180.
Nie sich nach dem richten, was der Gegner jetzt zu thun hätte. Der Dumme wird nie das thun, was der Kluge angemessen erachtet, weil er das Passende nicht herausfindet: ist er hingegen ein wenig klug; so wird er einen Schritt, den der Andre vorhergesehn, ja ihm vorgebaut hat, grade deshalb nicht ausführen. Man muß die Sachen von beiden Gesichtspunkten aus durchdenken, sie sorgfältig von beiden Seiten betrachten und sie zu einem doppelten Ausgang vorbereiten. Die Urtheile sind verschieden: der Unentschiedene bleibe aufmerksam und nicht sowohl auf das, was geschehn wird, als auf das, was geschehn kann, bedacht.
Es ist höchst seltsam, Freund, wie ich Ihre Beobachtungen mir solipsistisch aneigne. Wie ein Humpelnder, der einen Krückstock ergreift und wahrhaftig glaubt, ein formidabler Hundertmeterläufer zu sein. Manchmal, wenn ich lese, was Sie einst geschrieben haben, bin ich gar nicht bei Ihnen, was durchaus des Öfteren notwendig wäre, sondern nur bei mir und meiner Zeit. Sicherlich eine Leseschwäche, schätze ich, die vielen von uns passiert.
Erst am gestrigen Abend war ich, um auf Ihren Ratschlag einzugehen, übermäßig auf das bedacht, was sein könnte. Dieses verdammte Sein-Könnte, hing, obwohl es keinen akuten Anlass für seine Erfüllung gab - nichts als meine Fantasie fütterte es -, dieses Sein-Könnte wie ein Damoklesschwert über mir. Um konkret zu werden: in den leuchtenden, gierigen Augen eines anderen Mannes habe ich die Klug- und Schönheit meiner Frau gesehen. Der andere hat in ihr gesehen, was ich immer sehe. Und anstatt, im gewissen Sinne, geschmeichelt zu sein, denn sagt die Wahl unserer Partnerin oder unseres Partners nicht viel, manchmal zu viel über uns aus?, anstatt also das Lob zu fühlen, habe ich ihr, wie nebenbei, vom Raubtierblick berichtet, ihr gestanden, dass ich diese Nabelschau nicht mag. Keine kluge Wortwahl. Ihr schien, dass ich ihr nicht genug traute, dass ich ihr eine Last aufbürdete, die sie weder bemerkt hatte noch tragen wollte. Und ich, Freund, merkte, dass ich einzig und allein meine eigene Projektion benutzt hatte, meine Unsicherheit über mich selbst abgeladen hatte. Keine Glanzleistung. Vielmehr: beschämend, so typisch männlich dumm und typisch männlich territorial. Wie ich nicht sein will - und dennoch man(n)chmal bin.
Die fürchterlichste Gegnerin oder der fürchterlichste Gegner wohnt häufig genug in der eigenen Brust. Zähmen wir sie oder ihn, halten wir den äußeren Feindinnen und Feinden leichter stand.
Jede Niederlage beginnt in uns selbst. Jeder Sieg zählt weit mehr, wenn wir ihn zuerst in uns selbst erringen.
30. Juni
Nie sich nach dem richten, was der Gegner jetzt zu thun hätte. Der Dumme wird nie das thun, was der Kluge angemessen erachtet, weil er das Passende nicht herausfindet: ist er hingegen ein wenig klug; so wird er einen Schritt, den der Andre vorhergesehn, ja ihm vorgebaut hat, grade deshalb nicht ausführen. Man muß die Sachen von beiden Gesichtspunkten aus durchdenken, sie sorgfältig von beiden Seiten betrachten und sie zu einem doppelten Ausgang vorbereiten. Die Urtheile sind verschieden: der Unentschiedene bleibe aufmerksam und nicht sowohl auf das, was geschehn wird, als auf das, was geschehn kann, bedacht.
Es ist höchst seltsam, Freund, wie ich Ihre Beobachtungen mir solipsistisch aneigne. Wie ein Humpelnder, der einen Krückstock ergreift und wahrhaftig glaubt, ein formidabler Hundertmeterläufer zu sein. Manchmal, wenn ich lese, was Sie einst geschrieben haben, bin ich gar nicht bei Ihnen, was durchaus des Öfteren notwendig wäre, sondern nur bei mir und meiner Zeit. Sicherlich eine Leseschwäche, schätze ich, die vielen von uns passiert.
Erst am gestrigen Abend war ich, um auf Ihren Ratschlag einzugehen, übermäßig auf das bedacht, was sein könnte. Dieses verdammte Sein-Könnte, hing, obwohl es keinen akuten Anlass für seine Erfüllung gab - nichts als meine Fantasie fütterte es -, dieses Sein-Könnte wie ein Damoklesschwert über mir. Um konkret zu werden: in den leuchtenden, gierigen Augen eines anderen Mannes habe ich die Klug- und Schönheit meiner Frau gesehen. Der andere hat in ihr gesehen, was ich immer sehe. Und anstatt, im gewissen Sinne, geschmeichelt zu sein, denn sagt die Wahl unserer Partnerin oder unseres Partners nicht viel, manchmal zu viel über uns aus?, anstatt also das Lob zu fühlen, habe ich ihr, wie nebenbei, vom Raubtierblick berichtet, ihr gestanden, dass ich diese Nabelschau nicht mag. Keine kluge Wortwahl. Ihr schien, dass ich ihr nicht genug traute, dass ich ihr eine Last aufbürdete, die sie weder bemerkt hatte noch tragen wollte. Und ich, Freund, merkte, dass ich einzig und allein meine eigene Projektion benutzt hatte, meine Unsicherheit über mich selbst abgeladen hatte. Keine Glanzleistung. Vielmehr: beschämend, so typisch männlich dumm und typisch männlich territorial. Wie ich nicht sein will - und dennoch man(n)chmal bin.
Die fürchterlichste Gegnerin oder der fürchterlichste Gegner wohnt häufig genug in der eigenen Brust. Zähmen wir sie oder ihn, halten wir den äußeren Feindinnen und Feinden leichter stand.
Jede Niederlage beginnt in uns selbst. Jeder Sieg zählt weit mehr, wenn wir ihn zuerst in uns selbst erringen.
30. Juni
181.
Ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen. Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens. Es gehört gleich viel dazu, sie zu sagen und sie zu verschweigen zu verstehn. Man verliert durch eine einzige Lüge den ganzen Ruf seiner Unbescholtenheit. Der Betrug gilt für ein Vergehn und der Betrüger für falsch, welches noch schlimmer ist. Nicht alle Wahrheiten kann man sagen, die einen nicht, unser selbst wegen, die andern nicht, des Andern wegen.
<Ich lüge.> Ein wunderbarer Satz, Freund, der zugleich stimmt und nicht stimmt. Und so ist's, auf eine andere Weise, (un)wohl auch mit der Wahrheit. Gerade habe ich, während eines Abendessens am Leukerbadener Dorfplatz, ein Gespräch mit einer russischen Autorin über, wir haben auf Englisch gesprochen, truth geführt. Ich wünschte, Sie wären bei uns gewesen!
Als ich die Schriftstellerin gefragt habe, wie sie Wahrheit definieren würde, hat sie gesagt, dass Wahrheit wie ein Gedicht sei. Ein ganz besonderes Gedicht. Ein Gedicht, an dem alle Lyrikerinnen und Lyriker gleichzeitig schrieben. Ein Gedicht, das immer und ewig, egal in welcher Sprache, die gleiche Aussage hätte. Ein Gedicht, das sich und uns treu bliebe. Auf meine zweite Bemerkung hin - die erste war von Ent- und Begeisterung getragen, da das herbeigezauberte Bild einer wahrhaftigen, in den Wolken lebenden Poesie nun mal viel zu schön ist, um's nicht zu loben -, auf meine zweite Bermerkung hin, dass es sich hierbei um magisches, um nicht zu sagen: esoterisches Denken handele, hat sie nur lächelnd genickt und mich nach meiner Begriffsbestimmung gefragt. Für mich, habe ich gesagt, was übrigens zunächst, auf Anhieb, bei ihr Stirnrunzeln hervorgerufen hatte, für mich sei Wahrheit stets und unbedingt die Widerlegung ihrer selbst. Erst durch die Erkenntnis der Unwahrheit - eine Theorie wird wissenschaftlich, was selbstverständlich auch geisteswissenschaftlich einschließt, widerlegt -, erst durch die Falsifikation entstehe überhaupt Wahrheit. Wahrheit sei niemals orthodox. Eine ewige Wahrheit, wie sie Religionen und Ideologien vorschweben würde, gebe es nicht, habe ich dann noch hinzugefügt, Freund. Truth sei eine Momentaufnahme, was die Wahrheit, wenigstens für mich, noch schöner mache als wenn's sich um eine unaufhörliche handele. Da unser Leben endlich sei, sei's doch einigermaßen tröstlich, dieses finale Wissen mit der Wahrheit zu teilen.
Bei der Wahrheit handelt es sich um ein vergängliches Gut, das wir schultern, aber auch wieder ablegen können.
2. Juli
Ohne zu lügen, nicht alle Wahrheiten sagen. Nichts erfordert mehr Behutsamkeit als die Wahrheit: sie ist ein Aderlaß des Herzens. Es gehört gleich viel dazu, sie zu sagen und sie zu verschweigen zu verstehn. Man verliert durch eine einzige Lüge den ganzen Ruf seiner Unbescholtenheit. Der Betrug gilt für ein Vergehn und der Betrüger für falsch, welches noch schlimmer ist. Nicht alle Wahrheiten kann man sagen, die einen nicht, unser selbst wegen, die andern nicht, des Andern wegen.
<Ich lüge.> Ein wunderbarer Satz, Freund, der zugleich stimmt und nicht stimmt. Und so ist's, auf eine andere Weise, (un)wohl auch mit der Wahrheit. Gerade habe ich, während eines Abendessens am Leukerbadener Dorfplatz, ein Gespräch mit einer russischen Autorin über, wir haben auf Englisch gesprochen, truth geführt. Ich wünschte, Sie wären bei uns gewesen!
Als ich die Schriftstellerin gefragt habe, wie sie Wahrheit definieren würde, hat sie gesagt, dass Wahrheit wie ein Gedicht sei. Ein ganz besonderes Gedicht. Ein Gedicht, an dem alle Lyrikerinnen und Lyriker gleichzeitig schrieben. Ein Gedicht, das immer und ewig, egal in welcher Sprache, die gleiche Aussage hätte. Ein Gedicht, das sich und uns treu bliebe. Auf meine zweite Bemerkung hin - die erste war von Ent- und Begeisterung getragen, da das herbeigezauberte Bild einer wahrhaftigen, in den Wolken lebenden Poesie nun mal viel zu schön ist, um's nicht zu loben -, auf meine zweite Bermerkung hin, dass es sich hierbei um magisches, um nicht zu sagen: esoterisches Denken handele, hat sie nur lächelnd genickt und mich nach meiner Begriffsbestimmung gefragt. Für mich, habe ich gesagt, was übrigens zunächst, auf Anhieb, bei ihr Stirnrunzeln hervorgerufen hatte, für mich sei Wahrheit stets und unbedingt die Widerlegung ihrer selbst. Erst durch die Erkenntnis der Unwahrheit - eine Theorie wird wissenschaftlich, was selbstverständlich auch geisteswissenschaftlich einschließt, widerlegt -, erst durch die Falsifikation entstehe überhaupt Wahrheit. Wahrheit sei niemals orthodox. Eine ewige Wahrheit, wie sie Religionen und Ideologien vorschweben würde, gebe es nicht, habe ich dann noch hinzugefügt, Freund. Truth sei eine Momentaufnahme, was die Wahrheit, wenigstens für mich, noch schöner mache als wenn's sich um eine unaufhörliche handele. Da unser Leben endlich sei, sei's doch einigermaßen tröstlich, dieses finale Wissen mit der Wahrheit zu teilen.
Bei der Wahrheit handelt es sich um ein vergängliches Gut, das wir schultern, aber auch wieder ablegen können.
2. Juli
182.
Ein Gran Kühnheit bei Allem, ist eine wichtige Klugheit. Man muß seine Meinung von Andern mäßigen, um nicht so hoch von ihnen zu denken, daß man sich vor ihnen fürchte. Nie bemächtige sich die Einbildungskraft des Herzens. Viele scheinen gar groß, bis man sie persönlich kennen lernt: dann aber dient ihr Umgang mehr, die Täuschung zu zerstören, als die Wertschätzung zu erhöhen. Keiner überschreitet die engen Gränzen der Menschheit: Alle haben ihr Gebrechen, bald im Kopfe, bald im Herzen. Amt und Würde giebt eine scheinbare Überlegenheit, welche selten von der persönlichen begleitet wird: denn das Schicksal pflegt sich an der Höhe des Amtes durch die Geringfügigkeit der Verdienste zu rächen. Die Einbildungskraft ist aber immer im Vorsprung und malt die Sachen viel herrlicher, als sie sind: sie stellt sich nicht bloß vor, was ist, sondern auch was seyn könnte. Die durch so viele Erfahrungen von Täuschungen zurückgebrachte Vernunft weise jene zurecht. Doch soll so wenig die Dummheit verwegen, als die Tugend furchtsam seyn. Und wenn sogar der Einfalt ihr Selbstvertrauen oft durchhalf; wie viel mehr dem Werthe und dem Wissen.
