150.
Seine Sachen herauszustreichen verstehn. Der innere Werth derselben reicht nicht aus: denn nicht Alle dringen bis auf den Kern, oder schauen ins Innere: vielmehr laufen die Meisten dahin, wo schon ein Zusammenlauf ist, und gehn, weil sie Andre gehen sehn. Ein großer Theil der Kunst besteht darin, seine Sache in Ansehn zu bringen, bald durch Anpreisen, denn Lob erregt Begierde; bald durch eine vortreffliche Benennung, welche einer hohen Meinung sehr förderlich ist; wobei jedoch alle Affektation zu vermeiden. Ferner ist ein allgemeines Anregungsmittel, sie bloß für die Einsichtigen zu bestimmen, da Alle sich für solche halten, und wenn etwa nicht, dann der gefühlte Mangel den Wunsch erregen wird. Hingegen muß man nie seinen Gegenstand als leicht oder gewöhnlich empfehlen, wodurch er mehr herabgesetzt als erleichtert wird: nach dem Ungewöhnlichen haschen Alle, weil es für den Geschmack wie für den Verstand anziehender ist.
Es existieren genügend Augenblicke, Freund, in denen mir die kleingültige Marginalität zum Hals heraushängt und ich mir vorstelle, als Verpackungskünstler mit Zampano-Attitüde - sagen wir: eine nachdenklich vergnügte Mischung aus Jeff Koons und Christo - erfolgreich zu sein.
Erfolg hat den Vorteil, und hier haben Sie recht, dass er per se weitere Aufmerksamkeit generiert. Kommt der Stein ins Rollen, gerade am abschüssigen Gelände, reißt er halt manch andere Sache mit. Was logischerweise die Aufprallkraft erhöht - einerseits also Aufmerksamkeit sichert, andererseits auch zerstörerisch wirken kann.
Jeder Triumph hat seinen Preis, der sich nicht sofort offenbart. Wer ungestüm das wohlbekannte Geheul anstimmt, sobald der Gipfel erreicht ist, wird sich beim schwierigen Abstieg ins Gewittertal wundern, wie wenige hilfreiche Hände ausgestreckt werden.
Mit einer Sache, Freund, liegen Sie mehr als richtig: niemand von uns will das Gewöhnliche, auch wenn's das Bessere für uns wäre. Die Risiken des Außergewöhnlichen regen die Fantasie an. Werden die Träume dann Wirklichkeit, zeigt sich schnell, wer sich aufs Besondere vorbereitet hat und wer nicht. Passen Form und Inhalt nicht, helfen eben weder Sturheit noch Anspruchsdenken, sondern nur die seltene Fähigkeit zur Veränderung.
In mir selbst bin ich unbeweglicher als gedacht. Werde ich zu sehr gebeugt, breche ich womöglich auf immerdar entzwei.
30. Mai
Seine Sachen herauszustreichen verstehn. Der innere Werth derselben reicht nicht aus: denn nicht Alle dringen bis auf den Kern, oder schauen ins Innere: vielmehr laufen die Meisten dahin, wo schon ein Zusammenlauf ist, und gehn, weil sie Andre gehen sehn. Ein großer Theil der Kunst besteht darin, seine Sache in Ansehn zu bringen, bald durch Anpreisen, denn Lob erregt Begierde; bald durch eine vortreffliche Benennung, welche einer hohen Meinung sehr förderlich ist; wobei jedoch alle Affektation zu vermeiden. Ferner ist ein allgemeines Anregungsmittel, sie bloß für die Einsichtigen zu bestimmen, da Alle sich für solche halten, und wenn etwa nicht, dann der gefühlte Mangel den Wunsch erregen wird. Hingegen muß man nie seinen Gegenstand als leicht oder gewöhnlich empfehlen, wodurch er mehr herabgesetzt als erleichtert wird: nach dem Ungewöhnlichen haschen Alle, weil es für den Geschmack wie für den Verstand anziehender ist.
Es existieren genügend Augenblicke, Freund, in denen mir die kleingültige Marginalität zum Hals heraushängt und ich mir vorstelle, als Verpackungskünstler mit Zampano-Attitüde - sagen wir: eine nachdenklich vergnügte Mischung aus Jeff Koons und Christo - erfolgreich zu sein.
Erfolg hat den Vorteil, und hier haben Sie recht, dass er per se weitere Aufmerksamkeit generiert. Kommt der Stein ins Rollen, gerade am abschüssigen Gelände, reißt er halt manch andere Sache mit. Was logischerweise die Aufprallkraft erhöht - einerseits also Aufmerksamkeit sichert, andererseits auch zerstörerisch wirken kann.
Jeder Triumph hat seinen Preis, der sich nicht sofort offenbart. Wer ungestüm das wohlbekannte Geheul anstimmt, sobald der Gipfel erreicht ist, wird sich beim schwierigen Abstieg ins Gewittertal wundern, wie wenige hilfreiche Hände ausgestreckt werden.
Mit einer Sache, Freund, liegen Sie mehr als richtig: niemand von uns will das Gewöhnliche, auch wenn's das Bessere für uns wäre. Die Risiken des Außergewöhnlichen regen die Fantasie an. Werden die Träume dann Wirklichkeit, zeigt sich schnell, wer sich aufs Besondere vorbereitet hat und wer nicht. Passen Form und Inhalt nicht, helfen eben weder Sturheit noch Anspruchsdenken, sondern nur die seltene Fähigkeit zur Veränderung.
In mir selbst bin ich unbeweglicher als gedacht. Werde ich zu sehr gebeugt, breche ich womöglich auf immerdar entzwei.
30. Mai
151.
Voraus denken, heute auf morgen und noch auf viele Tage. Die größte Vorsicht ist, daß man der Sorge und Ueberlegung besondre Stunden bestimme. Für den Behutsamen giebt es keine Unfälle und für den Aufmerksamen keine Gefahren. Man soll nicht das Denken verschieben, bis man im Sumpfe bis an den Hals steckt, es muß zum voraus geschehn. Durch die wiederholte und gereifte Ueberlegung komme man überall dem äußersten Mißgeschick zuvor. Das Kopfkissen ist eine stumme Sibylle; und sein Beginnen vorher beschlafen, ist besser, als nachmals darüber schlaflos liegen. Manche handeln erst, und denken nachher, welches heißt, weniger auf die Folgen, als auf die Entschuldigungen bedacht seyn; Andre weder vorher noch nachher. Das ganze Leben muß ein fortgesetztes Denken seyn, damit man des rechten Weges nicht verfehle. Wiederholte Ueberlegung und Vorsicht machen es möglich, unsern Lebenslauf zum Voraus zu bestimmen.
Mit Verlaub, Freund, Sie kommen selbst sibyllinisch in diesen runden Sätzen daher. Sätze, die sich wie ein gemütlicher Kokon anschmiegen und die Gefahren der Welt, die hungrig unserer harren, weitsichtig abfedern. Bei Ihnen bin ich, natürlich bin ich bei Ihnen, kommt's zum Vorabdenken, kommt's zum umfassenden Planen. Und doch, Sie wissen's so gut wie wir alle, das Leben ist eckig, zwingt uns zum abrupten Abbiegen, schmeißt uns, auch das, obwohl wir weder zu schnell fahren noch andere ärgern, schmeißt uns mit einer Verve und Gleichgültigkeit aus der Kurve, die uns, buchstäblich umhaut. Versicherungen und Horoskopfabriken machen mit diesen Ad-hoc-Szenarien lukrative Geschäfte. Allein, vernünftig absichern können wir uns nicht, leider.
Das Schicksal nimmt unsere Vorsicht weniger ernst, als es uns passt, und dem Tod ist die Bedachtsamkeit gar vollkommen einerlei.
Alles zu planen, hält vom spontanen Glück ab. Läd uns die Freude zum Tanz, wär's dumm, den Moment des Entzückens zu versäumen.
31. Mai
Voraus denken, heute auf morgen und noch auf viele Tage. Die größte Vorsicht ist, daß man der Sorge und Ueberlegung besondre Stunden bestimme. Für den Behutsamen giebt es keine Unfälle und für den Aufmerksamen keine Gefahren. Man soll nicht das Denken verschieben, bis man im Sumpfe bis an den Hals steckt, es muß zum voraus geschehn. Durch die wiederholte und gereifte Ueberlegung komme man überall dem äußersten Mißgeschick zuvor. Das Kopfkissen ist eine stumme Sibylle; und sein Beginnen vorher beschlafen, ist besser, als nachmals darüber schlaflos liegen. Manche handeln erst, und denken nachher, welches heißt, weniger auf die Folgen, als auf die Entschuldigungen bedacht seyn; Andre weder vorher noch nachher. Das ganze Leben muß ein fortgesetztes Denken seyn, damit man des rechten Weges nicht verfehle. Wiederholte Ueberlegung und Vorsicht machen es möglich, unsern Lebenslauf zum Voraus zu bestimmen.
Mit Verlaub, Freund, Sie kommen selbst sibyllinisch in diesen runden Sätzen daher. Sätze, die sich wie ein gemütlicher Kokon anschmiegen und die Gefahren der Welt, die hungrig unserer harren, weitsichtig abfedern. Bei Ihnen bin ich, natürlich bin ich bei Ihnen, kommt's zum Vorabdenken, kommt's zum umfassenden Planen. Und doch, Sie wissen's so gut wie wir alle, das Leben ist eckig, zwingt uns zum abrupten Abbiegen, schmeißt uns, auch das, obwohl wir weder zu schnell fahren noch andere ärgern, schmeißt uns mit einer Verve und Gleichgültigkeit aus der Kurve, die uns, buchstäblich umhaut. Versicherungen und Horoskopfabriken machen mit diesen Ad-hoc-Szenarien lukrative Geschäfte. Allein, vernünftig absichern können wir uns nicht, leider.
Das Schicksal nimmt unsere Vorsicht weniger ernst, als es uns passt, und dem Tod ist die Bedachtsamkeit gar vollkommen einerlei.
Alles zu planen, hält vom spontanen Glück ab. Läd uns die Freude zum Tanz, wär's dumm, den Moment des Entzückens zu versäumen.
31. Mai
152.
Nie sich zu dem gesellen, durch den man in den Schatten gestellt wird; sei es dadurch, daß er über uns, oder daß er unter uns stehe. Größre Vorzüge finden größre Verehrung: da wird der Andre immer die Hauptrolle spielen, wir die zweite: bleibt für uns ja noch einige Werthschätzung; so ist es, was er übrig läßt. Der Mond glänzt, so lange er allein bei den Sternen ist: kommt die Sonne, wird er unscheinbar oder unsichtbar. Nie also schließe man sich dem an, durch den man verdunkelt, sondern dem, durch den man herausgehoben wird. Durch dieses Mittel konnte die kluge Fabula, beim Martial, schön erscheinen und glänzen, wegen der Häßlichkeit und des schlechten Anzuges ihrer Begleiterinnen. Eben so wenig aber soll man durch einen schlechten Kumpan sich in Gefahr setzen, und nicht auf Kosten seines eigenen Ansehens einen: Andern Ehre erzeigen. Ist man noch im Werden, so halte man sich zu den Ausgezeichneten; aber als gemachter Mann zu den Mittelmäßigen.
Old School, Freund, das, Pardon, sind Sie und Ihr hervorragender Translator. Sowohl bei Gender- als auch Gleichberechtigungsfragen. Die Idee der grundsätzlichen Ebenbürtigkeit empfinden Sie, im Hierarchischen fest verankert, als absurd. Sie, wie viele andere auch, gestern, jetzt und morgen, sind und bleiben in Skalen verliebt. Was zu einer Eskalierung der Einschätzung über Ihre Mitmenschen führt. Viele von uns haben heutzutage genug vom Raubtierkapitalismus und Leistungsdruck, von falschen Werten und ewigen Vorurteilen. Viele, die zum Geldmachdenken gezwungen werden, steigen von der Pyramide und bekennen sich zur Inklusion.
Der Mensch sei wie er sei. Seine Wertigkeit sei an sich.
Im Verständnis des Ist-So liegt eine nachhaltige, universelle Liebenswürdigkeit, die dem egozentrischen Ist-Nicht-So abgeht.
Verstehen Sie mich bitte richtig, denn, selbstverständlich, wissen wir alle um die Stärken und Schwächen, welche uns auszeichnen. Niemand ist naiv. Ja, Freund, Sie haben sich nicht verhört: Schwächen zeichnen uns aus. Wir haben bereits darüber gesprochen, mehrmals sogar, diesmal will ich's allerdings noch einen Tick verschärfen.
Schwächen illustrieren am Allerklarsten, was und wie der Mensch ist. Stark zu sein, sei eine Ausnahme. Ein Ausnahmezustand. Jede und jeder von uns bleibt der Schwachheit treu, auch wenn wir mit der Stärke eine erquickliche Weile fremdgehen.
Wer stark stirbt, sei eine Närrin oder ein Narr.
Seien wir idealistisch: Hilfe zu geben und anzunehmen, zeichnet den Menschen aus.
Gerade die Liebe, deren wahre Kraft sich erst zeigt, wenn sich die Erde mehr als zwei- oder dreimal um die Sonne gedreht hat, beweist sich im Bewusstsein der klugen und attraktiven Schwäche.
Die Vollkommenheit gleichsam wie ein goldenes Kalb anzubeten, kreiert teleologisch Närrinnen und Narren, die mit nichts richtig zufrieden sind und nicht richtig schätzen, was in ihrer unmittelbaren Reichweite liegt.
Wer immer auf der Suche nach dem Upgrade ist, schöpft niemals die Möglichkeiten des gegebenen Systems aus.
Fabula docet et delectat. Und zwar eben nicht, weil ihre Verse schön und stilistisch rein sind, sondern weil die Verse ehrlich sind, weil sie um ihre Subjektivität wissen.
Der Mensch soll sich nicht unter allen Umständen unablässig beweisen. Sein soll er. Im Ein- und Vielklang mit der Welt.
1. Juni
Nie sich zu dem gesellen, durch den man in den Schatten gestellt wird; sei es dadurch, daß er über uns, oder daß er unter uns stehe. Größre Vorzüge finden größre Verehrung: da wird der Andre immer die Hauptrolle spielen, wir die zweite: bleibt für uns ja noch einige Werthschätzung; so ist es, was er übrig läßt. Der Mond glänzt, so lange er allein bei den Sternen ist: kommt die Sonne, wird er unscheinbar oder unsichtbar. Nie also schließe man sich dem an, durch den man verdunkelt, sondern dem, durch den man herausgehoben wird. Durch dieses Mittel konnte die kluge Fabula, beim Martial, schön erscheinen und glänzen, wegen der Häßlichkeit und des schlechten Anzuges ihrer Begleiterinnen. Eben so wenig aber soll man durch einen schlechten Kumpan sich in Gefahr setzen, und nicht auf Kosten seines eigenen Ansehens einen: Andern Ehre erzeigen. Ist man noch im Werden, so halte man sich zu den Ausgezeichneten; aber als gemachter Mann zu den Mittelmäßigen.
Old School, Freund, das, Pardon, sind Sie und Ihr hervorragender Translator. Sowohl bei Gender- als auch Gleichberechtigungsfragen. Die Idee der grundsätzlichen Ebenbürtigkeit empfinden Sie, im Hierarchischen fest verankert, als absurd. Sie, wie viele andere auch, gestern, jetzt und morgen, sind und bleiben in Skalen verliebt. Was zu einer Eskalierung der Einschätzung über Ihre Mitmenschen führt. Viele von uns haben heutzutage genug vom Raubtierkapitalismus und Leistungsdruck, von falschen Werten und ewigen Vorurteilen. Viele, die zum Geldmachdenken gezwungen werden, steigen von der Pyramide und bekennen sich zur Inklusion.
Der Mensch sei wie er sei. Seine Wertigkeit sei an sich.
Im Verständnis des Ist-So liegt eine nachhaltige, universelle Liebenswürdigkeit, die dem egozentrischen Ist-Nicht-So abgeht.
Verstehen Sie mich bitte richtig, denn, selbstverständlich, wissen wir alle um die Stärken und Schwächen, welche uns auszeichnen. Niemand ist naiv. Ja, Freund, Sie haben sich nicht verhört: Schwächen zeichnen uns aus. Wir haben bereits darüber gesprochen, mehrmals sogar, diesmal will ich's allerdings noch einen Tick verschärfen.
Schwächen illustrieren am Allerklarsten, was und wie der Mensch ist. Stark zu sein, sei eine Ausnahme. Ein Ausnahmezustand. Jede und jeder von uns bleibt der Schwachheit treu, auch wenn wir mit der Stärke eine erquickliche Weile fremdgehen.
Wer stark stirbt, sei eine Närrin oder ein Narr.
Seien wir idealistisch: Hilfe zu geben und anzunehmen, zeichnet den Menschen aus.
Gerade die Liebe, deren wahre Kraft sich erst zeigt, wenn sich die Erde mehr als zwei- oder dreimal um die Sonne gedreht hat, beweist sich im Bewusstsein der klugen und attraktiven Schwäche.
Die Vollkommenheit gleichsam wie ein goldenes Kalb anzubeten, kreiert teleologisch Närrinnen und Narren, die mit nichts richtig zufrieden sind und nicht richtig schätzen, was in ihrer unmittelbaren Reichweite liegt.
Wer immer auf der Suche nach dem Upgrade ist, schöpft niemals die Möglichkeiten des gegebenen Systems aus.
Fabula docet et delectat. Und zwar eben nicht, weil ihre Verse schön und stilistisch rein sind, sondern weil die Verse ehrlich sind, weil sie um ihre Subjektivität wissen.
Der Mensch soll sich nicht unter allen Umständen unablässig beweisen. Sein soll er. Im Ein- und Vielklang mit der Welt.
1. Juni
153.
Man hüte sich einzutreten, wo eine große Lücke auszufüllen ist: thut man es jedoch, so sei man sicher, den Vorgänger zu übertreffen: ihm nur gleichzukommen, erfordert schon doppelten Werth. Wie es fein ist, dafür zu sorgen, daß der Nachfolger uns zurückgesehnt mache; so ist es auch schlau, zu verhüten, daß der Vorgänger uns nicht verdunkle. Eine große Lücke auszufüllen, ist schwer: denn stets erscheint das Vergangene als das Bessere, und sogar dem Vorgänger gleich zu seyn, ist nicht hinreichend, weil er schon den Erstbesitz voraus hat. Daher muß man noch Vorzüge hinzuzufügen haben, um den Andern aus seinem Besitz der höhern Meinung herauszuwerfen.
Durchaus denkbar, Freund, dass die Lücke, welche unsere Vorgängerin oder unser Vorgänger, hinterlassen hat, deswegen groß ist, weil Ärger und Unmut riesengroß gewesen sind, weil Angst und Elend geherrscht haben. Hier sollten wir uns nicht hüten, einzutreten, sondern mit aller Vorsicht und Eleganz, mit aller Menschenliebe und Entschlossenheit in die Presche springen, um die Dinge, sacht und beherzt, demokratisch besser zu machen. Sie merken: das Vergangene erscheint selbstverständlich nicht immer als das Bessere. Vielleicht, da das Abflachen des Guten, das sich auf Dauer von sich selbst entwöhnt, in und bei nahezu allen Menschen, die Verantwortung tragen, zu beobachten ist - wer kann schon die Tugendhaften aufzählen, die ihren Idealen bis ans Ende treu geblieben sind? -, vielleicht erscheint das Vergangene gar niemals als das Bessere. Vielleicht stimmt's tatsächlich, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt? Dass alle, die anfangen, von einem besonderen Geist beseelt sind, der sich, dank der Realitätsermüdung, mehr oder minder rapide verflüchtigt? Eine These, die für einen schnellen Wahlrhythmus spräche. Vielleicht sollte eine Legislatur maximal ein bis zwei Jahre dauern?
Womit Sie jedoch recht haben und was wirklich überrascht: nach einer Zeit der Ruhe und Sittsamkeit gibt's in nahezu jeder Gesellschaft Kreise, die wieder nach dem Disruptiven lechzen, gibt's Leute, die sich, offen wie geheim, nach dem Blutvergießen sehnen. Die Populistinnen und Populisten, Freund, welche gerade auf allen Kontinenten die Nationalstaaten und, entschuldigen Sie den Neologismus, Leidkulturen anbeten, beweihräuchern auch reihenweise die Menschenschlächter des Zweiten Weltkriegs, beklatschen die Skinheads und Neonazis, die sich auf die Jagd nach dem Nicht-wie-ich machen, bejubeln Politikerinnen und Politiker, die Flüchtlinge, ohne mit der Wimper zu zucken, im Mittelmeer ersaufen oder an Grenzen systematisch foltern und verhungern lassen.
Eine Minderheit der Menschen liebt das Leid. Ist die brutale Unterzahl entschlossen und groß genug - ein Viertel reicht, Freund, würd ich sagen -, reißt sie moralische Dämme ein. Was dann folgt? Es ist wie immer. Das bislang passive Drittel der Wankelmütigen, das gleichfalls in jeder Gesellschaft existiert, schließt sich irgendwann den Radikalen an, hetzt und zerstört, was es selbst im Frieden mühsam aufgebaut hat.
