Wut und Wucht ein, als stünden uns mehrere Planeten zur Verfügung, als wäre uns sowohl die eigene als auch die Zukunft der Flora und Fauna, die mit uns gleichzeitig zu Land und Wasser, in der Luft und im Boden existiert, vollkommen egal.
Die einzige Chance, die uns als Gattung, kurz-, mittel- und langfristig, bleibt? Die Verkleinerung unserer Ansprüche. Wir müssen uns einschränken, um zu überleben. Drastisch. Und wir müssen heute anfangen. Wer als Mensch auf ein besseres Morgen hofft, ohne sein Verhalten im Jetzt zu berichtigen, hat zu Recht die Gastfreundschaft der Erde verwirkt. Wer nicht radikal abspeckt, wird verhungern und verdursten.
Wer mit wenig auskommt, gibt viel. Wachstum ist keine Lösung, es ist das Problem. Nachhaltigkeit ist kein Modewort, sondern die einzige Lebensversicherung, die wir mit der Erde abschließen können.
Sie werden sagen, alles gut und schön, was ich Ihnen schreibe. Aber, ich sehe Ihr ironisches Stirnrunzeln, Sie fragen sich auch, wie bigott ich wohl selbst in meinem alltäglichen Verhalten bin. Ja, Freund, ich mache Fehler, immer und immer wieder. Wie jeder andere Mensch. Dennoch bemühe ich mich, nicht nur Wasser zu predigen, sondern es auch zu trinken. Meine Partnerin und ich haben uns frühzeitig entschlossen, keine Kinder zu zeugen. Wir denken, dass es mehr als genug Menschen gibt. Aus unserer Sicht: zu viele. Außerdem ernähren wir uns vegetarisch. Ich esse seit über dreißig Jahren kein Fleisch und bin gerade dabei, langsam zum Veganer zu werden, was mir, ganz ehrlich, ziemlich schwerfällt, da ich Milchprodukte, besonders französischen Käse, lecker finde und es mir außerdem zum Grundsatz gemacht habe, weniger Lebensmittel wegzuwerfen. Wenn Joghurt und Milch in unserem Kühlschrank das Haltbarkeitsdatum überschritten habe, lange ich zu.
Das Gute kennt Abstufungen, die dem Schlechten verschlossen bleiben.
Perfektion ist ein Ideal, das nicht der oder die Einzelne, sondern nur die Gesamtheit, die sich Regeln gibt und durchsetzt, erreichen kann.
14. Mai
Die Erfordernisse des Lebens doppelt besitzen: dadurch verdoppelt man sein Daseyn. Man muß nicht von Einer Sache abhängig, noch auf Eine beschränkt seyn, so außerordentlich sie auch seyn möchte. Alles muß man doppelt haben, besonders die Ursachen des Fortkommens, der Gunst, des Genusses. Die Wandelbarkeit des Mondes ist überschwenglich, und sie ist die Grenze alles Bestehenden, zumal aber der Dinge, die vom menschlichen Willen abhängen, der ein gar gebrechlich Ding ist. Gegen diese Gebrechlichkeit schütze man sich durch etwas im Vorrath, und mache es zu einer Haupt-Lebensregel, die Veranlassungen des Guten und Bequemen doppelt zu haben. Wie die Natur die wichtigsten und ausgesetztesten Glieder uns doppelt verlieh: so mache die Kunst es mit dem, wovon wir abhängen.
Der letzte Bericht der UN, Freund, zur Lebensvielfalt auf unserem Planeten war abzusehen, aber dennoch so schockierend, dass mir die furchtbaren Aussichten für die Erde durch Mark und Bein gegangen sind. Von den acht Millionen Arten, die uns bekannt sind, ist eine Million vom Aussterben bedroht. Raten Sie mal, warum. Genau. Unseretwegen. Wir haben uns die Erde Untertan und dabei alles gnadenlos platt gemacht, was kreucht und fleucht, wächst und gedeiht. Wir sind mit unserem Doppel- und Dreifachanspruch die wirkliche und, blicken wir der Wahrheit ins Gesicht, einzige ernsthafte Plage.
Die sechste Vernichtung droht. In den vergangenen 550 Millionen Jahren gab's fünf Massenaussterben. Mindestens 40 Prozent aller Gattungen haben bei diesen Ereignissen das Zeitliche gesegnet. Die Kreide-Paläogen-Artenauslöschung vor 66 Millionen Jahren ist die bekannteste. Etwa die Hälfte der Gattungen und ein Fünftel aller Familien wurden ausgetilgt. Darunter alle Nicht-Vogel-Dinosaurier. Als Ursachen dieses Massensterbens gelten ein Meteoriteneinschlag oder Vulkanismus, einige Forscher und Forscherinnen vermuten eine Koppelung beider Ereignisse. Wir, Freund, sind derzeit unser eigener Meteoritenhagel. Jeden Tag lassen wir's richtig krachen und schlagen auf die Erde mit einer Wut und Wucht ein, als stünden uns mehrere Planeten zur Verfügung, als wäre uns sowohl die eigene als auch die Zukunft der Flora und Fauna, die mit uns gleichzeitig zu Land und Wasser, in der Luft und im Boden existiert, vollkommen egal.
Die einzige Chance, die uns als Gattung, kurz-, mittel- und langfristig, bleibt? Die Verkleinerung unserer Ansprüche. Wir müssen uns einschränken, um zu überleben. Drastisch. Und wir müssen heute anfangen. Wer als Mensch auf ein besseres Morgen hofft, ohne sein Verhalten im Jetzt zu berichtigen, hat zu Recht die Gastfreundschaft der Erde verwirkt. Wer nicht radikal abspeckt, wird verhungern und verdursten.
Wer mit wenig auskommt, gibt viel. Wachstum ist keine Lösung, es ist das Problem. Nachhaltigkeit ist kein Modewort, sondern die einzige Lebensversicherung, die wir mit der Erde abschließen können.
Sie werden sagen, alles gut und schön, was ich Ihnen schreibe. Aber, ich sehe Ihr ironisches Stirnrunzeln, Sie fragen sich auch, wie bigott ich wohl selbst in meinem alltäglichen Verhalten bin. Ja, Freund, ich mache Fehler, immer und immer wieder. Wie jeder andere Mensch. Dennoch bemühe ich mich, nicht nur Wasser zu predigen, sondern es auch zu trinken. Meine Partnerin und ich haben uns frühzeitig entschlossen, keine Kinder zu zeugen. Wir denken, dass es mehr als genug Menschen gibt. Aus unserer Sicht: zu viele. Außerdem ernähren wir uns vegetarisch. Ich esse seit über dreißig Jahren kein Fleisch und bin gerade dabei, langsam zum Veganer zu werden, was mir, ganz ehrlich, ziemlich schwerfällt, da ich Milchprodukte, besonders französischen Käse, lecker finde und es mir außerdem zum Grundsatz gemacht habe, weniger Lebensmittel wegzuwerfen. Wenn Joghurt und Milch in unserem Kühlschrank das Haltbarkeitsdatum überschritten habe, lange ich zu.
Das Gute kennt Abstufungen, die dem Schlechten verschlossen bleiben.
Perfektion ist ein Ideal, das nicht der oder die Einzelne, sondern nur die Gesamtheit, die sich Regeln gibt und durchsetzt, erreichen kann.
14. Mai
135.
Keinen Widerspruchsgeist hegen: denn er ist dumm und widerlich: man rufe seine ganze Klugheit dagegen auf. Wohl zeugt es bisweilen von Scharfsinn, daß man bei Allem Schwierigkeiten entdeckt; allein der Eigensinn hiebei entgeht nicht dem Vorwurf des Unverstandes. Solche Leute machen aus der sanften, angenehmen Unterhaltung einen kleinen Krieg, und sind so mehr die Feinde ihrer Vertrauten, als derer, die nicht mit ihnen umgehen. Im wohlschmeckendesten Bissen fühlt man am meisten die Gräte, die ihn durchbohrt, und so ist der Widerspruch zur Zeit der Erholung. Solche Leute sind unverständig, verderblich, ein Verein des wilden mit dem dummen Thier.
Kurz, Freund, habe ich überlegt, einfach Ja und Amen zu sagen, damit Sie sich nicht im Grab gestört fühlen, in Ruhe mit Ihresgleichen übereinstimmen können. Denn sehr wohl haben Sie recht, dass Menschen, die unnötigerweise und andauernd aus Prinzip heckle, wie's so lautmalerisch im Englischen heißt, uns mit ihren Zwischenrufen und Einwürfen gewaltig auf die Nerven gehen. Gerade beim Versuch, verdiente Erholung zu finden. Und doch, scheint mir, gibt's auch in der Angelegenheit des Widerspruchsgeists keine allgemeingültige Verdammung. Will sich ein Sklavenhalter nach einem langen und anstrengenden Tag des Auspeitschens ausruhen, werde ich ihm nicht konziliant auf die Schulter klopfen und mich höflich der leichten Konversation über das Wetter und die Theatersaison widmen.
Wer das Aufbegehren gegen Unrecht als Teilzeitkraft betreibt, macht sich den Rest der Zeit schuldig. Gerechtigkeit sei kein Pausenfüller, sondern ein Dauerzustand.
Mir fällt gerade ein, dass Russell, den ich bereits, vielleicht erinnern Sie sich, im zweiten Brief zitiert habe, in den Zehn Geboten eines Liberalen als achte Regel anführt, dass man sich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung freuen solle; denn wenn die Intelligenz so viel wert sei, wie sie uns wert sein sollte, dann liege im Widerspruch eine tiefere Zustimmung.
Noch eins: Das ewige Einverständnis ist wie der Tod, sie langweilt unsäglich. Auf der Welt zu sein, heißt nun mal, Gegenstimmen anzuhören und zuzulassen. Existiert ein intellektueller Serienkillder, den ich von ganzem Herzen verachte, so ist's der Monolog; und das schließt den gebildeten ein, der allgewiss an der Grenze zur Eingebildetheit kratzt.
15. Mai
Keinen Widerspruchsgeist hegen: denn er ist dumm und widerlich: man rufe seine ganze Klugheit dagegen auf. Wohl zeugt es bisweilen von Scharfsinn, daß man bei Allem Schwierigkeiten entdeckt; allein der Eigensinn hiebei entgeht nicht dem Vorwurf des Unverstandes. Solche Leute machen aus der sanften, angenehmen Unterhaltung einen kleinen Krieg, und sind so mehr die Feinde ihrer Vertrauten, als derer, die nicht mit ihnen umgehen. Im wohlschmeckendesten Bissen fühlt man am meisten die Gräte, die ihn durchbohrt, und so ist der Widerspruch zur Zeit der Erholung. Solche Leute sind unverständig, verderblich, ein Verein des wilden mit dem dummen Thier.
Kurz, Freund, habe ich überlegt, einfach Ja und Amen zu sagen, damit Sie sich nicht im Grab gestört fühlen, in Ruhe mit Ihresgleichen übereinstimmen können. Denn sehr wohl haben Sie recht, dass Menschen, die unnötigerweise und andauernd aus Prinzip heckle, wie's so lautmalerisch im Englischen heißt, uns mit ihren Zwischenrufen und Einwürfen gewaltig auf die Nerven gehen. Gerade beim Versuch, verdiente Erholung zu finden. Und doch, scheint mir, gibt's auch in der Angelegenheit des Widerspruchsgeists keine allgemeingültige Verdammung. Will sich ein Sklavenhalter nach einem langen und anstrengenden Tag des Auspeitschens ausruhen, werde ich ihm nicht konziliant auf die Schulter klopfen und mich höflich der leichten Konversation über das Wetter und die Theatersaison widmen.
Wer das Aufbegehren gegen Unrecht als Teilzeitkraft betreibt, macht sich den Rest der Zeit schuldig. Gerechtigkeit sei kein Pausenfüller, sondern ein Dauerzustand.
Mir fällt gerade ein, dass Russell, den ich bereits, vielleicht erinnern Sie sich, im zweiten Brief zitiert habe, in den Zehn Geboten eines Liberalen als achte Regel anführt, dass man sich mehr über intelligenten Widerspruch als über passive Zustimmung freuen solle; denn wenn die Intelligenz so viel wert sei, wie sie uns wert sein sollte, dann liege im Widerspruch eine tiefere Zustimmung.
Noch eins: Das ewige Einverständnis ist wie der Tod, sie langweilt unsäglich. Auf der Welt zu sein, heißt nun mal, Gegenstimmen anzuhören und zuzulassen. Existiert ein intellektueller Serienkillder, den ich von ganzem Herzen verachte, so ist's der Monolog; und das schließt den gebildeten ein, der allgewiss an der Grenze zur Eingebildetheit kratzt.
15. Mai
136.
Sich in den Materien festsetzen und den Geschäften sogleich den Puls fühlen. Viele verirren sich in den Verzweigungen eines unnützen Ueberlegens, oder auf dem Laubwerk einer ermüdenden Redseligkeit, ohne auf das Wesen der Sache zu treffen: sie gehn hundert Mal um einen Punkt herum, ermüden sich und Andre, kommen jedoch nie auf die eigentliche Hauptsache: dies entsteht aus einem verworrenen Begriffsvermögen, welches sich nicht herauszuwickeln fähig ist. Sie verderben Zeit und Geduld mit dem, was sie sollten liegen lassen, und beide fehlen ihnen nachher für das, was sie liegen gelassen haben.
Unmittelbar zum Kern der Sache vorzustoßen, ohne viel Federlesens zu machen, Freund, ist wahrhaft eine Qualität. Sie haben recht. Wenn die Zeit drängt, baut allein ein klares Wort, dem eine Handlung folgt, die notwendige Brücke aus einer ansonsten verfahrenen Situation. Momente gibt's, die verzweifelt nach einem vernünftigen Ende schreien.
Gerade, das nur am historischen Rande, ist der Brexit, also der Versuch eines Landes, Großbritanniens, einen Staatenbund, die Europäische Union, zu verlassen oder, was auch denkbar wäre, nach einem zweiten Referendum, in der Allianz, die auf gemeinsamen Werten basiert, zu bleiben, gerade ist der Brexit solch ein verschwurbelter Augenblick, mit dem alle hadern. Er stiehlt uns Lebenszeit und, es sei unterstrichen, nimmt uns auch die Möglichkeit, an förderlichen Vorhaben für diese erstaunliche Entente zu arbeiten. Bei der EU, was Ihnen wie ein Wunder vorkommen dürfte, handelt es sich um ein einmaliges Friedensbündis zwischen ehedem verfeindeten Staaten. Es ist eine multilaterale Allianz entstanden, samt Verfassung, Parlament, Ministerrat und europäischer Hauptstadt, von der niemand auf dem von zwei Weltkriegen zerrissenen Kontinent jemals ernsthaft zu träumen gehofft hätte. Bei der Europäischen Union handelt sich um einen Freundschaftspakt, der über viele Jahrzehnte, man höre und staune!, Glück und Wohlstand, das Recht, sich überall niederzulassen, und freien Güteraustausch und das Reisen ohne leidige Grenzkontrollen garantiert hat. Sie dürften sich ungläubig die Augen reiben und sich fragen, warum, um Himmels Willen, würde ein Land, das noch halbwegs bei Sinnen ist, solch einen exzellenten Pakt verlassen?
Nun, Sie haben's erwartet, ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit aus Ihrem Vorschlag, den Geschäften sogleich den Puls zu fühlen: eine Entscheidung wie der Brexit, welcher auf einer ersten manipulierten (falsche oder keine Informationen über die Sachlage) Volksbefragung beruht, bräuchte an sich deutlich mehr Zeit, um alle Fakten objektiv zu bewerten.