Schlimm wird's, Freund, wenn sich eben Gelobte im nächsten Moment als blamable Kleingeister herausstellen. Leistungen stehen erstaunlicherweise häufig über den Personen, die sie verursacht haben. In den Zeilen, die ich Ihnen schreibe, fühle ich mich bereits oft genug elend und schwach, aber noch schwächer bin ich beim Ergreifen von Gelegenheiten. Ich zögere, anstatt zuzupacken, beherzt in die Vollen zu gehen. Auf einmal habe ich nichts, was mich stützte. Zweifel zehren gewaltig wie Ebbe und Flut an mir. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es allein mir so geht. Kühnheit, von der Sie sprechen, selbst in geringer Dosierung, gelingt so gut wie nie. Gerade nicht, wenn wir sie gerne auf der Stelle hätten. Falsche Bescheidenheit und dummdreiste Normen halten uns selbst dann oft genug zurück, wenn wir wissen, dass Etablierte Nonsens verzapfen.
Wir lassen uns blenden, da alle blind sind - oder wenigstens so tun.
Vernunft ohne Mut ist ein Fahrzeug ohne Antrieb: er rostet alsbald ein und wird schließlich abgewrackt, ohne sich im Geringsten von der Stelle bewegt zu haben.
Selbst zu denken, schreibt Bettina von Arnim so treffend in Die Günderode, sei der höchste Mut.
Wer wirken will, muss sowohl auf sich selbst als auch andere hören - und zwar, scheint mir, genau in der Reihenfolge.
3. Juli
Ein Gran Kühnheit bei Allem, ist eine wichtige Klugheit. Man muß seine Meinung von Andern mäßigen, um nicht so hoch von ihnen zu denken, daß man sich vor ihnen fürchte. Nie bemächtige sich die Einbildungskraft des Herzens. Viele scheinen gar groß, bis man sie persönlich kennen lernt: dann aber dient ihr Umgang mehr, die Täuschung zu zerstören, als die Wertschätzung zu erhöhen. Keiner überschreitet die engen Gränzen der Menschheit: Alle haben ihr Gebrechen, bald im Kopfe, bald im Herzen. Amt und Würde giebt eine scheinbare Überlegenheit, welche selten von der persönlichen begleitet wird: denn das Schicksal pflegt sich an der Höhe des Amtes durch die Geringfügigkeit der Verdienste zu rächen. Die Einbildungskraft ist aber immer im Vorsprung und malt die Sachen viel herrlicher, als sie sind: sie stellt sich nicht bloß vor, was ist, sondern auch was seyn könnte. Die durch so viele Erfahrungen von Täuschungen zurückgebrachte Vernunft weise jene zurecht. Doch soll so wenig die Dummheit verwegen, als die Tugend furchtsam seyn. Und wenn sogar der Einfalt ihr Selbstvertrauen oft durchhalf; wie viel mehr dem Werthe und dem Wissen.
Schlimm wird's, Freund, wenn sich eben Gelobte im nächsten Moment als blamable Kleingeister herausstellen. Leistungen stehen erstaunlicherweise häufig über den Personen, die sie verursacht haben. In den Zeilen, die ich Ihnen schreibe, fühle ich mich bereits oft genug elend und schwach, aber noch schwächer bin ich beim Ergreifen von Gelegenheiten. Ich zögere, anstatt zuzupacken, beherzt in die Vollen zu gehen. Auf einmal habe ich nichts, was mich stützte. Zweifel zehren gewaltig wie Ebbe und Flut an mir. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es allein mir so geht. Kühnheit, von der Sie sprechen, selbst in geringer Dosierung, gelingt so gut wie nie. Gerade nicht, wenn wir sie gerne auf der Stelle hätten. Falsche Bescheidenheit und dummdreiste Normen halten uns selbst dann oft genug zurück, wenn wir wissen, dass Etablierte Nonsens verzapfen.
Wir lassen uns blenden, da alle blind sind - oder wenigstens so tun.
Vernunft ohne Mut ist ein Fahrzeug ohne Antrieb: er rostet alsbald ein und wird schließlich abgewrackt, ohne sich im Geringsten von der Stelle bewegt zu haben.
Selbst zu denken, schreibt Bettina von Arnim so treffend in Die Günderode, sei der höchste Mut.
Wer wirken will, muss sowohl auf sich selbst als auch andere hören - und zwar, scheint mir, genau in der Reihenfolge.
3. Juli
183.
Nichts gar zu fest ergreifen. Jeder Dumme ist fest überzeugt; und jeder fest Ueberzeugte ist dumm: je irriger sein Urtheil, desto größer sein Starrsinn. Sogar wo man augenfällig Recht hat, steht es schön an, nachzugeben: denn die Gründe, die wir für uns haben, sind nicht unbekannt, und nun sieht man unsre Artigkeit. Man verliert mehr durch ein halsstarriges Behaupten, als man durch den Sieg gewinnen kann; denn das heißt nicht ein Verfechter der Wahrheit, sondern der Grobheit seyn. Es giebt eiserne Köpfe, die im höchsten und äußersten Grade schwer zu überzeugen sind: kommt nun zum Festüberzeugtseyn noch der grillenhafte Eigensinn: so gehn beide eine unzertrennliche Verbindung mit der Narrheit ein. Die Festigkeit gehört in den Willen; nicht in den Verstand. Doch giebt es Fälle, die hievon eine Ausnahme gestatten, wo man nämlich verloren wäre, wenn man sich doppelt, erst im Urtheil und in Folge davon in der Ausführung besiegen ließe.
Im fest haftet die Immobilität, die unbeugsame Penetranz, die gewaltig auf die Nerven geht. Und doch, Freund, ab und an vonnöten ist. Spielen wir mit dem fest, machen wir's zum Hauptwort, nicht zur klassischen Festigkeit, das nicht, sondern belassen wir's ruhig bei seiner schmalen Gestalt, so erhalten wir Fest. Und das Wort dehnt sich sogleich, wird, im schönsten Fall, ruckzuck zum Gegenteil seiner selbst, zur ausgelassenen, ungestümen, ungebundenen Fete. Ein reizender Zufall. Feiernd löst sich die Starre, Begegnungen entstehen, mit Glück sinnliche Gespräche, tief oder flach oder beides, je nach Lust und Laune oder Bedarf.
Ein gelungenes Fest sabotiert die Melancholie, schafft Erinnerungen, die über die Feier hinausreichen.
Wer beim Tanz den Standesdünkel die Führung überlässt, kann auch gleich daheim bleiben.
Die ausgelassenen Tage seien die schönsten, die verlassenen die schlimmsten.
4. Juli
Nichts gar zu fest ergreifen. Jeder Dumme ist fest überzeugt; und jeder fest Ueberzeugte ist dumm: je irriger sein Urtheil, desto größer sein Starrsinn. Sogar wo man augenfällig Recht hat, steht es schön an, nachzugeben: denn die Gründe, die wir für uns haben, sind nicht unbekannt, und nun sieht man unsre Artigkeit. Man verliert mehr durch ein halsstarriges Behaupten, als man durch den Sieg gewinnen kann; denn das heißt nicht ein Verfechter der Wahrheit, sondern der Grobheit seyn. Es giebt eiserne Köpfe, die im höchsten und äußersten Grade schwer zu überzeugen sind: kommt nun zum Festüberzeugtseyn noch der grillenhafte Eigensinn: so gehn beide eine unzertrennliche Verbindung mit der Narrheit ein. Die Festigkeit gehört in den Willen; nicht in den Verstand. Doch giebt es Fälle, die hievon eine Ausnahme gestatten, wo man nämlich verloren wäre, wenn man sich doppelt, erst im Urtheil und in Folge davon in der Ausführung besiegen ließe.
Im fest haftet die Immobilität, die unbeugsame Penetranz, die gewaltig auf die Nerven geht. Und doch, Freund, ab und an vonnöten ist. Spielen wir mit dem fest, machen wir's zum Hauptwort, nicht zur klassischen Festigkeit, das nicht, sondern belassen wir's ruhig bei seiner schmalen Gestalt, so erhalten wir Fest. Und das Wort dehnt sich sogleich, wird, im schönsten Fall, ruckzuck zum Gegenteil seiner selbst, zur ausgelassenen, ungestümen, ungebundenen Fete. Ein reizender Zufall. Feiernd löst sich die Starre, Begegnungen entstehen, mit Glück sinnliche Gespräche, tief oder flach oder beides, je nach Lust und Laune oder Bedarf.
Ein gelungenes Fest sabotiert die Melancholie, schafft Erinnerungen, die über die Feier hinausreichen.
Wer beim Tanz den Standesdünkel die Führung überlässt, kann auch gleich daheim bleiben.
Die ausgelassenen Tage seien die schönsten, die verlassenen die schlimmsten.
4. Juli
184.
Nicht ceremoniös seyn. Sogar in einem Könige war die Affektation hierin als eine Sonderbarkeit weltkundig. Wer in diesem Punkte krittlich ist, macht sich lästig: und doch haben ganze Nationen diese Eigenheit. Das Kleid der Narrheit ist aus solchen Dingen zusammengenäht: Leute dieses Schlages sind Götzendiener ihrer Ehre und zeigen doch, daß sie auf wenig gegründet ist, da sie fürchten, daß Alles dieselbe verletzen könne. Es ist gut, auf Achtung zu halten: aber man gelte nicht für einen großen Ceremonienmeister. Allerdings ist es wahr, daß ein Mann ohne alle Umstände, ausgezeichneter Tugenden bedarf. Man soll die Höflichkeit weder affektiren noch verachten: es zeugt nicht von Größe, daß man in Kleinigkeiten eigen ist.
Im Kern jedweder Zeremonie, Freund, steht, in aller Regel, zunächst ein unbändiger Machtanspruch, der sich als Dienst an der Gemeinschaft, als hehre Feierlichkeit, als simple Freudeskundgebung kaschiert. Das Brauchtum gleicht beinahe immer einer Beschwörung, die einige über andere stellt, viele ausschließt, wenige derart zusammenschweißt, dass sie sich grundlos überlegen dünken.
Rituale dienen selten dem Guten, aber fortwährend dem Herrschaftsanspruch.
Moden sind im selben Augenblick die Feinde und Freunde des Zeremoniellen, da der Puls der Zeit sowohl Rituale enteiert als auch neue kreiert.
Nicht zu selten, Freund, erwische ich mich dabei, an Bräuchen zu kleben, deren Wirkungsmächtigkeit mir peinlich ist. Allein wie ich sie abstreifen soll, also den Schutz der Rituale ablege, ohne mich ganz und gar zu häuten, weiß ich auch nicht genau. Vielleicht hilft nur das unablässige Hinterfragen, wenn wir uns in Schubladen wiederfinden, die andere für uns bestückt haben.
5. Juli
Nicht ceremoniös seyn. Sogar in einem Könige war die Affektation hierin als eine Sonderbarkeit weltkundig. Wer in diesem Punkte krittlich ist, macht sich lästig: und doch haben ganze Nationen diese Eigenheit. Das Kleid der Narrheit ist aus solchen Dingen zusammengenäht: Leute dieses Schlages sind Götzendiener ihrer Ehre und zeigen doch, daß sie auf wenig gegründet ist, da sie fürchten, daß Alles dieselbe verletzen könne. Es ist gut, auf Achtung zu halten: aber man gelte nicht für einen großen Ceremonienmeister. Allerdings ist es wahr, daß ein Mann ohne alle Umstände, ausgezeichneter Tugenden bedarf. Man soll die Höflichkeit weder affektiren noch verachten: es zeugt nicht von Größe, daß man in Kleinigkeiten eigen ist.
Im Kern jedweder Zeremonie, Freund, steht, in aller Regel, zunächst ein unbändiger Machtanspruch, der sich als Dienst an der Gemeinschaft, als hehre Feierlichkeit, als simple Freudeskundgebung kaschiert. Das Brauchtum gleicht beinahe immer einer Beschwörung, die einige über andere stellt, viele ausschließt, wenige derart zusammenschweißt, dass sie sich grundlos überlegen dünken.
Rituale dienen selten dem Guten, aber fortwährend dem Herrschaftsanspruch.
Moden sind im selben Augenblick die Feinde und Freunde des Zeremoniellen, da der Puls der Zeit sowohl Rituale enteiert als auch neue kreiert.
Nicht zu selten, Freund, erwische ich mich dabei, an Bräuchen zu kleben, deren Wirkungsmächtigkeit mir peinlich ist. Allein wie ich sie abstreifen soll, also den Schutz der Rituale ablege, ohne mich ganz und gar zu häuten, weiß ich auch nicht genau. Vielleicht hilft nur das unablässige Hinterfragen, wenn wir uns in Schubladen wiederfinden, die andere für uns bestückt haben.
5. Juli
185.
Nie sein Ansehn von der Probe eines einzigen Versuchs abhängig machen: denn mißglückt er, so ist der Schaden unersetzlich. Es kann leicht kommen, daß man ein Mal fehlt, und besonders das erste. Zeit und Gelegenheit sind nicht immer günstig: daher man sagt, Jemand habe seinen glücklichen Tag. Seinen zweiten Versuch stelle man durch Verbindung mit dem ersten sicher: dann wird, er mag gelingen oder mißglücken, der erste seine Ehrenrettung seyn. Immer muß man seine Zuflucht zu einer Verbesserung nehmen und sich auf ein Mehreres berufen können. Die Dinge hängen von gar vielen und mancherlei Zufälligkeiten ab; daher eben der glückliche Ausgang so selten ist.