Dummheit richtet sich immer auch gegen sich selbst.
Jede Krise, gerade die hausgemachte, sichert und bringt für einige Scharfmacherinnen und Scharfmacher unglaubliche Macht. Vor allem, was nur auf den ersten Blick überrascht, für die Ruchlosesten unter ihnen. Die Avantgarde der Einfältigkeit und des Sadismus zeigt sich dann am mächtigsten, wenn das Bürgertum zu träge, zu satt und zu zerstritten, also mit sich selbst zu beschäftigt ist, um mit den Wankelmütigen vernünftig zu reden, die Leistung der Wankelmütigen anzuerkennen und den Wohlstand fair zu teilen.
Die Provokateure, die Demokratiehasserinnen und Faschismusliebhaber, verdienen unsere Aufmerksamkeit im besonderen Maß: schon im Keim gilt's, ihre Saat zu zerstören. Sehen wir's sprießen, müssen wir sogleich handeln.
Das Böse wächst, ganz grundsätzlich, schnneller als das Gute.
Wer nicht den Anfängen des Üblen wehret, verwehrt sich am Ende sowohl die Kontrolle über die Polizei als auch die Armee, zwei Organisationen, machen wir uns nichts vor, die für autoritäres Denken anfällig sind. Wer das Leid eintreten lässt, wird Wohnung und Lebensglück verlassen müssen.
2. Juni
Man hüte sich einzutreten, wo eine große Lücke auszufüllen ist: thut man es jedoch, so sei man sicher, den Vorgänger zu übertreffen: ihm nur gleichzukommen, erfordert schon doppelten Werth. Wie es fein ist, dafür zu sorgen, daß der Nachfolger uns zurückgesehnt mache; so ist es auch schlau, zu verhüten, daß der Vorgänger uns nicht verdunkle. Eine große Lücke auszufüllen, ist schwer: denn stets erscheint das Vergangene als das Bessere, und sogar dem Vorgänger gleich zu seyn, ist nicht hinreichend, weil er schon den Erstbesitz voraus hat. Daher muß man noch Vorzüge hinzuzufügen haben, um den Andern aus seinem Besitz der höhern Meinung herauszuwerfen.
Durchaus denkbar, Freund, dass die Lücke, welche unsere Vorgängerin oder unser Vorgänger, hinterlassen hat, deswegen groß ist, weil Ärger und Unmut riesengroß gewesen sind, weil Angst und Elend geherrscht haben. Hier sollten wir uns nicht hüten, einzutreten, sondern mit aller Vorsicht und Eleganz, mit aller Menschenliebe und Entschlossenheit in die Presche springen, um die Dinge, sacht und beherzt, demokratisch besser zu machen. Sie merken: das Vergangene erscheint selbstverständlich nicht immer als das Bessere. Vielleicht, da das Abflachen des Guten, das sich auf Dauer von sich selbst entwöhnt, in und bei nahezu allen Menschen, die Verantwortung tragen, zu beobachten ist - wer kann schon die Tugendhaften aufzählen, die ihren Idealen bis ans Ende treu geblieben sind? -, vielleicht erscheint das Vergangene gar niemals als das Bessere. Vielleicht stimmt's tatsächlich, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt? Dass alle, die anfangen, von einem besonderen Geist beseelt sind, der sich, dank der Realitätsermüdung, mehr oder minder rapide verflüchtigt? Eine These, die für einen schnellen Wahlrhythmus spräche. Vielleicht sollte eine Legislatur maximal ein bis zwei Jahre dauern?
Womit Sie jedoch recht haben und was wirklich überrascht: nach einer Zeit der Ruhe und Sittsamkeit gibt's in nahezu jeder Gesellschaft Kreise, die wieder nach dem Disruptiven lechzen, gibt's Leute, die sich, offen wie geheim, nach dem Blutvergießen sehnen. Die Populistinnen und Populisten, Freund, welche gerade auf allen Kontinenten die Nationalstaaten und, entschuldigen Sie den Neologismus, Leidkulturen anbeten, beweihräuchern auch reihenweise die Menschenschlächter des Zweiten Weltkriegs, beklatschen die Skinheads und Neonazis, die sich auf die Jagd nach dem Nicht-wie-ich machen, bejubeln Politikerinnen und Politiker, die Flüchtlinge, ohne mit der Wimper zu zucken, im Mittelmeer ersaufen oder an Grenzen systematisch foltern und verhungern lassen.
Eine Minderheit der Menschen liebt das Leid. Ist die brutale Unterzahl entschlossen und groß genug - ein Viertel reicht, Freund, würd ich sagen -, reißt sie moralische Dämme ein. Was dann folgt? Es ist wie immer. Das bislang passive Drittel der Wankelmütigen, das gleichfalls in jeder Gesellschaft existiert, schließt sich irgendwann den Radikalen an, hetzt und zerstört, was es selbst im Frieden mühsam aufgebaut hat.
Dummheit richtet sich immer auch gegen sich selbst.
Jede Krise, gerade die hausgemachte, sichert und bringt für einige Scharfmacherinnen und Scharfmacher unglaubliche Macht. Vor allem, was nur auf den ersten Blick überrascht, für die Ruchlosesten unter ihnen. Die Avantgarde der Einfältigkeit und des Sadismus zeigt sich dann am mächtigsten, wenn das Bürgertum zu träge, zu satt und zu zerstritten, also mit sich selbst zu beschäftigt ist, um mit den Wankelmütigen vernünftig zu reden, die Leistung der Wankelmütigen anzuerkennen und den Wohlstand fair zu teilen.
Die Provokateure, die Demokratiehasserinnen und Faschismusliebhaber, verdienen unsere Aufmerksamkeit im besonderen Maß: schon im Keim gilt's, ihre Saat zu zerstören. Sehen wir's sprießen, müssen wir sogleich handeln.
Das Böse wächst, ganz grundsätzlich, schnneller als das Gute.
Wer nicht den Anfängen des Üblen wehret, verwehrt sich am Ende sowohl die Kontrolle über die Polizei als auch die Armee, zwei Organisationen, machen wir uns nichts vor, die für autoritäres Denken anfällig sind. Wer das Leid eintreten lässt, wird Wohnung und Lebensglück verlassen müssen.
2. Juni
154.
Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben. Die Reife des Geistes zeigt sich an der Langsamkeit im Glauben. Die Lüge ist sehr gewöhnlich; so sei der Glaube ungewöhnlich. Wer sich leicht hinreißen ließ, steht nachher beschämt. Inzwischen soll man seinen Zweifel an die Aussage des Andern nicht zu erkennen geben, weil dieses unhöflich, ja beleidigend wäre, indem man den Bezeugenden dadurch zum Betrüger oder zum Betrogenen macht. Sogar aber ist dies noch nicht der größte Uebelstand; sondern der, daß Ungläubigseyn selbst einen Lügner verräth: denn ein solcher leidet an zwei Uebeln, dem, nicht zu glauben, und dem, keinen Glauben zu finden. Die Zurückhaltung des Urtheils ist immer klug im Hörer; der Sprecher aber berufe sich auf den, von dem er es hat. Eine verwandte Art der Unbedachtsamkeit ist das leichte Verleihen seiner Zuneigung: denn nicht nur mit Worten, sondern auch mit Werken wird gelogen, und letztere Art des Betrugs ist viel gefährlicher.
Unfassbar! Freund, Sie könnten auf der Stelle als Landesbeauftragter für Fake News anfangen. Erstaunlich, dass die Frage der Glaubwürdigkeit, Jahrhunderte später, keinen Deut anders geworden ist.
Skepsis tut not und fehlt doch an allen Ecken und Enden.
Mich überkommt manchmal das Gefühl, dass wir glauben wollen, so paradox es auch klingt, weil wir vom Glauben abgefallen sind. Die Suche nach dem Sinn macht uns für Scharlatane zur leichten Beute. Und wir vergessen, oft genug, den süßen Argwohn, der uns vor Betrügerinnen und Betrügern beschützt.
Wer an nichts als einen Glauben glaubt und einen einzigen Glauben versteht, glaubt an und versteht gar nichts.
Viel, Freund, habe ich über Ihren Halbsatz des nicht leicht lieben nachgedacht. Sehe ich's so, wie Sie's mir vordenken, muss ich Ihnen zustimmen und mich per se der Liebe gegenüber, ganz allgemein gesagt, skeptisch zeigen. Die Menschen, in die wir uns vergucken, sind halt nicht vollkommen. Eher im Gegenteil. Fehlerbehaftet wie ich selbst, das sind sie. Aber verdienen sie damit gleich, jede Vorschusslorbeeren abgesprochen zu bekommen? Mir scheint, dass ich, unter solchen Vorgaben, nur Feindinnen und Feinde hätte. Etliches lässt und ließe sich an mir bemängeln, körperlich wie geistig, und damit verschwände ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vom Liebesradar.
Ob Toleranz erst Liebe möglich macht? Ob wir nur verstehen, was Liebe ist, wenn wir Fehler akzeptieren? Womit nicht Kardinalsfehler gemeint sind. Bedrängen uns amoralische Wellbenberge aus zwei Richtungen und wollen uns zerschlagen, fiele mir nicht ein, die Kaventsmänner zu loben. Ich machte mich, falls möglich, schnellstens aus dem Staub. Passt uns allerdings eine einzige Sache nicht, gerade eine, von der wir wenig wissen, so ist die strikte Ablehnung selbst eine Orthodoxie, die als Glauben ausgelegt werden könnte.
Flexibilität schadet nicht der Liebe, sondern hilft ihr.
Starrsinn überzeugt in wenigen Situationen, dann allerdings auf eine Art und Weise, die sich mit nichts vergleichen lässt.
Ab und an dürfen wir unsere Eigenverantwortlichkeit einbüßen, auch dem Wissen und Glauben gegenüber, um menschlich zu bleiben, um, mit einem Wort, geliebt zu werden.
Die reine Rationalität wird keinem Gefühl komplett gerecht.
3. Juni
Nicht leicht glauben und nicht leicht lieben. Die Reife des Geistes zeigt sich an der Langsamkeit im Glauben. Die Lüge ist sehr gewöhnlich; so sei der Glaube ungewöhnlich. Wer sich leicht hinreißen ließ, steht nachher beschämt. Inzwischen soll man seinen Zweifel an die Aussage des Andern nicht zu erkennen geben, weil dieses unhöflich, ja beleidigend wäre, indem man den Bezeugenden dadurch zum Betrüger oder zum Betrogenen macht. Sogar aber ist dies noch nicht der größte Uebelstand; sondern der, daß Ungläubigseyn selbst einen Lügner verräth: denn ein solcher leidet an zwei Uebeln, dem, nicht zu glauben, und dem, keinen Glauben zu finden. Die Zurückhaltung des Urtheils ist immer klug im Hörer; der Sprecher aber berufe sich auf den, von dem er es hat. Eine verwandte Art der Unbedachtsamkeit ist das leichte Verleihen seiner Zuneigung: denn nicht nur mit Worten, sondern auch mit Werken wird gelogen, und letztere Art des Betrugs ist viel gefährlicher.
Unfassbar! Freund, Sie könnten auf der Stelle als Landesbeauftragter für Fake News anfangen. Erstaunlich, dass die Frage der Glaubwürdigkeit, Jahrhunderte später, keinen Deut anders geworden ist.
Skepsis tut not und fehlt doch an allen Ecken und Enden.
Mich überkommt manchmal das Gefühl, dass wir glauben wollen, so paradox es auch klingt, weil wir vom Glauben abgefallen sind. Die Suche nach dem Sinn macht uns für Scharlatane zur leichten Beute. Und wir vergessen, oft genug, den süßen Argwohn, der uns vor Betrügerinnen und Betrügern beschützt.
Wer an nichts als einen Glauben glaubt und einen einzigen Glauben versteht, glaubt an und versteht gar nichts.
Viel, Freund, habe ich über Ihren Halbsatz des nicht leicht lieben nachgedacht. Sehe ich's so, wie Sie's mir vordenken, muss ich Ihnen zustimmen und mich per se der Liebe gegenüber, ganz allgemein gesagt, skeptisch zeigen. Die Menschen, in die wir uns vergucken, sind halt nicht vollkommen. Eher im Gegenteil. Fehlerbehaftet wie ich selbst, das sind sie. Aber verdienen sie damit gleich, jede Vorschusslorbeeren abgesprochen zu bekommen? Mir scheint, dass ich, unter solchen Vorgaben, nur Feindinnen und Feinde hätte. Etliches lässt und ließe sich an mir bemängeln, körperlich wie geistig, und damit verschwände ich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vom Liebesradar.
Ob Toleranz erst Liebe möglich macht? Ob wir nur verstehen, was Liebe ist, wenn wir Fehler akzeptieren? Womit nicht Kardinalsfehler gemeint sind. Bedrängen uns amoralische Wellbenberge aus zwei Richtungen und wollen uns zerschlagen, fiele mir nicht ein, die Kaventsmänner zu loben. Ich machte mich, falls möglich, schnellstens aus dem Staub. Passt uns allerdings eine einzige Sache nicht, gerade eine, von der wir wenig wissen, so ist die strikte Ablehnung selbst eine Orthodoxie, die als Glauben ausgelegt werden könnte.
Flexibilität schadet nicht der Liebe, sondern hilft ihr.
Starrsinn überzeugt in wenigen Situationen, dann allerdings auf eine Art und Weise, die sich mit nichts vergleichen lässt.
Ab und an dürfen wir unsere Eigenverantwortlichkeit einbüßen, auch dem Wissen und Glauben gegenüber, um menschlich zu bleiben, um, mit einem Wort, geliebt zu werden.
Die reine Rationalität wird keinem Gefühl komplett gerecht.
3. Juni
155.
Die Kunst, in Zorn zu gerathen. Wenn es möglich ist, trete vernünftige Ueberlegung dem gemeinen Aufbrausen in den Weg: und dem Vernünftigen wird dies nicht schwer seyn. Geräth man aber in Zorn; so sei der erste Schritt, zu bemerken, daß man sich erzürnt: dadurch tritt man gleich mit Herrschaft über den Affekt auf: jetzt messe man die Notwendigkeit ab, bis zu welchem Punkt des Zorns man zu gehen hat, und dann nicht weiter: mit dieser überlegenen Schlauheit gelangt man in und wieder aus dem Zorn. Man verstehe gut und zu rechter Zeit einzuhalten: denn das Schwierigste beim Laufen ist das Stillestehn. Ein großer Beweis von Verstand ist es, klug zu bleiben bei den Anwandlungen der Narrheit. Jede übermäßige Leidenschaft ist eine Abweichung von unsrer vernünftigen Natur. Allein bei jener meisterhaften Aufmerksamkeit wird die Vernunft nie zu Falle kommen und nicht die Schranken der großen Obhut seiner selbst überschreiten. Um eine Leidenschaft zu bemeistern, muß man stets den Zaum der Aufmerksamkeit in der Hand behalten: dann wird man der erste »Kluge zu Pferde« seyn, wo nicht gar noch auch der letzte.
Der Zorn, Freund, jedenfalls wie ich ihn kenne, hat einen gewaltigen Nachteil: er kommt als Springinsfeld daher. Ich bin oftmals schon beim Explodieren, bevor ich überhaupt ansatzweise bemerke, was für ein depperter Knallfrosch ich bin. Dann kurzfristig die Reißleine zu ziehen, gelingt eigentlich kaum. Der Zorn verpufft, und sogleich stellt sich die Blamage ein. Ich schäme mich regelmäßig in Grund und Boden, wenn ich die Façon verliere. In den letzten Monaten habe ich mich immer und immer wieder dabei ertappt, dass ich Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern den Fußmarsch blase. Die Radlerinnen und Radler rasen in Berlin über die Fußgängerwege mit einer Chuzpe, die unvorstellbar ist. Noch bin ich jung genug, um die Dränglerinnen und Drängler zu hören und in die richtige Richtung auszuweichen. Aber wie wird's in wenigen Jahren sein? Wenn die Gebrechlichkeit kommt?
Weniger als die Zornzukunft, ich könnte ja auch weit vorm Erreichen des Greisenalters tot sein, interessiert mich, warum ich so leichtfertig und wutschnaubend im Heute empört bin. An sich, was mir manchmal auch gelingt, würde Ironie die Lage entspannen. Ein schlagfertig gerufenes Zum giro d'italia gleich vorne links, dann 1000 Kilometer immer gerade aus ließe Dampf ab und unterstriche laut und deutlich die Tatsache des Zuschnellfahrens. In uns, gleich unter der Oberfläche, was Norbert Elias so treffend in seinem Werk Über den Prozess der Zivilisation beschreibt, in uns lauert allerdings ein weitgehend ungezähmter Mensch, der mühsam durch Tabus und Schamgefühle kontrolliert wird und anscheinend nur darauf wartet, Gabel und Löffel in den Lokus zu schmeißen und sich mit bloßen Fingern am Essen zu bedienen.
Zorn entblößt uns, Ironie deckt uns zu.
Auf die eigene Wut zu hören, sorgt, fast immer, für den massiven Verlust der Sympathie der Anwesenden, die unter Zeitdruck nicht fähig sind, zwischen Anlass und Form zu unterscheiden.
Ruhe sei die Mutter der Vernunft, Zorn der Vater der Torheit.
4. Juni
Die Kunst, in Zorn zu gerathen. Wenn es möglich ist, trete vernünftige Ueberlegung dem gemeinen Aufbrausen in den Weg: und dem Vernünftigen wird dies nicht schwer seyn. Geräth man aber in Zorn; so sei der erste Schritt, zu bemerken, daß man sich erzürnt: dadurch tritt man gleich mit Herrschaft über den Affekt auf: jetzt messe man die Notwendigkeit ab, bis zu welchem Punkt des Zorns man zu gehen hat, und dann nicht weiter: mit dieser überlegenen Schlauheit gelangt man in und wieder aus dem Zorn. Man verstehe gut und zu rechter Zeit einzuhalten: denn das Schwierigste beim Laufen ist das Stillestehn. Ein großer Beweis von Verstand ist es, klug zu bleiben bei den Anwandlungen der Narrheit. Jede übermäßige Leidenschaft ist eine Abweichung von unsrer vernünftigen Natur. Allein bei jener meisterhaften Aufmerksamkeit wird die Vernunft nie zu Falle kommen und nicht die Schranken der großen Obhut seiner selbst überschreiten. Um eine Leidenschaft zu bemeistern, muß man stets den Zaum der Aufmerksamkeit in der Hand behalten: dann wird man der erste »Kluge zu Pferde« seyn, wo nicht gar noch auch der letzte.
Der Zorn, Freund, jedenfalls wie ich ihn kenne, hat einen gewaltigen Nachteil: er kommt als Springinsfeld daher. Ich bin oftmals schon beim Explodieren, bevor ich überhaupt ansatzweise bemerke, was für ein depperter Knallfrosch ich bin. Dann kurzfristig die Reißleine zu ziehen, gelingt eigentlich kaum. Der Zorn verpufft, und sogleich stellt sich die Blamage ein. Ich schäme mich regelmäßig in Grund und Boden, wenn ich die Façon verliere. In den letzten Monaten habe ich mich immer und immer wieder dabei ertappt, dass ich Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrern den Fußmarsch blase. Die Radlerinnen und Radler rasen in Berlin über die Fußgängerwege mit einer Chuzpe, die unvorstellbar ist. Noch bin ich jung genug, um die Dränglerinnen und Drängler zu hören und in die richtige Richtung auszuweichen. Aber wie wird's in wenigen Jahren sein? Wenn die Gebrechlichkeit kommt?
Weniger als die Zornzukunft, ich könnte ja auch weit vorm Erreichen des Greisenalters tot sein, interessiert mich, warum ich so leichtfertig und wutschnaubend im Heute empört bin. An sich, was mir manchmal auch gelingt, würde Ironie die Lage entspannen. Ein schlagfertig gerufenes Zum giro d'italia gleich vorne links, dann 1000 Kilometer immer gerade aus ließe Dampf ab und unterstriche laut und deutlich die Tatsache des Zuschnellfahrens. In uns, gleich unter der Oberfläche, was Norbert Elias so treffend in seinem Werk Über den Prozess der Zivilisation beschreibt, in uns lauert allerdings ein weitgehend ungezähmter Mensch, der mühsam durch Tabus und Schamgefühle kontrolliert wird und anscheinend nur darauf wartet, Gabel und Löffel in den Lokus zu schmeißen und sich mit bloßen Fingern am Essen zu bedienen.
Zorn entblößt uns, Ironie deckt uns zu.
Auf die eigene Wut zu hören, sorgt, fast immer, für den massiven Verlust der Sympathie der Anwesenden, die unter Zeitdruck nicht fähig sind, zwischen Anlass und Form zu unterscheiden.
Ruhe sei die Mutter der Vernunft, Zorn der Vater der Torheit.
4. Juni
156.