Den gordischen Knoten zu durchschlagen, nutzt eben nichts, wenn danach zu viele wirre, weiterhin unheilbar verschlungene Teile zurückbleiben.
Eine gerade Linie wird den Kurven nicht gerecht.
Braucht man Zeit, um sich zu beraten und zu einer hoffentlich klugen Entscheidung zu kommen, hilft das Aufstellen einer Stoppuhr nichts. Gut Ding will Weile haben, besonders wenn Menschen mit am Tisch sitzen, die schlechter Dinge sind und sich vom Guten unbeeindruckt lassen.
Und doch, nun bin ich wieder bei Ihnen, Freund, legt man uns zu viele Steine in den Weg, so dass wir gar nicht mehr erkennen, was hinter der Barrikade liegt, lohnt es sich, einen neuen Pfad einzuschlagen und die Hindernisfreunde ihrem freudlosen Schicksal zu überlassen.
Der Enge, verbohrt sie sich, ist selten zu helfen. Lieben wir die Weite, hilft nur die Flucht, da, auf Dauer, kaum etwas ansteckender ist als Intoleranz und Engstirnigkeit.
16. Mai
Sich in den Materien festsetzen und den Geschäften sogleich den Puls fühlen. Viele verirren sich in den Verzweigungen eines unnützen Ueberlegens, oder auf dem Laubwerk einer ermüdenden Redseligkeit, ohne auf das Wesen der Sache zu treffen: sie gehn hundert Mal um einen Punkt herum, ermüden sich und Andre, kommen jedoch nie auf die eigentliche Hauptsache: dies entsteht aus einem verworrenen Begriffsvermögen, welches sich nicht herauszuwickeln fähig ist. Sie verderben Zeit und Geduld mit dem, was sie sollten liegen lassen, und beide fehlen ihnen nachher für das, was sie liegen gelassen haben.
Unmittelbar zum Kern der Sache vorzustoßen, ohne viel Federlesens zu machen, Freund, ist wahrhaft eine Qualität. Sie haben recht. Wenn die Zeit drängt, baut allein ein klares Wort, dem eine Handlung folgt, die notwendige Brücke aus einer ansonsten verfahrenen Situation. Momente gibt's, die verzweifelt nach einem vernünftigen Ende schreien.
Gerade, das nur am historischen Rande, ist der Brexit, also der Versuch eines Landes, Großbritanniens, einen Staatenbund, die Europäische Union, zu verlassen oder, was auch denkbar wäre, nach einem zweiten Referendum, in der Allianz, die auf gemeinsamen Werten basiert, zu bleiben, gerade ist der Brexit solch ein verschwurbelter Augenblick, mit dem alle hadern. Er stiehlt uns Lebenszeit und, es sei unterstrichen, nimmt uns auch die Möglichkeit, an förderlichen Vorhaben für diese erstaunliche Entente zu arbeiten. Bei der EU, was Ihnen wie ein Wunder vorkommen dürfte, handelt es sich um ein einmaliges Friedensbündis zwischen ehedem verfeindeten Staaten. Es ist eine multilaterale Allianz entstanden, samt Verfassung, Parlament, Ministerrat und europäischer Hauptstadt, von der niemand auf dem von zwei Weltkriegen zerrissenen Kontinent jemals ernsthaft zu träumen gehofft hätte. Bei der Europäischen Union handelt sich um einen Freundschaftspakt, der über viele Jahrzehnte, man höre und staune!, Glück und Wohlstand, das Recht, sich überall niederzulassen, und freien Güteraustausch und das Reisen ohne leidige Grenzkontrollen garantiert hat. Sie dürften sich ungläubig die Augen reiben und sich fragen, warum, um Himmels Willen, würde ein Land, das noch halbwegs bei Sinnen ist, solch einen exzellenten Pakt verlassen?
Nun, Sie haben's erwartet, ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit aus Ihrem Vorschlag, den Geschäften sogleich den Puls zu fühlen: eine Entscheidung wie der Brexit, welcher auf einer ersten manipulierten (falsche oder keine Informationen über die Sachlage) Volksbefragung beruht, bräuchte an sich deutlich mehr Zeit, um alle Fakten objektiv zu bewerten.
Den gordischen Knoten zu durchschlagen, nutzt eben nichts, wenn danach zu viele wirre, weiterhin unheilbar verschlungene Teile zurückbleiben.
Eine gerade Linie wird den Kurven nicht gerecht.
Braucht man Zeit, um sich zu beraten und zu einer hoffentlich klugen Entscheidung zu kommen, hilft das Aufstellen einer Stoppuhr nichts. Gut Ding will Weile haben, besonders wenn Menschen mit am Tisch sitzen, die schlechter Dinge sind und sich vom Guten unbeeindruckt lassen.
Und doch, nun bin ich wieder bei Ihnen, Freund, legt man uns zu viele Steine in den Weg, so dass wir gar nicht mehr erkennen, was hinter der Barrikade liegt, lohnt es sich, einen neuen Pfad einzuschlagen und die Hindernisfreunde ihrem freudlosen Schicksal zu überlassen.
Der Enge, verbohrt sie sich, ist selten zu helfen. Lieben wir die Weite, hilft nur die Flucht, da, auf Dauer, kaum etwas ansteckender ist als Intoleranz und Engstirnigkeit.
16. Mai
137.
Der Weise sei sich selbst genug. Jener, der sich selbst Alles in Allem war, hatte, als er sich selbst davon trug, alles Seinige bei sich. Wenn Ein universeller Freund Rom und die ganze übrige Welt zu seyn vermag; so sei man sich selbst dieser Freund, und dann wird man allein zu leben im Stande seyn. Wen wird ein solcher Mann vermissen, wenn es keinen größern Verstand und keinen richtigern Geschmack als den seinigen giebt? Dann wird er bloß von sich abhängen, und es ist die höchste Seeligkeit, dem höchsten Wesen zu gleichen. Wer so allein zu leben vermag, wird in nichts dem Thiere, in Vielem dem Weisen und in Allem Gott ähnlich seyn. (Vergl. Nr. 133.)
Humbug, was Sie hier feilbieten. Der Paragraph strotzt vor stolzer Männlichkeit, Weisengefasel und Religionschuzpe. Eine Mischung aus einer anderen Zeit. Wie Sie, Freund. Ich weiß, dass ich Sie lese, wie meine Zeit Sie liest: mit Respekt und Abstandsgier.
Ein Studium, das seinen Namen verdient, hat ein Kräftemessen zu sein.
Ohne Reibung kein Feuer. Ja, ich wiederhole mich. Wie Sie auch. Wir drehen uns im gewohnten Kreis. Mal links, mal rechts. So ist's wohl, wenn man in Verbindung steht, ein Freundschaftsbündnis eingeht, das Frakturen aushält und das periodische Auftauchen von Themen erlaubt. Immergleich und anders sind wir. Wie das Sein.
Ohne Entfernung keine Nähe. Ohne Distanz kein Liebestanz.
Jedes Jahr kennt seine Affektionen, und wenige Neigungen reichen über Silvester hinaus.
Und doch, was ich für entscheidend halte, existieren Wahrheiten, die nicht allein in uns liegen. Erkenntnisse, die über unsere Vortstellungen von der Welt hinausgehen. Grundsätze von allgemeiner Geltung, die nicht frau- und manngemacht sind.
Im obigen Paragraphen, um eine ridiküle Sache aufzugreifen, die sich anders darstellt, wollen Sie uns einreden, dass wir uns als Menschen von den Tieren unterscheiden. Rassistischer Dünkel steht uns nicht an. Wie vor wenigen Tagen bereits ausgeführt, schaufeln wir uns als Gattung gerade unser eigenes Grab, da wir uns viel zu lange für etwas besonderes gehalten haben.
Wäre ich kein Tier, gäbe es mich nicht. Wer ist, ist Tier. Und bin ich, bin ich ein Teil der Welt. Ein fehlerhaftes.
Gott sei eine Machtkonstruktion, die einige Tiere, meistens männliche, über andere Tiere stellt.
Dass in jeder Religion sowohl allgemeingültige Weisheiten als auch lobenswerte Ideen zu finden sind, dass viele der religiösen Kompilationen eine magnetische Kraft besitzen und von der Liebe zur Erzählkunst getragen werden, gleicht die katastrophalen Fehler der Weltanschauungen nicht aus. Nehmen wir die katholische Kirche, die alle Kritik an ihrer Machostruktur gekonnt abschmettert. Gerade hat's einen Maria 2.0 genannten Aufstand von Katholikinnen gegeben, die endlich weibliche Priesterinnen und das Ende des vermeintlichen Zölibats einfordern. Eine Protestaktion, die vom Vatikanestablishement blitzartig in den Männer-stehen-über-Frauen-Safe abgelegt worden ist.
17. Mai
Der Weise sei sich selbst genug. Jener, der sich selbst Alles in Allem war, hatte, als er sich selbst davon trug, alles Seinige bei sich. Wenn Ein universeller Freund Rom und die ganze übrige Welt zu seyn vermag; so sei man sich selbst dieser Freund, und dann wird man allein zu leben im Stande seyn. Wen wird ein solcher Mann vermissen, wenn es keinen größern Verstand und keinen richtigern Geschmack als den seinigen giebt? Dann wird er bloß von sich abhängen, und es ist die höchste Seeligkeit, dem höchsten Wesen zu gleichen. Wer so allein zu leben vermag, wird in nichts dem Thiere, in Vielem dem Weisen und in Allem Gott ähnlich seyn. (Vergl. Nr. 133.)
Humbug, was Sie hier feilbieten. Der Paragraph strotzt vor stolzer Männlichkeit, Weisengefasel und Religionschuzpe. Eine Mischung aus einer anderen Zeit. Wie Sie, Freund. Ich weiß, dass ich Sie lese, wie meine Zeit Sie liest: mit Respekt und Abstandsgier.
Ein Studium, das seinen Namen verdient, hat ein Kräftemessen zu sein.
Ohne Reibung kein Feuer. Ja, ich wiederhole mich. Wie Sie auch. Wir drehen uns im gewohnten Kreis. Mal links, mal rechts. So ist's wohl, wenn man in Verbindung steht, ein Freundschaftsbündnis eingeht, das Frakturen aushält und das periodische Auftauchen von Themen erlaubt. Immergleich und anders sind wir. Wie das Sein.
Ohne Entfernung keine Nähe. Ohne Distanz kein Liebestanz.
Jedes Jahr kennt seine Affektionen, und wenige Neigungen reichen über Silvester hinaus.
Und doch, was ich für entscheidend halte, existieren Wahrheiten, die nicht allein in uns liegen. Erkenntnisse, die über unsere Vortstellungen von der Welt hinausgehen. Grundsätze von allgemeiner Geltung, die nicht frau- und manngemacht sind.
Im obigen Paragraphen, um eine ridiküle Sache aufzugreifen, die sich anders darstellt, wollen Sie uns einreden, dass wir uns als Menschen von den Tieren unterscheiden. Rassistischer Dünkel steht uns nicht an. Wie vor wenigen Tagen bereits ausgeführt, schaufeln wir uns als Gattung gerade unser eigenes Grab, da wir uns viel zu lange für etwas besonderes gehalten haben.
Wäre ich kein Tier, gäbe es mich nicht. Wer ist, ist Tier. Und bin ich, bin ich ein Teil der Welt. Ein fehlerhaftes.
Gott sei eine Machtkonstruktion, die einige Tiere, meistens männliche, über andere Tiere stellt.
Dass in jeder Religion sowohl allgemeingültige Weisheiten als auch lobenswerte Ideen zu finden sind, dass viele der religiösen Kompilationen eine magnetische Kraft besitzen und von der Liebe zur Erzählkunst getragen werden, gleicht die katastrophalen Fehler der Weltanschauungen nicht aus. Nehmen wir die katholische Kirche, die alle Kritik an ihrer Machostruktur gekonnt abschmettert. Gerade hat's einen Maria 2.0 genannten Aufstand von Katholikinnen gegeben, die endlich weibliche Priesterinnen und das Ende des vermeintlichen Zölibats einfordern. Eine Protestaktion, die vom Vatikanestablishement blitzartig in den Männer-stehen-über-Frauen-Safe abgelegt worden ist.
17. Mai
138.
Kunst die Dinge ruhen zu lassen: und um so mehr, je wüthender die Wellen des öffentlichen oder häuslichen Lebens toben. Im Treiben des menschlichen Lebens giebt es Strudel und Stürme der Leidenschaften; dann ist es klug, sich in den sichern Hafen der Furt zurückzuziehn. Oft verschlimmern die Mittel das Uebel: darum lasse man hier dem Physischen, dort dem Moralischen seinen freien Lauf. Der Arzt braucht gleich viel Wissenschaft zum Nichtverschreiben wie zum Verschreiben, und oft besteht die Kunst grade in Nichtanwendung der Mittel. Die Strudel im großen Haufen zu beruhigen, sei der Weg, daß man die Hand zurückziehe und sie von selbst sich legen lasse. Ein zeitiges Nachgeben für jetzt, sichert den Sieg in der Folge. Eine Quelle wird durch eine kleine Störung getrübt, und wird nicht, indem man dazu thut, wieder helle, sondern indem man sie sich selber überläßt. Gegen Zwiespalt und Verwirrung ist das beste Mittel, sie ihren Lauf nehmen zu lassen: denn so beruhigen sie sich von selbst.
Wir gehen d'accord, Freund. Aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen, wie der Volksmund sagt, ist und bleibt kontraproduktiv. Ich würde Ihren Gedanken gerne erweitern, da er von einer strahlenden Lässigkeit geprägt ist, die auch in anderen Lebenslagen ihre Wirkung entfalten kann.
Gerade beim Glück, wenn wir uns in einer heiteren Phase des Daseins befinden, quält etliche von uns die Ungewissheit, ob es anhält oder ob wir's verdient haben. Warum belasten wir uns derart? Wie wär's, einfach zu genießen? Und nun zur, wie mir scheint, der allerhöchsten Kunst des laissez faire, laissez passer: der Kunst, den Dusel der anderen zu akzeptieren.
Neid und Missgunst machen niemanden zufrieden.
Nicht alles für sich haben zu wollen, ist wesentlich entspannter, als ständig den Druck zu erhöhen, aus eigener Kraft gleichzuziehen oder, noch schlimmer, die Sache oder den Menschen - oftmals handelt es sich um Freundschaftsbeziehungen, die unseren Neid erregen - entwenden zu wollen.
Ich bin, weil ich nicht der andere bin. Das Nicht-der-andere-Sein entbindet uns nicht vom Mitgefühl für den anderen. Im Gegenteil. Da wir selbst für andere der oder die andere sind, erkennen und respektieren wir im anderen immer uns selbst.
Behagen erwächst nicht aus dem unendliche Wollen, sondern aus dem kritischen Akzeptieren des Ist-Zustands. Die Veränderung des Vorhanden sollte nicht mit der Anschaffung des Ungegenwärtigen verwechselt werden. Die Aneignung des Neuen bereichert allein, wenn es sich um nicht stoffliche Güter, wie Wissen, handelt. Legen wir uns Sachen zu, deren Gebrauch nur bedingt notwendig ist, erhöhen wir sowohl für uns als auch unsere Umwelt die Last.