Ein Begriff, Freund, der mir nicht aus dem Sinn will, ist die Pechsträhne. Wir mühen uns, legen nach, wagen Versuch um Versuch, doch das Sein hat sich offenbar gegen uns verschworen. Wir bekommen partout kein Bein auch nur halbwegs richtig auf den Boden, wir erleiden permanent Schiffbruch, verharren im Nirgendwo, irren durch Nichts. Und das meine ich ganz wortwörtlich: niemals einen guten Tag zu haben, bricht die Stärksten unter uns. Machen wir uns besser nichts vor: Nackenschläge erschweren das Aufrechtgehen. Wer viele Kilometer Gewichte schleppt, dem fehlt's halt an Leichtfüßigkeit.
Ohne Glück ist das Talent einsam.
Sich dem Schicksal zu fügen, sei einfacher, scheint die Sonne. Hört der Sturm einfach nicht auf, erweist sich der Verzicht auf Fernziele oftmals als angebracht. Zumal der Unterschlupf häufig gleich nebenan wartet, in unserer unmittelbaren Umgebung; wir müssten nur die Augen öffnen.
Der Mund, glauben die Japaner, Freund, sei die Wurzel des Unglücks. Ich habe mir angewöhnt, mehrere Leben gleichzeitig zu führen - gerade, was das Gesagte betrifft. Ich schweige still, was meine Wortwelt betrifft, im Brotberuf. Und rede so gut wie nichts freiwillig über das Nachrichtengeschäft, bewege ich mich unter Künstlerinnen und Künstlern. Selbst meinen Namen habe ich auseinandergerissen, um dort jener, hier dieser zu sein. Ob das klappt, wollen Sie wissen? Ja. Und nein. Das Ich, vielleicht lässt's sich so formulieren, das Ich sucht sich selbst, in allen von uns, und bieten wir ihm zu viele Abzweigungen, verliert's eben noch häufiger die Orientierung.
Der Vorsatz hilft dem Zweck, umgekehrt ist das selten der Fall.
6. Juli
Nie sein Ansehn von der Probe eines einzigen Versuchs abhängig machen: denn mißglückt er, so ist der Schaden unersetzlich. Es kann leicht kommen, daß man ein Mal fehlt, und besonders das erste. Zeit und Gelegenheit sind nicht immer günstig: daher man sagt, Jemand habe seinen glücklichen Tag. Seinen zweiten Versuch stelle man durch Verbindung mit dem ersten sicher: dann wird, er mag gelingen oder mißglücken, der erste seine Ehrenrettung seyn. Immer muß man seine Zuflucht zu einer Verbesserung nehmen und sich auf ein Mehreres berufen können. Die Dinge hängen von gar vielen und mancherlei Zufälligkeiten ab; daher eben der glückliche Ausgang so selten ist.
Ein Begriff, Freund, der mir nicht aus dem Sinn will, ist die Pechsträhne. Wir mühen uns, legen nach, wagen Versuch um Versuch, doch das Sein hat sich offenbar gegen uns verschworen. Wir bekommen partout kein Bein auch nur halbwegs richtig auf den Boden, wir erleiden permanent Schiffbruch, verharren im Nirgendwo, irren durch Nichts. Und das meine ich ganz wortwörtlich: niemals einen guten Tag zu haben, bricht die Stärksten unter uns. Machen wir uns besser nichts vor: Nackenschläge erschweren das Aufrechtgehen. Wer viele Kilometer Gewichte schleppt, dem fehlt's halt an Leichtfüßigkeit.
Ohne Glück ist das Talent einsam.
Sich dem Schicksal zu fügen, sei einfacher, scheint die Sonne. Hört der Sturm einfach nicht auf, erweist sich der Verzicht auf Fernziele oftmals als angebracht. Zumal der Unterschlupf häufig gleich nebenan wartet, in unserer unmittelbaren Umgebung; wir müssten nur die Augen öffnen.
Der Mund, glauben die Japaner, Freund, sei die Wurzel des Unglücks. Ich habe mir angewöhnt, mehrere Leben gleichzeitig zu führen - gerade, was das Gesagte betrifft. Ich schweige still, was meine Wortwelt betrifft, im Brotberuf. Und rede so gut wie nichts freiwillig über das Nachrichtengeschäft, bewege ich mich unter Künstlerinnen und Künstlern. Selbst meinen Namen habe ich auseinandergerissen, um dort jener, hier dieser zu sein. Ob das klappt, wollen Sie wissen? Ja. Und nein. Das Ich, vielleicht lässt's sich so formulieren, das Ich sucht sich selbst, in allen von uns, und bieten wir ihm zu viele Abzweigungen, verliert's eben noch häufiger die Orientierung.
Der Vorsatz hilft dem Zweck, umgekehrt ist das selten der Fall.
6. Juli
186.
Fehler als solche erkennen, auch wenn sie in noch so hohem Ansehn stehen. Der Makellose verkenne das Laster nicht, auch wenn es sich in Gold und Seide kleidet: ja es wird bisweilen eine goldne Krone tragen, deshalb aber doch nicht weniger verwerflich seyn. Die Sklaverei bleibt niederträchtig, so sehr man sie durch die Hoheit des Herrn beschönigen möchte. Die Laster können hoch stehn, sind aber deshalb doch nichts Hohes. Manche sehn, daß jener große Mann mit diesem oder jenem Fehler behaftet ist; aber sie sehn nicht, daß er keineswegs durch denselben ein großer Mann ist. Das Beispiel der Höhern hat eine solche Ueberredungskraft, daß es uns sogar zu Häßlichkeiten beredet, und selbst die des Gesichts von Schmeichlern bisweilen affektirt wurden, welche jedoch nicht begriffen, daß wenn man bei den Großen gegen dergleichen die Augen verschließt, man es an den Geringen verabscheut.
Den selben Maßstab anzulegen, Freund, darauf, denke ich, können wir uns, wenigstens in diesem Brief, einigen. Sie sind, mit Verlaub, tapfer, renitent und, diesmal, aufgeklärt. Mir ist bewusst, dass mein Räsonieren und Gleich-Gültig-Bleiben aus einer entspannten Lage stammen. Ich bin kein Kind des Geschundenseins, des Krieges und Kerkers. Gewiss, dank einiger Aktionen, unter- und oberirdisch, würde ich nicht mehr in jedes Land, in jede Region, in jede Stadt reisen. Allerdings leben die Häscher nicht offiziell neben mir, stolzieren nicht tagtäglich sichtbar an mir vorbei, grüßen mich nicht mit Handschellen und Peitsche, Bibel und Ehrenbart. Auch wenn ich felsenfest davon überzeugt bin, den letzten Meter zu gehen, fall es notwendig wäre, wissen wir doch erst, wer wir wirklich sind, sobald's ans Eingemachte, sprich: die Eingeweide geht.
Kritik zählt immer. Noch mehr, wenn wir die einzigen sind, die sie berechtigterweise wagen.
Tapferkeit, die sich der Wahrheit verpflichtet, kennt keine Herrscherinnen und Herrscher.
Im Angesicht des Bösen wächst das Gute über sich hinaus. Tut's das nicht, gehört's alsbald zum Bösen.
7. Juli
Fehler als solche erkennen, auch wenn sie in noch so hohem Ansehn stehen. Der Makellose verkenne das Laster nicht, auch wenn es sich in Gold und Seide kleidet: ja es wird bisweilen eine goldne Krone tragen, deshalb aber doch nicht weniger verwerflich seyn. Die Sklaverei bleibt niederträchtig, so sehr man sie durch die Hoheit des Herrn beschönigen möchte. Die Laster können hoch stehn, sind aber deshalb doch nichts Hohes. Manche sehn, daß jener große Mann mit diesem oder jenem Fehler behaftet ist; aber sie sehn nicht, daß er keineswegs durch denselben ein großer Mann ist. Das Beispiel der Höhern hat eine solche Ueberredungskraft, daß es uns sogar zu Häßlichkeiten beredet, und selbst die des Gesichts von Schmeichlern bisweilen affektirt wurden, welche jedoch nicht begriffen, daß wenn man bei den Großen gegen dergleichen die Augen verschließt, man es an den Geringen verabscheut.
Den selben Maßstab anzulegen, Freund, darauf, denke ich, können wir uns, wenigstens in diesem Brief, einigen. Sie sind, mit Verlaub, tapfer, renitent und, diesmal, aufgeklärt. Mir ist bewusst, dass mein Räsonieren und Gleich-Gültig-Bleiben aus einer entspannten Lage stammen. Ich bin kein Kind des Geschundenseins, des Krieges und Kerkers. Gewiss, dank einiger Aktionen, unter- und oberirdisch, würde ich nicht mehr in jedes Land, in jede Region, in jede Stadt reisen. Allerdings leben die Häscher nicht offiziell neben mir, stolzieren nicht tagtäglich sichtbar an mir vorbei, grüßen mich nicht mit Handschellen und Peitsche, Bibel und Ehrenbart. Auch wenn ich felsenfest davon überzeugt bin, den letzten Meter zu gehen, fall es notwendig wäre, wissen wir doch erst, wer wir wirklich sind, sobald's ans Eingemachte, sprich: die Eingeweide geht.
Kritik zählt immer. Noch mehr, wenn wir die einzigen sind, die sie berechtigterweise wagen.
Tapferkeit, die sich der Wahrheit verpflichtet, kennt keine Herrscherinnen und Herrscher.
Im Angesicht des Bösen wächst das Gute über sich hinaus. Tut's das nicht, gehört's alsbald zum Bösen.
7. Juli
187.
Was Gunst erwirbt, selbst verrichten, was Ungunst, durch Andre. Durch das erstere gewinnt man die Liebe, durch das andre entgeht man dem Uebelwollen. Dem großen Mann giebt Gutes thun mehr Genuß, als Gutes empfangen: ein Glück seines Edelmuths. Nicht leicht wird man Andern Schmerz verursachen, ohne, entweder durch Mitleid, oder durch Vergeltung, selbst wieder Schmerz zu erdulden. Von Oben kann man nur durch Lohn oder Strafe wirken: da ertheile man das Gute unmittelbar, das Schlimme mittelbar. Man habe Jemanden, auf den die Schläge der Unzufriedenheit, welches Haß und Schmähungen sind, treffen. Denn die Wuth des Pöbels gleicht der der Hunde: die Ursache ihres Leidens verkennend, wendet sie sich wider das Werkzeug, welches, wiewohl nicht die Hauptschuld tragend, für die unmittelbare büßen muß.
Ach, Freund, müsste ich wägen: zwischen Recht und Unrecht, das Sie hier haben, gleichzeitig, wohlgemerkt, ich wüsste nicht, in welche Richtung das Pendel auf Dauer ausschlüge. Und, um ehrlich zu bleiben, manchmal, in den letzten Wochen, überkommt mich das Gefühl, Ihre Vieldeutigkeit hat System, ist gewitzter, als Sie's möglicherweise beabsichtigen. Dass Ihr Schwanken meiner eigenen Unhaltbarkeit entspricht, macht die Sache nicht einfacher. Kaum habe ich mit Ihnen meinen humanistischen Frieden gemacht, schon erkläre ich Sie für misanthropisch. Kaum fühle ich, wie nah wir einander sind, schon sind Sie mir fremder als ich's aushalten kann.
Einen Bogen zu ziehen, wo eine Gerade gefragt ist, erhöht zwar nicht die Treffsicherheit, aber vergrößert den Blickwinkel.
Nicht zu antworten, wenn wir lieben, sei ab und an die einzig passende Erwiderung.
Sind wir der Wiederholung müde, ohne die Menschen, welche uns langweilen, verlassen zu wollen oder zu können, hilft ein Sinneswandel: statt zu hören, sollten wir blicken; statt zu warten, sollten wir uns verspäten.
Ändert sich nichts von allein, hilft keine Klage, sondern nur die Tat.
Wer sterben will, sollte nicht atmen. Wer leben will, mit dem Atmen beginnen.
8. Juli
Was Gunst erwirbt, selbst verrichten, was Ungunst, durch Andre. Durch das erstere gewinnt man die Liebe, durch das andre entgeht man dem Uebelwollen. Dem großen Mann giebt Gutes thun mehr Genuß, als Gutes empfangen: ein Glück seines Edelmuths. Nicht leicht wird man Andern Schmerz verursachen, ohne, entweder durch Mitleid, oder durch Vergeltung, selbst wieder Schmerz zu erdulden. Von Oben kann man nur durch Lohn oder Strafe wirken: da ertheile man das Gute unmittelbar, das Schlimme mittelbar. Man habe Jemanden, auf den die Schläge der Unzufriedenheit, welches Haß und Schmähungen sind, treffen. Denn die Wuth des Pöbels gleicht der der Hunde: die Ursache ihres Leidens verkennend, wendet sie sich wider das Werkzeug, welches, wiewohl nicht die Hauptschuld tragend, für die unmittelbare büßen muß.