Die Freunde seiner Wahl: denn erst nachdem der Verstand sie geprüft und das wechselnde Glück sie erprobt hat, sollen sie es seyn, erkohren, nicht bloß durch die Neigung, sondern auch durch die Einsicht. Obgleich hierin es gut zu treffen, das Wichtigste im Leben ist, wird doch die wenigste Sorgfalt darauf verwendet. Einige Freunde führt ihre Zudringlichkeit, die meisten der Zufall uns zu. Und doch wird man nach seinen Freunden beurtheilt: denn nie war Übereinstimmung zwischen dem Weisen und den Unwissenden. Inzwischen ist, daß man Geschmack an Jemandem findet, noch kein Beweis genauer Freundschaft: es kann mehr von der Kurzweil an seiner Unterhaltung, als von dem Zutrauen zu seinen Fähigkeiten herrühren. Es giebt ächte und unächte Freundschaften, diese zum Ergötzen, jene zur Fruchtbarkeit an gelungenen Gedanken und Thaten. Wenige sind Freunde der Person, die Meisten der Glücksumstände. Die tüchtige Einsicht eines Freundes nützt mehr als der gute Wille vieler andern: daher verdanke man sie seiner Wahl, nicht dem Zufall. Ein Kluger weiß Verdrießlichkeiten zu vermeiden; aber ein dummer Freund schleppt sie ihm zu. Auch wünsche man seinen Freunden nicht zu großes Glück, wenn man sie behalten will.
Ein stichhaltiges Sittenbild, Freund, was Sie hier über die Freundschaft zeichnen, dessen klare Linienführung, ich könnte wohl sagen: Abschottung, bedenkenswerte Ratschläge erteilt, mit wem wir uns umgeben sollten. Allein, so hell der Speiseplan auch glänzt, so düster ist oftmals das Aufgetischte. Wie wir uns verändern, so verändern sich auch die Menschen, mit denen wir's zu tun haben. Im Wilhelm Meister schreibt Goethe, dass sich ohne Aufopferung keine Freundschaft denken lasse. Ein schöner, tiefer Satz. Und doch muss ich, hör ich ihn, nicht so sehr an Alexander von Humboldt denken, den Goethe über alles geliebt hat, sondern eher an Karl Philipp Moritz, den unglücklichen, talentierten Autor des Anton Reiser, der sich von Goethe viel erhofft und wenig, sehr wenig bekommen hat.
Die Freundschaft ist ein Gefäß, das sich manchmal wie von selbst füllt; doch einer oder eine allein kann's niemals richtig füllen, verwehrt sich der oder die andere.
Schlimm, Freund, ist's auch, wenn wir uns, vielleicht aus Zeitmangel, von alten Freundinnen und Freunden abwenden. Einladungen auszuschlagen, die reinen Herzens ausgesprochen werden, ist eine furchtbare Aufgabe. Manchmal, scheint mir, wär's besser, sich zu verkürzen, lieber dem Neuen adieu zu sagen, als vorm Alten Reißaus zu nehmen. Und dann, so bin ich, voller Widersprüche bin ich, muss ich halt über den Moritz, diesen wunderbaren Narren, lachen, der sich in ein unrealistisches Freundschaftshirngespinst verrannt hatte, der niemals, auch nur ansatzweise, eine echte Chance hatte, in Goethes Herz einen festen, dauerhaften Platz zu finden.
Freundschaft, die nicht auf Ebenbürtigkeit beruht, geht wohl zusammen schlafen, wacht aber selten zusammen auf.
5. Juni
Die Freunde seiner Wahl: denn erst nachdem der Verstand sie geprüft und das wechselnde Glück sie erprobt hat, sollen sie es seyn, erkohren, nicht bloß durch die Neigung, sondern auch durch die Einsicht. Obgleich hierin es gut zu treffen, das Wichtigste im Leben ist, wird doch die wenigste Sorgfalt darauf verwendet. Einige Freunde führt ihre Zudringlichkeit, die meisten der Zufall uns zu. Und doch wird man nach seinen Freunden beurtheilt: denn nie war Übereinstimmung zwischen dem Weisen und den Unwissenden. Inzwischen ist, daß man Geschmack an Jemandem findet, noch kein Beweis genauer Freundschaft: es kann mehr von der Kurzweil an seiner Unterhaltung, als von dem Zutrauen zu seinen Fähigkeiten herrühren. Es giebt ächte und unächte Freundschaften, diese zum Ergötzen, jene zur Fruchtbarkeit an gelungenen Gedanken und Thaten. Wenige sind Freunde der Person, die Meisten der Glücksumstände. Die tüchtige Einsicht eines Freundes nützt mehr als der gute Wille vieler andern: daher verdanke man sie seiner Wahl, nicht dem Zufall. Ein Kluger weiß Verdrießlichkeiten zu vermeiden; aber ein dummer Freund schleppt sie ihm zu. Auch wünsche man seinen Freunden nicht zu großes Glück, wenn man sie behalten will.
Ein stichhaltiges Sittenbild, Freund, was Sie hier über die Freundschaft zeichnen, dessen klare Linienführung, ich könnte wohl sagen: Abschottung, bedenkenswerte Ratschläge erteilt, mit wem wir uns umgeben sollten. Allein, so hell der Speiseplan auch glänzt, so düster ist oftmals das Aufgetischte. Wie wir uns verändern, so verändern sich auch die Menschen, mit denen wir's zu tun haben. Im Wilhelm Meister schreibt Goethe, dass sich ohne Aufopferung keine Freundschaft denken lasse. Ein schöner, tiefer Satz. Und doch muss ich, hör ich ihn, nicht so sehr an Alexander von Humboldt denken, den Goethe über alles geliebt hat, sondern eher an Karl Philipp Moritz, den unglücklichen, talentierten Autor des Anton Reiser, der sich von Goethe viel erhofft und wenig, sehr wenig bekommen hat.
Die Freundschaft ist ein Gefäß, das sich manchmal wie von selbst füllt; doch einer oder eine allein kann's niemals richtig füllen, verwehrt sich der oder die andere.
Schlimm, Freund, ist's auch, wenn wir uns, vielleicht aus Zeitmangel, von alten Freundinnen und Freunden abwenden. Einladungen auszuschlagen, die reinen Herzens ausgesprochen werden, ist eine furchtbare Aufgabe. Manchmal, scheint mir, wär's besser, sich zu verkürzen, lieber dem Neuen adieu zu sagen, als vorm Alten Reißaus zu nehmen. Und dann, so bin ich, voller Widersprüche bin ich, muss ich halt über den Moritz, diesen wunderbaren Narren, lachen, der sich in ein unrealistisches Freundschaftshirngespinst verrannt hatte, der niemals, auch nur ansatzweise, eine echte Chance hatte, in Goethes Herz einen festen, dauerhaften Platz zu finden.
Freundschaft, die nicht auf Ebenbürtigkeit beruht, geht wohl zusammen schlafen, wacht aber selten zusammen auf.
5. Juni
157.
Sich nicht in den Personen täuschen, welches die schlimmste und leichteste Täuschung ist. Besser man werde im Preise, als in der Waare betrogen. Bei Menschen mehr, als bei allem Andern, ist es nöthig ins Innere zu schauen. Sachen verstehn und Menschen kennen, sind zwei weit verschiedene Dinge. Es ist eine tiefe Philosophie, die Gemüther zu ergründen, und die Karaktere zu unterscheiden. So sehr als die Bücher, ist es nöthig die Menschen studirt zu haben.
Treffend gesagt, Freund. Vielleicht darf ich hinzufügen, dass es am allerschlimmsten ist, sich in sich selbst zu täuschen. Bricht das Eis vor uns, wir aber eilen nicht, um den Fremden zu Hilfe zu kommen, bricht auch zwangsläufig etwas in uns selbst. Die Ernüchterung, wer und wie wir sind, startet oft erst in den mittleren Jahren, wenn die Ideale der Jugend unerreichbar scheinen. Die Enttäuschung über uns selbst führt nicht zu selten zu der tiefsten Täuschung, zu der der Mensch fähig ist: wir verleugnen uns, und das Leben, eben noch so prall und voll, verpufft. Nun bleibt uns allein der Tod als Kamerad.
Getäuschte hegen Rachgelüste, die tiefer sitzen als die Täuscherinnen und Täuscher vermuten.
Kennst du dich selbst, kennst du noch längst nicht den anderen oder die andere, aber wenigstens den Weg zu ihm oder ihr, den's zu beschreiten gilt.
Und noch eins, zum Abschluss, diesmal fällt mir das Reden nach einer halben Nachtschicht schwer, die Einsicht, besser beim Preis als der Ware übers Ohr gehauen zu werden, ist zwar richtig, ohne Abstriche sogar, aber doch der feste Standpunkt der Vermögenden, deren Geldbörse tief genug ist, um sich überteuerte Sachen mit einem Achselzucken zu leisten. Den Armen geht's unsagbar schnell ans Eingemachte.
6. Juni
Sich nicht in den Personen täuschen, welches die schlimmste und leichteste Täuschung ist. Besser man werde im Preise, als in der Waare betrogen. Bei Menschen mehr, als bei allem Andern, ist es nöthig ins Innere zu schauen. Sachen verstehn und Menschen kennen, sind zwei weit verschiedene Dinge. Es ist eine tiefe Philosophie, die Gemüther zu ergründen, und die Karaktere zu unterscheiden. So sehr als die Bücher, ist es nöthig die Menschen studirt zu haben.
Treffend gesagt, Freund. Vielleicht darf ich hinzufügen, dass es am allerschlimmsten ist, sich in sich selbst zu täuschen. Bricht das Eis vor uns, wir aber eilen nicht, um den Fremden zu Hilfe zu kommen, bricht auch zwangsläufig etwas in uns selbst. Die Ernüchterung, wer und wie wir sind, startet oft erst in den mittleren Jahren, wenn die Ideale der Jugend unerreichbar scheinen. Die Enttäuschung über uns selbst führt nicht zu selten zu der tiefsten Täuschung, zu der der Mensch fähig ist: wir verleugnen uns, und das Leben, eben noch so prall und voll, verpufft. Nun bleibt uns allein der Tod als Kamerad.
Getäuschte hegen Rachgelüste, die tiefer sitzen als die Täuscherinnen und Täuscher vermuten.
Kennst du dich selbst, kennst du noch längst nicht den anderen oder die andere, aber wenigstens den Weg zu ihm oder ihr, den's zu beschreiten gilt.
Und noch eins, zum Abschluss, diesmal fällt mir das Reden nach einer halben Nachtschicht schwer, die Einsicht, besser beim Preis als der Ware übers Ohr gehauen zu werden, ist zwar richtig, ohne Abstriche sogar, aber doch der feste Standpunkt der Vermögenden, deren Geldbörse tief genug ist, um sich überteuerte Sachen mit einem Achselzucken zu leisten. Den Armen geht's unsagbar schnell ans Eingemachte.
6. Juni
158.
Seine Freunde zu nutzen verstehn. Auch hiebei hat die Klugheit ihre Kunst. Einige sind gut in der Ferne, Andre in der Nähe. Mancher taugt nicht für die Unterredung, aber sehr für den Briefwechsel: denn die Entfernung nimmt einige Fehler hinweg, welche in der Nähe unerträglich waren. Nicht bloß Ergötzen, sondern auch Nutzen muß man aus seinem Freunde schöpfen; denn er muß die drei Eigenschaften besitzen, welche Einige dem Guten, Andre dem Dinge überhaupt beilegen: Einheit, Güte und Wahrheit. Denn der Freund ist Alles in Allem. Wenige taugen zu guten Freunden, und daß man sie nicht zu wählen versteht, macht ihre Zahl noch kleiner. Sie sich erhalten ist mehr, als sie zu erwerben wissen. Man suche solche, welche für die Dauer seyn können, und sind sie auch anfangs neu; so beruhige man sich dabei, daß sie alt werden können. Durchaus die besten sind die von vielem Salz, wenn auch die Prüfung einen Scheffel kostet. Keine Einöde ist so traurig, als ohne Freund zu seyn. Die Freundschaft vermehrt das Gute und vertheilt das Schlimme: sie ist das einzige Mittel gegen das Unglück und ist das Freiathmen der Seele.
Lassen Sie mich, Freund, zunächst einen Umweg nehmen. Einen bescheidenen Pfad, auf dem ich mich Ihrem ausgezeichneten Paragraphen nähern möchte.
Ich kann just, die zweite Nachtschicht in Folge ist vorbei, mein Hirn nach mageren drei Stunden Schlaf ein fruchtvoller Kreisel, dem die Ideen wegelagernd reihenweise auflauern und sich dann holterdiepolter verabschieden, ich kann just nicht recht geradeaus denken. Will alles und nichts, satt und hungrig zugleich sein.
Selbst die Buchstaben entgleiten mir, drehen und wenden sich, hier fällt der eine, ort der andere; ich entgleite dem Text; und mein Gefühl zu sein, erledigt sich.
Einerlei, in Briefen zählt das Gesagte, sei's direkt oder zwischen den Zeilen.
Sprechen wir an, was Freundschaften entweder derart hetzt, dass wir das große Ganze nicht mehr im Blick behalten können, oder uns ermuntert, gelassen abzuwarten, bis alle Puzzleteile auf dem Tisch liegen.
Die Geduld, von ihr sei die Rede, ist eine unterschätzte Morgengabe, die Ungeduld ein Gunstzerstörer, dessen Antriebskraft gnadenlos überschätzt wird. Fördert Ungeduld den kurz angebundenen Kasernenton, nimmt sich die Geduld die Zeit, die's jeweils braucht, um die Dinge in freier Rede abzuwägen.
Wer dreist behauptet, wir könnten zu viel wissen, beweist mit eben dieser Aussage genau, dass er oder sie zu wenig weiß. Ja, die Intuition trifft kurzfristig durchaus auch richtige Entscheidungen. Sogar moralisch angebrachte. Mittelfristig macht sich die Wissenslücke jedoch bereits negativ bemerkbar, langfristig führt sie notgedrungen in den Untergang.
Zur Sittlichkeit möchte ich die Fähgkeit zur tiefen Freundschaft zählen. Eine erstaunlich weit verbreitete Tauglichkeit, die mehr als gelegentlich schmerzhafte Nackenschläge aushalten muss, da selbst feste Freundschaften, einmal angebahnt, urplötzlich, ohne erkennbares Hindernis, aus der Spur geraten können. Eine Tendenz zur Haltlosigkeit, die uns nicht an der Begeisterung fürs Befreundetsein rütteln lassen sollte.
Die Täuschung, der wir bei der Wahl unserer Freundinnen und Freunden unterliegen, ist das Trugbild, das wir über uns selbst und unseren Stand in der Welt haben.
Freundschaften sind zuallererst Bündnisse, die wir mit uns selbst eingehen. Ein Selbst, das wir fast immer viel zu sehr oder viel zu wenig sind. Wir wollen scheinen oder beschienen werden, was Freundschaften zwar anfangs ermöglicht, aber dann entzweischlägt.
Echte Freundschaft, das noch, verzichtet auf den Spiegel.
7. Juni
Seine Freunde zu nutzen verstehn. Auch hiebei hat die Klugheit ihre Kunst. Einige sind gut in der Ferne, Andre in der Nähe. Mancher taugt nicht für die Unterredung, aber sehr für den Briefwechsel: denn die Entfernung nimmt einige Fehler hinweg, welche in der Nähe unerträglich waren. Nicht bloß Ergötzen, sondern auch Nutzen muß man aus seinem Freunde schöpfen; denn er muß die drei Eigenschaften besitzen, welche Einige dem Guten, Andre dem Dinge überhaupt beilegen: Einheit, Güte und Wahrheit. Denn der Freund ist Alles in Allem. Wenige taugen zu guten Freunden, und daß man sie nicht zu wählen versteht, macht ihre Zahl noch kleiner. Sie sich erhalten ist mehr, als sie zu erwerben wissen. Man suche solche, welche für die Dauer seyn können, und sind sie auch anfangs neu; so beruhige man sich dabei, daß sie alt werden können. Durchaus die besten sind die von vielem Salz, wenn auch die Prüfung einen Scheffel kostet. Keine Einöde ist so traurig, als ohne Freund zu seyn. Die Freundschaft vermehrt das Gute und vertheilt das Schlimme: sie ist das einzige Mittel gegen das Unglück und ist das Freiathmen der Seele.
Lassen Sie mich, Freund, zunächst einen Umweg nehmen. Einen bescheidenen Pfad, auf dem ich mich Ihrem ausgezeichneten Paragraphen nähern möchte.
Ich kann just, die zweite Nachtschicht in Folge ist vorbei, mein Hirn nach mageren drei Stunden Schlaf ein fruchtvoller Kreisel, dem die Ideen wegelagernd reihenweise auflauern und sich dann holterdiepolter verabschieden, ich kann just nicht recht geradeaus denken. Will alles und nichts, satt und hungrig zugleich sein.
Selbst die Buchstaben entgleiten mir, drehen und wenden sich, hier fällt der eine, ort der andere; ich entgleite dem Text; und mein Gefühl zu sein, erledigt sich.
Einerlei, in Briefen zählt das Gesagte, sei's direkt oder zwischen den Zeilen.
Sprechen wir an, was Freundschaften entweder derart hetzt, dass wir das große Ganze nicht mehr im Blick behalten können, oder uns ermuntert, gelassen abzuwarten, bis alle Puzzleteile auf dem Tisch liegen.
Die Geduld, von ihr sei die Rede, ist eine unterschätzte Morgengabe, die Ungeduld ein Gunstzerstörer, dessen Antriebskraft gnadenlos überschätzt wird. Fördert Ungeduld den kurz angebundenen Kasernenton, nimmt sich die Geduld die Zeit, die's jeweils braucht, um die Dinge in freier Rede abzuwägen.
Wer dreist behauptet, wir könnten zu viel wissen, beweist mit eben dieser Aussage genau, dass er oder sie zu wenig weiß. Ja, die Intuition trifft kurzfristig durchaus auch richtige Entscheidungen. Sogar moralisch angebrachte. Mittelfristig macht sich die Wissenslücke jedoch bereits negativ bemerkbar, langfristig führt sie notgedrungen in den Untergang.
Zur Sittlichkeit möchte ich die Fähgkeit zur tiefen Freundschaft zählen. Eine erstaunlich weit verbreitete Tauglichkeit, die mehr als gelegentlich schmerzhafte Nackenschläge aushalten muss, da selbst feste Freundschaften, einmal angebahnt, urplötzlich, ohne erkennbares Hindernis, aus der Spur geraten können. Eine Tendenz zur Haltlosigkeit, die uns nicht an der Begeisterung fürs Befreundetsein rütteln lassen sollte.
Die Täuschung, der wir bei der Wahl unserer Freundinnen und Freunden unterliegen, ist das Trugbild, das wir über uns selbst und unseren Stand in der Welt haben.
Freundschaften sind zuallererst Bündnisse, die wir mit uns selbst eingehen. Ein Selbst, das wir fast immer viel zu sehr oder viel zu wenig sind. Wir wollen scheinen oder beschienen werden, was Freundschaften zwar anfangs ermöglicht, aber dann entzweischlägt.
Echte Freundschaft, das noch, verzichtet auf den Spiegel.
7. Juni
159.
Die Narren ertragen können. Stets sind die Weisen ungeduldig: denn wer sein Wissen vermehrt, vermehr seine Ungeduld. Große Einsicht ist schwer zu befriedigen. Die erste Lebensregel, nach Epiktet, ist das Ertragenkönnen, worauf er die Hälfte der Weisheit zurückführt. Müssen nun alle Arten von Narrheit ertragen werden; so wird es großer Geduld bedürfen. Oft haben wir am meisten von denen zu erdulden, von welchen wir am meisten abhängen: eine dienliche Uebung der Selbstüberwindung. Aus der Geduld geht der unschätzbare Frieden hervor, welcher das Glück der Welt ist. Wer aber zum Dulden kein Gemüth hat, ziehe sich zurück in sich selbst, wenn er anders auch nur sich selbst wird ertragen können.
Viele von uns streben's an, Sie, Freund, haben's perfektioniert: die Non-sequitur-Meisterschaft. Hier, um gleich in den Schlussfolgerungsschlamassel einzusteigen, behaupten Sie, dass alle Weisen ungeduldig seien. Und fügen als unumstößliche Erklärung hinzu, dass die Wissensanhäufung eben die Ungeduld vergrößere. Punkt. Ich sag's mal so: bei vielen mag das stimmen, wahrscheinlich sogar bei einer Mehrzahl, besonders bei der älteren Generation, wo der Geduldsfaden oftmals kürzer ist, da uns nun mal irgendwann das Gefühl überkommt, die Lebenszeit liefe davon - und das im Beisein von Närrinnen und Narren. Andere Denkerinnen und Denker werden allerdings wesentlich geduldiger mit ihren Mitmenschen, wenn sie begreifen, dass es die äußeren Umstände sind, die das Individuum dumm halten und klein machen.
Ungeduld, die auf Privilegien beruht, ist reine Arroganz.