Erweckt ein Gegenstand außergewöhnliche Freude, kann allerdings von einer Notwendigkeit gesprochen werden. Jede Strenggläubigkeit sei falsch. Selbst im vermeintlich Moralischen steckt, häufig genug, die Sittenlosigkeit unserer Zeit.
Wer kein Entzücken erlaubt, entfremdet sich von der Liebe. Teilen wir Genuss, verdoppelt sich das Glück.
18. Mai
Kunst die Dinge ruhen zu lassen: und um so mehr, je wüthender die Wellen des öffentlichen oder häuslichen Lebens toben. Im Treiben des menschlichen Lebens giebt es Strudel und Stürme der Leidenschaften; dann ist es klug, sich in den sichern Hafen der Furt zurückzuziehn. Oft verschlimmern die Mittel das Uebel: darum lasse man hier dem Physischen, dort dem Moralischen seinen freien Lauf. Der Arzt braucht gleich viel Wissenschaft zum Nichtverschreiben wie zum Verschreiben, und oft besteht die Kunst grade in Nichtanwendung der Mittel. Die Strudel im großen Haufen zu beruhigen, sei der Weg, daß man die Hand zurückziehe und sie von selbst sich legen lasse. Ein zeitiges Nachgeben für jetzt, sichert den Sieg in der Folge. Eine Quelle wird durch eine kleine Störung getrübt, und wird nicht, indem man dazu thut, wieder helle, sondern indem man sie sich selber überläßt. Gegen Zwiespalt und Verwirrung ist das beste Mittel, sie ihren Lauf nehmen zu lassen: denn so beruhigen sie sich von selbst.
Wir gehen d'accord, Freund. Aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen, wie der Volksmund sagt, ist und bleibt kontraproduktiv. Ich würde Ihren Gedanken gerne erweitern, da er von einer strahlenden Lässigkeit geprägt ist, die auch in anderen Lebenslagen ihre Wirkung entfalten kann.
Gerade beim Glück, wenn wir uns in einer heiteren Phase des Daseins befinden, quält etliche von uns die Ungewissheit, ob es anhält oder ob wir's verdient haben. Warum belasten wir uns derart? Wie wär's, einfach zu genießen? Und nun zur, wie mir scheint, der allerhöchsten Kunst des laissez faire, laissez passer: der Kunst, den Dusel der anderen zu akzeptieren.
Neid und Missgunst machen niemanden zufrieden.
Nicht alles für sich haben zu wollen, ist wesentlich entspannter, als ständig den Druck zu erhöhen, aus eigener Kraft gleichzuziehen oder, noch schlimmer, die Sache oder den Menschen - oftmals handelt es sich um Freundschaftsbeziehungen, die unseren Neid erregen - entwenden zu wollen.
Ich bin, weil ich nicht der andere bin. Das Nicht-der-andere-Sein entbindet uns nicht vom Mitgefühl für den anderen. Im Gegenteil. Da wir selbst für andere der oder die andere sind, erkennen und respektieren wir im anderen immer uns selbst.
Behagen erwächst nicht aus dem unendliche Wollen, sondern aus dem kritischen Akzeptieren des Ist-Zustands. Die Veränderung des Vorhanden sollte nicht mit der Anschaffung des Ungegenwärtigen verwechselt werden. Die Aneignung des Neuen bereichert allein, wenn es sich um nicht stoffliche Güter, wie Wissen, handelt. Legen wir uns Sachen zu, deren Gebrauch nur bedingt notwendig ist, erhöhen wir sowohl für uns als auch unsere Umwelt die Last.
Erweckt ein Gegenstand außergewöhnliche Freude, kann allerdings von einer Notwendigkeit gesprochen werden. Jede Strenggläubigkeit sei falsch. Selbst im vermeintlich Moralischen steckt, häufig genug, die Sittenlosigkeit unserer Zeit.
Wer kein Entzücken erlaubt, entfremdet sich von der Liebe. Teilen wir Genuss, verdoppelt sich das Glück.
18. Mai
139.
Die Unglückstage kennen: denn es giebt dergleichen: an solchen geht nichts gut, und ändert sich auch das Spiel, doch nicht das Mißgeschick. Auf zwei Würfen muß man die Probe gemacht haben und sich zurückziehen, je nachdem man merkt, ob man seinen Tag hat oder nicht. Alles, sogar der Verstand ist dem Wechsel unterworfen, und Keiner ist zu jeder Stunde klug: es gehört Glück dazu, richtig zu denken wie eben auch einen Brief gut abzufassen. Alle Vollkommenheiten hängen von Zeitperioden ab: die Schönheit hat nicht immer ihren Tag: die Klugheit versagt ihren Dienst, indem wir den Sachen bald zu wenig, bald zu viel thun: und Alles muß, um gut auszufallen, seinen Tag haben. Ebenso gelingt auch Einigen alles schlecht, Andern alles gut und mit geringerer Anstrengung. Diese finden Alles schon gemacht, der Geist ist aufgelegt, das Gemüth in der besten Stimmung und der Glücksstern leuchtet. Dann muß man seinen Vortheil wahrnehmen und auch nicht das Geringste davon verloren gehn lassen. Jedoch wird der Mann von Ueberlegung nicht wegen Eines Unfalls den Tag entschieden für schlecht oder im umgekehrten Fall für gut erklären: denn Jenes konnte ein kleiner Verdruß, Dieses ein glücklicher Zufall seyn.
Ein herrliches Stück an Lebensklugheit. Ein Würfel, den ich werfen kann - und immer kommt die Sechs. Unheimlich, Freund, wie Sie, in diesem Paragraphen, einerseits eine These aufstellen, sie andererseits durch sich selbst beweisen. Sie haben Ihren Vorteil wahrgenommen.
Mir bleibt allein eine Anmerkung, die über den von Ihnen beleuchteten symbolischen Tag hinausreicht. Eine Frage, die mich seit etlichen Jahren umtreibt: was ist, wenn eine Person, obwohl sie objektiv fähig ist und Außerordentliches leistet, auf dem Abstellgleis des Lebens ihr Dasein fristet? Dann will sie irgendwann eben nicht mehr die Unglückstage kennen, hat mehr als genug von der ewigen Pechsträhne.
Hört die unverschuldete Misere nicht auf, sei das endlose Beharren nicht angebracht. Zu denken, dass die eigenen Leistungen plötzlich Anerkennung finden, wenn wir nur lange genug bei Wind und Wetter stumpf ausharren, hat selten die Obdachlosigkeit der Talentierten beendet.
Wer sich von sich selbst entfernt, versteht vermutlich besser, was andere an seiner oder ihrer Position gestört hat. Selbst das Genie sei in sich gefangen. Ein Werk, das keine Zustimmung findet, macht weder Geist noch Seele satt.
Leben wir in einer geschlossenen Anstalt, sollten wir schnellstens ausbrechen. Und alles zurücklassen, an dem unser Herz und Verstand Gefallen gefunden haben.
Erinnerungen sind Mühlensteine, die uns nicht loslassen wollen. Dem Gewicht des alten Andenkens gilt's deswegen die Leichtigkeit des neuen Raums entgegenzusetzen.
19. Mai
Die Unglückstage kennen: denn es giebt dergleichen: an solchen geht nichts gut, und ändert sich auch das Spiel, doch nicht das Mißgeschick. Auf zwei Würfen muß man die Probe gemacht haben und sich zurückziehen, je nachdem man merkt, ob man seinen Tag hat oder nicht. Alles, sogar der Verstand ist dem Wechsel unterworfen, und Keiner ist zu jeder Stunde klug: es gehört Glück dazu, richtig zu denken wie eben auch einen Brief gut abzufassen. Alle Vollkommenheiten hängen von Zeitperioden ab: die Schönheit hat nicht immer ihren Tag: die Klugheit versagt ihren Dienst, indem wir den Sachen bald zu wenig, bald zu viel thun: und Alles muß, um gut auszufallen, seinen Tag haben. Ebenso gelingt auch Einigen alles schlecht, Andern alles gut und mit geringerer Anstrengung. Diese finden Alles schon gemacht, der Geist ist aufgelegt, das Gemüth in der besten Stimmung und der Glücksstern leuchtet. Dann muß man seinen Vortheil wahrnehmen und auch nicht das Geringste davon verloren gehn lassen. Jedoch wird der Mann von Ueberlegung nicht wegen Eines Unfalls den Tag entschieden für schlecht oder im umgekehrten Fall für gut erklären: denn Jenes konnte ein kleiner Verdruß, Dieses ein glücklicher Zufall seyn.
Ein herrliches Stück an Lebensklugheit. Ein Würfel, den ich werfen kann - und immer kommt die Sechs. Unheimlich, Freund, wie Sie, in diesem Paragraphen, einerseits eine These aufstellen, sie andererseits durch sich selbst beweisen. Sie haben Ihren Vorteil wahrgenommen.
Mir bleibt allein eine Anmerkung, die über den von Ihnen beleuchteten symbolischen Tag hinausreicht. Eine Frage, die mich seit etlichen Jahren umtreibt: was ist, wenn eine Person, obwohl sie objektiv fähig ist und Außerordentliches leistet, auf dem Abstellgleis des Lebens ihr Dasein fristet? Dann will sie irgendwann eben nicht mehr die Unglückstage kennen, hat mehr als genug von der ewigen Pechsträhne.
Hört die unverschuldete Misere nicht auf, sei das endlose Beharren nicht angebracht. Zu denken, dass die eigenen Leistungen plötzlich Anerkennung finden, wenn wir nur lange genug bei Wind und Wetter stumpf ausharren, hat selten die Obdachlosigkeit der Talentierten beendet.
Wer sich von sich selbst entfernt, versteht vermutlich besser, was andere an seiner oder ihrer Position gestört hat. Selbst das Genie sei in sich gefangen. Ein Werk, das keine Zustimmung findet, macht weder Geist noch Seele satt.
Leben wir in einer geschlossenen Anstalt, sollten wir schnellstens ausbrechen. Und alles zurücklassen, an dem unser Herz und Verstand Gefallen gefunden haben.
Erinnerungen sind Mühlensteine, die uns nicht loslassen wollen. Dem Gewicht des alten Andenkens gilt's deswegen die Leichtigkeit des neuen Raums entgegenzusetzen.
19. Mai
140.
Gleich auf das Gute in jeder Sache treffen. Es ist das Glück des guten Geschmacks. Die Biene geht gleich zur Süßigkeit für ihre Honigscheibe und die Schlange zur Bitterkeit für ihr Gift. So wendet auch der Geschmack Einiger sich gleich dem Guten, Andrer dem Schlechten entgegen. Es giebt nichts, woran nicht etwas Gutes wäre, zumal ein Buch, als ein Werk der Ueberlegung. Allein Manche sind von einer so unglücklichen Sinnesart, daß sie unter tausend Vollkommenheiten sogleich den einzigen Fehler herausfinden, der dabei wäre, diesen nun tadeln und davon viel reden, als wahre Aufsammler aller Auswürfe des Willens und des Verstandes Andrer: so häufen sie Register von Fehlern auf, welches mehr eine Strafe ihrer schlechten Wahl, als eine Beschäftigung ihres Scharfsinnes ist: sie haben ein trauriges Leben davon, indem sie stets am Bittern zehren und Unvollkommenheiten ihre Leibspeise sind. Glücklicher ist der Geschmack Andrer, welche unter tausend Fehlern gleich auf die einzige Vollkommenheit treffen, die ihnen aufstößt.
Eine hinreißende Idee, Freund: das Lob der Ausnahme oder, wie wir's auch nennen könnten, die Fähigkeit der Geschmacksicherheit. Kritikerinnen und Kritiker als Trüffelschweine, die sich nur das Gute herauspicken! Was für ein Spaß. Für die Autorinnen und Autoren, denen an Bewunderung gelegen ist. Weniger erbaulich fürs Publikum, das nach Einschätzung verlangt.
Geht's in einer Kritik andererseits allein darum, die eigene Expertise zu zeigen oder sich endlos an einem (vermeintlichen) Fehler zu ergötzen, sind die Rezensentinnen und Rezensenten also komplett blind fürs Gute, sparen gar mit dem geringsten Lob, darf man sie mit Fug und Recht überheblich nennen. Ich mache mich dieser Eingenommenheit von mir selbst leider regelmäßig schuldig. Mit Grausen denke ich an Tanzkritiken zurück, in denen ich glaubte, ironisch zu sein, aber in Wahrheit nur unter der Gürtellinie ausgeteilt habe. Furchtbar. Könnte ich den Schmerz im Nachhinein lindern, für den ich Verantwortung trage, ich täte es.
La critique est aisée, et l'art est difficile, schreibt Philipp Destouches, der 22 Jahre nach Ihrem Tode auf die Welt gekommen ist. Ja, die Kritik sei leicht, die Kunst dagegen schwer. Nun ist Ihnen natürlich bewusst, dass in der ernsthaften Beurteilung sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Anerkennung steckt. Ohne eine Rezension wissen wir nicht, was andere über unsere Werke denken. Am allerbesten wär's selbstverständlich, fände eine kritische Kontrolle bereits vor der Veröffentlichung statt. Redigierten uns Wohlgesonnene - oder sagen wir lieber: dem Werk Wohlgesonne - mit Argusaugen und ohne Ansehen des Rufs. In etlichen Alterswerken, Freund, lässt sich ein Unbehagen am Glück der Durchsicht erkennen. Die Künstlerinnen und Künstler halten ihre Schöpfungen vermutlich für zu vollkommen, verzichten demgemäß auf eine Zweit-, Dritt- und Viertmeinung. Möglich ist auch, dass die herangezogenen Kritikerinnen und Kritiker vor Ehrfurcht auf Zehenspitzen unterwegs oder von einer banalen Angst erfüllt sind, den ehrwürdigen Meisterinnen und Meistern den eitlen Marsch zu blasen. Eine weitere Komponente ist das leidige Geld. Um nicht, was möglich ist, wenn man die Wahrheit sagt und nichts als die Wahrheit, um nicht im hohen Bogen gefeuert zu werden, fallen Gutachen (sic) zu wohlwollend aus.
Ich würde mich übrigens sehr freuen, könnten Sie meine Antworten auf Ihre wunderbaren Texte ad hoc in die Mangel nehmen und mich tadeln. Dass andere, denen ich von unserer Korrespondenz erzählt habe oder die, per Zufall, ein, zwei Briefe gelesen haben, sich ihre eigenen Gedanken machen, die mir ungelegen sind, davon gehe ich in der Tat aus. Schließlich wundere ich mich heute selbst oft genug, was mich vor einer Woche geritten hat. Was wiederum nicht heißt, dass im Jetzt mehr Verständis als im Gestern liegt.
Wer sich ins Licht stellt, muss damit rechnen, geblendet zu werden.
Mit angebrachter Kritik vernünftig umzugehen, sei eine Hürde, die wir Dutzend Male übersprungen haben können, ohne jemals den perfekten Absprung oder Landeplatz zu finden. Blicken wir jedoch zurück, sind's oft genug die Momente des In-die-Luft-geworfen-Werdens, die uns einen anderen Blick auf uns selbst und die Welt erlauben.
Lockerheit entsteht so gut wie nie, beharren wir auf einem unverrückbaren Standpunkt.
Auszuharren sei das Vorrecht der Todgeweihten. In der Bewegung ist Leben.