Ach, Freund, müsste ich wägen: zwischen Recht und Unrecht, das Sie hier haben, gleichzeitig, wohlgemerkt, ich wüsste nicht, in welche Richtung das Pendel auf Dauer ausschlüge. Und, um ehrlich zu bleiben, manchmal, in den letzten Wochen, überkommt mich das Gefühl, Ihre Vieldeutigkeit hat System, ist gewitzter, als Sie's möglicherweise beabsichtigen. Dass Ihr Schwanken meiner eigenen Unhaltbarkeit entspricht, macht die Sache nicht einfacher. Kaum habe ich mit Ihnen meinen humanistischen Frieden gemacht, schon erkläre ich Sie für misanthropisch. Kaum fühle ich, wie nah wir einander sind, schon sind Sie mir fremder als ich's aushalten kann.
Einen Bogen zu ziehen, wo eine Gerade gefragt ist, erhöht zwar nicht die Treffsicherheit, aber vergrößert den Blickwinkel.
Nicht zu antworten, wenn wir lieben, sei ab und an die einzig passende Erwiderung.
Sind wir der Wiederholung müde, ohne die Menschen, welche uns langweilen, verlassen zu wollen oder zu können, hilft ein Sinneswandel: statt zu hören, sollten wir blicken; statt zu warten, sollten wir uns verspäten.
Ändert sich nichts von allein, hilft keine Klage, sondern nur die Tat.
Wer sterben will, sollte nicht atmen. Wer leben will, mit dem Atmen beginnen.
8. Juli
188.
Löbliches zu berichten haben. Es erhöht die gute Meinung von unserm Geschmack, indem es anzeigt, daß derselbe anderwärts das Vortreffliche kennen gelernt hat und daher auch hier es zu schätzen wissen wird: denn wer vordem Vollkommenheiten zu würdigen gewußt hat, wird ihnen auch nachmals Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zudem giebt es Stoff zur Unterhaltung, zur Nachahmung, und befördert lobenswerthe Kenntnisse. Man erzeigt dadurch, auf eine sehr feine Weise, den gegenwärtigen Vollkommenheiten eine Höflichkeit. Andre machen es umgekehrt: sie begleiten ihre Erzählung immer mit Tadel und wollen dem Gegenwärtigen durch Herabsetzung des Abwesenden schmeicheln. Dies glückt ihnen bei oberflächlichen Leuten, welche nicht inne werden, wie listig sie, bei einem Jeden, recht schlecht vom Andern reden. Manche haben die Politik, die Mittelmäßigkeiten des heutigen Tages höher zu schätzen, als die vortrefflichsten Leistungen des gestrigen. Der Aufmerksame durchschaue alle diese Schliche und lasse sich weder durch die übertriebenen Erzählungen der Einen muthlos machen, noch durch die Schmeicheleien der Andern aufblasen; sondern sehe ein, daß Jene sich an Einem Orte grade so, wie am andern benehmen, ihre Meinungen vertauschen und sich stets nach dem Orte richten, an welchem sie eben sind.
Der Ort, Freund, an dem wir am ehrlichsten sein sollten, sei der Ort der Erkenntnis und der Liebe. Was zunächst einerseits zu sentimental klingt, Ort der Liebe, fast schon esoterisch, andererseits zu ambitioniert, Ort der Erkenntnis, und dadurch zu verschieden, um gleichzeitig vorhanden zu sein, ist doch in Wahrheit ein- und derselbe Ort: unser Ich. Die leidige, romantische Unterscheidung zwischen Hirn und Herz stellt einen bedauernswerten Trugschluss dar, der die Wissenschaft unnötigerweise von Emotionen entleert, die Zuneigung zur analystischen Blindheit verpflichtet. Ähnlich, scheint mir, liegt's mit der Dichotomie, die Sie hier, aus weiter Ferne, vage ins Spiel bringen. Ich glaube zwischen den Zeilen zu vernehmen, dass das Löbliche laudabel sei, wenn's sowohl der Vernunft als auch den Gefühlen Achtung abringt. Warum sollten wir's, frage ich mich, je nach Publikum und Anlass, hier rühmen, dort aber verdammen? Mir ist bewusst, dass Sie das nicht so sagen. Aber daruf läuft's meistens hinaus, bei Ihnen wie auch bei anderen.
Die Wahrheit kennt nur eine Seite. Kennt sie zwei, handelt's sich um eine Theorie.
Die Lüge kennt viele Seiten, kennt sie nur eine, handelt's sich um eine Religion.
9. Juli
Löbliches zu berichten haben. Es erhöht die gute Meinung von unserm Geschmack, indem es anzeigt, daß derselbe anderwärts das Vortreffliche kennen gelernt hat und daher auch hier es zu schätzen wissen wird: denn wer vordem Vollkommenheiten zu würdigen gewußt hat, wird ihnen auch nachmals Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zudem giebt es Stoff zur Unterhaltung, zur Nachahmung, und befördert lobenswerthe Kenntnisse. Man erzeigt dadurch, auf eine sehr feine Weise, den gegenwärtigen Vollkommenheiten eine Höflichkeit. Andre machen es umgekehrt: sie begleiten ihre Erzählung immer mit Tadel und wollen dem Gegenwärtigen durch Herabsetzung des Abwesenden schmeicheln. Dies glückt ihnen bei oberflächlichen Leuten, welche nicht inne werden, wie listig sie, bei einem Jeden, recht schlecht vom Andern reden. Manche haben die Politik, die Mittelmäßigkeiten des heutigen Tages höher zu schätzen, als die vortrefflichsten Leistungen des gestrigen. Der Aufmerksame durchschaue alle diese Schliche und lasse sich weder durch die übertriebenen Erzählungen der Einen muthlos machen, noch durch die Schmeicheleien der Andern aufblasen; sondern sehe ein, daß Jene sich an Einem Orte grade so, wie am andern benehmen, ihre Meinungen vertauschen und sich stets nach dem Orte richten, an welchem sie eben sind.
Der Ort, Freund, an dem wir am ehrlichsten sein sollten, sei der Ort der Erkenntnis und der Liebe. Was zunächst einerseits zu sentimental klingt, Ort der Liebe, fast schon esoterisch, andererseits zu ambitioniert, Ort der Erkenntnis, und dadurch zu verschieden, um gleichzeitig vorhanden zu sein, ist doch in Wahrheit ein- und derselbe Ort: unser Ich. Die leidige, romantische Unterscheidung zwischen Hirn und Herz stellt einen bedauernswerten Trugschluss dar, der die Wissenschaft unnötigerweise von Emotionen entleert, die Zuneigung zur analystischen Blindheit verpflichtet. Ähnlich, scheint mir, liegt's mit der Dichotomie, die Sie hier, aus weiter Ferne, vage ins Spiel bringen. Ich glaube zwischen den Zeilen zu vernehmen, dass das Löbliche laudabel sei, wenn's sowohl der Vernunft als auch den Gefühlen Achtung abringt. Warum sollten wir's, frage ich mich, je nach Publikum und Anlass, hier rühmen, dort aber verdammen? Mir ist bewusst, dass Sie das nicht so sagen. Aber daruf läuft's meistens hinaus, bei Ihnen wie auch bei anderen.
Die Wahrheit kennt nur eine Seite. Kennt sie zwei, handelt's sich um eine Theorie.
Die Lüge kennt viele Seiten, kennt sie nur eine, handelt's sich um eine Religion.
9. Juli
189.
Sich den fremden Mangel zu Nutze machen: denn erzeugt er den Wunsch; so wird er zur wirksamsten Daumschraube. Die Philosophen haben gesagt, der Mangel, oder die Privation, sei nichts: die Politiker aber meinten, er sei Alles. Letztere haben es am besten verstanden. Manche wissen aus dem Wunsche der Andern eine Stufe zur Erreichung ihrer Zwecke zu machen. Sie benutzen die Gelegenheit und erregen Jenen, durch Vorstellung der Schwierigkeit des Erlangens, den Appetit. Sie versprechen sich mehr von der Leidenschaftlichkeit der Sehnsucht, als von der Lauheit des Besitzes. Denn in dem Maaße, als der Widerstand zunimmt, wird der Wunsch leidenschaftlicher. Andre in Abhängigkeit zu erhalten wissen, um seine Zwecke zu erreichen, ist eine große Feinheit.
Sprechen wir also, Freund, von der Sehnsucht. In uns und in anderen. In mir sägt solch eine unziemliche Begierde seit Ewigkeiten. Manchmal gebe ich's zu, viel öfter jedoch versuche ich, meinen Drang zu verstecken, da er sich unschicklich anfühlt, mich gemein erscheinen lässt, wo ich doch für edelmütig gelten möchte, gar selbstlos. Vor einer Stunde, ich bin gerade aus der Neuen Donau gestiegen, sitze nun im höchsten Turm Österreichs und blicke auf Wien, vor einer Stunde ging diese Sehnsucht, nennen wir sie die intellektuelle Mangelwirtschaft, mal wieder mit mir durch. Das Verlangen nach Harmonie hat zum Gegenteil geführt. Was genau passiert ist? Ich werde es Ihnen demnächst erzählen.
Wer sich selbst untreu wird, kann keine Treue von anderen erwarten.
Theoretische Ideale sind keine.
Beim Handeln zeigt sich die wahre Güte des Regens, in der Rede nur die Trockenheit.
Wer alles will, verliert mehr als ihr oder ihm lieb ist.
10. Juli
Sich den fremden Mangel zu Nutze machen: denn erzeugt er den Wunsch; so wird er zur wirksamsten Daumschraube. Die Philosophen haben gesagt, der Mangel, oder die Privation, sei nichts: die Politiker aber meinten, er sei Alles. Letztere haben es am besten verstanden. Manche wissen aus dem Wunsche der Andern eine Stufe zur Erreichung ihrer Zwecke zu machen. Sie benutzen die Gelegenheit und erregen Jenen, durch Vorstellung der Schwierigkeit des Erlangens, den Appetit. Sie versprechen sich mehr von der Leidenschaftlichkeit der Sehnsucht, als von der Lauheit des Besitzes. Denn in dem Maaße, als der Widerstand zunimmt, wird der Wunsch leidenschaftlicher. Andre in Abhängigkeit zu erhalten wissen, um seine Zwecke zu erreichen, ist eine große Feinheit.
Sprechen wir also, Freund, von der Sehnsucht. In uns und in anderen. In mir sägt solch eine unziemliche Begierde seit Ewigkeiten. Manchmal gebe ich's zu, viel öfter jedoch versuche ich, meinen Drang zu verstecken, da er sich unschicklich anfühlt, mich gemein erscheinen lässt, wo ich doch für edelmütig gelten möchte, gar selbstlos. Vor einer Stunde, ich bin gerade aus der Neuen Donau gestiegen, sitze nun im höchsten Turm Österreichs und blicke auf Wien, vor einer Stunde ging diese Sehnsucht, nennen wir sie die intellektuelle Mangelwirtschaft, mal wieder mit mir durch. Das Verlangen nach Harmonie hat zum Gegenteil geführt. Was genau passiert ist? Ich werde es Ihnen demnächst erzählen.
Wer sich selbst untreu wird, kann keine Treue von anderen erwarten.
Theoretische Ideale sind keine.
Beim Handeln zeigt sich die wahre Güte des Regens, in der Rede nur die Trockenheit.
Wer alles will, verliert mehr als ihr oder ihm lieb ist.
10. Juli
190.
In Allem seinen Trost finden. Sogar die Unnützen mögen ihn darin finden, daß sie unsterblich sind. Kein Kummer ohne seinen Trost. Für die Dummen ist es einer, daß sie Glück haben: auch das Glück häßlicher Weiber ist sprichwörtlich geworden. Um lange zu leben, ist ein gutes Mittel, wenig zu taugen. Das brüchige Gefäß ist stets das, was nie vollends zerbricht, sondern durch seine Dauer Ueberdruß erregt. Gegen die wichtigsten Menschen scheint das Schicksal Neid zu hegen, da es den unnützesten Leuten die längste, den wichtigsten die kürzeste Lebensdauer verleiht. Alle, an denen viel gelegen, nehmen bald ein Ende; aber der, welcher Keinem etwas nützt, lebt ewig: theils, weil es uns so vorkommt, theils, weil es wirklich so ist. Dem Unglücklichen scheint es, daß das Glück und der Tod sich verschworen haben, ihn zu vergessen.
Was Sie in diesem Brief für einen Riesenmist verzapfen, Freund! Hochnotpeinlich. Von einer Arroganz infiziert, die mich trifft, da ich mich, selbstverständlich, in ihr selbst sehe. Erst heute habe ich Hochmut gegenüber vermeintlicher Ignoranz gezeigt, mich meines eiskalten Auftrumpfens wegen geschämt.
Gerade in der Anwesenheit Unwissender seien Zurückhaltung und Höflichkeit angebracht.
Wir sind, ganz allgemein, von Kindern umgeben, alten wie jungen. Und sind, haben wir Glück, doch selbst noch wie Heranwachsende, deren Übermut von einer Ahnungslosigkeit befeuert wird, deren Lebenslust sich an kleinen Dingen entzündet, deren Unbekümmertheit mit dem Nicht-Wissen zu tun hat, das, häufig genug, ein Nicht-Wissen-Wollen ist.