Ja, Freund, und damit wären wir erneut beim Abhängigkeitsgeflecht, in dessen häufig ignoranten Klauen sowohl Sie als auch ich hängen. Ihr und mein Dilemma. Eine Zwickmühle, die wahrscheinlich jeder und jede nur zu gut kennt. Um ehrlich zu sein, ich erleide innerlich viel zu häufig Schreikrämpfe, denen ich partout keine Luft machen kann, da ich mit den Unwissenden weiterhin umgehen muss und will. Und wissen Sie was? Komisch ist auch, dass mein Überlegenheitsgefühl ziemlich häufig kleinlaut seinen Schwanz einzieht, sobald ich Fragen stelle, und die anderen eine Chance haben, ihre Positionen darzustellen. Dann merke ich, dass mein Wissen mehr als ausbaufähig ist, dass mein Überlegenheitsgefühl auf Vorurteilen gebaut ist.
Ignoramus et ignorabimus, wr wissen es nicht und wir werden es niemals wissen, hat der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond einmal gesagt. Zwar hat er so seine Skepsis gegenüber den Erklärungsansprüchen der Naturwissenschaften ausgedrückt, die ich nicht teile, aber die Grundannahme ist doch wohl leider wahr.
Wir kratzen am Wissen, und hinter jeder Schicht steckt zuverlässig die nächste, härter zu knacken als die zuvor.
Liebe sei das einzige Wissenkönnen, das uns letzlich bleibt.
8. Juni
Die Narren ertragen können. Stets sind die Weisen ungeduldig: denn wer sein Wissen vermehrt, vermehr seine Ungeduld. Große Einsicht ist schwer zu befriedigen. Die erste Lebensregel, nach Epiktet, ist das Ertragenkönnen, worauf er die Hälfte der Weisheit zurückführt. Müssen nun alle Arten von Narrheit ertragen werden; so wird es großer Geduld bedürfen. Oft haben wir am meisten von denen zu erdulden, von welchen wir am meisten abhängen: eine dienliche Uebung der Selbstüberwindung. Aus der Geduld geht der unschätzbare Frieden hervor, welcher das Glück der Welt ist. Wer aber zum Dulden kein Gemüth hat, ziehe sich zurück in sich selbst, wenn er anders auch nur sich selbst wird ertragen können.
Viele von uns streben's an, Sie, Freund, haben's perfektioniert: die Non-sequitur-Meisterschaft. Hier, um gleich in den Schlussfolgerungsschlamassel einzusteigen, behaupten Sie, dass alle Weisen ungeduldig seien. Und fügen als unumstößliche Erklärung hinzu, dass die Wissensanhäufung eben die Ungeduld vergrößere. Punkt. Ich sag's mal so: bei vielen mag das stimmen, wahrscheinlich sogar bei einer Mehrzahl, besonders bei der älteren Generation, wo der Geduldsfaden oftmals kürzer ist, da uns nun mal irgendwann das Gefühl überkommt, die Lebenszeit liefe davon - und das im Beisein von Närrinnen und Narren. Andere Denkerinnen und Denker werden allerdings wesentlich geduldiger mit ihren Mitmenschen, wenn sie begreifen, dass es die äußeren Umstände sind, die das Individuum dumm halten und klein machen.
Ungeduld, die auf Privilegien beruht, ist reine Arroganz.
Ja, Freund, und damit wären wir erneut beim Abhängigkeitsgeflecht, in dessen häufig ignoranten Klauen sowohl Sie als auch ich hängen. Ihr und mein Dilemma. Eine Zwickmühle, die wahrscheinlich jeder und jede nur zu gut kennt. Um ehrlich zu sein, ich erleide innerlich viel zu häufig Schreikrämpfe, denen ich partout keine Luft machen kann, da ich mit den Unwissenden weiterhin umgehen muss und will. Und wissen Sie was? Komisch ist auch, dass mein Überlegenheitsgefühl ziemlich häufig kleinlaut seinen Schwanz einzieht, sobald ich Fragen stelle, und die anderen eine Chance haben, ihre Positionen darzustellen. Dann merke ich, dass mein Wissen mehr als ausbaufähig ist, dass mein Überlegenheitsgefühl auf Vorurteilen gebaut ist.
Ignoramus et ignorabimus, wr wissen es nicht und wir werden es niemals wissen, hat der Physiologe Emil Heinrich Du Bois-Reymond einmal gesagt. Zwar hat er so seine Skepsis gegenüber den Erklärungsansprüchen der Naturwissenschaften ausgedrückt, die ich nicht teile, aber die Grundannahme ist doch wohl leider wahr.
Wir kratzen am Wissen, und hinter jeder Schicht steckt zuverlässig die nächste, härter zu knacken als die zuvor.
Liebe sei das einzige Wissenkönnen, das uns letzlich bleibt.
8. Juni
160.
Aufmerksamkeit auf sich im Reden: wenn mit Nebenbulern, aus Vorsicht; wenn mit Andern, des Austands halber. Ein Wort nachzuschicken, ist immer Zeit, nie eins zurückzurufen. Man rede wie im Testament: je weniger Worte, desto weniger Streit. Beim Unwichtigen übe man sich für das Wichtige. Das Geheimnißvolle hat einen gewissen göttlichen Anstrich. Wer im Sprechen leichtfertig ist, wird bald überwunden oder überführt seyn.
Seltsam, Freund, im ersten Moment leuchtet mir alles ein, sehr sogar, was Sie, dem Thema entsprechend, konzise sagen. Wollen wir nun sophistisch sein, was Ihnen wie mir Freude macht, ließe sich behaupten, Sie meinten mit Testatment nicht den Letzten Willen, sondern, angesichts Ihrer Position keine Überraschung, die Bibel. Heutzutage wiederum ist's nicht schwierig, das Heilige Buch der Christen zu messen: von 1. Mose 1 bis Offenbarung 22, 21 enthält sie 66 Bücher, 1189 Kapitel, 31.171 Verse, 738.765 Wörter und 4.410.133 Zeichen.
Am Streit über Zuvielgesagtes führt daher wohl kaum ein Weg vorbei. Lassen Sie uns zwei Beispiele auflisten, die selten öffentlich Erwähnung finden:
"Wenn eine Jungfrau verlobt ist und ein Mann trifft sie innerhalb der Stadt und wohnt ihr bei, so sollt ihr sie alle beide zum Stadttor hinausführen und sollt sie beide steinigen, dass sie sterben, die Jungfrau, weil sie nicht geschrien hat, obwohl sie doch in der Stadt war, den Mann, weil er seines Nächsten Braut geschändet hat." (5. Mose 22,23-24)
Verstehe ich diese Bibelstelle richtig, wird hier die Todesstrafe für vergewaltigte Mädchen gefordert, wenn sie nicht oder nicht laut genug geschrien haben; der reine patriarchische Genderwahnsinn.
"Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben." (3. Mose 20,13)
Hier wiederum werden Homosexuelle zum Tode verurteilt; gleichfalls absolut irre.
Mir ist de facto bekannt, dass es kaum noch Gläubige gibt, die alles, was in der Bibel steht, wörtlich nehmen, besonders nicht im Vatikan. Zu Ihrer Zeit existierten noch deutlich mehr Hardliner - oder solche, die aus Karrieregründen als Falken auf die Jagd gingen. Ich will auch gar nicht darauf eingehen, dass es mindestens 40 Autorinnen und Autoren waren, die an der Bibel geschrieben haben. Allerdings ist's durchaus wichtig, den Nimbus der Bibel und vergleichbarer Bücher als Gotteswort zu berücksichtigen. Sie schreiben, dazu passend, dass das Geheimnisvolle einen göttlichen Anstrich habe. Mag sein. Allerdings hilft uns die Unschärfe der Bewunderung nichts, wenn die Scharfrichter reihenweise vom Glauben Abgefallene als Pharisäer aufs echte oder moralische Schafott gelegt haben, legen und legen werden.
Wer im Sprechen ehrlich ist, zumindest ist das in der Religionskritik fast überall auf der Welt der Fall, wird bald überwunden und überführt sein. Und das ist, für mich, der Kern des Dilemmas dieses Eintrags, der so lobenswert und klug scheint: Sie argumentieren, mit einer nachvollziehbaren Berechtigung, vom Privaten aus. Als ob's das Öffentliche nicht gäbe. Als ob's keine Vorschriften gäbe, die uns irrationale Regeln auferlegen. Als ob wir die Wahl hätten, wie man uns zuhört und, noch wichtiger, welche Sprache und welche Worte uns zur Verfügung stehen.
Das Interessanteste dabei ist: Sie, Freund, wurden selbst als gefährlicher Laut- und Anderssprecher gebrandmarkt - und bleiben doch, wie ich auch, in den progressiven Konventionen Ihrer Zeit haften.
Wir sind, selbst als Rebellinnen und Rebellen, stets Kinder unserer Zeit.
Ohne rhetorische Deckung sterben die Vorlauten früher als notwendig.
Wer wirken will, darf nicht nur tapfer sein, sondern muss sich auch radikal und nachhaltig Gehör verschaffen.
Kein Wort sei heiliger als die Wahrheit.
9. Juni
Aufmerksamkeit auf sich im Reden: wenn mit Nebenbulern, aus Vorsicht; wenn mit Andern, des Austands halber. Ein Wort nachzuschicken, ist immer Zeit, nie eins zurückzurufen. Man rede wie im Testament: je weniger Worte, desto weniger Streit. Beim Unwichtigen übe man sich für das Wichtige. Das Geheimnißvolle hat einen gewissen göttlichen Anstrich. Wer im Sprechen leichtfertig ist, wird bald überwunden oder überführt seyn.
Seltsam, Freund, im ersten Moment leuchtet mir alles ein, sehr sogar, was Sie, dem Thema entsprechend, konzise sagen. Wollen wir nun sophistisch sein, was Ihnen wie mir Freude macht, ließe sich behaupten, Sie meinten mit Testatment nicht den Letzten Willen, sondern, angesichts Ihrer Position keine Überraschung, die Bibel. Heutzutage wiederum ist's nicht schwierig, das Heilige Buch der Christen zu messen: von 1. Mose 1 bis Offenbarung 22, 21 enthält sie 66 Bücher, 1189 Kapitel, 31.171 Verse, 738.765 Wörter und 4.410.133 Zeichen.
Am Streit über Zuvielgesagtes führt daher wohl kaum ein Weg vorbei. Lassen Sie uns zwei Beispiele auflisten, die selten öffentlich Erwähnung finden:
"Wenn eine Jungfrau verlobt ist und ein Mann trifft sie innerhalb der Stadt und wohnt ihr bei, so sollt ihr sie alle beide zum Stadttor hinausführen und sollt sie beide steinigen, dass sie sterben, die Jungfrau, weil sie nicht geschrien hat, obwohl sie doch in der Stadt war, den Mann, weil er seines Nächsten Braut geschändet hat." (5. Mose 22,23-24)
Verstehe ich diese Bibelstelle richtig, wird hier die Todesstrafe für vergewaltigte Mädchen gefordert, wenn sie nicht oder nicht laut genug geschrien haben; der reine patriarchische Genderwahnsinn.
"Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben." (3. Mose 20,13)
Hier wiederum werden Homosexuelle zum Tode verurteilt; gleichfalls absolut irre.
Mir ist de facto bekannt, dass es kaum noch Gläubige gibt, die alles, was in der Bibel steht, wörtlich nehmen, besonders nicht im Vatikan. Zu Ihrer Zeit existierten noch deutlich mehr Hardliner - oder solche, die aus Karrieregründen als Falken auf die Jagd gingen. Ich will auch gar nicht darauf eingehen, dass es mindestens 40 Autorinnen und Autoren waren, die an der Bibel geschrieben haben. Allerdings ist's durchaus wichtig, den Nimbus der Bibel und vergleichbarer Bücher als Gotteswort zu berücksichtigen. Sie schreiben, dazu passend, dass das Geheimnisvolle einen göttlichen Anstrich habe. Mag sein. Allerdings hilft uns die Unschärfe der Bewunderung nichts, wenn die Scharfrichter reihenweise vom Glauben Abgefallene als Pharisäer aufs echte oder moralische Schafott gelegt haben, legen und legen werden.
Wer im Sprechen ehrlich ist, zumindest ist das in der Religionskritik fast überall auf der Welt der Fall, wird bald überwunden und überführt sein. Und das ist, für mich, der Kern des Dilemmas dieses Eintrags, der so lobenswert und klug scheint: Sie argumentieren, mit einer nachvollziehbaren Berechtigung, vom Privaten aus. Als ob's das Öffentliche nicht gäbe. Als ob's keine Vorschriften gäbe, die uns irrationale Regeln auferlegen. Als ob wir die Wahl hätten, wie man uns zuhört und, noch wichtiger, welche Sprache und welche Worte uns zur Verfügung stehen.
Das Interessanteste dabei ist: Sie, Freund, wurden selbst als gefährlicher Laut- und Anderssprecher gebrandmarkt - und bleiben doch, wie ich auch, in den progressiven Konventionen Ihrer Zeit haften.
Wir sind, selbst als Rebellinnen und Rebellen, stets Kinder unserer Zeit.
Ohne rhetorische Deckung sterben die Vorlauten früher als notwendig.
Wer wirken will, darf nicht nur tapfer sein, sondern muss sich auch radikal und nachhaltig Gehör verschaffen.
Kein Wort sei heiliger als die Wahrheit.
9. Juni
161.
Seine Lieblingsfehler kennen. Auch der vollkommenste Mensch wird dergleichen haben, und entweder ist er mit ihnen vermählt, oder in geheimer Liebschaft. Oft liegen sie im Geiste, und je größer dieser ist, desto größer auch sie, oder auch desto auffallender. Nicht, daß der Inhaber sie nicht kennen sollte; sondern er liebt sie: ein doppeltes Uebel: leidenschaftliche Neigung, und für Fehler. Sie sind Schandflecke der Vollkommenheiten und Andern so widerlich, als ihm selbst wohlgefällig. Hier nun gilt es eine kühne Selbstüberwindung, um seine übrigen Vorzüge von solchem Makel zu befreien. Denn darauf stoßen Alle: und wann sie das übrige Gute, welches sie bewundern, zu loben haben, halten sie bei diesem Anstoß still und schwärzen ihn möglichst an, zur Verunglimpfung der sonstigen Talente.
Sie hören mich hoffentlich vor Vergnügen angeregt lachen, Freund. Was für ein bemerkenswerter Eintrag! Eine rechte Denkfreude. Sie haben ein Vertrauen in sich und in andere, das ich wahrlich bewundere. Allerdings: eine kuriose Vorstellung überkommt mich gerade, ergreift von meiner angestrebten Selbstanalyse ungestüm Besitz. Was machten wir, frage ich mich, frage ich Sie, wenn's ausgerechnet unser Lieblingsfehler wäre, dass wir eben jenen nicht entdecken könnten?
Das fürchterlichste Blindsein liegt wohl im Falschsehen.
Wer die Gefahr liebt, kommt irgendwann in ihr um.
Das Schicksal nimmt keine Rücksicht auf unsere Lebenspläne.
10. Juni
Seine Lieblingsfehler kennen. Auch der vollkommenste Mensch wird dergleichen haben, und entweder ist er mit ihnen vermählt, oder in geheimer Liebschaft. Oft liegen sie im Geiste, und je größer dieser ist, desto größer auch sie, oder auch desto auffallender. Nicht, daß der Inhaber sie nicht kennen sollte; sondern er liebt sie: ein doppeltes Uebel: leidenschaftliche Neigung, und für Fehler. Sie sind Schandflecke der Vollkommenheiten und Andern so widerlich, als ihm selbst wohlgefällig. Hier nun gilt es eine kühne Selbstüberwindung, um seine übrigen Vorzüge von solchem Makel zu befreien. Denn darauf stoßen Alle: und wann sie das übrige Gute, welches sie bewundern, zu loben haben, halten sie bei diesem Anstoß still und schwärzen ihn möglichst an, zur Verunglimpfung der sonstigen Talente.
Sie hören mich hoffentlich vor Vergnügen angeregt lachen, Freund. Was für ein bemerkenswerter Eintrag! Eine rechte Denkfreude. Sie haben ein Vertrauen in sich und in andere, das ich wahrlich bewundere. Allerdings: eine kuriose Vorstellung überkommt mich gerade, ergreift von meiner angestrebten Selbstanalyse ungestüm Besitz. Was machten wir, frage ich mich, frage ich Sie, wenn's ausgerechnet unser Lieblingsfehler wäre, dass wir eben jenen nicht entdecken könnten?
Das fürchterlichste Blindsein liegt wohl im Falschsehen.
Wer die Gefahr liebt, kommt irgendwann in ihr um.
Das Schicksal nimmt keine Rücksicht auf unsere Lebenspläne.
10. Juni
162.
Ueber Nebenbuler und Widersacher zu triumphiren verstehn. Sie zu verachten, reicht nicht aus, wiewohl es vernünftig ist; sondern Edelmuth ist die Sache. Ueber jedes Lob erhaben ist, wer gut redet von dem, der von ihm schlecht redet. Keine heldenmütigere Rache giebt es, als die der Talente und Verdienste, welche die Neider besiegen und martern. Jede neu erlangte Stufe des Glücks ist ein festeres Zuschnüren des Stranges am Halse des Mißgünstigen, und der Ruhm des Angefeindeten ist die Hölle des Nebenbulers: es ist die größte aller Strafen, denn aus dem Glück bereitet sie Gift. Nicht Ein Mal stirbt der Neider, sondern so oft als das Beifallsrufen dem Beneideten ertönt: die Unvergänglichkeit des Ruhmes des Einen ist das Maaß der Quaal des Andern: endlos lebt Jener für die Ehre und Dieser für die Pein. Die Posaune des Ruhms verkündet Jenem Unsterblichkeit, Diesem den Tod durch den Strang, wenn er nicht abwarten will, daß der Neid ihn verzehrt habe.
Tough, Freund, und unversöhnlich und dabei (un)gemein clever. Sich treu zu bleiben, um die Untreuen zur Strecke zur bringen, ist von einer Herablassung geimpft, die von der Überzeugung lebt, tatsächlich über den anderen zu stehen. Wie ein Jäger legen Sie mit Ihrem vergifteteten Lobschießeisen an, ballern, treffen und strecken Ihre Nebenbuhler auf dem Ausweideplatz aus, so dass Sie die geifernd Zuckenden in aller Ruhe coram publico für deren Eingeweide und Wuchs preisen können. Herablassener Degout inklusive. Ein Heidenspaß. Gerade für einen Geistlichen. An Ihnen ist allerlei Talent und allerlei verlorengegangen. Wie Sie wohl in einer Position der Stärke gewesen wären, in einer Lage, ihre Gegner willkürlich abzukanzeln? All das frage ich mich, lese ich von Ihren Machtstrategien, Scharmützelgelüsten und Schachzügen. Und, versteht sich, auch überlege ich, wie's mit mir stünde oder mit Leuten, die ich kenne. Wer entblößte von uns nur den bitterbösen Neidhammel, ließe ihn aber bei der Herde? Wer brächte ihn, seiner überdrüssig, am Nasenring zum Schlachthaus? Wer ergötzte sich so sehr am Sieg, dass er den Missgönnenden gar an der eigenen Tafel erst tanzen und dann als Nebenspeise auftischen ließe?
Sind alte Rechnungen offen, schlagen Überlegenheit und Ironie schneller in Hass um, als wir's uns vorstellen können.
Zu vergeben, heißt zuallererst, sich selbst vollständig zu vergessen. Wer nur die Untaten der anderen ad acta legt, verlegt seinen eigenen Hass und stolpert irgendwann über ihn.
Stellt sich Lob als Rache heraus, so handelt's sich um eine billige Retourkutsche, die weder den Weisen noch den Gütigen ansteht.
11. Juni
Ueber Nebenbuler und Widersacher zu triumphiren verstehn. Sie zu verachten, reicht nicht aus, wiewohl es vernünftig ist; sondern Edelmuth ist die Sache. Ueber jedes Lob erhaben ist, wer gut redet von dem, der von ihm schlecht redet. Keine heldenmütigere Rache giebt es, als die der Talente und Verdienste, welche die Neider besiegen und martern. Jede neu erlangte Stufe des Glücks ist ein festeres Zuschnüren des Stranges am Halse des Mißgünstigen, und der Ruhm des Angefeindeten ist die Hölle des Nebenbulers: es ist die größte aller Strafen, denn aus dem Glück bereitet sie Gift. Nicht Ein Mal stirbt der Neider, sondern so oft als das Beifallsrufen dem Beneideten ertönt: die Unvergänglichkeit des Ruhmes des Einen ist das Maaß der Quaal des Andern: endlos lebt Jener für die Ehre und Dieser für die Pein. Die Posaune des Ruhms verkündet Jenem Unsterblichkeit, Diesem den Tod durch den Strang, wenn er nicht abwarten will, daß der Neid ihn verzehrt habe.