20. Mai
Gleich auf das Gute in jeder Sache treffen. Es ist das Glück des guten Geschmacks. Die Biene geht gleich zur Süßigkeit für ihre Honigscheibe und die Schlange zur Bitterkeit für ihr Gift. So wendet auch der Geschmack Einiger sich gleich dem Guten, Andrer dem Schlechten entgegen. Es giebt nichts, woran nicht etwas Gutes wäre, zumal ein Buch, als ein Werk der Ueberlegung. Allein Manche sind von einer so unglücklichen Sinnesart, daß sie unter tausend Vollkommenheiten sogleich den einzigen Fehler herausfinden, der dabei wäre, diesen nun tadeln und davon viel reden, als wahre Aufsammler aller Auswürfe des Willens und des Verstandes Andrer: so häufen sie Register von Fehlern auf, welches mehr eine Strafe ihrer schlechten Wahl, als eine Beschäftigung ihres Scharfsinnes ist: sie haben ein trauriges Leben davon, indem sie stets am Bittern zehren und Unvollkommenheiten ihre Leibspeise sind. Glücklicher ist der Geschmack Andrer, welche unter tausend Fehlern gleich auf die einzige Vollkommenheit treffen, die ihnen aufstößt.
Eine hinreißende Idee, Freund: das Lob der Ausnahme oder, wie wir's auch nennen könnten, die Fähigkeit der Geschmacksicherheit. Kritikerinnen und Kritiker als Trüffelschweine, die sich nur das Gute herauspicken! Was für ein Spaß. Für die Autorinnen und Autoren, denen an Bewunderung gelegen ist. Weniger erbaulich fürs Publikum, das nach Einschätzung verlangt.
Geht's in einer Kritik andererseits allein darum, die eigene Expertise zu zeigen oder sich endlos an einem (vermeintlichen) Fehler zu ergötzen, sind die Rezensentinnen und Rezensenten also komplett blind fürs Gute, sparen gar mit dem geringsten Lob, darf man sie mit Fug und Recht überheblich nennen. Ich mache mich dieser Eingenommenheit von mir selbst leider regelmäßig schuldig. Mit Grausen denke ich an Tanzkritiken zurück, in denen ich glaubte, ironisch zu sein, aber in Wahrheit nur unter der Gürtellinie ausgeteilt habe. Furchtbar. Könnte ich den Schmerz im Nachhinein lindern, für den ich Verantwortung trage, ich täte es.
La critique est aisée, et l'art est difficile, schreibt Philipp Destouches, der 22 Jahre nach Ihrem Tode auf die Welt gekommen ist. Ja, die Kritik sei leicht, die Kunst dagegen schwer. Nun ist Ihnen natürlich bewusst, dass in der ernsthaften Beurteilung sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Anerkennung steckt. Ohne eine Rezension wissen wir nicht, was andere über unsere Werke denken. Am allerbesten wär's selbstverständlich, fände eine kritische Kontrolle bereits vor der Veröffentlichung statt. Redigierten uns Wohlgesonnene - oder sagen wir lieber: dem Werk Wohlgesonne - mit Argusaugen und ohne Ansehen des Rufs. In etlichen Alterswerken, Freund, lässt sich ein Unbehagen am Glück der Durchsicht erkennen. Die Künstlerinnen und Künstler halten ihre Schöpfungen vermutlich für zu vollkommen, verzichten demgemäß auf eine Zweit-, Dritt- und Viertmeinung. Möglich ist auch, dass die herangezogenen Kritikerinnen und Kritiker vor Ehrfurcht auf Zehenspitzen unterwegs oder von einer banalen Angst erfüllt sind, den ehrwürdigen Meisterinnen und Meistern den eitlen Marsch zu blasen. Eine weitere Komponente ist das leidige Geld. Um nicht, was möglich ist, wenn man die Wahrheit sagt und nichts als die Wahrheit, um nicht im hohen Bogen gefeuert zu werden, fallen Gutachen (sic) zu wohlwollend aus.
Ich würde mich übrigens sehr freuen, könnten Sie meine Antworten auf Ihre wunderbaren Texte ad hoc in die Mangel nehmen und mich tadeln. Dass andere, denen ich von unserer Korrespondenz erzählt habe oder die, per Zufall, ein, zwei Briefe gelesen haben, sich ihre eigenen Gedanken machen, die mir ungelegen sind, davon gehe ich in der Tat aus. Schließlich wundere ich mich heute selbst oft genug, was mich vor einer Woche geritten hat. Was wiederum nicht heißt, dass im Jetzt mehr Verständis als im Gestern liegt.
Wer sich ins Licht stellt, muss damit rechnen, geblendet zu werden.
Mit angebrachter Kritik vernünftig umzugehen, sei eine Hürde, die wir Dutzend Male übersprungen haben können, ohne jemals den perfekten Absprung oder Landeplatz zu finden. Blicken wir jedoch zurück, sind's oft genug die Momente des In-die-Luft-geworfen-Werdens, die uns einen anderen Blick auf uns selbst und die Welt erlauben.
Lockerheit entsteht so gut wie nie, beharren wir auf einem unverrückbaren Standpunkt.
Auszuharren sei das Vorrecht der Todgeweihten. In der Bewegung ist Leben.
20. Mai
141.
Nicht sich zuhören. Sich selber gefallen hilft wenig, wenn man Andern nicht gefällt; und meistens straft die allgemeine Geringschätzung die selbsteigene Zufriedenheit. Wer sich selber so sehr genügt, wird es nie den Andern. Reden, und zugleich selbst zuhören wollen, geht nicht wohl: und wenn mit sich allein zu reden eine Narrheit ist, so ist es eine doppelte, sich noch vor Andern zuhören zu wollen. Es ist eine Schwäche großer Herren, mit dem Grundbaß von »Ich sage Etwas« zu reden, zur Marter der Zuhörer: bei jedem Satz horchen sie nach Beifall oder Schmeichelei, und treiben die Geduld der Klugen aufs Aeußerste. Auch pflegen die Aufgeblasenen unter Begleitung eines Echos zu reden, und indem ihre Unterhaltung auf dem Kothurn des Dünkels einherschreitet, ruft sie bei jedem Worte die widerliche Hülfe eines dummen »wohl gesprochen« auf.
Zunächst, Freund, was mich stets erfreut, sei eingestanden, dass ich den Begriff Kothurn nachschlagen musste. Es handelt sich, ursprünglich, um einen geschnürten, wadenhohen Schaftstiefel. Häufig getragen von Schauspielern der griechischen Tragödie. Die Sohlen wurden im 2. Jahrhundert v. Chr. aus Kork gefertigt und waren so dick, dass sie später, auf der Bühne, besonders im antiken Rom, fast Stelzen glichen. In Ihrer Zeit waren die Plateauschuhe besonders in Venedig und eben Spanien in Mode. Kothum hießen, wenn ich richtig recherchiert habe, bei Ihnen jedoch Chopine. Frauen trugen sie unterm Vertugadin, dem kegelförmigen Reifrock. Das Ziel war, schlanker und größer zu wirken. Sogar die deutsche Redewendung auf hohem Kothurn einhergehen, was bedeudet im tragischem Pathos reden, habe ich bislang nicht gehört.
Wie politisch Mode ist, welche symbolische Kraft in Kleidungsstücken steckt, das hat sich niemals geändert. Neben der Aufmerksamkeit, die uns bestimmte Stoffe und Schnitte garantieren, geht es immer um Macht. Kleidung verbrieft oder verweigert Zugehörigkeit, gewährt Schutz oder raubt ihn. Und im doppelten Sinn des Angezogenseins steckt eben sowohl die Tatsache des Kleidungtragens als auch die Liebestollheit, die uns regelmäßig für Menschen und Sachen überfällt.
Im Moment, Freund, versuche ich mich gerade an der Verminderung meiner Ansprüche. Außer dreier warmer Unterwäschetops, die mich durch den argen Berliner Winter gebracht haben, älter werdend spüre ich die Kälte mehr, und einen Fahrradhelm, der leuchten und blinken kann, habe ich mir in den letzten zwei Jahren nichts gekauft. Mit einer Einschränkung, die ich als Lebensmittel einordne: Bücher. Ich möchte auf niedrigem Kothum gehen. Den Fußabdruck, den ich hinterlasse, zu verringern, darum bemühe ich mich. Ein schwieriges Unterfangen, da wir Freunde und Familie in London haben und seit jeher geflogen sind.
Ich frage mich übrigens gerade, ob ich das gemacht habe, was Sie so trefflich kritisieren, den Redekotau vor mir selbst. Daran schließt sich, andererseits, die Vermutung an, dass es, wie Peter Singer in The Live You Can Save fordert, ab und an in Ordnung, sogar notwendig ist, von den eigenen Zweifeln und Träumen und guten Absichten zu sprechen, um den moralischen Diskurs anzuregen, mit sich selbst und der Gesellschaft.
Gehört wird, was etwas taugt.
Sind Reden nicht gescheit, geht das Gesagte in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus.
Wer länger spricht, sollte etwas zu sagen haben.
Eine Rede, die über eine halbe Stunde dauert, tendiert zur Selbstbefriedigung.
Andere zu langweilen, demgemäß ihre Lebenszeit zu stehlen, sei ein unverzeihlicher Diebstahl und ein guter Grund, Gefolg- und Freundschaft aufzukündigen.
21. Mai
PS, geschrieben einen Tag später
Verzicht zu üben, setzt voraus, zuvor genug oder mehr als genug, um nicht zu sagen: zu viel konsumiert zu haben. Wer nur verzichtet hat, darbt; was nach Verderben klingt und es auch ist.
Nicht sich zuhören. Sich selber gefallen hilft wenig, wenn man Andern nicht gefällt; und meistens straft die allgemeine Geringschätzung die selbsteigene Zufriedenheit. Wer sich selber so sehr genügt, wird es nie den Andern. Reden, und zugleich selbst zuhören wollen, geht nicht wohl: und wenn mit sich allein zu reden eine Narrheit ist, so ist es eine doppelte, sich noch vor Andern zuhören zu wollen. Es ist eine Schwäche großer Herren, mit dem Grundbaß von »Ich sage Etwas« zu reden, zur Marter der Zuhörer: bei jedem Satz horchen sie nach Beifall oder Schmeichelei, und treiben die Geduld der Klugen aufs Aeußerste. Auch pflegen die Aufgeblasenen unter Begleitung eines Echos zu reden, und indem ihre Unterhaltung auf dem Kothurn des Dünkels einherschreitet, ruft sie bei jedem Worte die widerliche Hülfe eines dummen »wohl gesprochen« auf.
Zunächst, Freund, was mich stets erfreut, sei eingestanden, dass ich den Begriff Kothurn nachschlagen musste. Es handelt sich, ursprünglich, um einen geschnürten, wadenhohen Schaftstiefel. Häufig getragen von Schauspielern der griechischen Tragödie. Die Sohlen wurden im 2. Jahrhundert v. Chr. aus Kork gefertigt und waren so dick, dass sie später, auf der Bühne, besonders im antiken Rom, fast Stelzen glichen. In Ihrer Zeit waren die Plateauschuhe besonders in Venedig und eben Spanien in Mode. Kothum hießen, wenn ich richtig recherchiert habe, bei Ihnen jedoch Chopine. Frauen trugen sie unterm Vertugadin, dem kegelförmigen Reifrock. Das Ziel war, schlanker und größer zu wirken. Sogar die deutsche Redewendung auf hohem Kothurn einhergehen, was bedeudet im tragischem Pathos reden, habe ich bislang nicht gehört.
Wie politisch Mode ist, welche symbolische Kraft in Kleidungsstücken steckt, das hat sich niemals geändert. Neben der Aufmerksamkeit, die uns bestimmte Stoffe und Schnitte garantieren, geht es immer um Macht. Kleidung verbrieft oder verweigert Zugehörigkeit, gewährt Schutz oder raubt ihn. Und im doppelten Sinn des Angezogenseins steckt eben sowohl die Tatsache des Kleidungtragens als auch die Liebestollheit, die uns regelmäßig für Menschen und Sachen überfällt.
Im Moment, Freund, versuche ich mich gerade an der Verminderung meiner Ansprüche. Außer dreier warmer Unterwäschetops, die mich durch den argen Berliner Winter gebracht haben, älter werdend spüre ich die Kälte mehr, und einen Fahrradhelm, der leuchten und blinken kann, habe ich mir in den letzten zwei Jahren nichts gekauft. Mit einer Einschränkung, die ich als Lebensmittel einordne: Bücher. Ich möchte auf niedrigem Kothum gehen. Den Fußabdruck, den ich hinterlasse, zu verringern, darum bemühe ich mich. Ein schwieriges Unterfangen, da wir Freunde und Familie in London haben und seit jeher geflogen sind.
Ich frage mich übrigens gerade, ob ich das gemacht habe, was Sie so trefflich kritisieren, den Redekotau vor mir selbst. Daran schließt sich, andererseits, die Vermutung an, dass es, wie Peter Singer in The Live You Can Save fordert, ab und an in Ordnung, sogar notwendig ist, von den eigenen Zweifeln und Träumen und guten Absichten zu sprechen, um den moralischen Diskurs anzuregen, mit sich selbst und der Gesellschaft.
Gehört wird, was etwas taugt.
Sind Reden nicht gescheit, geht das Gesagte in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder heraus.
Wer länger spricht, sollte etwas zu sagen haben.
Eine Rede, die über eine halbe Stunde dauert, tendiert zur Selbstbefriedigung.
Andere zu langweilen, demgemäß ihre Lebenszeit zu stehlen, sei ein unverzeihlicher Diebstahl und ein guter Grund, Gefolg- und Freundschaft aufzukündigen.
21. Mai
PS, geschrieben einen Tag später
Verzicht zu üben, setzt voraus, zuvor genug oder mehr als genug, um nicht zu sagen: zu viel konsumiert zu haben. Wer nur verzichtet hat, darbt; was nach Verderben klingt und es auch ist.
142.
Nie aus Eigensinn sich auf die schlechtere Seite stellen, weil der Gegner sich bereits auf die bessere gestellt hat. Denn sonst tritt man schon besiegt auf den Kampfplatz und wird daher nothwendig mit Schimpf und Schande abziehen müssen: mit schlechten Waffen wird man nie gut kämpfen. Im Gegner war es Schlauheit, daß er in der Erwählung des Bessern den Vorsprung gewann, im Andern aber Dummheit, daß er, um sich ihm entgegenzustellen, jetzt das Schlechtere ergriff. Dergleichen Eigensinn in Thaten bringt tiefer in die Klemme, als der in Worten; sofern mehr Gefahr beim Thun als beim Reden ist. Die Eigensinnigen zeigen ihre Gemeinheit darin, daß sie der Wahrheit zum Trotz streiten und ihrem eigenen Nutzen zum Trotz processiren. Der Kluge stellt sich nie auf die Seite der Leidenschaft, sondern immer auf die des Rechts, sei es, daß er gleich anfangs als der Erste dahin getreten, oder erst als der Zweite, indem er sich eines Bessern bedachte. Ist, im letztern Fall, der Gegner dumm, so wird er, sich jetzt im obigen Falle befindend, nun seinen Weg ändern und auf die entgegengesetzte, folglich schlechtere Seite treten. Um ihn also vom Bessern wegzutreiben; ist das einzige Mittel, es selbst zu ergreifen: denn aus Dummheit wird er es fahren lassen, und durch diesen Eigensinn wird der Andre seiner entledigt.
Wau! Was für ein Twist, Freund, den Sie am Ende realpolitisch hinlegen. Ein moralischer Thriller. Man wandelt im Paradies, biegt beschwingt um die Ecke und steckt in der Vorhölle fest.