Wer wissen will, merkt, dass es kaum Gewissheiten gibt. Diese Unzweifelhaftigkeiten sind im Kern stets banal, auch wenn wir sie mit ontologischer Bedeutung aufladen: Wir sind im Jetzt. Das Jetzt ist weder gestern noch heute. Unser Körper hat Grenzen. Der Geist ist Sprache. Zahlen sind wahr, aber kalt. Gefühle stellen sich als Sprache heraus. Instinkte verbinden uns mehr als Gedanken.
Es geht, beim Wabi-Sabi, um die Erhabenheit, die sich in der Hülle des Unscheinbaren den Blicken entzieht. Es dreht sich um die strenge Schlichtheit und den vermeintlichen Makel der dauerhaften Anwendung, des unerschöpflichen Abschleifens, des notwendigen Splitterns und unabwendbaren Abschleifens, die dem Verstehenden doch alle Reize des Schönen kundtun. Durch den Gebrauch des Körpers wie des Geistes leiden wir. Die Schrammen, die wir und die Sachen tragen, sind die Narben, die jeder hat, der die Zeit nutzt und von der Zeit genutzt wird.
Das Alter zu hassen, sei Selbsthass, sich für klug zu halten, Dummheit.
12. Juli
In Allem seinen Trost finden. Sogar die Unnützen mögen ihn darin finden, daß sie unsterblich sind. Kein Kummer ohne seinen Trost. Für die Dummen ist es einer, daß sie Glück haben: auch das Glück häßlicher Weiber ist sprichwörtlich geworden. Um lange zu leben, ist ein gutes Mittel, wenig zu taugen. Das brüchige Gefäß ist stets das, was nie vollends zerbricht, sondern durch seine Dauer Ueberdruß erregt. Gegen die wichtigsten Menschen scheint das Schicksal Neid zu hegen, da es den unnützesten Leuten die längste, den wichtigsten die kürzeste Lebensdauer verleiht. Alle, an denen viel gelegen, nehmen bald ein Ende; aber der, welcher Keinem etwas nützt, lebt ewig: theils, weil es uns so vorkommt, theils, weil es wirklich so ist. Dem Unglücklichen scheint es, daß das Glück und der Tod sich verschworen haben, ihn zu vergessen.
Was Sie in diesem Brief für einen Riesenmist verzapfen, Freund! Hochnotpeinlich. Von einer Arroganz infiziert, die mich trifft, da ich mich, selbstverständlich, in ihr selbst sehe. Erst heute habe ich Hochmut gegenüber vermeintlicher Ignoranz gezeigt, mich meines eiskalten Auftrumpfens wegen geschämt.
Gerade in der Anwesenheit Unwissender seien Zurückhaltung und Höflichkeit angebracht.
Wir sind, ganz allgemein, von Kindern umgeben, alten wie jungen. Und sind, haben wir Glück, doch selbst noch wie Heranwachsende, deren Übermut von einer Ahnungslosigkeit befeuert wird, deren Lebenslust sich an kleinen Dingen entzündet, deren Unbekümmertheit mit dem Nicht-Wissen zu tun hat, das, häufig genug, ein Nicht-Wissen-Wollen ist.
Wer wissen will, merkt, dass es kaum Gewissheiten gibt. Diese Unzweifelhaftigkeiten sind im Kern stets banal, auch wenn wir sie mit ontologischer Bedeutung aufladen: Wir sind im Jetzt. Das Jetzt ist weder gestern noch heute. Unser Körper hat Grenzen. Der Geist ist Sprache. Zahlen sind wahr, aber kalt. Gefühle stellen sich als Sprache heraus. Instinkte verbinden uns mehr als Gedanken.
Es geht, beim Wabi-Sabi, um die Erhabenheit, die sich in der Hülle des Unscheinbaren den Blicken entzieht. Es dreht sich um die strenge Schlichtheit und den vermeintlichen Makel der dauerhaften Anwendung, des unerschöpflichen Abschleifens, des notwendigen Splitterns und unabwendbaren Abschleifens, die dem Verstehenden doch alle Reize des Schönen kundtun. Durch den Gebrauch des Körpers wie des Geistes leiden wir. Die Schrammen, die wir und die Sachen tragen, sind die Narben, die jeder hat, der die Zeit nutzt und von der Zeit genutzt wird.
Das Alter zu hassen, sei Selbsthass, sich für klug zu halten, Dummheit.
12. Juli
191.
Nicht an der großen Höflichkeit sein Genügen haben: denn sie ist eine Art Betrug. Einige bedürfen, um hexen zu können, nicht der Kräuter Thessaliens: denn mit dem schmeichelhaften Hutabziehen allein bezaubern sie eitele Dummköpfe. Ehrenbezeugungen sind ihre Münze und sie bezahlen mit dem Hauch schöner Redensarten. Wer Alles verspricht, verspricht nichts: aber Versprechungen sind die Falle für die Dummen. Die wahre Höflichkeit ist Schuldigkeit, die affektirte, zumal die ungebräuchliche, Betrug: sie ist nicht Sache des Anstands; sondern ein Mittel Andre abhängig zu machen. Ihr Bückling gilt nicht der Person, sondern deren Glücksumständen, und ihre Schmeichelei nicht den etwa erkannten Trefflichkeiten, sondern den gehofften Vortheilen.
Heinrich Böll, Freund, ein großer Moralist, hat mal gesagt, Höflichkeit sei die sicherste Form der Verachtung. Ein vernichtendes Urteil, bemerkenswert in seiner Tragweite. Ich habe selbst oft genug, wie die meisten von uns, unter- und übertriebene Höflichkeit erlebt, das richtige Maß an Entgegenkommen dagegen so gut wie niemals. Blicken wir aufs Wort, das in vielen europäischen Sprachen nach Unterwürfigkeit gegenüber Monarchinnen und Monarchen klingt - cortesia, courtoisie, courtesy, hoffelijkheid, um nur vier zu nennen -, wird einem vor lauter Maniriertheit und falscher Verbindlichkeit extrem übel. Und doch hausen, wenn auch zugeschüttet, Freundlichkeit und Anstand in der Höflichkeit.
Nicht alles ist von vornherein schlecht, nur weil's per se schlechtgemacht oder schlecht gemacht wird.
Verhalten braucht passende Worte, Worte kein passendes Verhalten.
Ein Begriff sei an sich, steht er allein, zunächst integer und, in der Mehrzahl, im positiven Sinne, willkürlich. Im Kontext, sprachlich wie sozial, veränderrn sich Begriffe. Sie verlieren ihre maßstäbliche Unversehrtheit und nehmen eine Unwillkürlichkeit an, die per se Stellung bezieht. Ein Wort im Kontext ist nicht mehr wertfrei, sondern wertvoll. Worte sind, quasi, soziale Wesen. Für sich thronen sie, mit anderen ändern sie die Ausgangslage (Neutralität) und verändern sich (Subjektivität) und andere und anderes (Objektivität).
Ein Wort, das nicht Partei ergreift und sich somit einnistet, verschwindet.
Kehren Begriffe zurück, sind sie niemals, was sie einst waren.
13. Juli
Nicht an der großen Höflichkeit sein Genügen haben: denn sie ist eine Art Betrug. Einige bedürfen, um hexen zu können, nicht der Kräuter Thessaliens: denn mit dem schmeichelhaften Hutabziehen allein bezaubern sie eitele Dummköpfe. Ehrenbezeugungen sind ihre Münze und sie bezahlen mit dem Hauch schöner Redensarten. Wer Alles verspricht, verspricht nichts: aber Versprechungen sind die Falle für die Dummen. Die wahre Höflichkeit ist Schuldigkeit, die affektirte, zumal die ungebräuchliche, Betrug: sie ist nicht Sache des Anstands; sondern ein Mittel Andre abhängig zu machen. Ihr Bückling gilt nicht der Person, sondern deren Glücksumständen, und ihre Schmeichelei nicht den etwa erkannten Trefflichkeiten, sondern den gehofften Vortheilen.
Heinrich Böll, Freund, ein großer Moralist, hat mal gesagt, Höflichkeit sei die sicherste Form der Verachtung. Ein vernichtendes Urteil, bemerkenswert in seiner Tragweite. Ich habe selbst oft genug, wie die meisten von uns, unter- und übertriebene Höflichkeit erlebt, das richtige Maß an Entgegenkommen dagegen so gut wie niemals. Blicken wir aufs Wort, das in vielen europäischen Sprachen nach Unterwürfigkeit gegenüber Monarchinnen und Monarchen klingt - cortesia, courtoisie, courtesy, hoffelijkheid, um nur vier zu nennen -, wird einem vor lauter Maniriertheit und falscher Verbindlichkeit extrem übel. Und doch hausen, wenn auch zugeschüttet, Freundlichkeit und Anstand in der Höflichkeit.
Nicht alles ist von vornherein schlecht, nur weil's per se schlechtgemacht oder schlecht gemacht wird.
Verhalten braucht passende Worte, Worte kein passendes Verhalten.
Ein Begriff sei an sich, steht er allein, zunächst integer und, in der Mehrzahl, im positiven Sinne, willkürlich. Im Kontext, sprachlich wie sozial, veränderrn sich Begriffe. Sie verlieren ihre maßstäbliche Unversehrtheit und nehmen eine Unwillkürlichkeit an, die per se Stellung bezieht. Ein Wort im Kontext ist nicht mehr wertfrei, sondern wertvoll. Worte sind, quasi, soziale Wesen. Für sich thronen sie, mit anderen ändern sie die Ausgangslage (Neutralität) und verändern sich (Subjektivität) und andere und anderes (Objektivität).
Ein Wort, das nicht Partei ergreift und sich somit einnistet, verschwindet.
Kehren Begriffe zurück, sind sie niemals, was sie einst waren.
13. Juli
192.
Friedfertig leben, lange leben. Um zu leben, leben lassen. Die Friedfertigen leben nicht nur; sie herrschen. Man höre, sehe und schweige. Der Tag ohne Streit bringt ruhigen Schlaf in der Nacht. Lange leben und angenehm leben, heißt für Zwei leben, und ist die Frucht des Friedens. Alles hat der, welcher sich aus dem nichts macht, woran ihm nichts liegt. Keine größre Verkehrtheit, als sich Alles zu Herzen nehmen. Gleich große Thorheit, daß uns das Herz durchbohre, was uns nicht angeht, und daß wir uns nicht kümmern wollen um das, was wichtig für uns ist.
Der klugen Weisheiten viele, Freund, die Sie mit dem Wunderhorn über uns ausschütten. Beeindruckend, im Großen und Ganzen. Die Friedfertigkeit wird als Mittel der Macht allgemein unterschätzt. Obwohl es allerorten amikale Lippenbekenntnisse gibt, verstehen nur wenige von uns, dass sich erst im gewaltfreien Handeln Friedlichkeit beweist. Etliche hauen auf den Putz, um Ruhe herzustellen. Eine absurde Strategie.
Wer stets mit den anderen schreit, wird niemals ruhig.
Verzicht sei der Beginn des Friedens, Gier sein Ende.
Zu sammeln, schafft unnötigen Neid. Leider ist das auch beim übermäßigen Teilen der Fall.
Beim Reden schweigen die Waffen.
14. Juli
Friedfertig leben, lange leben. Um zu leben, leben lassen. Die Friedfertigen leben nicht nur; sie herrschen. Man höre, sehe und schweige. Der Tag ohne Streit bringt ruhigen Schlaf in der Nacht. Lange leben und angenehm leben, heißt für Zwei leben, und ist die Frucht des Friedens. Alles hat der, welcher sich aus dem nichts macht, woran ihm nichts liegt. Keine größre Verkehrtheit, als sich Alles zu Herzen nehmen. Gleich große Thorheit, daß uns das Herz durchbohre, was uns nicht angeht, und daß wir uns nicht kümmern wollen um das, was wichtig für uns ist.
Der klugen Weisheiten viele, Freund, die Sie mit dem Wunderhorn über uns ausschütten. Beeindruckend, im Großen und Ganzen. Die Friedfertigkeit wird als Mittel der Macht allgemein unterschätzt. Obwohl es allerorten amikale Lippenbekenntnisse gibt, verstehen nur wenige von uns, dass sich erst im gewaltfreien Handeln Friedlichkeit beweist. Etliche hauen auf den Putz, um Ruhe herzustellen. Eine absurde Strategie.
Wer stets mit den anderen schreit, wird niemals ruhig.
Verzicht sei der Beginn des Friedens, Gier sein Ende.
Zu sammeln, schafft unnötigen Neid. Leider ist das auch beim übermäßigen Teilen der Fall.
Beim Reden schweigen die Waffen.
14. Juli
193.
Dem aufpassen, der mit der fremden Angelegenheit auftritt, um mit der eigenen abzuziehen. Gegen die List ist die beste Vormauer die Aufmerksamkeit. Für seine Schliche, eine feine Nase. Viele machen aus ihrer eigenen Angelegenheit eine fremde: und ohne den Schlüssel zur Zifferschrift ihrer Absichten, wird man bei jedem Schritt in den Fall kommen, den fremden Vortheil, zum großen Schaden seiner Hand, aus dem Feuer holen zu müssen.
Ob die List, Freund, statthaft und rechtens ist, ob ich mich in fremde Kleider zwängen darf, wenn meine in der Wäsche sind, habe ich viel gegrübelt, ohne eine verbindliche Herangehensweise zu finden. Im trojanischen Pferd zu hocken, hat eben Vor- wie Nachteile. Mir scheint, dass es, wie eigentlich immer, weniger ums Gefäß als den Gehalt geht.