Tough, Freund, und unversöhnlich und dabei (un)gemein clever. Sich treu zu bleiben, um die Untreuen zur Strecke zur bringen, ist von einer Herablassung geimpft, die von der Überzeugung lebt, tatsächlich über den anderen zu stehen. Wie ein Jäger legen Sie mit Ihrem vergifteteten Lobschießeisen an, ballern, treffen und strecken Ihre Nebenbuhler auf dem Ausweideplatz aus, so dass Sie die geifernd Zuckenden in aller Ruhe coram publico für deren Eingeweide und Wuchs preisen können. Herablassener Degout inklusive. Ein Heidenspaß. Gerade für einen Geistlichen. An Ihnen ist allerlei Talent und allerlei verlorengegangen. Wie Sie wohl in einer Position der Stärke gewesen wären, in einer Lage, ihre Gegner willkürlich abzukanzeln? All das frage ich mich, lese ich von Ihren Machtstrategien, Scharmützelgelüsten und Schachzügen. Und, versteht sich, auch überlege ich, wie's mit mir stünde oder mit Leuten, die ich kenne. Wer entblößte von uns nur den bitterbösen Neidhammel, ließe ihn aber bei der Herde? Wer brächte ihn, seiner überdrüssig, am Nasenring zum Schlachthaus? Wer ergötzte sich so sehr am Sieg, dass er den Missgönnenden gar an der eigenen Tafel erst tanzen und dann als Nebenspeise auftischen ließe?
Sind alte Rechnungen offen, schlagen Überlegenheit und Ironie schneller in Hass um, als wir's uns vorstellen können.
Zu vergeben, heißt zuallererst, sich selbst vollständig zu vergessen. Wer nur die Untaten der anderen ad acta legt, verlegt seinen eigenen Hass und stolpert irgendwann über ihn.
Stellt sich Lob als Rache heraus, so handelt's sich um eine billige Retourkutsche, die weder den Weisen noch den Gütigen ansteht.
11. Juni
163.
Nie, aus Mitleid gegen den Unglücklichen, sein Schicksal auch sich zuziehen. Was für den Einen ein Mißgeschick, ist oft für den Andern die glücklichste Begebenheit: denn Keiner könnte beglückt seyn, wenn nicht viele Andre unglücklich wären. Es ist den Unglücklichen eigenthümlich, daß sie leicht den guten Willen der Leute erlangen, indem diese durch ihre unnütze Gunst die Schläge des Schicksals ausgleichen möchten: und bisweilen sah man den, welcher auf dem Gipfel des Glücks Allen ein Abscheu war, im Unglück von Allen bemitleidet: die Rachgier gegen den Erhobenen hatte sich in Theilnahme für den Gefallenen verwandelt. Jedoch der Kluge merke auf, wie das Schicksal die Karten mischt. Leute giebt es, die man stets nur mit Unglücklichen gehn sieht, und der, den sie als einen Beglückten gestern flohen, steht heute als ein Unglücklicher an ihrer Seite. Das zeugt bisweilen von einem edeln Gemüth, jedoch nicht von Klugheit.
Die größte Leistung, der wir uns als Menschen befleißigen können - ein ziemlich altmodisches Tunwort, aber um Fleiß geht's, da sowohl Perfektion als auch Vollkommenheit zunächst außerhalb der alltäglichen Möglichkeit liegen -, die größte Leistung, Freund, der wir uns befleißigen können, lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Mache nur, was Du selbst und die Welt nicht nur aushalten können, wärst Du die Empfängerin oder der Empfänger Deines eigenen Handelns, sondern benimm Dich so, dass Du selbst sowohl den Schaden konsequent vermeidest als auch die Folgen der Schäden, die andere verursacht haben und verursachen, selbstlos reparierst.
Kant erweitert diese Idee um die essentielle Frage des Gesetzes: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
Das uralte Wie-Du-mir-so-ich-Dir, das wir von Rache entschlacken und nur auf die Güte und Gerechtigkeit beziehen wollten, führt, wovon ich fest überzeugt bin, zu einer besseren Welt. Nehmen wir die Bekämpfung der Armut. Verschiedene Versuche haben gezeigt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen Menschen nicht davon abhält, zu arbeiten. Im Gegenteil. Es gibt ihnen die Möglichkeit, eine bessere Gesellschaft zu gestalten. Wir sind derzeit, Anfang des neuen Jahrtausends, in einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der wir uns neu erfinden müssen. Dringend umdenken müssen. Die unvorstellbare Selbstbezogenheit, die auch aus Ihren Worten spricht, funktioniert nicht länger als Lebensmaxime. Unser persönliches, dumm-dreistes Konsumglück zerstört gerade den Planeten. Wir müssen verstehen, dass jenes Unglück, welches andere erleiden, das Unglück ist, für das wir persönlich Verantwortung tragen. Mein Verhalten zerstört die Umwelt. Und dass meine Nachbarinnen und Nachbarn sich nicht besser verhalten, kann, darf und sollte keine Entschuldigung für meine Ignoranz sein.
Jeder Mensch ist erst glücklich, wenn alle anderen es auch sind; was nicht auf Kosten unseres Planeten gehen darf.
Will die Menschheit überleben, muss sie erkennen, dass sich der alles verschlingende Kapitalismus überlebt hat.
Das Gute nimmt dem Schlechten den Raum. Lässt das Gute dem Schlechten Platz, um sich zu entwickeln, legitimiert es das Nachteilige. Ignoranz und Güte funktionieren grundsätzlich nicht zusammen. Wer gut sein will, kann sich nicht aussuchen, wann er oder sie hinsieht.
Ach, noch eins, Freund, sei am Abend den etwas zu didaktischen Morgengedanken angefügt: Seien wir in unserer Glückssehnsucht viel wilder, reißen wir uns und andere um, uns und andere mit. Vergessen wir, was andere uns aufdrängen, Sie und mich inklusive, schlagen wir uns die Nacht um die Ohren, leben wir bis zum Gehtnichtmehr. Außerhalb des Rahmens beginnt das Bild.
12. Juni
Nie, aus Mitleid gegen den Unglücklichen, sein Schicksal auch sich zuziehen. Was für den Einen ein Mißgeschick, ist oft für den Andern die glücklichste Begebenheit: denn Keiner könnte beglückt seyn, wenn nicht viele Andre unglücklich wären. Es ist den Unglücklichen eigenthümlich, daß sie leicht den guten Willen der Leute erlangen, indem diese durch ihre unnütze Gunst die Schläge des Schicksals ausgleichen möchten: und bisweilen sah man den, welcher auf dem Gipfel des Glücks Allen ein Abscheu war, im Unglück von Allen bemitleidet: die Rachgier gegen den Erhobenen hatte sich in Theilnahme für den Gefallenen verwandelt. Jedoch der Kluge merke auf, wie das Schicksal die Karten mischt. Leute giebt es, die man stets nur mit Unglücklichen gehn sieht, und der, den sie als einen Beglückten gestern flohen, steht heute als ein Unglücklicher an ihrer Seite. Das zeugt bisweilen von einem edeln Gemüth, jedoch nicht von Klugheit.
Die größte Leistung, der wir uns als Menschen befleißigen können - ein ziemlich altmodisches Tunwort, aber um Fleiß geht's, da sowohl Perfektion als auch Vollkommenheit zunächst außerhalb der alltäglichen Möglichkeit liegen -, die größte Leistung, Freund, der wir uns befleißigen können, lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Mache nur, was Du selbst und die Welt nicht nur aushalten können, wärst Du die Empfängerin oder der Empfänger Deines eigenen Handelns, sondern benimm Dich so, dass Du selbst sowohl den Schaden konsequent vermeidest als auch die Folgen der Schäden, die andere verursacht haben und verursachen, selbstlos reparierst.
Kant erweitert diese Idee um die essentielle Frage des Gesetzes: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
Das uralte Wie-Du-mir-so-ich-Dir, das wir von Rache entschlacken und nur auf die Güte und Gerechtigkeit beziehen wollten, führt, wovon ich fest überzeugt bin, zu einer besseren Welt. Nehmen wir die Bekämpfung der Armut. Verschiedene Versuche haben gezeigt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen Menschen nicht davon abhält, zu arbeiten. Im Gegenteil. Es gibt ihnen die Möglichkeit, eine bessere Gesellschaft zu gestalten. Wir sind derzeit, Anfang des neuen Jahrtausends, in einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der wir uns neu erfinden müssen. Dringend umdenken müssen. Die unvorstellbare Selbstbezogenheit, die auch aus Ihren Worten spricht, funktioniert nicht länger als Lebensmaxime. Unser persönliches, dumm-dreistes Konsumglück zerstört gerade den Planeten. Wir müssen verstehen, dass jenes Unglück, welches andere erleiden, das Unglück ist, für das wir persönlich Verantwortung tragen. Mein Verhalten zerstört die Umwelt. Und dass meine Nachbarinnen und Nachbarn sich nicht besser verhalten, kann, darf und sollte keine Entschuldigung für meine Ignoranz sein.
Jeder Mensch ist erst glücklich, wenn alle anderen es auch sind; was nicht auf Kosten unseres Planeten gehen darf.
Will die Menschheit überleben, muss sie erkennen, dass sich der alles verschlingende Kapitalismus überlebt hat.
Das Gute nimmt dem Schlechten den Raum. Lässt das Gute dem Schlechten Platz, um sich zu entwickeln, legitimiert es das Nachteilige. Ignoranz und Güte funktionieren grundsätzlich nicht zusammen. Wer gut sein will, kann sich nicht aussuchen, wann er oder sie hinsieht.
Ach, noch eins, Freund, sei am Abend den etwas zu didaktischen Morgengedanken angefügt: Seien wir in unserer Glückssehnsucht viel wilder, reißen wir uns und andere um, uns und andere mit. Vergessen wir, was andere uns aufdrängen, Sie und mich inklusive, schlagen wir uns die Nacht um die Ohren, leben wir bis zum Gehtnichtmehr. Außerhalb des Rahmens beginnt das Bild.
12. Juni
164.
Einige Luftstreiche thun, um die Aufnahme, welche manche Dinge finden würden, vorläufig zu untersuchen, zumal solche, über deren Billigung oder Gelingen man Mißtrauen hegt. Man kann sich dadurch des guten Ausgangs vergewissern und behält immer Raum, entweder Ernst zu machen, oder einzulenken. Man prüft auf diese Art die Neigungen, und der Aufmerksame lernt seinen Grund und Boden kennen, welches die wichtigste Vorkehr ist beim Bitten, beim Lieben und beim Regieren.
Ein Wort, in das ich mich sogleich verguckt habe, Freund: Luftstreiche. Ihr Translator, selbst ein erfahrener Spiegelfechter vorm Herrn, weiß, warum er dieses hier ausgewählt hat. Jedes System, das sich die Welt vorknöpft und ihr Erklärungsmuster verpasst, ist doch ein ephemerer Luftstreich; wohl ließe sich behaupten: je tiefer es sich gibt, um so schneller versandet's.
Mir scheint, wir sollten, und damit bewegen wir uns aus Ihrer Schnittmenge des Versuchsballone-Starten-Ratschlags, wir sollten alle Worte erfinden und in ihnen vergnügt baden. Warum führen wir nicht gleich einen Kurs für Kinder ein, in dem nichts anderes gemacht wird, als sich zuckertraurige und zitronensüße Vokabeln auszudenken? Wie wär's mit Nachhaltigdieb oder Lückenträumerin oder Handyhals?
Jede echte Liebe findet neue Worte.
Geht unsere Zeit zu Ende, versiegen die Begriffe; Verlust sei irgendwann auf immer stumm.
Ich sei, um bald nicht mehr zu sein. Ich sei, um kalt und alt und zugenäht zu erstarren. Ich sei, um dieses Wissen auszubooten. Ich sei, um tief Lebenslust einzuatmen. Ich sei, um mir mit euch die Liebesfreude aus dem Hals zu schreien.
13. Juni
Einige Luftstreiche thun, um die Aufnahme, welche manche Dinge finden würden, vorläufig zu untersuchen, zumal solche, über deren Billigung oder Gelingen man Mißtrauen hegt. Man kann sich dadurch des guten Ausgangs vergewissern und behält immer Raum, entweder Ernst zu machen, oder einzulenken. Man prüft auf diese Art die Neigungen, und der Aufmerksame lernt seinen Grund und Boden kennen, welches die wichtigste Vorkehr ist beim Bitten, beim Lieben und beim Regieren.
Ein Wort, in das ich mich sogleich verguckt habe, Freund: Luftstreiche. Ihr Translator, selbst ein erfahrener Spiegelfechter vorm Herrn, weiß, warum er dieses hier ausgewählt hat. Jedes System, das sich die Welt vorknöpft und ihr Erklärungsmuster verpasst, ist doch ein ephemerer Luftstreich; wohl ließe sich behaupten: je tiefer es sich gibt, um so schneller versandet's.
Mir scheint, wir sollten, und damit bewegen wir uns aus Ihrer Schnittmenge des Versuchsballone-Starten-Ratschlags, wir sollten alle Worte erfinden und in ihnen vergnügt baden. Warum führen wir nicht gleich einen Kurs für Kinder ein, in dem nichts anderes gemacht wird, als sich zuckertraurige und zitronensüße Vokabeln auszudenken? Wie wär's mit Nachhaltigdieb oder Lückenträumerin oder Handyhals?
Jede echte Liebe findet neue Worte.
Geht unsere Zeit zu Ende, versiegen die Begriffe; Verlust sei irgendwann auf immer stumm.
Ich sei, um bald nicht mehr zu sein. Ich sei, um kalt und alt und zugenäht zu erstarren. Ich sei, um dieses Wissen auszubooten. Ich sei, um tief Lebenslust einzuatmen. Ich sei, um mir mit euch die Liebesfreude aus dem Hals zu schreien.
13. Juni
165.
Ein redlicher Widersacher seyn. Der Mann von Verstand kann genöthigt werden, ein Widersacher, aber nicht, ein nichtswürdiger Widersacher zu seyn. Jeder muß handeln als der, welcher er ist, nicht als der, wozu sie ihn machen möchten. Der Edelsinn beim Kampf mit Nebenbulern erwirbt Beifall: man kämpfe so, daß man nicht bloß durch die Uebermacht, sondern auch durch die Art zu verfahren siegreich sei. Ein niederträchtiger Sieg ist kein Ruhm, vielmehr eine Niederlage. Immer behält der Edelmuth die Oberhand. Der rechtliche Mann gebraucht nie verbotene Waffen: dergleichen aber sind die der beendigten Freundschaft gegen den begonnenen Haß, da man nie das geschenkte Zutrauen zur Rache benutzen darf. Alles, was nach Verrath auch nur riecht, befleckt den guten Namen. In Leuten, die auf Achtung Anspruch haben, befremdet jede Spur von Niedrigkeit: Seelenadel und Verworfenheit müssen weit auseinander bleiben. Man setze seinen Ruhm darin, daß wenn Edelsinn, Großmuth und Treue sich aus der Welt verloren hätten, sie in unserer Brust noch wiederzufinden seyn würden.
Sie, Freund, sind fürs Heroische zu haben. Immer. Das Leben, von dem Sie berichten - oder eher: träumen, kennt weniger die Zusammenarbeit als die heroische Auseinandersetzung. Es reicht nicht, was für mich mehr als genug wäre, dass wir Widersacher und Widersacherinnen haben, wir selbst sollen auch welche sein. Redlich zwar, aber immerhin. Ich bin davon überzeugt, dass unser Menschenbild am Ende tatsächlich auf die von uns Beurteilten abfärbt. Wenn wir Leuten oft genug erzählen, dass wir sie des Verrates verdächtigen, werden sie uns irgendwann, nach Lage der Dinge, verraten.
Wir legen die Saat und dürfen nicht überrascht sein, wenn wir ernten, was wir gesät haben.
Dass Sie den Edelmut in der eigenen Brust verorten, ist durchaus löblich, gerade in Zeiten, wenn sich kaum jemand gut und edel verhält. Hier finden wir uns wieder. Allein Ihr kastengleiches Anspruchsdenken, denn sobald Sie von Leuten sprechen, die irgendein Anrecht haben, reden Sie halt immer implizit über blaublütige Hochwohlgeborene und gottesfürchtige Eliten, allein dieser Oberschichtendünkel ist asozial.
Ehrlichkeit kann's nur geben, wo die Gesellschaft nicht auf Lügen aufgebaut ist.
14. Juni
Ein redlicher Widersacher seyn. Der Mann von Verstand kann genöthigt werden, ein Widersacher, aber nicht, ein nichtswürdiger Widersacher zu seyn. Jeder muß handeln als der, welcher er ist, nicht als der, wozu sie ihn machen möchten. Der Edelsinn beim Kampf mit Nebenbulern erwirbt Beifall: man kämpfe so, daß man nicht bloß durch die Uebermacht, sondern auch durch die Art zu verfahren siegreich sei. Ein niederträchtiger Sieg ist kein Ruhm, vielmehr eine Niederlage. Immer behält der Edelmuth die Oberhand. Der rechtliche Mann gebraucht nie verbotene Waffen: dergleichen aber sind die der beendigten Freundschaft gegen den begonnenen Haß, da man nie das geschenkte Zutrauen zur Rache benutzen darf. Alles, was nach Verrath auch nur riecht, befleckt den guten Namen. In Leuten, die auf Achtung Anspruch haben, befremdet jede Spur von Niedrigkeit: Seelenadel und Verworfenheit müssen weit auseinander bleiben. Man setze seinen Ruhm darin, daß wenn Edelsinn, Großmuth und Treue sich aus der Welt verloren hätten, sie in unserer Brust noch wiederzufinden seyn würden.
Sie, Freund, sind fürs Heroische zu haben. Immer. Das Leben, von dem Sie berichten - oder eher: träumen, kennt weniger die Zusammenarbeit als die heroische Auseinandersetzung. Es reicht nicht, was für mich mehr als genug wäre, dass wir Widersacher und Widersacherinnen haben, wir selbst sollen auch welche sein. Redlich zwar, aber immerhin. Ich bin davon überzeugt, dass unser Menschenbild am Ende tatsächlich auf die von uns Beurteilten abfärbt. Wenn wir Leuten oft genug erzählen, dass wir sie des Verrates verdächtigen, werden sie uns irgendwann, nach Lage der Dinge, verraten.
Wir legen die Saat und dürfen nicht überrascht sein, wenn wir ernten, was wir gesät haben.
Dass Sie den Edelmut in der eigenen Brust verorten, ist durchaus löblich, gerade in Zeiten, wenn sich kaum jemand gut und edel verhält. Hier finden wir uns wieder. Allein Ihr kastengleiches Anspruchsdenken, denn sobald Sie von Leuten sprechen, die irgendein Anrecht haben, reden Sie halt immer implizit über blaublütige Hochwohlgeborene und gottesfürchtige Eliten, allein dieser Oberschichtendünkel ist asozial.
Ehrlichkeit kann's nur geben, wo die Gesellschaft nicht auf Lügen aufgebaut ist.
14. Juni
166.
Den Mann von Worten von dem von Werken unterscheiden. Diese Unterscheidung erfordert die größte Genauigkeit, eben wie die der Freunde, der Personen und der Aemter; da alle diese Dinge große Verschiedenheiten haben. Weder gute Worte, noch schlechte Werke, ist schon schlimm; aber weder schlechte Worte, noch gute Werke, ist schlimmer. Worte kann man nicht essen, sie sind Wind; und von Artigkeiten kann man nicht leben, sie sind ein höflicher Betrug. Die Vögel mit dem Lichte fangen, ist das wahre Blenden. Die Eiteln lassen sich mit Wind abspeisen. Die Worte sollen das Unterpfand der Werke seyn, und dann haben sie ihren Werth. Die Bäume, die keine Frucht, sondern nur Blätter tragen, pflegen ohne Mark zu seyn: man muß sie kennen, die einen zum Nutzen, die andern zum Schatten.
Sie, Freund, treffen mich ins Mark, ins tiefste, bin ich ehrlich. Ich hadere seit vielen Jahren, diese Unterscheidung einigermaßen ins Lot zu bringen - und scheitere. Auf ganzer Linie. Ich schreibe Worte in den Wind und erwarte, dass ein Sturm mir antwortet, stattdessen: nichts als laue Luft. Ich halte mich für ein Gewitter, werde aber nur als eitel Sonnenschein wahrgenommen. Verstehen Sie mich bitte richtig: nichts habe ich gegen eine Gutwetterperiode einzuwenden, selbstverständlich lobe ich nicht die gleichgültigen Unwetter, die zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Mir geht's um nachhaltige Wirkung. Und, auch hier will ich die Wahrheit sagen, ein Auskommen, das reicht, um denken und schreiben zu können, das wäre eine Freude.
Was einer oder einem gelingt, wird der oder dem anderen, die doch gleichwertiges anbieten, tief angerechnet.
Hat man einen Platz, wiegen die Worte schwer; hat man keinen, bleiben sie Schall und Rauch.
Worte, die sich vergolden lassen, sind rar.