Während des Lesens habe ich die ganze Zeit gedacht, wie besonnen und klug Ihre Argumente sind, wie sehr's stimmt, dass wir nicht zu Dieben werden sollten, nur weil unsere Gegnerinnen und Gegner dem Klauen abgeschworen haben. Auch die Umkehr - die Einsicht, falsch gelegen zu haben und deswegen eine Rückbesinnung aufs Vernünftige zu wagen - hat mir als Maßnahme imponiert. Und dann, ratzfatz, blitzt der Hass in Ihnen auf. Abgrundtief, unüberbrückbar. Sie verfolgen ein einziges Ziel: Ihren Feinden wollen Sie auf Teufel komm raus ans Leder. Die Sache? Das Recht? Der gütige Gott? Alles nebensächlich. Vertreiben Sie Ihren Konterpart vom Besseren, können Sie sich halt im Glanz des Sieges sonnen. Anstatt den dummen Rivalen oder die dumme Rivalin entweder still und leise auf der Seite des Ordentlichen verweilen zu lassen, was der höflichen Sittsamkeit entspräche, oder öffentlich zu loben und damit im eigenen Lager zu begrüßen, was nichts weniger als echte Größe zeigte, sind Sie allein auf Ihren Vorteil aus. Menschlich verständlich, machtpolitisch möglicherweise sogar genial. Denn wenn Sie sich Antagonisten schaffen, werden viele Sie für einen Beschützer halten, den man folgen sollte, auf Gedeih und Verderb, selbst aufs Schlachtfeld, das Sie leibhaftig niemals betreten würden. In Ihrem Namen stürben andere, was genug des Todes wäre. Sie selbst, dem Wahren und Schönen verpflichtet, entschliefen einst im Daunenbett, mit Blick auf ein Denkmal Ihrer selbst, bezahlt und angebetet von den Witwen, Witwern und Waisen der Opfer Ihrer Kriegszüge.
Andere vom Guten zu vertreiben und von einem tugendhaften Leben abzuhalten, um selbst besser zu scheinen, zeugt von einer moralischen Dummheit, deren Heimtücke, früher oder später, verstanden und erkannt wird.
Das Verschlagene hat eine Halbwertzeit, die der Lebensdauer des Anstands unterlegen ist. Auf lange Sicht entlarvt sich jede Eitelkeit, auch und gerade die, die sich als Selbstlosigkeit verkleidet hat.
Geheime Konten kommen irgendwann ans Licht.
Wer Moral hinterzieht und Hilfsbereitschaft nur geriert hat, wird Abscheu ernten.
22. Mai
Nie aus Eigensinn sich auf die schlechtere Seite stellen, weil der Gegner sich bereits auf die bessere gestellt hat. Denn sonst tritt man schon besiegt auf den Kampfplatz und wird daher nothwendig mit Schimpf und Schande abziehen müssen: mit schlechten Waffen wird man nie gut kämpfen. Im Gegner war es Schlauheit, daß er in der Erwählung des Bessern den Vorsprung gewann, im Andern aber Dummheit, daß er, um sich ihm entgegenzustellen, jetzt das Schlechtere ergriff. Dergleichen Eigensinn in Thaten bringt tiefer in die Klemme, als der in Worten; sofern mehr Gefahr beim Thun als beim Reden ist. Die Eigensinnigen zeigen ihre Gemeinheit darin, daß sie der Wahrheit zum Trotz streiten und ihrem eigenen Nutzen zum Trotz processiren. Der Kluge stellt sich nie auf die Seite der Leidenschaft, sondern immer auf die des Rechts, sei es, daß er gleich anfangs als der Erste dahin getreten, oder erst als der Zweite, indem er sich eines Bessern bedachte. Ist, im letztern Fall, der Gegner dumm, so wird er, sich jetzt im obigen Falle befindend, nun seinen Weg ändern und auf die entgegengesetzte, folglich schlechtere Seite treten. Um ihn also vom Bessern wegzutreiben; ist das einzige Mittel, es selbst zu ergreifen: denn aus Dummheit wird er es fahren lassen, und durch diesen Eigensinn wird der Andre seiner entledigt.
Wau! Was für ein Twist, Freund, den Sie am Ende realpolitisch hinlegen. Ein moralischer Thriller. Man wandelt im Paradies, biegt beschwingt um die Ecke und steckt in der Vorhölle fest.
Während des Lesens habe ich die ganze Zeit gedacht, wie besonnen und klug Ihre Argumente sind, wie sehr's stimmt, dass wir nicht zu Dieben werden sollten, nur weil unsere Gegnerinnen und Gegner dem Klauen abgeschworen haben. Auch die Umkehr - die Einsicht, falsch gelegen zu haben und deswegen eine Rückbesinnung aufs Vernünftige zu wagen - hat mir als Maßnahme imponiert. Und dann, ratzfatz, blitzt der Hass in Ihnen auf. Abgrundtief, unüberbrückbar. Sie verfolgen ein einziges Ziel: Ihren Feinden wollen Sie auf Teufel komm raus ans Leder. Die Sache? Das Recht? Der gütige Gott? Alles nebensächlich. Vertreiben Sie Ihren Konterpart vom Besseren, können Sie sich halt im Glanz des Sieges sonnen. Anstatt den dummen Rivalen oder die dumme Rivalin entweder still und leise auf der Seite des Ordentlichen verweilen zu lassen, was der höflichen Sittsamkeit entspräche, oder öffentlich zu loben und damit im eigenen Lager zu begrüßen, was nichts weniger als echte Größe zeigte, sind Sie allein auf Ihren Vorteil aus. Menschlich verständlich, machtpolitisch möglicherweise sogar genial. Denn wenn Sie sich Antagonisten schaffen, werden viele Sie für einen Beschützer halten, den man folgen sollte, auf Gedeih und Verderb, selbst aufs Schlachtfeld, das Sie leibhaftig niemals betreten würden. In Ihrem Namen stürben andere, was genug des Todes wäre. Sie selbst, dem Wahren und Schönen verpflichtet, entschliefen einst im Daunenbett, mit Blick auf ein Denkmal Ihrer selbst, bezahlt und angebetet von den Witwen, Witwern und Waisen der Opfer Ihrer Kriegszüge.
Andere vom Guten zu vertreiben und von einem tugendhaften Leben abzuhalten, um selbst besser zu scheinen, zeugt von einer moralischen Dummheit, deren Heimtücke, früher oder später, verstanden und erkannt wird.
Das Verschlagene hat eine Halbwertzeit, die der Lebensdauer des Anstands unterlegen ist. Auf lange Sicht entlarvt sich jede Eitelkeit, auch und gerade die, die sich als Selbstlosigkeit verkleidet hat.
Geheime Konten kommen irgendwann ans Licht.
Wer Moral hinterzieht und Hilfsbereitschaft nur geriert hat, wird Abscheu ernten.
22. Mai
143.
Nicht, aus Besorgniß trivial zu seyn, paradox werden. Beide Extreme schaden unserm Ansehn. Jedes Unterfangen, welches der Gesetztheit zuwiderläuft, ist schon der Narrheit verwandt. Das Paradoxon ist gewissermaaßen ein Betrug, indem es anfangs Beifall findet, weil es durch das Neue und Pikante überrascht: allein wann nachher die Täuschung verschwindet und seine Blößen offenbar werden, nimmt es sich sehr übel aus. Es ist eine Art Gaukelei und in Staatsangelegenheiten der Ruin des Staats. Die, welche nicht auf dem Wege der Trefflichkeit es zu wahrhaft großen Leistungen bringen können, oder sich nicht daran wagen, legen sich auf das Paradoxe: von den Thoren werden sie bewundert; aber viele kluge Leute werden an ihnen zu Propheten. Es beweist eine Verschrobenheit der Urtheilskraft: und wenn es auch bisweilen nicht auf das Falsche sich gründet, dann doch auf das Ungewisse, zur großen Gefahr wichtiger Angelegenheiten
Eine Katze, schrieb Erwin Schrödinger Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, wird in eine Stahlkammer gesperrt. Und zwar gemeinsam mit einer, Freund, wie der Physiker es nannte, Höllenmaschine, die er gegen den Zugriff der Katze sichern würde. In einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine geringe Menge radioaktiver Substanz. So wenig, dass im Laufe einer Stunde möglicherweise eines von den Atomen zerfällt. Genauso kann aber angenommen werden, dass kein Atom zerfällt. Passiert es, so meldet das Zählrohr den Zerfall und betätigt über einen Funkfeldverstärker ein Hämmerchen, das auf der Stelle einen Kolben mit Blausäure zertrümmert. Überlassen wir dieses Höllensystem eine Stunde lang sich selbst, so können wir mit Fug und Recht behaupten, dass die Katze noch lebt, wenn in der Zwischenzeit kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall hätte sie vergiftet. Die Wellen-Funktion des Systems brächte das so zum Ausdruck, dass in ihr die lebendige und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert wären.
Das Typische an solchen Fällen sei, schrieb Schrödinger, der sich übrigens für das Bild des Schmierens entschuldigt hat, das Typische sei, dass eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetze, die sich dann allerdings durch direkte Observation entscheiden lasse. Das hindere uns, in leichtgläubiger Weise ein verwaschenes Modell als Abbild der Realität gelten zu lassen. Per se schließe es nichts Unklares oder Widerspruchsvolles ein. Es handele sich, erklärte der Physiker, was mir als Vergleich, Freund, sehr gefällt, es handele sich um den Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Fotografie und einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden.
Sie wollen wissen, wie die Wissenschaft mit diesem Paradoxon umgeht? Mit verschiedenen Theorien. Eine davon, das Viele-Welten-Modell, hat, aus unterschiedlichen Gründen, in den letzten Jahren reichlich Furore gemacht. Für Schrödingers Katze bedeudet diese Vorstellung eine gute und eine schlechte Nachricht: das Tier ist gleichzeitig tot und lebendig. Die Viele-Welten-Auslegung spricht nämlich allen nur denkbaren Zuständen gleichermaßen eine, wie ich's nennen möchte, physikalische Istheit zu, die wir von der persönlichen Seiheit unterscheiden müssen. Es existiert dann tatsächlich ein Universum, in dem das Atom zerfallen ist, und im selben Moment eines, in dem das Atom eben nicht zerfallen ist. Im ersten Kosmos öffnen wir also den Kasten und finden eine leblose Katze, im zweiten kommt sie uns schnurrend und putzmunter entgegen.
Unsere Erinnerungen und das, was wir als Realität wahrnehmen, entsprechen nur einer von unzähligen vorstellbaren und entsprechend verwirklichten Geschichten des Universums.
Diese Janusköpfigkeit, die in jedem Paradoxon steckt, beispielsweise im außerordentlich bekannten ich lüge gerade, gefällt mir sehr. Das Leben betrügt uns, da wir's nicht ergründen können. Ich - und nun, Freund, spreche ich nur von mir selbst -, ich bin gleichzeitig und bin eben gleichzeitig nicht. Ich weiß, dass ich nicht gewesen bin und nicht sein werde, was mich nicht vom da-sein abhält, aber mein Sein maßgeblich beeinflusst. Wie kann ich jetzt sein, aber in der Zukunft nicht? Wie kann ich jetzt sein, aber in der Vergangenheit nicht? Wie die Katze bin ich gleichzeitig tot und lebendig. Ich bin parallel erfolgreich und ein Versager.
Möglicherweise, um die Idee des Doppelten noch anschaulicher zu machen, ist der Schlaf eine Art von Zustandsbeschreibung für das Ich-Sein und Nicht-Ich-Sein. Wir sind sowohl in der einen (Schlaf) wie in der anderen (Wachsein) Welt.
Ob das den Tod erklärt? Und ob das, was mich mehr beschäftigt, den Tod als Zustand erleichtert (ich bin, also bin ich; und bin ich nicht, bin ich eben nicht), wie's Simone de Beauvoir in ihrer wunderbaren Autobiographie für ihren Umgang mit dem Tod entschieden hat?
Lassen Sie mich nur noch kurz anfügen, dass heißes Wasser unter bestimmten Bedingungen schneller als kaltes Wasser gefriert.
23. Mai
Nicht, aus Besorgniß trivial zu seyn, paradox werden. Beide Extreme schaden unserm Ansehn. Jedes Unterfangen, welches der Gesetztheit zuwiderläuft, ist schon der Narrheit verwandt. Das Paradoxon ist gewissermaaßen ein Betrug, indem es anfangs Beifall findet, weil es durch das Neue und Pikante überrascht: allein wann nachher die Täuschung verschwindet und seine Blößen offenbar werden, nimmt es sich sehr übel aus. Es ist eine Art Gaukelei und in Staatsangelegenheiten der Ruin des Staats. Die, welche nicht auf dem Wege der Trefflichkeit es zu wahrhaft großen Leistungen bringen können, oder sich nicht daran wagen, legen sich auf das Paradoxe: von den Thoren werden sie bewundert; aber viele kluge Leute werden an ihnen zu Propheten. Es beweist eine Verschrobenheit der Urtheilskraft: und wenn es auch bisweilen nicht auf das Falsche sich gründet, dann doch auf das Ungewisse, zur großen Gefahr wichtiger Angelegenheiten
Eine Katze, schrieb Erwin Schrödinger Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, wird in eine Stahlkammer gesperrt. Und zwar gemeinsam mit einer, Freund, wie der Physiker es nannte, Höllenmaschine, die er gegen den Zugriff der Katze sichern würde. In einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine geringe Menge radioaktiver Substanz. So wenig, dass im Laufe einer Stunde möglicherweise eines von den Atomen zerfällt. Genauso kann aber angenommen werden, dass kein Atom zerfällt. Passiert es, so meldet das Zählrohr den Zerfall und betätigt über einen Funkfeldverstärker ein Hämmerchen, das auf der Stelle einen Kolben mit Blausäure zertrümmert. Überlassen wir dieses Höllensystem eine Stunde lang sich selbst, so können wir mit Fug und Recht behaupten, dass die Katze noch lebt, wenn in der Zwischenzeit kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall hätte sie vergiftet. Die Wellen-Funktion des Systems brächte das so zum Ausdruck, dass in ihr die lebendige und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert wären.
Das Typische an solchen Fällen sei, schrieb Schrödinger, der sich übrigens für das Bild des Schmierens entschuldigt hat, das Typische sei, dass eine ursprünglich auf den Atombereich beschränkte Unbestimmtheit sich in grobsinnliche Unbestimmtheit umsetze, die sich dann allerdings durch direkte Observation entscheiden lasse. Das hindere uns, in leichtgläubiger Weise ein verwaschenes Modell als Abbild der Realität gelten zu lassen. Per se schließe es nichts Unklares oder Widerspruchsvolles ein. Es handele sich, erklärte der Physiker, was mir als Vergleich, Freund, sehr gefällt, es handele sich um den Unterschied zwischen einer verwackelten oder unscharf eingestellten Fotografie und einer Aufnahme von Wolken und Nebelschwaden.
Sie wollen wissen, wie die Wissenschaft mit diesem Paradoxon umgeht? Mit verschiedenen Theorien. Eine davon, das Viele-Welten-Modell, hat, aus unterschiedlichen Gründen, in den letzten Jahren reichlich Furore gemacht. Für Schrödingers Katze bedeudet diese Vorstellung eine gute und eine schlechte Nachricht: das Tier ist gleichzeitig tot und lebendig. Die Viele-Welten-Auslegung spricht nämlich allen nur denkbaren Zuständen gleichermaßen eine, wie ich's nennen möchte, physikalische Istheit zu, die wir von der persönlichen Seiheit unterscheiden müssen. Es existiert dann tatsächlich ein Universum, in dem das Atom zerfallen ist, und im selben Moment eines, in dem das Atom eben nicht zerfallen ist. Im ersten Kosmos öffnen wir also den Kasten und finden eine leblose Katze, im zweiten kommt sie uns schnurrend und putzmunter entgegen.