Will ich Gutes, schadet die List nicht. Zur Hinterlist wird der Trick erst, habe ich Übles vor.
Um einen Tyrannen zu stürzen, muss ich mich in sein Vertrauen schleichen. Der gute Zweck heiligt also die bösen Mittel. Wenigstens theoretisch. Denn leider verführt der Bluff, der gelingt, oft genug zum Weitermachen. Aus der Ausnahme wird die Regel, unsere Moral weich und weicher, bis sie zerläuft.
Ehrlichkeit sei die erste Wahl, kommt's zum Streit, denn den Ehrlichen gebührt, am Ende, die Ehre. Ein Sieg, der uns beschmutzt, hat furchtbare Folgen, die uns, während des Triumphs, nicht bewusst sind, später aber heftig aufs Gemüt schlagen.
15. Juli
Dem aufpassen, der mit der fremden Angelegenheit auftritt, um mit der eigenen abzuziehen. Gegen die List ist die beste Vormauer die Aufmerksamkeit. Für seine Schliche, eine feine Nase. Viele machen aus ihrer eigenen Angelegenheit eine fremde: und ohne den Schlüssel zur Zifferschrift ihrer Absichten, wird man bei jedem Schritt in den Fall kommen, den fremden Vortheil, zum großen Schaden seiner Hand, aus dem Feuer holen zu müssen.
Ob die List, Freund, statthaft und rechtens ist, ob ich mich in fremde Kleider zwängen darf, wenn meine in der Wäsche sind, habe ich viel gegrübelt, ohne eine verbindliche Herangehensweise zu finden. Im trojanischen Pferd zu hocken, hat eben Vor- wie Nachteile. Mir scheint, dass es, wie eigentlich immer, weniger ums Gefäß als den Gehalt geht.
Will ich Gutes, schadet die List nicht. Zur Hinterlist wird der Trick erst, habe ich Übles vor.
Um einen Tyrannen zu stürzen, muss ich mich in sein Vertrauen schleichen. Der gute Zweck heiligt also die bösen Mittel. Wenigstens theoretisch. Denn leider verführt der Bluff, der gelingt, oft genug zum Weitermachen. Aus der Ausnahme wird die Regel, unsere Moral weich und weicher, bis sie zerläuft.
Ehrlichkeit sei die erste Wahl, kommt's zum Streit, denn den Ehrlichen gebührt, am Ende, die Ehre. Ein Sieg, der uns beschmutzt, hat furchtbare Folgen, die uns, während des Triumphs, nicht bewusst sind, später aber heftig aufs Gemüt schlagen.
15. Juli
194.
Von sich und seinen Sachen vernünftige Begriffe haben: zumal beim Antritt des Lebens. Jeder hat eine hohe Meinung von sich, am meisten aber die, welche am wenigsten Ursache haben. Jeder träumt sich sein Glück und hält sich für ein Wunder. Die Hoffnung macht die übertriebensten Versprechungen, welche nachher die Erfahrung durchaus nicht erfüllt. Dergleichen eitle Einbildungen werden eine Quelle der Qualen, wann einst die wahrhafte Wirklichkeit die Täuschung zerstört. Der Kluge komme solchen Verirrungen zuvor: er mag immerhin das Beste hoffen; jedoch erwarte er stets das Schlimmste, um was kommen wird mit Gleichmuth zu empfangen. Zwar ist es geschickt, etwas zu hoch zu zielen, damit der Schuß richtig treffe; jedoch nicht so sehr, daß man den Antritt seiner Laufbahn darüber ganz verfehle. Diese Berichtigung der Begriffe ist schlechterdings nothwendig: denn vor der Erfahrung ist die Erwartung meistens sehr ausschweifend. Die beste Universalmedicin gegen alle Thorheiten ist die Einsicht. Jeder erkenne die Sphäre seiner Thätigkeit und seines Standes: dann wird er seine Begriffe nach der Wirklichkeit berichtigen.
Bis auf den Schluss, Freund, wo Sie wieder mal zur kriecherischen Hofschranze verkommen, die Stand und Klasse über alles lobt, steckt arg viel Vernünftiges in Ihren Zeilen. Als Anfangsanekdote sei erwähnt, dass in meinem Umfeld der biedermeierlichen Neo-Bürgerlichkeit von Berlin-Mitte gerade jeder Pups des frischgeborenen Nachwuchses zum fantastischen Odeur eines genialen Babys geadelt wird. Jede Tochter, die halbwegs gehen kann, wird zur olympischen Sprinterin in spe, jeder Sohn, der einen Filzstift richtig herum hält, wird zum zukünftigen Malerfürsten erklärt. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich darf nur nicken und loben. Sagte ich, was Sie eben angeführt haben, warnte also vor zu hohen Erwartungen, wär's mit der Freund- und Bekanntschaft arg schnell vorbei.
Ein Begriff hat's mir besonders angetan: die Laufbahn, die weiterhin beschreibt, was wir im Leben machen und erreichen sollen und können. Mir scheint, dass es sich um ein stichhaltiges, aber eben auch falsches Bild handelt. Laufbahn suggeriert, dass es immer vorangehen muss, dass wir in der Spuren bleiben sollen, dass es, im gewissen Sinne, gar ein Ziel gibt. All das halte ich zwar für möglich, wage aber doch zu behaupten, dass der offene Horizont ein zärtlicheres, freieres Bild darstellte. Um ehrlich mit Ihnen zu sein: ich habe mich nie um meine Laufbahn geschert, also auch keine Karriere gemacht. Obwohl, auch das sei eingestanden, in mir eine Sehnsucht nach Sicherheit und Anerkennung auf ihr Recht pocht. Hätte ich möglicherweise einen Werdegang gewählt, der mir mehr Freude machte, vielleicht freundete ich mich mit solch einem zyklischen Lebenslauf eher an.
Träume halten uns zunächst am Leben; aber sind sie zu willkürlich, zerstören sie unser Glück.
Jede echte Bescheidenheit stammt aus einem verlorenen Kampf.
Wer stets vor Begeisterung glüht, setzt sich der Gefahr des zu frühen Verglühens aus.
Ziele geben Atem; zu viel Realität erstickt uns.
16. Juli
Von sich und seinen Sachen vernünftige Begriffe haben: zumal beim Antritt des Lebens. Jeder hat eine hohe Meinung von sich, am meisten aber die, welche am wenigsten Ursache haben. Jeder träumt sich sein Glück und hält sich für ein Wunder. Die Hoffnung macht die übertriebensten Versprechungen, welche nachher die Erfahrung durchaus nicht erfüllt. Dergleichen eitle Einbildungen werden eine Quelle der Qualen, wann einst die wahrhafte Wirklichkeit die Täuschung zerstört. Der Kluge komme solchen Verirrungen zuvor: er mag immerhin das Beste hoffen; jedoch erwarte er stets das Schlimmste, um was kommen wird mit Gleichmuth zu empfangen. Zwar ist es geschickt, etwas zu hoch zu zielen, damit der Schuß richtig treffe; jedoch nicht so sehr, daß man den Antritt seiner Laufbahn darüber ganz verfehle. Diese Berichtigung der Begriffe ist schlechterdings nothwendig: denn vor der Erfahrung ist die Erwartung meistens sehr ausschweifend. Die beste Universalmedicin gegen alle Thorheiten ist die Einsicht. Jeder erkenne die Sphäre seiner Thätigkeit und seines Standes: dann wird er seine Begriffe nach der Wirklichkeit berichtigen.
Bis auf den Schluss, Freund, wo Sie wieder mal zur kriecherischen Hofschranze verkommen, die Stand und Klasse über alles lobt, steckt arg viel Vernünftiges in Ihren Zeilen. Als Anfangsanekdote sei erwähnt, dass in meinem Umfeld der biedermeierlichen Neo-Bürgerlichkeit von Berlin-Mitte gerade jeder Pups des frischgeborenen Nachwuchses zum fantastischen Odeur eines genialen Babys geadelt wird. Jede Tochter, die halbwegs gehen kann, wird zur olympischen Sprinterin in spe, jeder Sohn, der einen Filzstift richtig herum hält, wird zum zukünftigen Malerfürsten erklärt. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich darf nur nicken und loben. Sagte ich, was Sie eben angeführt haben, warnte also vor zu hohen Erwartungen, wär's mit der Freund- und Bekanntschaft arg schnell vorbei.
Ein Begriff hat's mir besonders angetan: die Laufbahn, die weiterhin beschreibt, was wir im Leben machen und erreichen sollen und können. Mir scheint, dass es sich um ein stichhaltiges, aber eben auch falsches Bild handelt. Laufbahn suggeriert, dass es immer vorangehen muss, dass wir in der Spuren bleiben sollen, dass es, im gewissen Sinne, gar ein Ziel gibt. All das halte ich zwar für möglich, wage aber doch zu behaupten, dass der offene Horizont ein zärtlicheres, freieres Bild darstellte. Um ehrlich mit Ihnen zu sein: ich habe mich nie um meine Laufbahn geschert, also auch keine Karriere gemacht. Obwohl, auch das sei eingestanden, in mir eine Sehnsucht nach Sicherheit und Anerkennung auf ihr Recht pocht. Hätte ich möglicherweise einen Werdegang gewählt, der mir mehr Freude machte, vielleicht freundete ich mich mit solch einem zyklischen Lebenslauf eher an.
Träume halten uns zunächst am Leben; aber sind sie zu willkürlich, zerstören sie unser Glück.
Jede echte Bescheidenheit stammt aus einem verlorenen Kampf.
Wer stets vor Begeisterung glüht, setzt sich der Gefahr des zu frühen Verglühens aus.
Ziele geben Atem; zu viel Realität erstickt uns.
16. Juli
195.
Zu schätzen wissen. Es giebt Keinen, der nicht in irgend etwas der Lehrer des Andern seyn könnte: und Jeder, der Andre übertrifft, wird selbst noch von Jemandem übertroffen werden. Von Jedem Nutzen zu ziehn verstehn, ist ein nützliches Wissen. Der Weise schätzt Alle, weil er in Jedem das Gute erkennt und weiß, wie viel dazu gehört, eine Sache gut zu machen. Der Dumme verachtet Alle, weil er das Gute nicht kennt und das Schlechtere erwählt.
Ein wunderbarer Brief, Freund, den ich über alles schätze. Mir sei dennoch eine korinthenkackerische Anmerkung vergeben: von jenen oder diesen kein Wissen zu beziehen, auch wenn's im Angebot ist, auch wenn's vermeintlich gerade passt, ist, nicht zu selten, die vernünftigere Wahl.
Alles zu wissen, beeinträchtigt ab und an die Entscheidungskraft so sehr, dass wir uns selbst blockieren. Dass Unwissen in aller Regel schadet, steht dadurch nicht in Frage.
Will euch Hass etwas beibringen, schließt die Hefte und macht euch davon. Lehrt Vernunft, bleibt da.
Wer das Töten studiert, kommt eher in die Versuchung, das Erlente anzuwenden.
17. Juli
Zu schätzen wissen. Es giebt Keinen, der nicht in irgend etwas der Lehrer des Andern seyn könnte: und Jeder, der Andre übertrifft, wird selbst noch von Jemandem übertroffen werden. Von Jedem Nutzen zu ziehn verstehn, ist ein nützliches Wissen. Der Weise schätzt Alle, weil er in Jedem das Gute erkennt und weiß, wie viel dazu gehört, eine Sache gut zu machen. Der Dumme verachtet Alle, weil er das Gute nicht kennt und das Schlechtere erwählt.
Ein wunderbarer Brief, Freund, den ich über alles schätze. Mir sei dennoch eine korinthenkackerische Anmerkung vergeben: von jenen oder diesen kein Wissen zu beziehen, auch wenn's im Angebot ist, auch wenn's vermeintlich gerade passt, ist, nicht zu selten, die vernünftigere Wahl.
Alles zu wissen, beeinträchtigt ab und an die Entscheidungskraft so sehr, dass wir uns selbst blockieren. Dass Unwissen in aller Regel schadet, steht dadurch nicht in Frage.
Will euch Hass etwas beibringen, schließt die Hefte und macht euch davon. Lehrt Vernunft, bleibt da.
Wer das Töten studiert, kommt eher in die Versuchung, das Erlente anzuwenden.
17. Juli
196.
Seinen Glücksstern kennen. Niemand ist so hülflos, daß er keinen hätte: und ist er unglücklich; so ist es, weil er ihn nicht kennt. Einige stehen bei Fürsten und Mächtigen in Ansehn, ohne zu wissen, wie oder weshalb, als nur, daß eben ihr Schicksal ihnen diese Gunst leicht machte, wobei der Bemühung bloß das Nachhelfen blieb. Andre besitzen die Gunst der Weisen. Mancher fand bei Einer Nation bessere Aufnahme, als bei der andern, und war in dieser Stadt lieber gesehn, als in jener. Ebenso hat man oft mehr Glück in Einem Amte oder Stand, als in den übrigen; und Alles dieses bei Gleichheit, ja Einerleiheit der Verdienste. Das Schicksal mischt die Karten, wie und wann es will. Jeder kenne seinen Glücksstern, eben wie auch sein Talent: denn hievon hängt es ab, ob er sein Glück macht oder verscherzt. Er wisse seinem Stern zu folgen, ihm nachzuhelfen und hüte sich ihn zu vertauschen: denn das wäre, wie wenn man den Polarstern verfehlt, auf welchen doch der nahe kleine Bär hindeutet.