Ohne Bitternis lässt sich sagen: finden sich überhaupt Worte, bleibt ein Tor in der Zeit.
15. Juni
Den Mann von Worten von dem von Werken unterscheiden. Diese Unterscheidung erfordert die größte Genauigkeit, eben wie die der Freunde, der Personen und der Aemter; da alle diese Dinge große Verschiedenheiten haben. Weder gute Worte, noch schlechte Werke, ist schon schlimm; aber weder schlechte Worte, noch gute Werke, ist schlimmer. Worte kann man nicht essen, sie sind Wind; und von Artigkeiten kann man nicht leben, sie sind ein höflicher Betrug. Die Vögel mit dem Lichte fangen, ist das wahre Blenden. Die Eiteln lassen sich mit Wind abspeisen. Die Worte sollen das Unterpfand der Werke seyn, und dann haben sie ihren Werth. Die Bäume, die keine Frucht, sondern nur Blätter tragen, pflegen ohne Mark zu seyn: man muß sie kennen, die einen zum Nutzen, die andern zum Schatten.
Sie, Freund, treffen mich ins Mark, ins tiefste, bin ich ehrlich. Ich hadere seit vielen Jahren, diese Unterscheidung einigermaßen ins Lot zu bringen - und scheitere. Auf ganzer Linie. Ich schreibe Worte in den Wind und erwarte, dass ein Sturm mir antwortet, stattdessen: nichts als laue Luft. Ich halte mich für ein Gewitter, werde aber nur als eitel Sonnenschein wahrgenommen. Verstehen Sie mich bitte richtig: nichts habe ich gegen eine Gutwetterperiode einzuwenden, selbstverständlich lobe ich nicht die gleichgültigen Unwetter, die zerstören, was sich ihnen in den Weg stellt. Mir geht's um nachhaltige Wirkung. Und, auch hier will ich die Wahrheit sagen, ein Auskommen, das reicht, um denken und schreiben zu können, das wäre eine Freude.
Was einer oder einem gelingt, wird der oder dem anderen, die doch gleichwertiges anbieten, tief angerechnet.
Hat man einen Platz, wiegen die Worte schwer; hat man keinen, bleiben sie Schall und Rauch.
Worte, die sich vergolden lassen, sind rar.
Ohne Bitternis lässt sich sagen: finden sich überhaupt Worte, bleibt ein Tor in der Zeit.
15. Juni
167.
Sich zu helfen wissen. In großen Gefahren giebt es keinen bessern Gefährten, als ein wackeres Herz: und sollte es schwach werden; so müssen die benachbarten Theile ihm aushelfen. Die Mühseligkeiten verringern sich dem, der sich zu helfen weiß. Man muß nicht dem Schicksal die Waffen strecken: denn da würde es sich vollends unerträglich machen. Manche helfen sich gar wenig in ihren Widerwärtigkeiten und verdoppeln solche, weil sie sie nicht zu tragen verstehn. Der, welcher sich schon kennt, kommt seiner Schwäche durch Ueberlegung zu Hülfe, und der Kluge besiegt Alles, sogar das Gestirn.
Gestern, Freund, war ich bei einer Veranstaltung, die während der Langen Nacht der Wissenschaften stattfand. Es ging um Rechtspopulismus in Europa. Ein Teilnehmer, ein Professor, der sich gerne reden hörte, der, zweifellos, auch überzeugend sprechen konnte, verfiel auf die Idee, dass man die Arroganz der Aufgeklärten, also derjenigen, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus engagieren, gefälligst einstellen sollte, um den anderen, die einen illiberalen, populistischen Staat wollen, in dem endlich wieder Ordnung herrscht, die Frauen brav am Herd stehen, Abtreibungen und Homosexualität verboten und Asybewerberinnen und Asybewerber bereits an den hochgerüsteten Grenzen aufgehalten werden, um diesen anderen nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
Ich bin anderer Meinung. Wollen wir uns zu helfen wissen, als humanistische Gesellschaft, dürfen wir uns gerade nicht zurückziehen, dürfen wir nicht den übelgelaunten Hasserinnen und Hassern, die alles verachten, was nicht weiß, straight und christlich ist, einen Zentimeter Raum geben. Appeasement nützt nicht, sehen wir uns Faschistinnen und Faschisten gegenüber. Hier hilft nur der Verfassungspatriotismus. In den Auseinandersetzungen mit den Xenophoben ist das Grundgesetz auf der Seite der Toleranz und Aufklärung. Noch. Denn erlaubten wir, was jener redegewandte Professor vorschlug, würden die Feindinnen und Feinde der Demokratie, erlangten sie erst genügend Macht, die Verfassung aushöhlen, aushebeln und umschreiben.
Tag für Tag werden in Deutschland Gewalttaten mit rechtem Hintergrund begangen. Im Jahr 2016 ereignete sich, statistisch betrachtet, alle 22 Minuten solch ein Fall. Das ist schockierend, Freund. Darunter befinden sich, selbstverständlich, auch Straftaten, bei denen Menschen verletzt und getötet werden. Seit der Wiederverneinigung (1990) hat es 76 Tötungsdelikte mit 83 Todesopfern gegeben. Offiziell. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Zwei Zeitungen, der Tagesspiegel und die Zeit, gehen von 169 Mordopfern bis Mitte 2018 aus. Die Behörden sind nicht besonders gut darin, Morde an Ausländerinnen und Ausländern korrekt zu erfassen. Besonders nicht, wenn Polizistinnen und Polizisten in die Taten verwickelt sind.
In großen Gefahren, schreiben Sie, helfe ein wackers Herz. Ich stimme Ihnen zu. Zum Herz gehört auch die Güte.
Wer das Böse toleriert, macht sich mit ihm gemein. Ob gewollt oder nicht, steht dabei nicht zur Debatte.
Widerstand gegen Intoleranz sei in einer Demokratie erste Bürgerinnen- und Bürgerpflicht. Anderen das Unangenehme zu überlassen, denn angenehm ist das Gespräch mit radikalen Populistinnen und Populisten niemals, ziemt sich nicht.
Selbstzufriedenheit hilft in Krisenzeiten kein Stück weiter. Die Gesellschaft, um ein Wort Sartres abzuwandeln, ist nur, was sie aus sich macht.
16. Juni
Sich zu helfen wissen. In großen Gefahren giebt es keinen bessern Gefährten, als ein wackeres Herz: und sollte es schwach werden; so müssen die benachbarten Theile ihm aushelfen. Die Mühseligkeiten verringern sich dem, der sich zu helfen weiß. Man muß nicht dem Schicksal die Waffen strecken: denn da würde es sich vollends unerträglich machen. Manche helfen sich gar wenig in ihren Widerwärtigkeiten und verdoppeln solche, weil sie sie nicht zu tragen verstehn. Der, welcher sich schon kennt, kommt seiner Schwäche durch Ueberlegung zu Hülfe, und der Kluge besiegt Alles, sogar das Gestirn.
Gestern, Freund, war ich bei einer Veranstaltung, die während der Langen Nacht der Wissenschaften stattfand. Es ging um Rechtspopulismus in Europa. Ein Teilnehmer, ein Professor, der sich gerne reden hörte, der, zweifellos, auch überzeugend sprechen konnte, verfiel auf die Idee, dass man die Arroganz der Aufgeklärten, also derjenigen, die sich gegen Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus engagieren, gefälligst einstellen sollte, um den anderen, die einen illiberalen, populistischen Staat wollen, in dem endlich wieder Ordnung herrscht, die Frauen brav am Herd stehen, Abtreibungen und Homosexualität verboten und Asybewerberinnen und Asybewerber bereits an den hochgerüsteten Grenzen aufgehalten werden, um diesen anderen nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen.
Ich bin anderer Meinung. Wollen wir uns zu helfen wissen, als humanistische Gesellschaft, dürfen wir uns gerade nicht zurückziehen, dürfen wir nicht den übelgelaunten Hasserinnen und Hassern, die alles verachten, was nicht weiß, straight und christlich ist, einen Zentimeter Raum geben. Appeasement nützt nicht, sehen wir uns Faschistinnen und Faschisten gegenüber. Hier hilft nur der Verfassungspatriotismus. In den Auseinandersetzungen mit den Xenophoben ist das Grundgesetz auf der Seite der Toleranz und Aufklärung. Noch. Denn erlaubten wir, was jener redegewandte Professor vorschlug, würden die Feindinnen und Feinde der Demokratie, erlangten sie erst genügend Macht, die Verfassung aushöhlen, aushebeln und umschreiben.
Tag für Tag werden in Deutschland Gewalttaten mit rechtem Hintergrund begangen. Im Jahr 2016 ereignete sich, statistisch betrachtet, alle 22 Minuten solch ein Fall. Das ist schockierend, Freund. Darunter befinden sich, selbstverständlich, auch Straftaten, bei denen Menschen verletzt und getötet werden. Seit der Wiederverneinigung (1990) hat es 76 Tötungsdelikte mit 83 Todesopfern gegeben. Offiziell. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Zwei Zeitungen, der Tagesspiegel und die Zeit, gehen von 169 Mordopfern bis Mitte 2018 aus. Die Behörden sind nicht besonders gut darin, Morde an Ausländerinnen und Ausländern korrekt zu erfassen. Besonders nicht, wenn Polizistinnen und Polizisten in die Taten verwickelt sind.
In großen Gefahren, schreiben Sie, helfe ein wackers Herz. Ich stimme Ihnen zu. Zum Herz gehört auch die Güte.
Wer das Böse toleriert, macht sich mit ihm gemein. Ob gewollt oder nicht, steht dabei nicht zur Debatte.
Widerstand gegen Intoleranz sei in einer Demokratie erste Bürgerinnen- und Bürgerpflicht. Anderen das Unangenehme zu überlassen, denn angenehm ist das Gespräch mit radikalen Populistinnen und Populisten niemals, ziemt sich nicht.
Selbstzufriedenheit hilft in Krisenzeiten kein Stück weiter. Die Gesellschaft, um ein Wort Sartres abzuwandeln, ist nur, was sie aus sich macht.
16. Juni
168.
Nicht zu einem Ungeheuer von Narrheit werden. Dergleichen sind alle Eitele, Anmaaßliche, Eigensinnige, Kapriziöse, von ihrer Meinung nicht Abzubringende, Ueberspannte, Gesichterschneider, Possenreißer, Neuigkeitskrämer, Paradoxisten, Sektirer und verschrobene Köpfe jeder Art: sie sind alle Ungeheuer von Ungebührlichkeit. Aber jede Mißgestalt des Geistes ist häßlicher als die des Leibes, weil sie einer höheren Gattung von Schönheit widerstreitet. Allein, wer soll einer so großen und gänzlichen Verstimmung zu Hülfe kommen? Wo die große Obhut seiner selbst fehlt, ist keine Leitung mehr möglich: und an die Stelle eines nachdenkenden Bemerkens des fremden Spottes, ist der falsche Dünkel eines eingebildeten Beifalls getreten.
Große Begriffe, Freund, die Sie hier in den Ring werfen. Auf jeden ließe sich mit Nachdruck eindreschen; was einfach ist, da etliche per se schon im Staub liegen, möglicherweise niemals wirklich gestanden haben. Doch einige Denkweisen, scheint mir, haben eine Ehrenrettung verdient.
Nehmen wir nur die Verschrobenheit, und ich meine nicht die närrische, sondern die wunderliche und weltfemde. Das Merkwürdige an der Verschrobenheit ist, jedenfalls für mich, dass sie ein Leben ermöglicht, das im selben Augenblick mit der gleichförmigen Welt der anderen verbunden ist und dabei doch an der Außenseite bleibt.
Im Deutschen gibt es einen Ausspruch, den ich sehr liebe, Freund: man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Nicht zu selten ermöglicht erst der Abstand Anstand.
Der Zwang der Gruppe ist oft genug nicht weniger närrisch als die Narrheit des Individuums, häufig sogar deutlich schlimmer.
17. Juni
Nicht zu einem Ungeheuer von Narrheit werden. Dergleichen sind alle Eitele, Anmaaßliche, Eigensinnige, Kapriziöse, von ihrer Meinung nicht Abzubringende, Ueberspannte, Gesichterschneider, Possenreißer, Neuigkeitskrämer, Paradoxisten, Sektirer und verschrobene Köpfe jeder Art: sie sind alle Ungeheuer von Ungebührlichkeit. Aber jede Mißgestalt des Geistes ist häßlicher als die des Leibes, weil sie einer höheren Gattung von Schönheit widerstreitet. Allein, wer soll einer so großen und gänzlichen Verstimmung zu Hülfe kommen? Wo die große Obhut seiner selbst fehlt, ist keine Leitung mehr möglich: und an die Stelle eines nachdenkenden Bemerkens des fremden Spottes, ist der falsche Dünkel eines eingebildeten Beifalls getreten.
Große Begriffe, Freund, die Sie hier in den Ring werfen. Auf jeden ließe sich mit Nachdruck eindreschen; was einfach ist, da etliche per se schon im Staub liegen, möglicherweise niemals wirklich gestanden haben. Doch einige Denkweisen, scheint mir, haben eine Ehrenrettung verdient.
Nehmen wir nur die Verschrobenheit, und ich meine nicht die närrische, sondern die wunderliche und weltfemde. Das Merkwürdige an der Verschrobenheit ist, jedenfalls für mich, dass sie ein Leben ermöglicht, das im selben Augenblick mit der gleichförmigen Welt der anderen verbunden ist und dabei doch an der Außenseite bleibt.
Im Deutschen gibt es einen Ausspruch, den ich sehr liebe, Freund: man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Nicht zu selten ermöglicht erst der Abstand Anstand.
Der Zwang der Gruppe ist oft genug nicht weniger närrisch als die Narrheit des Individuums, häufig sogar deutlich schlimmer.
17. Juni
169.
Mehr darauf wachen, nicht Ein Mal zu fehlen, als hundert Mal zu treffen. Nach der strahlenden Sonne sieht Keiner, aber Alle nach der verfinsterten. Die gemeine Kritik der Welt wird dir nicht, was dir gelungen, sondern was du verfehlt hast nachrechnen. Die üble Nachrede trägt den Ruf der Schlechten weiter, als der erlangte Beifall den der Guten. Viele kannte die Welt nicht eher, als bis sie sich vergangen hatten. Alle gelungenen Leistungen eines Mannes zusammengenommen sind nicht hinreichend, einen einzigen und kleinen Makel auszulöschen. Also komme Jeder vom Irrthum hierüber zurück, und wisse, daß Alles was er je schlecht gemacht, jedoch nichts von dem, was er gut gemacht, von den Uebelwollenden angemerkt werden wird.
Deprimierend, Freund, und so schrecklich wahr. Selbst wenn ich wünschte, dass ein Fehler nicht an der Ehre kratzte, weiß ich doch, dass es so ist, wie Sie's beschreiben. Der Seitensprung bleibt im Gedächtnis, nicht die Geradeausgehdauer.
Andererseits, wohl lohnt es sich, tolerante Menschen um sich zu versammeln, die uns, sobald wir fehlen, vergeben. Ein Fehler ist nicht maßgeblich, wenn Toleranz Teil der Kultur ist. Und damit meine ich nicht Vergebung, eine herablassende Haltung, die tatsächlich auf der Überlegenheit der Vergebenden beharrt. Echtes Verständnis verzeiht nicht Fehler von oben herab, sondern akzeptiert Fehler als normalen Teil des Lebens.
Ein Sein ohne Irrtümer existiert nicht. Wer nicht irgendwann ausrutscht, hat sich niemals bewegt. Zu fallen sei der ursprünglichste aller Zustände, das sichere Voranschreiten über Stock und Stein meistens eine dreiste Illusion.
18. Juni
Mehr darauf wachen, nicht Ein Mal zu fehlen, als hundert Mal zu treffen. Nach der strahlenden Sonne sieht Keiner, aber Alle nach der verfinsterten. Die gemeine Kritik der Welt wird dir nicht, was dir gelungen, sondern was du verfehlt hast nachrechnen. Die üble Nachrede trägt den Ruf der Schlechten weiter, als der erlangte Beifall den der Guten. Viele kannte die Welt nicht eher, als bis sie sich vergangen hatten. Alle gelungenen Leistungen eines Mannes zusammengenommen sind nicht hinreichend, einen einzigen und kleinen Makel auszulöschen. Also komme Jeder vom Irrthum hierüber zurück, und wisse, daß Alles was er je schlecht gemacht, jedoch nichts von dem, was er gut gemacht, von den Uebelwollenden angemerkt werden wird.
Deprimierend, Freund, und so schrecklich wahr. Selbst wenn ich wünschte, dass ein Fehler nicht an der Ehre kratzte, weiß ich doch, dass es so ist, wie Sie's beschreiben. Der Seitensprung bleibt im Gedächtnis, nicht die Geradeausgehdauer.
Andererseits, wohl lohnt es sich, tolerante Menschen um sich zu versammeln, die uns, sobald wir fehlen, vergeben. Ein Fehler ist nicht maßgeblich, wenn Toleranz Teil der Kultur ist. Und damit meine ich nicht Vergebung, eine herablassende Haltung, die tatsächlich auf der Überlegenheit der Vergebenden beharrt. Echtes Verständnis verzeiht nicht Fehler von oben herab, sondern akzeptiert Fehler als normalen Teil des Lebens.
Ein Sein ohne Irrtümer existiert nicht. Wer nicht irgendwann ausrutscht, hat sich niemals bewegt. Zu fallen sei der ursprünglichste aller Zustände, das sichere Voranschreiten über Stock und Stein meistens eine dreiste Illusion.
18. Juni
170.
Bei allen Dingen stets etwas in Reserve haben. Dadurch sichert man seine Bedeutsamkeit. Nicht alle seine Fähigkeiten und Kräfte soll man sogleich und bei jeder Gelegenheit anwenden. Auch im Wissen muß es eine Arriere-Garde geben: man verdoppelt dadurch seine Vollkommenheiten. Stets muß man etwas haben, wozu man, bei der Gefahr eines schlechten Ausgangs, seine Zuflucht nehmen kann. Der Entsatz leistet mehr als der Angriff; weil er Werth und Ansehn hervorhebt. Der Kluge geht stets mit Sicherheit zu Werke: und auch in der hier betrachteten Rücksicht gilt jenes pikante Paradoxon: »mehr ist die Hälfte, als das Ganze.«
Wer alles ausschöpft, erschöpft sich, Freund.
Im Bis-zur-Neige-Leben liegt zwar keine Klugheit wie in der Spatz-in-der-Hand-Genügsamkeit, aber - und dies ist ein gewagtes Aber, das an mir nagt und mich gerade jetzt zwingt, Risiken einzugehen; ich verkürze in diesem Moment meine Brot-und-Butter-Arbeitszeit, um mehr Kraft für die bislang brotlose Kunst zu haben -, aber das Bis-zur-Neige-Leben kann auch reizvoll sein, da wir eben alles wagen, nichts kleinlich zurückhalten, mit Elan und Gier in die Vollen gehen.
Die Nachhut, jene Arrieregarde, von der Sie so schwärmen, sich selbst zu überlassen und das Sein an sich zu reißen, ist eine verführerische Vorstellung. Vielleicht, das will ich nicht ausschließen, kommt irgendwann die Vorsicht zurück; hoffentlich erst, wenn ich erreicht habe, was ich erreichen möchte: so viel Erkenntnis und Liebesfreude, wie mir und den meinen das Leben noch gönnt.
Sterben wir unerkannt, haben wir kleinlaut gelebt.
19. Juni
Bei allen Dingen stets etwas in Reserve haben. Dadurch sichert man seine Bedeutsamkeit. Nicht alle seine Fähigkeiten und Kräfte soll man sogleich und bei jeder Gelegenheit anwenden. Auch im Wissen muß es eine Arriere-Garde geben: man verdoppelt dadurch seine Vollkommenheiten. Stets muß man etwas haben, wozu man, bei der Gefahr eines schlechten Ausgangs, seine Zuflucht nehmen kann. Der Entsatz leistet mehr als der Angriff; weil er Werth und Ansehn hervorhebt. Der Kluge geht stets mit Sicherheit zu Werke: und auch in der hier betrachteten Rücksicht gilt jenes pikante Paradoxon: »mehr ist die Hälfte, als das Ganze.«
Wer alles ausschöpft, erschöpft sich, Freund.
Im Bis-zur-Neige-Leben liegt zwar keine Klugheit wie in der Spatz-in-der-Hand-Genügsamkeit, aber - und dies ist ein gewagtes Aber, das an mir nagt und mich gerade jetzt zwingt, Risiken einzugehen; ich verkürze in diesem Moment meine Brot-und-Butter-Arbeitszeit, um mehr Kraft für die bislang brotlose Kunst zu haben -, aber das Bis-zur-Neige-Leben kann auch reizvoll sein, da wir eben alles wagen, nichts kleinlich zurückhalten, mit Elan und Gier in die Vollen gehen.