Unsere Erinnerungen und das, was wir als Realität wahrnehmen, entsprechen nur einer von unzähligen vorstellbaren und entsprechend verwirklichten Geschichten des Universums.
Diese Janusköpfigkeit, die in jedem Paradoxon steckt, beispielsweise im außerordentlich bekannten ich lüge gerade, gefällt mir sehr. Das Leben betrügt uns, da wir's nicht ergründen können. Ich - und nun, Freund, spreche ich nur von mir selbst -, ich bin gleichzeitig und bin eben gleichzeitig nicht. Ich weiß, dass ich nicht gewesen bin und nicht sein werde, was mich nicht vom da-sein abhält, aber mein Sein maßgeblich beeinflusst. Wie kann ich jetzt sein, aber in der Zukunft nicht? Wie kann ich jetzt sein, aber in der Vergangenheit nicht? Wie die Katze bin ich gleichzeitig tot und lebendig. Ich bin parallel erfolgreich und ein Versager.
Möglicherweise, um die Idee des Doppelten noch anschaulicher zu machen, ist der Schlaf eine Art von Zustandsbeschreibung für das Ich-Sein und Nicht-Ich-Sein. Wir sind sowohl in der einen (Schlaf) wie in der anderen (Wachsein) Welt.
Ob das den Tod erklärt? Und ob das, was mich mehr beschäftigt, den Tod als Zustand erleichtert (ich bin, also bin ich; und bin ich nicht, bin ich eben nicht), wie's Simone de Beauvoir in ihrer wunderbaren Autobiographie für ihren Umgang mit dem Tod entschieden hat?
Lassen Sie mich nur noch kurz anfügen, dass heißes Wasser unter bestimmten Bedingungen schneller als kaltes Wasser gefriert.
23. Mai
144.
Mit der fremden Angelegenheit auftreten, um mit der seinigen abzuziehn. Es ist ein schlaues Mittel zum Zweck: allein sogar in den Angelegenheiten des Himmels schärfen christliche Lehrer den Gebrauch dieser List ein. Es ist eine wichtige Verstellung: denn der vorgehaltene Vortheil dient als Lockspeise, den fremden Willen zu leiten: diesem scheint seine Angelegenheit betrieben zu werden, und doch ist sie nur da, fremdem Vorhaben den Weg zu öffnen. Man muß nie unüberlegt vorschreiten, am wenigsten, wo der Grund gefährlich ist. Ferner auch bei Leuten, deren erstes Wort Nein zu seyn pflegt, ist es räthlich, diesem Schuß auszubeugen, und ihnen die Schwierigkeit des verlangten Zugeständnisses zu verbergen, noch viel mehr aber wo ihnen gar die Umgestaltung schon ahnden könnte. – Dieser Rath gehört zu denen der »zweiten Absicht« (Nr. 13), welche sämmtlich von der äußersten Feinheit sind.
Sich ein trojanisches Meinungspferd zu halten, Freund, das raten Sie hier, oder etwa nicht? Wir schmuggeln uns, unter falschen Vorgaben, zu einer Party ein. Trinken und essen uns voll. Stellen gewieft Sichtweisefallen auf. Flüstern hinter vorgehaltener Hand Bemerkungen zu Leuten, die wir auf unsere Seite ziehen wollen, von denen wir glauben, dass sie uns gewogen sein könnten oder dass wir sie uns mittels unlauterer Versprechen und Geschenke gewogen machen könnten. Wir schmeicheln uns bei unseren Gegnerinnen und Gegnern, unseren Widersacherinnen und Widersachern oder einfach den Andersdenkenden ein, indem wir ihnen nach den Mund reden, unsere eigentlichen Meinungen verschweigen und lügen, bis sich die Balken biegen. Interessant.
Sie sagen allerdings nicht genau, Freund, warum Sie den fremden Willen brechen wollen. Andererseits, je mehr ich darüber nachdenke, in einer Sache erwähnen Sie die Absichten der Trojanerinnen und Trojaner: Religion. Sie und Ihresgleichen kommen, um Ihren Glauben zu verbreiten, Menschen zu konvertieren und anderen Glauben auszrotten. Ein bewährtes Mittel, um lange an der Macht zu bleiben, die eigenen kapitalistischen und ideologischen Ziele durchzuboxen. Gewiss, ein paar Naive mag's gegeben haben, die ums vermeintliche Seelenheil wegen in die Fremde gezogen und tatsächlich davon überzeugt gewesen sind, dort den wahren Glauben zu verbreiten. Die meisten Eroberinnen und Erober benutzten und benutzen - keine Angst, so gut wie nichts hat sich heutzutage geändert, Ihre Methoden finden weiterhin großen Anklang - spirituelle Etiketten, um kapitalistische Besitzverhältnisse durchzusetzen.
Kämen Sie mit der Absicht, einem Diktator das Handwerk zu legen, Freund, hätte ich nichts gegen eine vorgespielte Haltung; allerdings nur, wenn die ehrliche Gegenüberstellung zuvor nichts gebracht hat.
Per se zu lügen, zeugt sowohl von einem Mangel an Gewissen als auch der Einsicht, dass die Wahrheit, die wir im Gepäck haben, widerlich und abstoßend ist. Sich zum Botschafter oder zur Botschafterin des Bösen zu machen, beschädigt nicht nur andere, sondern vor allen Dingen uns selbst.
Ich halte es, was nicht leicht ist, mit Adorno, der gesagt hat, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe.
24. Mai
Mit der fremden Angelegenheit auftreten, um mit der seinigen abzuziehn. Es ist ein schlaues Mittel zum Zweck: allein sogar in den Angelegenheiten des Himmels schärfen christliche Lehrer den Gebrauch dieser List ein. Es ist eine wichtige Verstellung: denn der vorgehaltene Vortheil dient als Lockspeise, den fremden Willen zu leiten: diesem scheint seine Angelegenheit betrieben zu werden, und doch ist sie nur da, fremdem Vorhaben den Weg zu öffnen. Man muß nie unüberlegt vorschreiten, am wenigsten, wo der Grund gefährlich ist. Ferner auch bei Leuten, deren erstes Wort Nein zu seyn pflegt, ist es räthlich, diesem Schuß auszubeugen, und ihnen die Schwierigkeit des verlangten Zugeständnisses zu verbergen, noch viel mehr aber wo ihnen gar die Umgestaltung schon ahnden könnte. – Dieser Rath gehört zu denen der »zweiten Absicht« (Nr. 13), welche sämmtlich von der äußersten Feinheit sind.
Sich ein trojanisches Meinungspferd zu halten, Freund, das raten Sie hier, oder etwa nicht? Wir schmuggeln uns, unter falschen Vorgaben, zu einer Party ein. Trinken und essen uns voll. Stellen gewieft Sichtweisefallen auf. Flüstern hinter vorgehaltener Hand Bemerkungen zu Leuten, die wir auf unsere Seite ziehen wollen, von denen wir glauben, dass sie uns gewogen sein könnten oder dass wir sie uns mittels unlauterer Versprechen und Geschenke gewogen machen könnten. Wir schmeicheln uns bei unseren Gegnerinnen und Gegnern, unseren Widersacherinnen und Widersachern oder einfach den Andersdenkenden ein, indem wir ihnen nach den Mund reden, unsere eigentlichen Meinungen verschweigen und lügen, bis sich die Balken biegen. Interessant.
Sie sagen allerdings nicht genau, Freund, warum Sie den fremden Willen brechen wollen. Andererseits, je mehr ich darüber nachdenke, in einer Sache erwähnen Sie die Absichten der Trojanerinnen und Trojaner: Religion. Sie und Ihresgleichen kommen, um Ihren Glauben zu verbreiten, Menschen zu konvertieren und anderen Glauben auszrotten. Ein bewährtes Mittel, um lange an der Macht zu bleiben, die eigenen kapitalistischen und ideologischen Ziele durchzuboxen. Gewiss, ein paar Naive mag's gegeben haben, die ums vermeintliche Seelenheil wegen in die Fremde gezogen und tatsächlich davon überzeugt gewesen sind, dort den wahren Glauben zu verbreiten. Die meisten Eroberinnen und Erober benutzten und benutzen - keine Angst, so gut wie nichts hat sich heutzutage geändert, Ihre Methoden finden weiterhin großen Anklang - spirituelle Etiketten, um kapitalistische Besitzverhältnisse durchzusetzen.
Kämen Sie mit der Absicht, einem Diktator das Handwerk zu legen, Freund, hätte ich nichts gegen eine vorgespielte Haltung; allerdings nur, wenn die ehrliche Gegenüberstellung zuvor nichts gebracht hat.
Per se zu lügen, zeugt sowohl von einem Mangel an Gewissen als auch der Einsicht, dass die Wahrheit, die wir im Gepäck haben, widerlich und abstoßend ist. Sich zum Botschafter oder zur Botschafterin des Bösen zu machen, beschädigt nicht nur andere, sondern vor allen Dingen uns selbst.
Ich halte es, was nicht leicht ist, mit Adorno, der gesagt hat, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe.
24. Mai
145.
Nicht den schlimmen Finger zeigen: denn sonst trifft Alles dahin; nicht über ihn klagen: denn immer klopft die Bosheit dahin, wo es der Schwäche wehe thut. Sich zu erzürnen, würde zu nichts dienen, als den Spaaß der Unterhaltung zu erhöhen. Die böse Absichtlichkeit schleicht umher, nach Gebrechen suchend, die sie aufdecken könnte, sie schlägt mit Ruthen, die Empfindung zu prüfen, und wird den Versuch tausend Mal machen, bis sie die wunde Stelle gefunden hat. Der Aufmerksame zeige nie, daß er getroffen sei, und decke sein persönliches oder erbliches Uebel niemals auf. Denn sogar das Schicksal selbst findet zuweilen Gefallen daran, uns grade da zu betrüben, wo es am meisten wehe thut. Stets treffen seine Schläge auf die wunde Stelle: daher offenbare man weder was schmerzt, noch was erfreut, damit das Eine ende, das Andre verharre.
Epiktet behauptet, der Weg zum Glück bestehe darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entziehe. Andersherum gesagt, Freund, was meine Schlussfolgerung aus dieser Behauptung ist: kümmerten wir uns um alles, worauf wir Einfluss hätten, wären wir auf dem Glückspfad unterwegs.
Mir scheint, dass Sie eben ausgesprochen stoisch argumentiert haben. Wir sollen das Böse wegstecken, raten Sie, obwohl wir von ihm wissen. Eigentlich sollen wir's verheimlichen, da wir von ihm wissen. Legt nun jemand den Finger in die Wunde, was, so ist's halt, schmerzt, müsste sie oder er sich, zusätzlich, folgten wir Ihrer Empfehlung, noch auf die Zunge beißen, um bloß nicht preiszugeben, was an sich kaum auszuhalten ist. Denn, das ist wohl eindeutig, von banalen Wehwehchen reden wir hier nicht. Es geht um den wesentlichen Schmerz, der uns im Innersten berührt und auseinanderreißt, der an uns zerrt, uns nicht verlässt, nicht in uns schlummert, sondern regelrecht wütet. Wär's nicht richtig und vernünftig, sich selbst und anderen darüber Rechenschaft abzulegen, welche Pein wir aushalten müssen?
Gestern, Freund, hatte ich, im Büro, ein eher unangenehmes Gespräch. Man hat mich persönlich attackiert. Der Anlass? Das Video eines YouTubers, der präzise herausstellt, wie die derzeitigen Regierungsparteien, CDU, CSU und SPD, die Klimakatastrophe, von Wandel zu sprechen wäre eine unlautere Verniedlichung, verschlafen. Und der auch herrausstellt, dass sich die Schere zwischen Reich und Arm unter der Regentschaft der Konservativen, trotz aller Versprechen, nicht verringert hat. In meinem Land entscheidet die Klassenzugehörigkeit immer noch häufig darüber, ob Jungen oder Mädchen aufs Gymnasium gehen können und damit die Chance haben, später zu studieren. Dieser Influencer hat's auf jeden Fall geschafft, dass mehrere Millionen Menschen seine einstündige Abrechnung mit den Parteien der Großen Koalition, die nicht mehr so groß ist, gesehen und geteilt haben und sich, wenige Tage vor der Europawahl, für Politik interessieren. Die erwähnte Attacke kam nun von einem Kollegen, der, erstens, nicht aushalten kann, dass die Fridays for Future-Bewegung, also die jungen Klimaschützerinnen und Klimaschützer, die sich an einem Tag der Woche lieber Gehör verschaffen - mir haben kürzlich Achtjährige im Berliner Invalidenpark, zwischen Verkehrs- und Wirtschaftsministerium, entgegengeschmettert: wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut -, der, erstens, nicht aushalten kann, dass die Fridays for Future-Bewegung für einen vernünftigen Umgang mit unserem Planeten demonstriert, als stumm und ergeben im Klassenzimmer zu sitzen, und der, zweitens, nicht aushalten kann, dass ich allmählich mein Leben als Klimasünder verändere und darüber auch mit anderen spreche. Mein Kollege ging mich frontal an, da ich mich, so sein genau kalkulierter Vorwurf, des Ablasshandels schuldig machen würde, wie früher die Katholiken, wenn ich nach einer Flugreise Geld für die CO2-Kompensation bezahlte. Ja, das sei nicht perfekt, habe ich geantwortet, aber immerhin noch besser, als gar nichts zu machen, sogar, wie in seinem Falle, das im Moment eher kühle Wetter als Beweis gegen eine Klimakatastrophe anzuführen, die gesamten Studien also aufgrund eines kälteren Regentages im Mai wegzuwischen. Was zwar überraschend naiv, aber nicht nasty klingt, Freund, war jedoch, dank des aggressiven Tons, den sich mein Kollege - übrigens mein direkter Vorgesetzter, mit dem ich mich permanent über Toleranz und Einwanderung streite - erlaubt hat, war jedoch ein direkter Angriff auf meine Gutmensch-Schwachstelle. Ich bin als an sich selbst zweifelnder Moralist bekannt und nicht bereit, diese offene Flanke - ihr seid doch in Wahrheit die Schlimmsten: Flagellanten, die uns ein schlechtes Gewissen einreden wollen! - aufzugeben. Es stimmt, ich schmeiße Steine auf mich selbst. Warum sollte ich mich auch von der Kritik ausnehmen?
Das Gute kommt nicht aus dem Nichts, häufig kommt's leider allein aus der Verneinung des Bösen.
Wer ständig die Schmerzgrenze überschreitet, aber keine Hilfe sucht, erlaubt dem Leid die Machtübernahme. Was für uns als Einzelperson gilt, hat selbstverständlich gleichfalls eine maßgebliche Bedeutung für die Gesellschaft, in der wir leben.
Im Pein der anderen, vor dem wir willkürlich unsere Augen verschließen, wohnt unser eigener Schmerz.
Vom Bösen nicht zu sprechen, um Freundinnen und Freunde nicht zu verletzen, sei eine Sache, über die man im Einzelfall entscheiden sollte. Das Böse, das sich ihrer bemächtigt hat, sei's körperlich, sei's geistig, nicht zu erwähnen, obwohl wir's bemerken, stellt dagegen eine unterlassene Hilfeleistung dar. Eine Untat, für die wir selbst leiden werden, da sie uns demnächst schwer auf der Seele liegen dürfte.