Eine Rumpelkammer, Freund, in die Sie mich heute führen und stolz auf verstaubte Artefakte zeigen, Angefressenes, schlecht Ausgedachtes und weise Wahres. Zu gerne wüßte ich, wie Ihre engeste Umgebung, die Freunde, nicht die Feinde, auf solch ein Sammelsurium an Ungereimtheiten reagiert? Oder lobt man Sie über den Klee, um bloß die Ruhe zu wahren?
Wahre Freundschaft beweist sich in der Kritikfähigkeit - sowohl des und der Kritisierten als auch der Kritikerin und des Kritikers.
Die Korrektur zu scheuen, obwohl wir's besser wissen, ist der Beweis echter Dummheit.
Glückssterne existieren nicht. Das Schicksal ist, in neun von zehn Fällen, eine ideologische Konstruktion.
18. Juli
Seinen Glücksstern kennen. Niemand ist so hülflos, daß er keinen hätte: und ist er unglücklich; so ist es, weil er ihn nicht kennt. Einige stehen bei Fürsten und Mächtigen in Ansehn, ohne zu wissen, wie oder weshalb, als nur, daß eben ihr Schicksal ihnen diese Gunst leicht machte, wobei der Bemühung bloß das Nachhelfen blieb. Andre besitzen die Gunst der Weisen. Mancher fand bei Einer Nation bessere Aufnahme, als bei der andern, und war in dieser Stadt lieber gesehn, als in jener. Ebenso hat man oft mehr Glück in Einem Amte oder Stand, als in den übrigen; und Alles dieses bei Gleichheit, ja Einerleiheit der Verdienste. Das Schicksal mischt die Karten, wie und wann es will. Jeder kenne seinen Glücksstern, eben wie auch sein Talent: denn hievon hängt es ab, ob er sein Glück macht oder verscherzt. Er wisse seinem Stern zu folgen, ihm nachzuhelfen und hüte sich ihn zu vertauschen: denn das wäre, wie wenn man den Polarstern verfehlt, auf welchen doch der nahe kleine Bär hindeutet.
Eine Rumpelkammer, Freund, in die Sie mich heute führen und stolz auf verstaubte Artefakte zeigen, Angefressenes, schlecht Ausgedachtes und weise Wahres. Zu gerne wüßte ich, wie Ihre engeste Umgebung, die Freunde, nicht die Feinde, auf solch ein Sammelsurium an Ungereimtheiten reagiert? Oder lobt man Sie über den Klee, um bloß die Ruhe zu wahren?
Wahre Freundschaft beweist sich in der Kritikfähigkeit - sowohl des und der Kritisierten als auch der Kritikerin und des Kritikers.
Die Korrektur zu scheuen, obwohl wir's besser wissen, ist der Beweis echter Dummheit.
Glückssterne existieren nicht. Das Schicksal ist, in neun von zehn Fällen, eine ideologische Konstruktion.
18. Juli
197.
Sich keine Narren auf den Hals laden: wer sie nicht kennt, ist selbst einer, noch mehr der, welcher sie kennt und nicht von sich abhält. Für den oberflächlichen Umgang sind sie gefährlich, für den vertrauten verderblich. Und wenn auch ihre eigene Behutsamkeit und fremde Sorgfalt sie eine Zeit lang in Schranken hält; so begehen oder sagen sie zuletzt doch eine Dummheit, und haben sie so lange gewartet, so war es, damit sie desto ansehnlicher ausfiele. Schlecht wird das fremde Ansehn unterstützen, wer selbst keines hat. Sie sind sehr unglücklich, welches das der Narrheit beigegebene Leiden ist und sich mit ihr wechselseitig ausgleicht. Nur Eines ist an ihnen so übel nicht, und das ist, daß obgleich für sie die Klugen von keinem Nutzen sind, sie hingegen von vielem für die Weisen, theils zur Erkenntniß, theils zur Uebung.
Wenn uns die Arroganz diktiert, Freund, schreiben wir manches, was uns augenblicklich überaus gefällt, vor Stolz platzen lässt, das uns genial erscheint, einen Tag später, kommen wir wieder zu uns, jedoch peinlich berührt. Wir versinken in den Boden und fragen uns, welche Chimäre uns geritten hat. Ja, natürlich, versteht sich, wie Sie habe ich oftmals das Gefühl, auf einem Narrenschiff zu segeln, umgeben von lauter Leuten, die unablässig der Tollheit frönen, keine halbwegs vernünftige Silbe - von Sätzen ganz zu schweigen - äußern und mich, ganz ehrlich, mit ihrem Gelaber zur Weißglut bringen. Besonders schwierig wird's, handelt's sich um die eigene Familie, aus der wir entsprungen sind, in deren Marotten wir uns selbst erkennen, deren Hoheitsgebiet wir zwar verlassen haben, deren Pass wir aber nicht abgeben können.
Fremde Dummheit sei stets ein Spiegel der eigenen.
Strohköpfe halten uns, sind sie liebenswürdig, im Winter warm.
Wer bösartigen Töpeln begegnet, nehme Reißaus.
Intelligenz schützt nicht vor Idiotie, nicht zu selten sei sie der Grund des maßlosesten Wahnsinns.
19. Juli
Sich keine Narren auf den Hals laden: wer sie nicht kennt, ist selbst einer, noch mehr der, welcher sie kennt und nicht von sich abhält. Für den oberflächlichen Umgang sind sie gefährlich, für den vertrauten verderblich. Und wenn auch ihre eigene Behutsamkeit und fremde Sorgfalt sie eine Zeit lang in Schranken hält; so begehen oder sagen sie zuletzt doch eine Dummheit, und haben sie so lange gewartet, so war es, damit sie desto ansehnlicher ausfiele. Schlecht wird das fremde Ansehn unterstützen, wer selbst keines hat. Sie sind sehr unglücklich, welches das der Narrheit beigegebene Leiden ist und sich mit ihr wechselseitig ausgleicht. Nur Eines ist an ihnen so übel nicht, und das ist, daß obgleich für sie die Klugen von keinem Nutzen sind, sie hingegen von vielem für die Weisen, theils zur Erkenntniß, theils zur Uebung.
Wenn uns die Arroganz diktiert, Freund, schreiben wir manches, was uns augenblicklich überaus gefällt, vor Stolz platzen lässt, das uns genial erscheint, einen Tag später, kommen wir wieder zu uns, jedoch peinlich berührt. Wir versinken in den Boden und fragen uns, welche Chimäre uns geritten hat. Ja, natürlich, versteht sich, wie Sie habe ich oftmals das Gefühl, auf einem Narrenschiff zu segeln, umgeben von lauter Leuten, die unablässig der Tollheit frönen, keine halbwegs vernünftige Silbe - von Sätzen ganz zu schweigen - äußern und mich, ganz ehrlich, mit ihrem Gelaber zur Weißglut bringen. Besonders schwierig wird's, handelt's sich um die eigene Familie, aus der wir entsprungen sind, in deren Marotten wir uns selbst erkennen, deren Hoheitsgebiet wir zwar verlassen haben, deren Pass wir aber nicht abgeben können.
Fremde Dummheit sei stets ein Spiegel der eigenen.
Strohköpfe halten uns, sind sie liebenswürdig, im Winter warm.
Wer bösartigen Töpeln begegnet, nehme Reißaus.
Intelligenz schützt nicht vor Idiotie, nicht zu selten sei sie der Grund des maßlosesten Wahnsinns.
19. Juli
198.
Sich zu verpflanzen wissen. Es giebt Nationen, die um zu gelten, versetzt werden müssen; zumal in Hinsicht auf hohe Stellen. Das Vaterland ist allemal stiefmütterlich gegen ausgezeichnete Talente: denn in ihm, als dem Boden, dem sie entsprossen, herrscht der Neid, und man erinnert sich mehr der Unvollkommenheit, mit der Jemand anfieng, als der Größe, zu der er gelangt ist. Eine Nadel konnte Wertschätzung erhalten, nachdem sie von Einer Welt zur andern gereist war, und ein Glas, weil es in ein andres Land gebracht worden, machte den Diamanten geringgeschätzt. Alles Fremde wird geachtet, theils weil es von Ferne kommt, theils weil man es ganz fertig und in seiner Vollkommenheit erhält. Leute hat man gesehn, die einst die Verachtung ihres Winkels waren und jetzt die Ehre der Welt sind, hochgeschätzt von ihren Landsleuten und von den Fremden, von jenen, weil sie sie von Weitem, von diesen, weil sie sie als weither sehen. Nie wird der die Statue auf dem Altar gehörig verehren, der sie als einen Stamm im Garten gekannt hat.
Sie sprechen, Freund, gewissermaßen, vom Reiz des Exotischen, oberflächlich betrachtet zumindest, in den Dingen wie bei den Menschen. Bei den Sachen, mit denen ich beginnen will, überfällt uns von jeher, auch heutzutage, die geblendete Sehlust, die sich zu gerne am Kuriosen, am Unbekannten ergötzt. Umstandslos. Ohne jedwede Unterscheidung des Wie und Warum und Woher. Im bösen Fall weiden wir uns am Geraubten, Erpressten, zu billig Erstandenen, am bösartig Missverstandenen. In den Sammlungen der Kolonialmächte - und leider ist die Zeit der Kolonialreiche nicht vorbei, so gut wie nichts hat sich geändert, die Techniken der Unterdrückung tragen nur andere Namen -, in den, wie sie ehedem entlarvend hießen, Völkerkundemuseen, zu denen auch die Naturkundemuseen gezählt werden müssen, stapelt sich millionenfaches Diebesgut, dessen Provenienz ungeklärt ist, das zum, nennen wir's ruhig beim Namen, auch wenn's uns, in unser scheinbar aufgeklärten Zeit seltsam anmutet, das zum magisch-rituellen, unabdingbaren, wissenschaftlich-wertvollen Bestand der Sammlung gehört, also, da's am Ursprungsort der Vernichtung ausgesetzt wäre, angeblich unter gar keinen Umständen zurückgegeben werden kann. Hier, Freund, frage ich mich, wie die Sachen, die ja häufig beim Raub, viele Hundert Jahre alt gewesen und in Gebrauch gewesen sind - und ich spreche nicht von Gegenständen, die Glücksritter illegal oder halb legal ausgebraben und außer Landes geschmuggelt haben -, hier frage ich mich, wie denn diese uralten Sachen unter vermeintlich unmöglichen Umständen uralt werden konnten? Außerdem, auch das gilt's zu bedenken, haben Sachen, oft genug, eine Daseinsspanne, die von den jeweiligen Ursprungskulturen festgelegt wird. Dinge besitzen das Recht, vergänglich zu sein, eine ephemere Last zu tragen. Das Transiente, dessen Schönheit wir im kapitalistischen Anhäufungswahn nicht wahrhaben wollen, wird in unseren Diebesmuseen ungern berücksichtigt. Nur noch ein Wort zu diesen exotischen Sachen: endlich, Freund, stellen wir uns den ungemütlichen Tatsachen. Was allerdings bei dieser Bewusstwerdung passiert, welche Konsequenzen wir, die Raubkulturen, ziehen werden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Museen horten: Lügen wie Dinge. Müssten sie die Wahrheit bekennen, dienten sie der Aufklärung und in die staatlich bezahlten Räume zöge die Vernunft ein.
Eine kurze Bemerkung zu den Leuten, die, wie Sie bewundernd schreiben, in der Fremde mehr Anerkennung als in der Heimat finden. Sie sprechen von Wenigen, sprechen von Leuten, die Stand, aber nicht notwendigerweise Anstand besitzen. Ihre Fremden - verzeihen Sie mir bitte meine harschen Worte - sind halt nicht die seit jeher Geknechteten, die Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven, die Unterjochten, die weder freiwillig gekommen sind noch weiterziehen dürfen. Ihr Blick ist vom Dünkel Ihrer Zeit getrübt - was, natürlich, genauso auf meinen Blick zutrifft.
Die Fremden werden zu Fremden, weil wir sie zu Fremden machen. Ein Mensch sei wie der andere. Uns unterscheidet nichts. Wir alle haben Stärken wie Fehler, in uns allen schlägt ein Herz, wir alle besitzen ein Gehirn, das uns denken lässt.
20. Juli
Sich zu verpflanzen wissen. Es giebt Nationen, die um zu gelten, versetzt werden müssen; zumal in Hinsicht auf hohe Stellen. Das Vaterland ist allemal stiefmütterlich gegen ausgezeichnete Talente: denn in ihm, als dem Boden, dem sie entsprossen, herrscht der Neid, und man erinnert sich mehr der Unvollkommenheit, mit der Jemand anfieng, als der Größe, zu der er gelangt ist. Eine Nadel konnte Wertschätzung erhalten, nachdem sie von Einer Welt zur andern gereist war, und ein Glas, weil es in ein andres Land gebracht worden, machte den Diamanten geringgeschätzt. Alles Fremde wird geachtet, theils weil es von Ferne kommt, theils weil man es ganz fertig und in seiner Vollkommenheit erhält. Leute hat man gesehn, die einst die Verachtung ihres Winkels waren und jetzt die Ehre der Welt sind, hochgeschätzt von ihren Landsleuten und von den Fremden, von jenen, weil sie sie von Weitem, von diesen, weil sie sie als weither sehen. Nie wird der die Statue auf dem Altar gehörig verehren, der sie als einen Stamm im Garten gekannt hat.