Die Nachhut, jene Arrieregarde, von der Sie so schwärmen, sich selbst zu überlassen und das Sein an sich zu reißen, ist eine verführerische Vorstellung. Vielleicht, das will ich nicht ausschließen, kommt irgendwann die Vorsicht zurück; hoffentlich erst, wenn ich erreicht habe, was ich erreichen möchte: so viel Erkenntnis und Liebesfreude, wie mir und den meinen das Leben noch gönnt.
Sterben wir unerkannt, haben wir kleinlaut gelebt.
19. Juni
171.
Die Gunst nicht verbrauchen. Die großen Gönner sind für die großen Gelegenheiten. Ein großes Zutrauen soll man nicht zu kleinen Dingen in Anspruch nehmen: denn das hieße die Gunst vergeuden. Das heilige Anker bleibe stets für die äußerste Gefahr aufbewahrt. Wenn man zu geringen Zwecken das Große mißbraucht, was wird dann nachmals übrig bleiben? Keine Sache hat höhern Werth, als Beschützer; und nichts ist heut zu Tage kostbarer, als die Gunst: sie baut die Welt auf und zerstört sie: sogar Geist kann sie geben und nehmen. So günstig Natur und Ruhm den Weisen sind, so neidisch ist gegen sie gewöhnlich das Glück. Es ist wichtiger, sich die Gunst der Mächtigen zu erhalten, als Gut und Habe.
Zum Haareausraufen, Freund. Ihr, Pardon, mir ist heut nicht recht diplomatisch, Blaublut-Speichellecken schlägt mir aufs Gemüt. Die Gunst, auf die Sie hier spekulieren, ist nun mal keine günstige, sondern eine extrem teuer erkaufte. Zahlen müssen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre angehimmelten Mächtigen sind, wenn's ihnen passt, gemeine Menschenschinder, da sie es als Naturrecht ansehen, andere auszubeuten und selbst in Saus und Braus zu leben. Auf diese Gunst pfeife ich.
Selbst die Guten, die nach eigenem Gutdünken gut sind, sind in Wahrheit schlecht. Denn gefällt ihnen mal etwas nicht, halten sie's eben auch für recht und billig, ihren Willen durchzudrücken. Egal, ob andere dann Nachteile erleiden. Warum? Weil sie vorher so gütig gewesen sind.
Recht basiert auf gerechten Gesetzen. Liegt die Macht bei Monarchinnen und Monarchen, Diktatorinnen und Diktatoren, Generälinnen und Generälen, Fabrikbesitzerinnen und Fabrikbesitzern, Priesterinnen und Priestern, sind Gesetze am Ende bloße Makulatur.
22. Juni
Die Gunst nicht verbrauchen. Die großen Gönner sind für die großen Gelegenheiten. Ein großes Zutrauen soll man nicht zu kleinen Dingen in Anspruch nehmen: denn das hieße die Gunst vergeuden. Das heilige Anker bleibe stets für die äußerste Gefahr aufbewahrt. Wenn man zu geringen Zwecken das Große mißbraucht, was wird dann nachmals übrig bleiben? Keine Sache hat höhern Werth, als Beschützer; und nichts ist heut zu Tage kostbarer, als die Gunst: sie baut die Welt auf und zerstört sie: sogar Geist kann sie geben und nehmen. So günstig Natur und Ruhm den Weisen sind, so neidisch ist gegen sie gewöhnlich das Glück. Es ist wichtiger, sich die Gunst der Mächtigen zu erhalten, als Gut und Habe.
Zum Haareausraufen, Freund. Ihr, Pardon, mir ist heut nicht recht diplomatisch, Blaublut-Speichellecken schlägt mir aufs Gemüt. Die Gunst, auf die Sie hier spekulieren, ist nun mal keine günstige, sondern eine extrem teuer erkaufte. Zahlen müssen 99 Prozent der Bevölkerung. Ihre angehimmelten Mächtigen sind, wenn's ihnen passt, gemeine Menschenschinder, da sie es als Naturrecht ansehen, andere auszubeuten und selbst in Saus und Braus zu leben. Auf diese Gunst pfeife ich.
Selbst die Guten, die nach eigenem Gutdünken gut sind, sind in Wahrheit schlecht. Denn gefällt ihnen mal etwas nicht, halten sie's eben auch für recht und billig, ihren Willen durchzudrücken. Egal, ob andere dann Nachteile erleiden. Warum? Weil sie vorher so gütig gewesen sind.
Recht basiert auf gerechten Gesetzen. Liegt die Macht bei Monarchinnen und Monarchen, Diktatorinnen und Diktatoren, Generälinnen und Generälen, Fabrikbesitzerinnen und Fabrikbesitzern, Priesterinnen und Priestern, sind Gesetze am Ende bloße Makulatur.
22. Juni
172.
Sich nicht mit dem einlassen, der nichts zu verlieren hat. Denn dadurch geht man einen ungleichen Kampf ein. Der Andre tritt sorglos auf: denn er hat sogar die Schaam verloren, ist mit Allem fertig geworden und hat weiter nichts zu verlieren. Daher wirft er sich zu jeder Ungebührlichkeit auf. So schrecklicher Gefahr darf man nie seinen unschätzbaren Ruf aussetzen, der so viele Jahre zu erwerben gekostet hat und jetzt in Einem Augenblick verloren gehen kann, indem ein einziger schmählicher Unfall so vielen heißen Schweiß vergeblich machen würde. Der Mann von Pflicht- und Ehr-Gefühl nimmt Anstand, weil er viel zu verlieren hat: er zieht sein Ansehn und dann das des Andern in Erwägung: nur mit Behutsamkeit läßt er sich ein und geht dann mit solcher Zurückhaltung zu Werke, daß die Vorsicht Raum behält, sich zu rechter Zeit zurückzuziehn und sein Ansehn in Sicherheit zu bringen. Denn nicht einmal durch einen glücklichen Ausgang würde er das gewinnen, was er schon dadurch verloren hätte, daß er sich einem unglücklichen aussetzte.
Die letzte Idee, Freund, verblüfft und entzückt mich. Zu gewinnen, das ließe sich vielleicht sagen, ist eben nicht alles. Ein Unterfangen, das uns bis an die steile Klippe treiben könnte, wo wir den Widrigkeiten des Wetters schutzlos ausgesetzt wären, schadet per se unserem Wohlbefinden, da schon der Gedanke an ein Unglück uns zusetzt, uns auf lange Zeit beeinflusst, wohl gar verändert. Mir scheint, dass die Risiken, die wir uns aufbürden, auch wenn sie zu einem guten Ende führen, den Charakter prägen.
Nicht allein die praktische Tat, auch die theoretische Untat entscheidet über unser Wesen. So sei's wohl auch fast immer mit den Menschen, denen wir uns anvertrauen. Haben sie arglistige Seiten, die sie vor uns nicht zeigen, machen ihre Makel uns trotzdem zu schaffen, hobeln über kurz oder lang an unserer Güte, säen Zwitracht, bevor wir uns versehen.
In der Verstellung bleibt doch die Vorstellung des Eigentlichen, das wartet, bis seine Stunde gekommen ist.
Vertrauen in Menschen setzt, zunächst, ein gehöriges Maß an Misstrauen voraus. Wer lediglich das Gute sehen will, erlaubt dem Bösen zu viel Raum. Nur Realistinnen und Realisten verfügen über eine vernünftige Menschenliebe, die stark genug ist, um dauerhaft zu wirken.
Vernunft sei die eigentliche Güte des Verstandes.
23. Juni
Sich nicht mit dem einlassen, der nichts zu verlieren hat. Denn dadurch geht man einen ungleichen Kampf ein. Der Andre tritt sorglos auf: denn er hat sogar die Schaam verloren, ist mit Allem fertig geworden und hat weiter nichts zu verlieren. Daher wirft er sich zu jeder Ungebührlichkeit auf. So schrecklicher Gefahr darf man nie seinen unschätzbaren Ruf aussetzen, der so viele Jahre zu erwerben gekostet hat und jetzt in Einem Augenblick verloren gehen kann, indem ein einziger schmählicher Unfall so vielen heißen Schweiß vergeblich machen würde. Der Mann von Pflicht- und Ehr-Gefühl nimmt Anstand, weil er viel zu verlieren hat: er zieht sein Ansehn und dann das des Andern in Erwägung: nur mit Behutsamkeit läßt er sich ein und geht dann mit solcher Zurückhaltung zu Werke, daß die Vorsicht Raum behält, sich zu rechter Zeit zurückzuziehn und sein Ansehn in Sicherheit zu bringen. Denn nicht einmal durch einen glücklichen Ausgang würde er das gewinnen, was er schon dadurch verloren hätte, daß er sich einem unglücklichen aussetzte.
Die letzte Idee, Freund, verblüfft und entzückt mich. Zu gewinnen, das ließe sich vielleicht sagen, ist eben nicht alles. Ein Unterfangen, das uns bis an die steile Klippe treiben könnte, wo wir den Widrigkeiten des Wetters schutzlos ausgesetzt wären, schadet per se unserem Wohlbefinden, da schon der Gedanke an ein Unglück uns zusetzt, uns auf lange Zeit beeinflusst, wohl gar verändert. Mir scheint, dass die Risiken, die wir uns aufbürden, auch wenn sie zu einem guten Ende führen, den Charakter prägen.
Nicht allein die praktische Tat, auch die theoretische Untat entscheidet über unser Wesen. So sei's wohl auch fast immer mit den Menschen, denen wir uns anvertrauen. Haben sie arglistige Seiten, die sie vor uns nicht zeigen, machen ihre Makel uns trotzdem zu schaffen, hobeln über kurz oder lang an unserer Güte, säen Zwitracht, bevor wir uns versehen.
In der Verstellung bleibt doch die Vorstellung des Eigentlichen, das wartet, bis seine Stunde gekommen ist.
Vertrauen in Menschen setzt, zunächst, ein gehöriges Maß an Misstrauen voraus. Wer lediglich das Gute sehen will, erlaubt dem Bösen zu viel Raum. Nur Realistinnen und Realisten verfügen über eine vernünftige Menschenliebe, die stark genug ist, um dauerhaft zu wirken.
Vernunft sei die eigentliche Güte des Verstandes.
23. Juni
173.
Nicht von Glas seyn im Umgang, noch weniger in der Freundschaft. Einige brechen ungemein leicht, wodurch sie ihren Mangel an Bestand zeigen. Sich selbst erfüllen sie mit vermeintlichen Beleidigungen und die Andern mit Widerwillen. Die Beschaffenheit ihres Gemüths ist zarter als die ihres Augensterns, da sie weder im Scherz noch im Ernst eine Berührung duldet. Die unbedeutendesten Kleinigkeiten beleidigen sie: es bedarf keiner Ausfälle. Wer mit ihnen umgeht, muß mit der äußersten Behutsamkeit verfahren, stets ihre Zartheit berücksichtigen und sogar ihre Miene beobachten, da der geringste Uebelstand ihnen Verdruß erregt. Dies sind meistens sehr eigene Leute, Sklaven ihrer Laune, der zu Liebe sie Alles über den Haufen würfen, und Götzendiener ihrer eingebildeten Ehre. Dagegen ist das Gemüth eines Liebenden hart und ausdauernd, wie ein Diamant, und daher ein Amant ein halber Diamant zu nennen.
Pauschalurteile, Freund, dienen den Tumben als bewährte Muse. Nein, Sie wissen's, selbstverständlich mein ich nicht Sie, wenn ich tumb sage - oder mich selbst. Auch wenn wir beide gleichsam schwierige Neigungen pflegen. Im Großen und Ganzen kratzen wir, meistens, die Kurve, vermeiden knapp als Pauschalisten abgestempelt zu werden. Was nicht heißt, dass wir in Teilen nicht gewaltig irrten. Nicht furchtbar fehlgingen. Uns nicht schämen sollten und nicht zu oft abgedroschene Bilder nutzten. Wir gehen anderen selbstverständlich gewaltig auf die Nerven, lassen Marotten aufblitzen, die unsere Engstirnigkeit entblößen.
Am meisten, das dürften Sie bestätigen, leiden halbwegs intelligente Menschen wohl an sich selbst. Wobei es sich nicht um herkömmliches Mitleid handelt, den Jeremiaden verwandt, sondern um den wahnsinnigen Weltschmerz, der uns überfällt, weil nichts, rein gar nichts angemessen tiefgründig und wunderschön richtig sein kann.
Fehler regieren das Sein.
Was sich zeigt, ist, ist aber nicht, was allein ist. Mein Unverständnis wird immer schneller als mein Verständnis sein. Egal, wie viel ich auch trainiere. Das Leben hat keinen allgemeingültigen Zweck, der sich erreichen ließe. Es sei denn, wir akzeptieren den Tod als Ziel.
Also, Freund, ein Wort noch zum Glas. Glas kann dick sein. Sehr dick. So massiv, dass es nicht bricht. Jedenfalls nicht so, wie Sie's annehmen.
Jedes Material hat Vor- und Nachteile. Was überwiegt, liegt an den Umständen, weniger am Material.
24. Juni
Nicht von Glas seyn im Umgang, noch weniger in der Freundschaft. Einige brechen ungemein leicht, wodurch sie ihren Mangel an Bestand zeigen. Sich selbst erfüllen sie mit vermeintlichen Beleidigungen und die Andern mit Widerwillen. Die Beschaffenheit ihres Gemüths ist zarter als die ihres Augensterns, da sie weder im Scherz noch im Ernst eine Berührung duldet. Die unbedeutendesten Kleinigkeiten beleidigen sie: es bedarf keiner Ausfälle. Wer mit ihnen umgeht, muß mit der äußersten Behutsamkeit verfahren, stets ihre Zartheit berücksichtigen und sogar ihre Miene beobachten, da der geringste Uebelstand ihnen Verdruß erregt. Dies sind meistens sehr eigene Leute, Sklaven ihrer Laune, der zu Liebe sie Alles über den Haufen würfen, und Götzendiener ihrer eingebildeten Ehre. Dagegen ist das Gemüth eines Liebenden hart und ausdauernd, wie ein Diamant, und daher ein Amant ein halber Diamant zu nennen.
Pauschalurteile, Freund, dienen den Tumben als bewährte Muse. Nein, Sie wissen's, selbstverständlich mein ich nicht Sie, wenn ich tumb sage - oder mich selbst. Auch wenn wir beide gleichsam schwierige Neigungen pflegen. Im Großen und Ganzen kratzen wir, meistens, die Kurve, vermeiden knapp als Pauschalisten abgestempelt zu werden. Was nicht heißt, dass wir in Teilen nicht gewaltig irrten. Nicht furchtbar fehlgingen. Uns nicht schämen sollten und nicht zu oft abgedroschene Bilder nutzten. Wir gehen anderen selbstverständlich gewaltig auf die Nerven, lassen Marotten aufblitzen, die unsere Engstirnigkeit entblößen.
Am meisten, das dürften Sie bestätigen, leiden halbwegs intelligente Menschen wohl an sich selbst. Wobei es sich nicht um herkömmliches Mitleid handelt, den Jeremiaden verwandt, sondern um den wahnsinnigen Weltschmerz, der uns überfällt, weil nichts, rein gar nichts angemessen tiefgründig und wunderschön richtig sein kann.
Fehler regieren das Sein.
Was sich zeigt, ist, ist aber nicht, was allein ist. Mein Unverständnis wird immer schneller als mein Verständnis sein. Egal, wie viel ich auch trainiere. Das Leben hat keinen allgemeingültigen Zweck, der sich erreichen ließe. Es sei denn, wir akzeptieren den Tod als Ziel.
Also, Freund, ein Wort noch zum Glas. Glas kann dick sein. Sehr dick. So massiv, dass es nicht bricht. Jedenfalls nicht so, wie Sie's annehmen.
Jedes Material hat Vor- und Nachteile. Was überwiegt, liegt an den Umständen, weniger am Material.
24. Juni
174.
Nicht hastig leben. Die Sachen zu vertheilen wissen, heißt sie zu genießen verstehn. Viele sind mit ihrem Glück früher als mit ihrem Leben zu Ende: sie verderben sich die Genüsse, ohne ihrer froh zu werden: und nachher möchten sie umkehren, wann sie ihres weiten Vorsprungs inne werden. Sie sind Postillione des Lebens, die zu dem allgemeinen raschen Lauf der Zeit noch das ihnen eigene Stürzen hinzufügen. Sie möchten in Einem Tage verschlingen, was sie kaum im ganzen Leben verdauen könnten. Vor den Freuden des Lebens sind sie immer voraus, verzehren schon die kommenden Jahre, und da sie so eilig sind, werden sie schnell mit Allem fertig. Man soll sogar im Durst nach Wissen ein Maaß beobachten, damit man nicht die Dinge lerne, welche es besser wäre nicht zu wissen. Wir haben mehr Tage als Freuden zu erleben. Man sei langsam im Genießen, schnell im Wirken: denn die Geschäfte sieht man gern, die Genüsse ungern beendigt.
Woher stammt bloß, Freund, des Menschen ständige Sehnsucht, das Sein ex negativo zu bestimmen? Wir bemerken oft genug erst, dass etwas Erfreuliches existiert, wenn's den letzten Atemzug hechelt und sich liebestoll oder hasserfüllt an uns krallt.
Zerstörerinnen und Zerstörer, das sind wir, beinahe aus Prinzip, beinahe aus Verzweiflung.
Ich kenne, um Platon abzuwandeln, keinen sicheren Weg zum Glück, aber sehr wohl zum Unglück: es mir und anderen immer Recht machen zu wollen.
Höchster Genuss ist in die Zeit gefallen. Er fragt nicht nach dem Morgen.
Genuss, der sich ankündigen muss, erwartet von uns, dass wir ihn hofieren; und sobald sich das Wohlgefallen für ausgezeichnet hält, will's gemessen, bejubelt und bewundert werden, was, klar, für Zwist sorgt.
Ein Satz zum Wissensdurst: ihn nicht zu löschen, weil ich haushalten soll, ist schlicht und einfach absurd. Außerdem: Wissen heißt eh, ernsthaft zu fehlen.
Wer allen Ernstes denkt, einen Überblick zu besitzen, hat halt den falschen Umgang.
Zu schwimmen, obwohl wir jederzeit ertrinken können, das ist der einzige Genuss, der uns bleibt.
25. Juni
Nicht hastig leben. Die Sachen zu vertheilen wissen, heißt sie zu genießen verstehn. Viele sind mit ihrem Glück früher als mit ihrem Leben zu Ende: sie verderben sich die Genüsse, ohne ihrer froh zu werden: und nachher möchten sie umkehren, wann sie ihres weiten Vorsprungs inne werden. Sie sind Postillione des Lebens, die zu dem allgemeinen raschen Lauf der Zeit noch das ihnen eigene Stürzen hinzufügen. Sie möchten in Einem Tage verschlingen, was sie kaum im ganzen Leben verdauen könnten. Vor den Freuden des Lebens sind sie immer voraus, verzehren schon die kommenden Jahre, und da sie so eilig sind, werden sie schnell mit Allem fertig. Man soll sogar im Durst nach Wissen ein Maaß beobachten, damit man nicht die Dinge lerne, welche es besser wäre nicht zu wissen. Wir haben mehr Tage als Freuden zu erleben. Man sei langsam im Genießen, schnell im Wirken: denn die Geschäfte sieht man gern, die Genüsse ungern beendigt.
Woher stammt bloß, Freund, des Menschen ständige Sehnsucht, das Sein ex negativo zu bestimmen? Wir bemerken oft genug erst, dass etwas Erfreuliches existiert, wenn's den letzten Atemzug hechelt und sich liebestoll oder hasserfüllt an uns krallt.
Zerstörerinnen und Zerstörer, das sind wir, beinahe aus Prinzip, beinahe aus Verzweiflung.
Ich kenne, um Platon abzuwandeln, keinen sicheren Weg zum Glück, aber sehr wohl zum Unglück: es mir und anderen immer Recht machen zu wollen.
Höchster Genuss ist in die Zeit gefallen. Er fragt nicht nach dem Morgen.
Genuss, der sich ankündigen muss, erwartet von uns, dass wir ihn hofieren; und sobald sich das Wohlgefallen für ausgezeichnet hält, will's gemessen, bejubelt und bewundert werden, was, klar, für Zwist sorgt.
Ein Satz zum Wissensdurst: ihn nicht zu löschen, weil ich haushalten soll, ist schlicht und einfach absurd. Außerdem: Wissen heißt eh, ernsthaft zu fehlen.
Wer allen Ernstes denkt, einen Überblick zu besitzen, hat halt den falschen Umgang.
Zu schwimmen, obwohl wir jederzeit ertrinken können, das ist der einzige Genuss, der uns bleibt.
25. Juni
175.