25. Mai
Nicht den schlimmen Finger zeigen: denn sonst trifft Alles dahin; nicht über ihn klagen: denn immer klopft die Bosheit dahin, wo es der Schwäche wehe thut. Sich zu erzürnen, würde zu nichts dienen, als den Spaaß der Unterhaltung zu erhöhen. Die böse Absichtlichkeit schleicht umher, nach Gebrechen suchend, die sie aufdecken könnte, sie schlägt mit Ruthen, die Empfindung zu prüfen, und wird den Versuch tausend Mal machen, bis sie die wunde Stelle gefunden hat. Der Aufmerksame zeige nie, daß er getroffen sei, und decke sein persönliches oder erbliches Uebel niemals auf. Denn sogar das Schicksal selbst findet zuweilen Gefallen daran, uns grade da zu betrüben, wo es am meisten wehe thut. Stets treffen seine Schläge auf die wunde Stelle: daher offenbare man weder was schmerzt, noch was erfreut, damit das Eine ende, das Andre verharre.
Epiktet behauptet, der Weg zum Glück bestehe darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entziehe. Andersherum gesagt, Freund, was meine Schlussfolgerung aus dieser Behauptung ist: kümmerten wir uns um alles, worauf wir Einfluss hätten, wären wir auf dem Glückspfad unterwegs.
Mir scheint, dass Sie eben ausgesprochen stoisch argumentiert haben. Wir sollen das Böse wegstecken, raten Sie, obwohl wir von ihm wissen. Eigentlich sollen wir's verheimlichen, da wir von ihm wissen. Legt nun jemand den Finger in die Wunde, was, so ist's halt, schmerzt, müsste sie oder er sich, zusätzlich, folgten wir Ihrer Empfehlung, noch auf die Zunge beißen, um bloß nicht preiszugeben, was an sich kaum auszuhalten ist. Denn, das ist wohl eindeutig, von banalen Wehwehchen reden wir hier nicht. Es geht um den wesentlichen Schmerz, der uns im Innersten berührt und auseinanderreißt, der an uns zerrt, uns nicht verlässt, nicht in uns schlummert, sondern regelrecht wütet. Wär's nicht richtig und vernünftig, sich selbst und anderen darüber Rechenschaft abzulegen, welche Pein wir aushalten müssen?
Gestern, Freund, hatte ich, im Büro, ein eher unangenehmes Gespräch. Man hat mich persönlich attackiert. Der Anlass? Das Video eines YouTubers, der präzise herausstellt, wie die derzeitigen Regierungsparteien, CDU, CSU und SPD, die Klimakatastrophe, von Wandel zu sprechen wäre eine unlautere Verniedlichung, verschlafen. Und der auch herrausstellt, dass sich die Schere zwischen Reich und Arm unter der Regentschaft der Konservativen, trotz aller Versprechen, nicht verringert hat. In meinem Land entscheidet die Klassenzugehörigkeit immer noch häufig darüber, ob Jungen oder Mädchen aufs Gymnasium gehen können und damit die Chance haben, später zu studieren. Dieser Influencer hat's auf jeden Fall geschafft, dass mehrere Millionen Menschen seine einstündige Abrechnung mit den Parteien der Großen Koalition, die nicht mehr so groß ist, gesehen und geteilt haben und sich, wenige Tage vor der Europawahl, für Politik interessieren. Die erwähnte Attacke kam nun von einem Kollegen, der, erstens, nicht aushalten kann, dass die Fridays for Future-Bewegung, also die jungen Klimaschützerinnen und Klimaschützer, die sich an einem Tag der Woche lieber Gehör verschaffen - mir haben kürzlich Achtjährige im Berliner Invalidenpark, zwischen Verkehrs- und Wirtschaftsministerium, entgegengeschmettert: wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut -, der, erstens, nicht aushalten kann, dass die Fridays for Future-Bewegung für einen vernünftigen Umgang mit unserem Planeten demonstriert, als stumm und ergeben im Klassenzimmer zu sitzen, und der, zweitens, nicht aushalten kann, dass ich allmählich mein Leben als Klimasünder verändere und darüber auch mit anderen spreche. Mein Kollege ging mich frontal an, da ich mich, so sein genau kalkulierter Vorwurf, des Ablasshandels schuldig machen würde, wie früher die Katholiken, wenn ich nach einer Flugreise Geld für die CO2-Kompensation bezahlte. Ja, das sei nicht perfekt, habe ich geantwortet, aber immerhin noch besser, als gar nichts zu machen, sogar, wie in seinem Falle, das im Moment eher kühle Wetter als Beweis gegen eine Klimakatastrophe anzuführen, die gesamten Studien also aufgrund eines kälteren Regentages im Mai wegzuwischen. Was zwar überraschend naiv, aber nicht nasty klingt, Freund, war jedoch, dank des aggressiven Tons, den sich mein Kollege - übrigens mein direkter Vorgesetzter, mit dem ich mich permanent über Toleranz und Einwanderung streite - erlaubt hat, war jedoch ein direkter Angriff auf meine Gutmensch-Schwachstelle. Ich bin als an sich selbst zweifelnder Moralist bekannt und nicht bereit, diese offene Flanke - ihr seid doch in Wahrheit die Schlimmsten: Flagellanten, die uns ein schlechtes Gewissen einreden wollen! - aufzugeben. Es stimmt, ich schmeiße Steine auf mich selbst. Warum sollte ich mich auch von der Kritik ausnehmen?
Das Gute kommt nicht aus dem Nichts, häufig kommt's leider allein aus der Verneinung des Bösen.
Wer ständig die Schmerzgrenze überschreitet, aber keine Hilfe sucht, erlaubt dem Leid die Machtübernahme. Was für uns als Einzelperson gilt, hat selbstverständlich gleichfalls eine maßgebliche Bedeutung für die Gesellschaft, in der wir leben.
Im Pein der anderen, vor dem wir willkürlich unsere Augen verschließen, wohnt unser eigener Schmerz.
Vom Bösen nicht zu sprechen, um Freundinnen und Freunde nicht zu verletzen, sei eine Sache, über die man im Einzelfall entscheiden sollte. Das Böse, das sich ihrer bemächtigt hat, sei's körperlich, sei's geistig, nicht zu erwähnen, obwohl wir's bemerken, stellt dagegen eine unterlassene Hilfeleistung dar. Eine Untat, für die wir selbst leiden werden, da sie uns demnächst schwer auf der Seele liegen dürfte.
25. Mai
146.
Ins Innere schauen: Man findet meistentheils die Dinge weit verschieden von dem, was sie schienen; und die Unwissenheit, welche nicht tiefer als die Rinde eingedrungen war, sieht, wann man zum Innern gelangt, ihre Täuschung schwinden. In Allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer unheilbaren Gemeinheit: die Wahrheit aber kommt immer zuletzt, langsam heranhinkend am Arm der Zeit: für sie bewahren daher die Klugen die andre Hälfte jener Fähigkeit auf, deren Werkzeug unsre gemeinsame Mutter uns weislich doppelt verliehen hat. Der Trug ist etwas sehr oberflächliches: daher treffen, die es selbst sind, gleich auf ihn. Das Wahre und Richtige aber lebt tief zurückgezogen und verborgen, um desto höher geschätzt zu werden von seinen Weisen und Klugen.
Großartig, Freund, wie bildmächtig Sie die Fake-Krux meiner Tage, um genau zu sein: den letzten Tag der Europawahl, zusammenfassen: In Allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer unheilbaren Gemeinheit.
Die Lügen sind, das haben sie an sich, seit jeher Legion. Was sich allerdings, betrachte ich die Medien Ihrer und die meiner Zeit, verändert hat, sind die Verteilungsmöglichkeiten und die irrsinnige Geschwindigkeit, mit der sich Lügen ausbreiten. Aber das Allerseltsamste ist, wie sich gefühlte Wahrheiten als Tatsachen behaupten, obwohl es sowohl online als auch in gedruckten Zeitungen, Zeitschriften und Büchern reihenweise Gegenbeweise und Klarstellungen gibt. Wer möchte, hat Zugriff auf einen unermesslichen Wissensschatz, von dem Generationen vor uns nur träumen konnten. Allein, und ich komme auf diesen Begriff zurück, die gefühlte Wahrheit regiert oftmals den Austausch von Meinungen.
Welches Problem Tatsachen haben? Das uralte Dilemma: Fakten kann man schaffen, aber nicht als allgemein akzeptierte Wahrheit durchsetzen, wenn sie nicht an unseren Gefühlen rühren. Es klingt absurd, dennoch trauen viele von uns, auch wenn sie anderes behaupten, dem Es-fühlt-sich-wahr-an. Als würden wir von Instinkten geleitet, anstatt unseren Verstand zu benutzen. Als ginge es bei der Wahrheit um eine Art von Geschmack, den man goutieren oder als ungenießbar ablehnen kann.
Fake News, Freund, haben kein Innen. Es handelt sich bei den bewussten Falschmeldungen um reine Äußerlichkeiten, die sich überzeugend an der Oberfläche anbiedern, Inhalt vortäuschen und rasent schnell verkaufen. Bedienen falsche Wahrheiten starke Gefühle, haben Fake News eine extrem hohe Chance, sich im System kollektiver Symbole festzusetzen.
Die Populisten Europas schüren Angst vor den Anderen, weil sie Macht und sich bereichern wollen. Wie oft aus strammen Linken stramme Rechte geworden sind, und vice versa, lässt sich kaum zählen. Und schon gar nicht nachvollziehen. Gäbe es nicht den Machtfaktor. Das Extreme zieht Menschen an, weil es extrem viel Macht über andere Menschen verspricht.
Jede Orthodoxie definiert sich als allein selig machendes System.
Toleranz ist sowohl dem Nationalismus als auch dem Rassismus, Faschismus, Kommunismus, Kolonialismus und Hardcorekapitalismus fremd. Dass es eine erschreckend große Schnittmenge zwischen den antihumanistischen Denkweisen gibt, macht die Eingrenzung beinahe unmöglich. Die Intersektionalität greift selbstverständlich auch hier; deswegen ließe sich die Liste um Misogynie oder Muslimphobie oder Antisemitismus spielend erweitern, um nur drei weitere maßgebliche Machtformen zu erwähnen.
Die lebensfrohe und zur Liebe fähige Demokratie, die gerne mit sich selbst hadert, das schönste und schwierigste Kind der Aufklärung, steht heute, mal wieder, auf dem Prüfstand. Mir schlottern die Knie, Freund, denke ich an morgen, denke ich an die Zukunft eines Kontinents, der Kriege und unendliches Leid erlebt hat, aber, weiterhin, auf gefühlte Wahrheiten setzt.
26. Mai
Ins Innere schauen: Man findet meistentheils die Dinge weit verschieden von dem, was sie schienen; und die Unwissenheit, welche nicht tiefer als die Rinde eingedrungen war, sieht, wann man zum Innern gelangt, ihre Täuschung schwinden. In Allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer unheilbaren Gemeinheit: die Wahrheit aber kommt immer zuletzt, langsam heranhinkend am Arm der Zeit: für sie bewahren daher die Klugen die andre Hälfte jener Fähigkeit auf, deren Werkzeug unsre gemeinsame Mutter uns weislich doppelt verliehen hat. Der Trug ist etwas sehr oberflächliches: daher treffen, die es selbst sind, gleich auf ihn. Das Wahre und Richtige aber lebt tief zurückgezogen und verborgen, um desto höher geschätzt zu werden von seinen Weisen und Klugen.
Großartig, Freund, wie bildmächtig Sie die Fake-Krux meiner Tage, um genau zu sein: den letzten Tag der Europawahl, zusammenfassen: In Allem geht stets die Lüge voran, die Dummköpfe hinter sich ziehend am Seil ihrer unheilbaren Gemeinheit.
Die Lügen sind, das haben sie an sich, seit jeher Legion. Was sich allerdings, betrachte ich die Medien Ihrer und die meiner Zeit, verändert hat, sind die Verteilungsmöglichkeiten und die irrsinnige Geschwindigkeit, mit der sich Lügen ausbreiten. Aber das Allerseltsamste ist, wie sich gefühlte Wahrheiten als Tatsachen behaupten, obwohl es sowohl online als auch in gedruckten Zeitungen, Zeitschriften und Büchern reihenweise Gegenbeweise und Klarstellungen gibt. Wer möchte, hat Zugriff auf einen unermesslichen Wissensschatz, von dem Generationen vor uns nur träumen konnten. Allein, und ich komme auf diesen Begriff zurück, die gefühlte Wahrheit regiert oftmals den Austausch von Meinungen.
Welches Problem Tatsachen haben? Das uralte Dilemma: Fakten kann man schaffen, aber nicht als allgemein akzeptierte Wahrheit durchsetzen, wenn sie nicht an unseren Gefühlen rühren. Es klingt absurd, dennoch trauen viele von uns, auch wenn sie anderes behaupten, dem Es-fühlt-sich-wahr-an. Als würden wir von Instinkten geleitet, anstatt unseren Verstand zu benutzen. Als ginge es bei der Wahrheit um eine Art von Geschmack, den man goutieren oder als ungenießbar ablehnen kann.
Fake News, Freund, haben kein Innen. Es handelt sich bei den bewussten Falschmeldungen um reine Äußerlichkeiten, die sich überzeugend an der Oberfläche anbiedern, Inhalt vortäuschen und rasent schnell verkaufen. Bedienen falsche Wahrheiten starke Gefühle, haben Fake News eine extrem hohe Chance, sich im System kollektiver Symbole festzusetzen.
Die Populisten Europas schüren Angst vor den Anderen, weil sie Macht und sich bereichern wollen. Wie oft aus strammen Linken stramme Rechte geworden sind, und vice versa, lässt sich kaum zählen. Und schon gar nicht nachvollziehen. Gäbe es nicht den Machtfaktor. Das Extreme zieht Menschen an, weil es extrem viel Macht über andere Menschen verspricht.
Jede Orthodoxie definiert sich als allein selig machendes System.
Toleranz ist sowohl dem Nationalismus als auch dem Rassismus, Faschismus, Kommunismus, Kolonialismus und Hardcorekapitalismus fremd. Dass es eine erschreckend große Schnittmenge zwischen den antihumanistischen Denkweisen gibt, macht die Eingrenzung beinahe unmöglich. Die Intersektionalität greift selbstverständlich auch hier; deswegen ließe sich die Liste um Misogynie oder Muslimphobie oder Antisemitismus spielend erweitern, um nur drei weitere maßgebliche Machtformen zu erwähnen.
Die lebensfrohe und zur Liebe fähige Demokratie, die gerne mit sich selbst hadert, das schönste und schwierigste Kind der Aufklärung, steht heute, mal wieder, auf dem Prüfstand. Mir schlottern die Knie, Freund, denke ich an morgen, denke ich an die Zukunft eines Kontinents, der Kriege und unendliches Leid erlebt hat, aber, weiterhin, auf gefühlte Wahrheiten setzt.
26. Mai
147.
Nicht unzugänglich seyn. Keiner ist so vollkommen, daß er nicht zu Zeiten fremder Erinnerung bedürfte: von unheilbarem Unverstand ist, wer Niemanden anhören will. Sogar der Ueberlegenste soll freundschaftlichem Rathe Raum geben, und selbst die Königliche Macht darf nicht die Lenksamkeit ausschließen. Es giebt Leute, die rettungslos sind, weil sie sich Allem verschließen: sie stürzen sich ins Verderben, weil Keiner sich heranwagt, sie zurückzuhalten. Auch der Vorzüglichste soll der Freundschaft eine Thüre offen halten, und sie wird die der Hülfe werden. Ein Freund muß Freiheit haben, ohne Zurückhaltung zu rathen, ja zu tadeln. Diese Autorität muß ihm unsre Zufriedenheit und unsre hohe Meinung von seiner Treue und Verständigkeit erworben haben. Nicht Allen soll man leicht Berücksichtigung, oder auch nur Glauben schenken: aber im geheimen Innern seiner Vorsorge habe man einen treuen Spiegel, an einem Vertrauten, dem man Zurechtweisung und Zurückführung von Irrthümern verdanke und solche zu schätzen wisse.
Die Zurechtweisung, Freund, die anfangs selbstverständlich weit weniger angenehm als das Lob ist, wirkt doch viel länger und nachhaltiger ins Gute als selbiges. Denn jede Schmeichelei, auch die tiefgründigste, bleibt weit weniger im Gedächtnis haften als die angebrachte und gedankenreiche Kritk. Mal gründlich argumentativ abgewatscht zu werden, klärt sowohl Hirn als auch Herz.
Freundinnen und Freunde zu haben, heißt, fair beurteilt zu werden. Wer wichtige Mängel erkennt, aber nicht benennt, ist keine echte Freundin oder kein echter Freund. Bei unwichtigen Schwächen sieht die Sache allerdings anders aus. An jeder Kleinigkeit zu kritteln, tötet jede Freundschaft.
27. Mai
Nicht unzugänglich seyn. Keiner ist so vollkommen, daß er nicht zu Zeiten fremder Erinnerung bedürfte: von unheilbarem Unverstand ist, wer Niemanden anhören will. Sogar der Ueberlegenste soll freundschaftlichem Rathe Raum geben, und selbst die Königliche Macht darf nicht die Lenksamkeit ausschließen. Es giebt Leute, die rettungslos sind, weil sie sich Allem verschließen: sie stürzen sich ins Verderben, weil Keiner sich heranwagt, sie zurückzuhalten. Auch der Vorzüglichste soll der Freundschaft eine Thüre offen halten, und sie wird die der Hülfe werden. Ein Freund muß Freiheit haben, ohne Zurückhaltung zu rathen, ja zu tadeln. Diese Autorität muß ihm unsre Zufriedenheit und unsre hohe Meinung von seiner Treue und Verständigkeit erworben haben. Nicht Allen soll man leicht Berücksichtigung, oder auch nur Glauben schenken: aber im geheimen Innern seiner Vorsorge habe man einen treuen Spiegel, an einem Vertrauten, dem man Zurechtweisung und Zurückführung von Irrthümern verdanke und solche zu schätzen wisse.
Die Zurechtweisung, Freund, die anfangs selbstverständlich weit weniger angenehm als das Lob ist, wirkt doch viel länger und nachhaltiger ins Gute als selbiges. Denn jede Schmeichelei, auch die tiefgründigste, bleibt weit weniger im Gedächtnis haften als die angebrachte und gedankenreiche Kritk. Mal gründlich argumentativ abgewatscht zu werden, klärt sowohl Hirn als auch Herz.
Freundinnen und Freunde zu haben, heißt, fair beurteilt zu werden. Wer wichtige Mängel erkennt, aber nicht benennt, ist keine echte Freundin oder kein echter Freund. Bei unwichtigen Schwächen sieht die Sache allerdings anders aus. An jeder Kleinigkeit zu kritteln, tötet jede Freundschaft.
27. Mai
148.
Die Kunst der Unterhaltung besitzen: denn sie ist es, in der ein ganzer Mann sich producirt. Keine Beschäftigung im Leben erfordert größere Aufmerksamkeit: denn grade weil sie die gewöhnlichste ist, wird man durch sie sich heben oder stürzen. Ist Behutsamkeit nöthig, einen Brief zu schreiben, welches eine überlegte und schriftliche Unterhaltung ist; wie viel mehr bei der gewöhnlichen, in der die Klugheit eine unvorbereitete Prüfung zu bestehen hat. Die Erfahrenen fühlen der Seele den Puls an der Zunge, und deshalb sagte der Weise: sprich, damit ich dich sehe. Einige halten dafür, daß die Kunst der Unterhaltung grade darin bestehe, daß sie kunstlos sei, indem sie locker und lose, wie die Kleidung, seyn müsse: von der Unterhaltung zwischen genauen Freunden gilt dies wohl: allein, wann mit Leuten, die Rücksicht verdienen, geführt, muß sie gehaltvoller seyn, um eben vom Gehalt des Redenden Zeugniß zu geben. Um es recht zu treffen, muß man sich der Gemüthsart und dem Verstande des Mitredenden anpassen. Auch affektire man nicht, Worte zu kritisiren; sonst wird man für einen Grammatikus gehalten: noch weniger sei man der Fiskal der Gedanken; sonst werden Alle uns ihren Umgang entziehn und die Mittheilung theuer feil haben. Im Reden ist Diskretion viel wichtiger, als Beredsamkeit.
Was für ein Kompendium, Freund! Wer all Ihre angebrachten und empfehlenswerten Ratschläge beherzigen will, verstummt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Vademecum, welches zu umfangreich ist, genau das Gegenteil von dem erreicht, was es will.
Trinken wir Wasser, ist's gut für uns. Trinken wir zu viel Wasser, sterben wir.
Sogar gescheite Empfehlungen werden unvernünftig, kennen sie kein vernünftiges Maß.
Leichtes Gepäck hilft bei langen Wanderungen. Ein, zwei gute Bücher reichen, um voranzukommen. Wollen wir uns dagegen auf Dauer niederlassen, steht der Anschaffung einiger solider Bücherregale nichts im Wege.
Wer's mit dem Hochgefühl übertreibt, vertreibt, in aller Regel, selbst das Glück.
28. Mai
Die Kunst der Unterhaltung besitzen: denn sie ist es, in der ein ganzer Mann sich producirt. Keine Beschäftigung im Leben erfordert größere Aufmerksamkeit: denn grade weil sie die gewöhnlichste ist, wird man durch sie sich heben oder stürzen. Ist Behutsamkeit nöthig, einen Brief zu schreiben, welches eine überlegte und schriftliche Unterhaltung ist; wie viel mehr bei der gewöhnlichen, in der die Klugheit eine unvorbereitete Prüfung zu bestehen hat. Die Erfahrenen fühlen der Seele den Puls an der Zunge, und deshalb sagte der Weise: sprich, damit ich dich sehe. Einige halten dafür, daß die Kunst der Unterhaltung grade darin bestehe, daß sie kunstlos sei, indem sie locker und lose, wie die Kleidung, seyn müsse: von der Unterhaltung zwischen genauen Freunden gilt dies wohl: allein, wann mit Leuten, die Rücksicht verdienen, geführt, muß sie gehaltvoller seyn, um eben vom Gehalt des Redenden Zeugniß zu geben. Um es recht zu treffen, muß man sich der Gemüthsart und dem Verstande des Mitredenden anpassen. Auch affektire man nicht, Worte zu kritisiren; sonst wird man für einen Grammatikus gehalten: noch weniger sei man der Fiskal der Gedanken; sonst werden Alle uns ihren Umgang entziehn und die Mittheilung theuer feil haben. Im Reden ist Diskretion viel wichtiger, als Beredsamkeit.
Was für ein Kompendium, Freund! Wer all Ihre angebrachten und empfehlenswerten Ratschläge beherzigen will, verstummt. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ein Vademecum, welches zu umfangreich ist, genau das Gegenteil von dem erreicht, was es will.
Trinken wir Wasser, ist's gut für uns. Trinken wir zu viel Wasser, sterben wir.
Sogar gescheite Empfehlungen werden unvernünftig, kennen sie kein vernünftiges Maß.
Leichtes Gepäck hilft bei langen Wanderungen. Ein, zwei gute Bücher reichen, um voranzukommen. Wollen wir uns dagegen auf Dauer niederlassen, steht der Anschaffung einiger solider Bücherregale nichts im Wege.
Wer's mit dem Hochgefühl übertreibt, vertreibt, in aller Regel, selbst das Glück.
28. Mai
149.
Das Schlimme Andern aufzubürden verstehn. Ein Schild gegen das Mißwollen zu haben, ist eine große List der Regierenden. Sie entspringt nicht, wie Mißgünstige meynen, aus Unfähigkeit, vielmehr aus derhöhern Absicht, Jemanden zu haben, auf den der Tadel des Mißlingens und die Strafe allgemeiner Schmähungen zurückfalle. Alles kann nicht gut ablaufen, noch kann man Alle zufrieden stellen: daher habe man, wenn auch auf Kosten seines Stolzes, so einen Sündenbock, so einen Ausbader unglücklicher Unternehmungen.
Zunächst, Freund, zum praktischen Angang Ihres Sündenbock-Vorschlags. Eine menschliche Zielscheibe aufzustellen, um von den eigenen Fehlern ab- oder die Feindschaft, die uns entgegenschlägt, da wir in Charge sind, umzulenken, ist schlicht und einfach böswillig und deswegen nicht akzeptabel. Jede Regierung macht Fehler. Machte sie keine, wäre sie in der Opposition und unterbreitete nur Vorschläge, die sich theoretisch fantastisch anhörten, aber in der Realität, aus unterschiedlichen Gründen, nicht umsetzbar wären.
Wer weder mit Kritik noch Besserwissern umzugehen weiß, sollte kein öffentliches Amt anstreben. Macht hat ihren Preis, und einer davon ist, unter der Lupe zu liegen. Bei Fehlentscheidungen ich war das nicht, der oder die war's zu schreien, ist nicht nur kindisch, sondern amoralisch.
In einer Demokratie erwarten wir, dass unsere Regierungen Irrtümer begehen. Sie sind schließlich ein Abbild von uns. Wichtig ist, wie wir mit Fehlern umgehen. Wer alles unter den Teppich kehren will, errichtet sich selbst Stolperfallen, die ihm oder ihr das Genick brechen dürften. Das Versehen als Ausgangspunkt für eine zukünftige vernünftige Herangehensweise zu nutzen, sei die hohe Regierungskunst und die Anerkennung der simplen Tatsache, dass das Allgemeinwohl über der eigenen Eitelkeit steht.
Etwas anders sieht's mit der Kunst aus. Caspar David Friedrichs Mönch am Meer stellt für viele von uns den Inbegriff des modernen Menschen dar: einsam und verlassen, den Naturgewalten ausgeliefert, eine existenzialistische Gestalt. Nun haben Analysen des Bildes gezeigt, dass der Maler ursprünglich drei Segelschiffe auf der Leinwand hatte, die er später übertüncht hat. Diese abgedeckten Schiffe, gleichzeitig da und nicht da, verstehe ich, Freund, als artistische Sündenböcke. Sie waren, vielleicht, ursprünglich vorhanden, da Friedrich die Urangst, die wir in dem Bild lesen, die (un)romantische Urangst vorm Fürsichsein zu viel gewesen sein könnte. Er brauchte und brauchte gleichzeitig nicht eine Zielscheibe für das Bedrohungsgefühl, die Welt nicht aushalten zu können. Die Segelschiffe hätten als Blitzableiter gedient, als Hoffnungsschimmer, als Symbol für die Gesellschaft, die sich den Gewalten stellt, aber sie hätten die Komposition auch zerstört, wesentlich schwächer und herkömmlicher gemacht. Der Künstler wollte und wollte diese Sündenböcke. Also hat er sie gemalt und wieder übermalt.
Das Palimpsest sei unser Schild gegen das Üble. Wir tragen's, als Stärke, als Signal, als Seelenkraft, in uns, ohne auf andere zurückgreifen zu müssen.
29. Mai
Das Schlimme Andern aufzubürden verstehn. Ein Schild gegen das Mißwollen zu haben, ist eine große List der Regierenden. Sie entspringt nicht, wie Mißgünstige meynen, aus Unfähigkeit, vielmehr aus derhöhern Absicht, Jemanden zu haben, auf den der Tadel des Mißlingens und die Strafe allgemeiner Schmähungen zurückfalle. Alles kann nicht gut ablaufen, noch kann man Alle zufrieden stellen: daher habe man, wenn auch auf Kosten seines Stolzes, so einen Sündenbock, so einen Ausbader unglücklicher Unternehmungen.
Zunächst, Freund, zum praktischen Angang Ihres Sündenbock-Vorschlags. Eine menschliche Zielscheibe aufzustellen, um von den eigenen Fehlern ab- oder die Feindschaft, die uns entgegenschlägt, da wir in Charge sind, umzulenken, ist schlicht und einfach böswillig und deswegen nicht akzeptabel. Jede Regierung macht Fehler. Machte sie keine, wäre sie in der Opposition und unterbreitete nur Vorschläge, die sich theoretisch fantastisch anhörten, aber in der Realität, aus unterschiedlichen Gründen, nicht umsetzbar wären.
Wer weder mit Kritik noch Besserwissern umzugehen weiß, sollte kein öffentliches Amt anstreben. Macht hat ihren Preis, und einer davon ist, unter der Lupe zu liegen. Bei Fehlentscheidungen ich war das nicht, der oder die war's zu schreien, ist nicht nur kindisch, sondern amoralisch.
In einer Demokratie erwarten wir, dass unsere Regierungen Irrtümer begehen. Sie sind schließlich ein Abbild von uns. Wichtig ist, wie wir mit Fehlern umgehen. Wer alles unter den Teppich kehren will, errichtet sich selbst Stolperfallen, die ihm oder ihr das Genick brechen dürften. Das Versehen als Ausgangspunkt für eine zukünftige vernünftige Herangehensweise zu nutzen, sei die hohe Regierungskunst und die Anerkennung der simplen Tatsache, dass das Allgemeinwohl über der eigenen Eitelkeit steht.
Etwas anders sieht's mit der Kunst aus. Caspar David Friedrichs Mönch am Meer stellt für viele von uns den Inbegriff des modernen Menschen dar: einsam und verlassen, den Naturgewalten ausgeliefert, eine existenzialistische Gestalt. Nun haben Analysen des Bildes gezeigt, dass der Maler ursprünglich drei Segelschiffe auf der Leinwand hatte, die er später übertüncht hat. Diese abgedeckten Schiffe, gleichzeitig da und nicht da, verstehe ich, Freund, als artistische Sündenböcke. Sie waren, vielleicht, ursprünglich vorhanden, da Friedrich die Urangst, die wir in dem Bild lesen, die (un)romantische Urangst vorm Fürsichsein zu viel gewesen sein könnte. Er brauchte und brauchte gleichzeitig nicht eine Zielscheibe für das Bedrohungsgefühl, die Welt nicht aushalten zu können. Die Segelschiffe hätten als Blitzableiter gedient, als Hoffnungsschimmer, als Symbol für die Gesellschaft, die sich den Gewalten stellt, aber sie hätten die Komposition auch zerstört, wesentlich schwächer und herkömmlicher gemacht. Der Künstler wollte und wollte diese Sündenböcke. Also hat er sie gemalt und wieder übermalt.
Das Palimpsest sei unser Schild gegen das Üble. Wir tragen's, als Stärke, als Signal, als Seelenkraft, in uns, ohne auf andere zurückgreifen zu müssen.
29. Mai