Ein Mann von Gehalt seyn: und wer es ist, findet kein Genüge an denen, die es nicht sind. Ein elendes Ding ist äußeres Ansehn, welchem kein innerer Gehalt zum Grunde liegt. Nicht Alle, die ganze Leute zu seyn scheinen, sind es; vielmehr sind manche trügerisch: von Schimären geschwängert gebären sie Betrügereien, wobei sie von Andern, ihnen ähnlichen unterstützt werden, welche am Ungewissen, welches ein Betrug verheißt, weil es recht viel ist, mehr Gefallen finden, als am Sichern, welches eine Wahrheit verspricht, weil es nur wenig ist. Am Ende nehmen ihre Hirngespinste ein schlechtes Ende, weil sie ohne feste und tüchtige Grundlage waren. Ein Betrug macht viele andre nothwendig, daher denn das ganze Gebäude schimärisch ist, und, weil in der Luft erbaut, nothwendig zur Erde herabfallen muß. Falsch angelegte Dinge sind nie von Bestand: schon daß sie so viel verheißen, muß sie verdächtig machen; wie das, was zu viel beweist, selbst nicht richtig sehn kann.
Im Wolkenkuckucksheim lebt's sich schwebend, Freund. Das wollen wir weder vergessen noch unterschätzen. Die Zeitläufte lassen sich unbeirrt aus der Distanz bewundern, dass es eine ignorante Freude ist. Wobei ich bereits beim heutigen Kernbegriff Ihres Textes bin: Gehalt. Wer urteilt eigentlich über die Gedankenfülle, die auf der Gehaltskala als lohnenswert angesehen wird? Sind's Fehlgeleitete, die in einer schummrigen Höhle hausen, missdeuten sie unsere freie Substanz sogleich als lichten Firlefanz. Sind's Übergenaue, stören sie sich maßlos an einem harmlosen Zahlenrutscher oder Tippfehler.
Gehalt, das ließe sich wohl sagen, soll weder von falscher Stelle bezogen noch in unlautere Gefäße gegossen werden.
Liegt uns Wissen auf dem Gewissen, ziemt sich die epistomologische Wende. Der moralische Turn, hat er Substanz, setzt sich erfahrungsgemäß in eher kleinen Gruppen durch. Ist die Gruppe so klein, dass sie nur uns enthält, sei's so.
Besser alleine sicher, als mit anderen unsicher.
26. Juni
Ein Mann von Gehalt seyn: und wer es ist, findet kein Genüge an denen, die es nicht sind. Ein elendes Ding ist äußeres Ansehn, welchem kein innerer Gehalt zum Grunde liegt. Nicht Alle, die ganze Leute zu seyn scheinen, sind es; vielmehr sind manche trügerisch: von Schimären geschwängert gebären sie Betrügereien, wobei sie von Andern, ihnen ähnlichen unterstützt werden, welche am Ungewissen, welches ein Betrug verheißt, weil es recht viel ist, mehr Gefallen finden, als am Sichern, welches eine Wahrheit verspricht, weil es nur wenig ist. Am Ende nehmen ihre Hirngespinste ein schlechtes Ende, weil sie ohne feste und tüchtige Grundlage waren. Ein Betrug macht viele andre nothwendig, daher denn das ganze Gebäude schimärisch ist, und, weil in der Luft erbaut, nothwendig zur Erde herabfallen muß. Falsch angelegte Dinge sind nie von Bestand: schon daß sie so viel verheißen, muß sie verdächtig machen; wie das, was zu viel beweist, selbst nicht richtig sehn kann.
Im Wolkenkuckucksheim lebt's sich schwebend, Freund. Das wollen wir weder vergessen noch unterschätzen. Die Zeitläufte lassen sich unbeirrt aus der Distanz bewundern, dass es eine ignorante Freude ist. Wobei ich bereits beim heutigen Kernbegriff Ihres Textes bin: Gehalt. Wer urteilt eigentlich über die Gedankenfülle, die auf der Gehaltskala als lohnenswert angesehen wird? Sind's Fehlgeleitete, die in einer schummrigen Höhle hausen, missdeuten sie unsere freie Substanz sogleich als lichten Firlefanz. Sind's Übergenaue, stören sie sich maßlos an einem harmlosen Zahlenrutscher oder Tippfehler.
Gehalt, das ließe sich wohl sagen, soll weder von falscher Stelle bezogen noch in unlautere Gefäße gegossen werden.
Liegt uns Wissen auf dem Gewissen, ziemt sich die epistomologische Wende. Der moralische Turn, hat er Substanz, setzt sich erfahrungsgemäß in eher kleinen Gruppen durch. Ist die Gruppe so klein, dass sie nur uns enthält, sei's so.
Besser alleine sicher, als mit anderen unsicher.
26. Juni
176.
Einsicht haben, oder den anhören, der sie hat. Ohne Verstand, eigenen oder geborgten, läßt sich's nicht leben. Allein Viele wissen nicht, daß sie nichts wissen, und Andre glauben zu wissen, wissen aber nichts. Gebrechen des Kopfs sind unheilbar, und da die Unwissenden sich nicht kennen, suchen sie auch nicht was ihnen abgeht. Manche würden weise seyn, wenn sie nicht es zu seyn glaubten. Daher kommt es, daß, obwohl die Orakel der Klugheit selten sind, diese dennoch unbeschäftigt leben, weil Keiner sie um Rath fragt. Sich berathen, schmälert nicht die Größe und zeugt nicht vom Mangel eigner Fähigkeit, vielmehr ist, sich gut berathen, ein Beweis derselben. Man überlege mit der Vernunft, damit man nicht widerlegt werde vom unglücklichen Ausgang.
An Ihnen ist ein Komiker verlorengegangen, Freund, ein, es sei erwähnt, zynischer.
Zunächst, von mir, eine Wiederholung: Wissen, das mit dem Adjektiv sicher dauerhaft turtelt, existiert nicht. Wie Sie auch ändere ich häufig genug und glücklicherweise meine Meinung. Obwohl ich felsenfest davon überzeugt gewesen bin, in jenen oder diesen Fällen die Weisheit von wasser- und hitzefesten Kochlöffeln gefressen zu haben. Bis sich die ganze Einsicht-Chose, ohne much ado, in Luft aufgelöst hat.
Im Irrtum bin ich Mensch, nur in ihm. Behauptete ich, bei verschiedenen Weisheitsrennen andauernd mit auf dem Treppchen zu stehen, wäre ich, im besten Fall: ein Hochstapler - im schlechtesten: ein Idiot.
Recht haben Sie, Freund, was den Rat betrifft. Wer, wie's so schön heutzutage heißt, beratungsresistent ist, sperrt sich selbst in eine muffige Schublade ein.
Echte Genies hören besser zu als sie reden.
27. Juni
Einsicht haben, oder den anhören, der sie hat. Ohne Verstand, eigenen oder geborgten, läßt sich's nicht leben. Allein Viele wissen nicht, daß sie nichts wissen, und Andre glauben zu wissen, wissen aber nichts. Gebrechen des Kopfs sind unheilbar, und da die Unwissenden sich nicht kennen, suchen sie auch nicht was ihnen abgeht. Manche würden weise seyn, wenn sie nicht es zu seyn glaubten. Daher kommt es, daß, obwohl die Orakel der Klugheit selten sind, diese dennoch unbeschäftigt leben, weil Keiner sie um Rath fragt. Sich berathen, schmälert nicht die Größe und zeugt nicht vom Mangel eigner Fähigkeit, vielmehr ist, sich gut berathen, ein Beweis derselben. Man überlege mit der Vernunft, damit man nicht widerlegt werde vom unglücklichen Ausgang.
An Ihnen ist ein Komiker verlorengegangen, Freund, ein, es sei erwähnt, zynischer.
Zunächst, von mir, eine Wiederholung: Wissen, das mit dem Adjektiv sicher dauerhaft turtelt, existiert nicht. Wie Sie auch ändere ich häufig genug und glücklicherweise meine Meinung. Obwohl ich felsenfest davon überzeugt gewesen bin, in jenen oder diesen Fällen die Weisheit von wasser- und hitzefesten Kochlöffeln gefressen zu haben. Bis sich die ganze Einsicht-Chose, ohne much ado, in Luft aufgelöst hat.
Im Irrtum bin ich Mensch, nur in ihm. Behauptete ich, bei verschiedenen Weisheitsrennen andauernd mit auf dem Treppchen zu stehen, wäre ich, im besten Fall: ein Hochstapler - im schlechtesten: ein Idiot.
Recht haben Sie, Freund, was den Rat betrifft. Wer, wie's so schön heutzutage heißt, beratungsresistent ist, sperrt sich selbst in eine muffige Schublade ein.
Echte Genies hören besser zu als sie reden.
27. Juni
177.
Den vertraulichen Fuß im Umgang ablehnen. Weder sich, noch Andern darf man ihn erlauben. Wer sich auf einen vertraulichen Fuß setzt, verliert sogleich die Ueberlegenheit, welche seine Untadelhaftigkeit ihm gab, und in Folge davon auch die Hochachtung. Die Gestirne, weil sie mit uns sich nicht gemein machen, erhalten sich in ihrem Glanz. Das Göttliche gebietet Ehrfurcht. Jede Leutseligkeit bahnt den Weg zur Geringschätzung. Es ist mit den menschlichen Dingen so, daß, je mehr man sie besitzt und hält, desto weniger hält man von ihnen: denn die offene Mittheilung legt die Unvollkommenheit offen dar, welche die Behutsamkeit bedeckte. Mit Niemandem ist es räthlich sich auf einen vertrauten Fuß zu setzen, nicht mit Höhern, weil es gefährlich, nicht mit Geringern, weil es unschicklich ist, am wenigsten aber mit gemeinen Leuten, weil sie aus Dummheit verwegen sind, und die Gunst, welche man ihnen erzeigt, verkennend, solche für Schuldigkeit halten. Die große Leutseligkeit ist der Gemeinheit verwandt.
Ihre Geringschätzung der Empathie, um einen anderen Begriff, ein weniger herabsetzendes Wort für Leutseligkeit zu benutzen, obwohl, wenn wir uns der Leutseligkeit unvoreingenommen nähern, der Frohmut für die Menschen per se eh nichts schlechtes hat, eher im Gegenteil der Leute Seligkeit, gerade für einen Geistlichen, Freund, ein hehres Ziel darstellte, wie auch immer: Ihre Geringschätzung der Empathie verbreitet eine kalkulierte Kälte und einen stolzen Starrsinn, die, wären sie nicht so berechenbar misanthropisch, höchst beachtlich, in gewissen Kreisen auch wohl als Anleitung zum Egoismus gelobt und gefeiert werden. Nicht von mir.
Sittsamkeit orientiert sich weder an Bildung noch Klasse, weder an Nationalität noch Vermögen, weder an Geschlecht noch Hautfarbe. Sittsamkeit folgt der Kant'schen Moral. Ist also eine vernünftige, unverhandelbare Kategorie, ist, wie mir scheint, der eigentliche Kern des unvollendeten Projekts der Aufklärung.
28. Juni
Den vertraulichen Fuß im Umgang ablehnen. Weder sich, noch Andern darf man ihn erlauben. Wer sich auf einen vertraulichen Fuß setzt, verliert sogleich die Ueberlegenheit, welche seine Untadelhaftigkeit ihm gab, und in Folge davon auch die Hochachtung. Die Gestirne, weil sie mit uns sich nicht gemein machen, erhalten sich in ihrem Glanz. Das Göttliche gebietet Ehrfurcht. Jede Leutseligkeit bahnt den Weg zur Geringschätzung. Es ist mit den menschlichen Dingen so, daß, je mehr man sie besitzt und hält, desto weniger hält man von ihnen: denn die offene Mittheilung legt die Unvollkommenheit offen dar, welche die Behutsamkeit bedeckte. Mit Niemandem ist es räthlich sich auf einen vertrauten Fuß zu setzen, nicht mit Höhern, weil es gefährlich, nicht mit Geringern, weil es unschicklich ist, am wenigsten aber mit gemeinen Leuten, weil sie aus Dummheit verwegen sind, und die Gunst, welche man ihnen erzeigt, verkennend, solche für Schuldigkeit halten. Die große Leutseligkeit ist der Gemeinheit verwandt.
Ihre Geringschätzung der Empathie, um einen anderen Begriff, ein weniger herabsetzendes Wort für Leutseligkeit zu benutzen, obwohl, wenn wir uns der Leutseligkeit unvoreingenommen nähern, der Frohmut für die Menschen per se eh nichts schlechtes hat, eher im Gegenteil der Leute Seligkeit, gerade für einen Geistlichen, Freund, ein hehres Ziel darstellte, wie auch immer: Ihre Geringschätzung der Empathie verbreitet eine kalkulierte Kälte und einen stolzen Starrsinn, die, wären sie nicht so berechenbar misanthropisch, höchst beachtlich, in gewissen Kreisen auch wohl als Anleitung zum Egoismus gelobt und gefeiert werden. Nicht von mir.
Sittsamkeit orientiert sich weder an Bildung noch Klasse, weder an Nationalität noch Vermögen, weder an Geschlecht noch Hautfarbe. Sittsamkeit folgt der Kant'schen Moral. Ist also eine vernünftige, unverhandelbare Kategorie, ist, wie mir scheint, der eigentliche Kern des unvollendeten Projekts der Aufklärung.
28. Juni
178.
Seinem Herzen glauben, zumal wenn es erprobt ist: dann versage man ihm nicht das Gehör, da es oft das vorherverkündet, woran am meisten gelegen. Es ist ein Haus-Orakel. Viele sind durch das umgekommen, was sie stets gefürchtet hatten: was half aber das Fürchten, wenn sie nicht vorbeugten. Manche haben, als einen Vorzug ihrer begünstigten Natur, ein recht wahrhaftes Herz, welches sie allemal warnt und Lärm schlägt, wann Unglück droht, damit man ihm vorbeuge. Es zeugt nicht von Klugheit, daß man den Uebeln entgegengeht; es sei denn um sie zu überwinden.
Wie schön, Freund: das Herz als Haus-Orakel! Klingt fast nach Hausapotheke. Oder nach einem Schlagertext: Hör auf dein Herz, aber achte bloß auf die Nebenwirkungen, die immens sein können! Darf ich Ihnen etwas verraten? Nahezu immer, wenn ich mich allein auf mein Herz verlassen habe, ging's furchtbar schief. Mir scheint, dass weder das Gefühl noch der Verstand allein ausreichen, um vollwertige Urteile zu bilden. Im Zusammenspiel von Herz und Hirn treffen wir Entscheidungen, die einigermaßen über den Tag hinausreichen, deren Stretchfähigkeit reicht, um sich zu dehnen oder kleiner zu machen.
Nichts sei verbreiteter als Herzrhythmusstörungen, besonders in Liebesdingen.
Übrigens: Schnell zu rennen, hilft auch bei der Übel-Vermeidung. Nicht immer, versteht sich.
Ob das Duell mit dem Bösen vernünftig ist, sei dahingestellt; ich weiß es einfach nicht.
Das Niederträchtige hat dem Guten etwas wichtiges voraus: es wächst sehr viel schneller nach.
28. Juni
Seinem Herzen glauben, zumal wenn es erprobt ist: dann versage man ihm nicht das Gehör, da es oft das vorherverkündet, woran am meisten gelegen. Es ist ein Haus-Orakel. Viele sind durch das umgekommen, was sie stets gefürchtet hatten: was half aber das Fürchten, wenn sie nicht vorbeugten. Manche haben, als einen Vorzug ihrer begünstigten Natur, ein recht wahrhaftes Herz, welches sie allemal warnt und Lärm schlägt, wann Unglück droht, damit man ihm vorbeuge. Es zeugt nicht von Klugheit, daß man den Uebeln entgegengeht; es sei denn um sie zu überwinden.
Wie schön, Freund: das Herz als Haus-Orakel! Klingt fast nach Hausapotheke. Oder nach einem Schlagertext: Hör auf dein Herz, aber achte bloß auf die Nebenwirkungen, die immens sein können! Darf ich Ihnen etwas verraten? Nahezu immer, wenn ich mich allein auf mein Herz verlassen habe, ging's furchtbar schief. Mir scheint, dass weder das Gefühl noch der Verstand allein ausreichen, um vollwertige Urteile zu bilden. Im Zusammenspiel von Herz und Hirn treffen wir Entscheidungen, die einigermaßen über den Tag hinausreichen, deren Stretchfähigkeit reicht, um sich zu dehnen oder kleiner zu machen.
Nichts sei verbreiteter als Herzrhythmusstörungen, besonders in Liebesdingen.
Übrigens: Schnell zu rennen, hilft auch bei der Übel-Vermeidung. Nicht immer, versteht sich.
Ob das Duell mit dem Bösen vernünftig ist, sei dahingestellt; ich weiß es einfach nicht.
Das Niederträchtige hat dem Guten etwas wichtiges voraus: es wächst sehr viel schneller nach.
28. Juni
179.
Die Verschwiegenheit ist das Stempel eines fähigen Kopfes. Eine Brust ohne Geheimniß ist ein offner Brief. Wo der Grund tief ist, liegen auch die Geheimnisse in großer Tiefe: denn da giebt es weite Räume und Höhlungen, in welche die Dinge von Wichtigkeit versenkt werden. Die Verschwiegenheit entspringt aus einer mächtigen Selbstbeherrschung, und sich in diesem Stücke zu überwinden, ist ein wahrer Triumph. So Vielen man sich entdeckt, so Vielen macht man sich zinsbar. In der gemäßigten Stimmung des Innern besteht die Gesundheit der Vernunft. Die Gefahren, mit welchen die Verschwiegenheit zu kämpfen hat, sind die mancherlei Versuche der Andern, das Widersprechen, in der Absicht sie dadurch zu verleiten, die Stichelreden, um etwas aufzujagen: bei welchem Allem der Aufmerksame verschlossener als je wird. Das, was man thun soll, muß man nicht sagen; und das, was man sagen soll, muß man nicht thun.
Erst vorgestern, Freund, hat mich der verdammte Redefluss wieder mit sich gerissen. Ich befinde mich gerade in Leukerbad, mitten in den Schweizer Bergen, bei einem Literaturfestival. Anstatt den Mund zu halten, meine wenigen Ideen gefälligst für mich zu behalten, die ich mir im Schweiße des Zögerns und Zauderns mühselig aneigne, platzte es aus mir heraus. Der Tischnachbar, ein beachteter Mensch, veranlasste mich, in ihm die Echokammer zu vermuten, an der ich meine Gedanken ausprobieren und schärfen könnte. Es kam, was an mir lag, nicht an ihm, es kam wie's häufig passiert: der Schlund schluckte, ich hörte mich reden, bekam wenig bis nichts zurück.
Das Gefühl des Ausgewrungenseins lässt uns erbärmlich zurück; vielleicht sogar in einer übleren Art und Weise, wenn's unsere eigene Schuld ist, wenn wir keine Selbstbeherrschung haben.
Zu schweigen erfordert mehr Selbstkontrolle als zu reden. Allerdings: nur und auf Dauer zu schweigen, schafft weder Freunde noch evoziert es die tiefste Erkenntnis, die eben doch im Dialog liegt.
29. Juni
Die Verschwiegenheit ist das Stempel eines fähigen Kopfes. Eine Brust ohne Geheimniß ist ein offner Brief. Wo der Grund tief ist, liegen auch die Geheimnisse in großer Tiefe: denn da giebt es weite Räume und Höhlungen, in welche die Dinge von Wichtigkeit versenkt werden. Die Verschwiegenheit entspringt aus einer mächtigen Selbstbeherrschung, und sich in diesem Stücke zu überwinden, ist ein wahrer Triumph. So Vielen man sich entdeckt, so Vielen macht man sich zinsbar. In der gemäßigten Stimmung des Innern besteht die Gesundheit der Vernunft. Die Gefahren, mit welchen die Verschwiegenheit zu kämpfen hat, sind die mancherlei Versuche der Andern, das Widersprechen, in der Absicht sie dadurch zu verleiten, die Stichelreden, um etwas aufzujagen: bei welchem Allem der Aufmerksame verschlossener als je wird. Das, was man thun soll, muß man nicht sagen; und das, was man sagen soll, muß man nicht thun.
Erst vorgestern, Freund, hat mich der verdammte Redefluss wieder mit sich gerissen. Ich befinde mich gerade in Leukerbad, mitten in den Schweizer Bergen, bei einem Literaturfestival. Anstatt den Mund zu halten, meine wenigen Ideen gefälligst für mich zu behalten, die ich mir im Schweiße des Zögerns und Zauderns mühselig aneigne, platzte es aus mir heraus. Der Tischnachbar, ein beachteter Mensch, veranlasste mich, in ihm die Echokammer zu vermuten, an der ich meine Gedanken ausprobieren und schärfen könnte. Es kam, was an mir lag, nicht an ihm, es kam wie's häufig passiert: der Schlund schluckte, ich hörte mich reden, bekam wenig bis nichts zurück.
Das Gefühl des Ausgewrungenseins lässt uns erbärmlich zurück; vielleicht sogar in einer übleren Art und Weise, wenn's unsere eigene Schuld ist, wenn wir keine Selbstbeherrschung haben.
Zu schweigen erfordert mehr Selbstkontrolle als zu reden. Allerdings: nur und auf Dauer zu schweigen, schafft weder Freunde noch evoziert es die tiefste Erkenntnis, die eben doch im Dialog liegt.
29. Juni