Sie sprechen, Freund, gewissermaßen, vom Reiz des Exotischen, oberflächlich betrachtet zumindest, in den Dingen wie bei den Menschen. Bei den Sachen, mit denen ich beginnen will, überfällt uns von jeher, auch heutzutage, die geblendete Sehlust, die sich zu gerne am Kuriosen, am Unbekannten ergötzt. Umstandslos. Ohne jedwede Unterscheidung des Wie und Warum und Woher. Im bösen Fall weiden wir uns am Geraubten, Erpressten, zu billig Erstandenen, am bösartig Missverstandenen. In den Sammlungen der Kolonialmächte - und leider ist die Zeit der Kolonialreiche nicht vorbei, so gut wie nichts hat sich geändert, die Techniken der Unterdrückung tragen nur andere Namen -, in den, wie sie ehedem entlarvend hießen, Völkerkundemuseen, zu denen auch die Naturkundemuseen gezählt werden müssen, stapelt sich millionenfaches Diebesgut, dessen Provenienz ungeklärt ist, das zum, nennen wir's ruhig beim Namen, auch wenn's uns, in unser scheinbar aufgeklärten Zeit seltsam anmutet, das zum magisch-rituellen, unabdingbaren, wissenschaftlich-wertvollen Bestand der Sammlung gehört, also, da's am Ursprungsort der Vernichtung ausgesetzt wäre, angeblich unter gar keinen Umständen zurückgegeben werden kann. Hier, Freund, frage ich mich, wie die Sachen, die ja häufig beim Raub, viele Hundert Jahre alt gewesen und in Gebrauch gewesen sind - und ich spreche nicht von Gegenständen, die Glücksritter illegal oder halb legal ausgebraben und außer Landes geschmuggelt haben -, hier frage ich mich, wie denn diese uralten Sachen unter vermeintlich unmöglichen Umständen uralt werden konnten? Außerdem, auch das gilt's zu bedenken, haben Sachen, oft genug, eine Daseinsspanne, die von den jeweiligen Ursprungskulturen festgelegt wird. Dinge besitzen das Recht, vergänglich zu sein, eine ephemere Last zu tragen. Das Transiente, dessen Schönheit wir im kapitalistischen Anhäufungswahn nicht wahrhaben wollen, wird in unseren Diebesmuseen ungern berücksichtigt. Nur noch ein Wort zu diesen exotischen Sachen: endlich, Freund, stellen wir uns den ungemütlichen Tatsachen. Was allerdings bei dieser Bewusstwerdung passiert, welche Konsequenzen wir, die Raubkulturen, ziehen werden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
Museen horten: Lügen wie Dinge. Müssten sie die Wahrheit bekennen, dienten sie der Aufklärung und in die staatlich bezahlten Räume zöge die Vernunft ein.
Eine kurze Bemerkung zu den Leuten, die, wie Sie bewundernd schreiben, in der Fremde mehr Anerkennung als in der Heimat finden. Sie sprechen von Wenigen, sprechen von Leuten, die Stand, aber nicht notwendigerweise Anstand besitzen. Ihre Fremden - verzeihen Sie mir bitte meine harschen Worte - sind halt nicht die seit jeher Geknechteten, die Arbeitssklavinnen und Arbeitssklaven, die Unterjochten, die weder freiwillig gekommen sind noch weiterziehen dürfen. Ihr Blick ist vom Dünkel Ihrer Zeit getrübt - was, natürlich, genauso auf meinen Blick zutrifft.
Die Fremden werden zu Fremden, weil wir sie zu Fremden machen. Ein Mensch sei wie der andere. Uns unterscheidet nichts. Wir alle haben Stärken wie Fehler, in uns allen schlägt ein Herz, wir alle besitzen ein Gehirn, das uns denken lässt.
20. Juli
199.
Sich Platz zu machen wissen, als ein Kluger, nicht als ein Zudringlicher. Der wahre Weg zu hohem Ausehn ist das Verdienst, und liegt dem Fleiße ächter Werth zum Grunde; so gelangt man am kürzesten dahin. Bloße Makellosigkeit reicht nicht aus, bloßes Mühen und Treiben ist unwürdig, denn dadurch langen die Sachen so mit Koth bespritzt an, daß der Ekel ihrem Ansehn schadet. Die Sache ist ein Mittelweg zwischen verdienen und sich einzuführen verstehn.
Die Klugen, welche nicht zudringlich sind, Freund, nennen wir, im Nachhinein, die Vergessenen. In Ihrer Zeit dürfte es kaum anders gewesen sind: wer die Trommel laut zu schlagen versteht, einen Höllenlärm macht, übertüncht, dass er oder sie wenig zu sagen hat - oder zumindest nichts, was Zwischentöne erlaubt.
In dem anmutig-harten, doppeldeutigen Wort Verdienst zeigt sich die Crux der Frage - lassen Sie mich im Deutschen den Vokal ändern, es dürfte sich um einen Schreibfehler handeln, einen interessanten, es sei eingestanden - nach dem Ansehen. Ich will mich an den pekuniären Meriten, nicht den ideellen orientieren, die uns zwar schmücken, aber hungern und irgendwann verzweifeln lassen. Wir bekommen einen Lohn, er wird uns ausgezahlt, durch Dritte, ob wir ihn verdient haben, steht dabei nicht unbedingt zur Sache. Sind wir angestellt, stellen wir uns nicht an. Wir stehen außerhalb der Reihe der Hungerlöhnerinnen und Hungerlöhner, die auf die Brosamen warten. Dass wir unsere Eigenständigkeit verkauft haben, uns einen Platz am Brotkorb gesichert haben, uns dabei dennoch die Freiheit herausnehmen, die Qualität der Bachwaren zu kritisieren, stellt wohl eher die Ausnahme dar. Die Hand, heißt's nicht so?, die uns füttert, beißen wir nicht. Was, wenn Sie mich fragen, ein Fehler ist. Sind die Finger, die uns das Essen reichen, blutbeschirmt, ist die Kost, die man uns reicht, anderen abgezwungen, müssen wir das Angebotene abschlagen.
Um unabhänig zu bleiben, hilft Standfestigkeit. Weht ein heftiger Sturm, wär's dennoch unklug, keinen Unterschlupf zu suchen. Nur wer lebt, kann wirken.
Wer sein Hirn, wie oft erwünscht und eingefordert, an der Garderobe abgibt, darf sich nicht wundern, wenn ihm oder ihr im Theater des Lebens alles gefällt.
Jeder Mittelweg führt in die Mittelmäßigkeit.
21. Juli
Sich Platz zu machen wissen, als ein Kluger, nicht als ein Zudringlicher. Der wahre Weg zu hohem Ausehn ist das Verdienst, und liegt dem Fleiße ächter Werth zum Grunde; so gelangt man am kürzesten dahin. Bloße Makellosigkeit reicht nicht aus, bloßes Mühen und Treiben ist unwürdig, denn dadurch langen die Sachen so mit Koth bespritzt an, daß der Ekel ihrem Ansehn schadet. Die Sache ist ein Mittelweg zwischen verdienen und sich einzuführen verstehn.
Die Klugen, welche nicht zudringlich sind, Freund, nennen wir, im Nachhinein, die Vergessenen. In Ihrer Zeit dürfte es kaum anders gewesen sind: wer die Trommel laut zu schlagen versteht, einen Höllenlärm macht, übertüncht, dass er oder sie wenig zu sagen hat - oder zumindest nichts, was Zwischentöne erlaubt.
In dem anmutig-harten, doppeldeutigen Wort Verdienst zeigt sich die Crux der Frage - lassen Sie mich im Deutschen den Vokal ändern, es dürfte sich um einen Schreibfehler handeln, einen interessanten, es sei eingestanden - nach dem Ansehen. Ich will mich an den pekuniären Meriten, nicht den ideellen orientieren, die uns zwar schmücken, aber hungern und irgendwann verzweifeln lassen. Wir bekommen einen Lohn, er wird uns ausgezahlt, durch Dritte, ob wir ihn verdient haben, steht dabei nicht unbedingt zur Sache. Sind wir angestellt, stellen wir uns nicht an. Wir stehen außerhalb der Reihe der Hungerlöhnerinnen und Hungerlöhner, die auf die Brosamen warten. Dass wir unsere Eigenständigkeit verkauft haben, uns einen Platz am Brotkorb gesichert haben, uns dabei dennoch die Freiheit herausnehmen, die Qualität der Bachwaren zu kritisieren, stellt wohl eher die Ausnahme dar. Die Hand, heißt's nicht so?, die uns füttert, beißen wir nicht. Was, wenn Sie mich fragen, ein Fehler ist. Sind die Finger, die uns das Essen reichen, blutbeschirmt, ist die Kost, die man uns reicht, anderen abgezwungen, müssen wir das Angebotene abschlagen.
Um unabhänig zu bleiben, hilft Standfestigkeit. Weht ein heftiger Sturm, wär's dennoch unklug, keinen Unterschlupf zu suchen. Nur wer lebt, kann wirken.
Wer sein Hirn, wie oft erwünscht und eingefordert, an der Garderobe abgibt, darf sich nicht wundern, wenn ihm oder ihr im Theater des Lebens alles gefällt.
Jeder Mittelweg führt in die Mittelmäßigkeit.
21. Juli
200.
Etwas zu wünschen übrig haben, um nicht vor lauter Glück unglücklich zu seyn. Der Leib will athmen, und der Geist streben. Wer Alles besäße, wäre über Alles enttäuscht und mißvergnügt. Sogar dem Verstande muß etwas zu wissen übrig bleiben, was die Neugier lockt und die Hoffnung belebt. Uebersättigungen an Glück sind tödtlich. Beim Belohnen ist es eine Geschicklichkeit, nie gänzlich zufrieden zu stellen. Ist nichts mehr zu wünschen; so ist Alles zu fürchten: unglückliches Glück! wo der Wunsch aufhört, beginnt die Furcht.
Seltsam ist, dass Reiche, um Ihre bemerkenswerten und unterhaltsamen Ideen noch einmal zu drehen, Freund, seltsam ist, dass Reiche, die sich nahezu jeden materiellen Wunsch erfüllen können, nicht viel, viel glücklicher sind. Was, natürlich, an der einfachen Tatsache liegt, dass man sich, jetzt spricht der Romantiker in mir, wahre Liebe, die sich jeder Mensch wünscht, nicht kaufen kann. Tief im Herzen wissen wir, warum wir und warum wir nicht geliebt werden. Ist's allein oder maßgeblich das Geld, das uns attraktiv macht, herrscht stets eine emotionale Falschheit in Beziehungen, die jede Geste, jedes Lachen mit einem Riss versieht. Liebe zu kaufen und zu verkaufen, geht nicht. Egal, was Menschen behaupten, wie sehr sie sich und andere belügen, welche Gründe sie auch anführen. Die Liebe gibt's nicht im Freudenhaus, in dem übrigens auch so gut wie niemals Freude herrscht, sondern Gewalt, Brutalität und Ausbeutung das Sagen haben.
Liebe sei der eigentliche Wunsch, der köstlichste und kostbarste, den wir uns erfüllen können, sind wir tatsächlich glücklich. Und von der Liebe, Freund, gibt's niemals genug. Wahre Liebe hat keinen Endpunkt, kennt keine Begrenzung, stellt das Glück per se dar.
Ein Gedanke zum Materiellen, von dem Sie so sophistisch sprechen, dessen Verzicht Sie als Glückspfand anführen. Nicht wenige hoffen, sich ab und an überhaupt einen Wunsch erfüllen zu können. Und ich spreche nicht, Freund, von Luxusgütern, sondern den grundlegenden Dingen, also Nahrung, Wasser und Unterkunft. Heutzutage, wie zu Ihrer Zeit auch, leben die einen in Saus und Braus, während andere fürchterlich darben. Klar, Sie haben nicht pauschal von der Einschränkung als Glückschance gesprochen, sondern argumentieren aus der Lage der Priveligierten. Dennoch haftet solch Elitengetuschel der schale Geruch der Arroganz und Ignoranz an.
Nur den eigenen Wünschen Bedeutung beizumessen, sei das Vorrecht der Menschenfeinde. Wer andere liebt, hört genau zu, sieht genau hin und handelt, wenn andere von ihren nachvollziehbaren Wünschen und Nöten berichten.
22. Juli
Etwas zu wünschen übrig haben, um nicht vor lauter Glück unglücklich zu seyn. Der Leib will athmen, und der Geist streben. Wer Alles besäße, wäre über Alles enttäuscht und mißvergnügt. Sogar dem Verstande muß etwas zu wissen übrig bleiben, was die Neugier lockt und die Hoffnung belebt. Uebersättigungen an Glück sind tödtlich. Beim Belohnen ist es eine Geschicklichkeit, nie gänzlich zufrieden zu stellen. Ist nichts mehr zu wünschen; so ist Alles zu fürchten: unglückliches Glück! wo der Wunsch aufhört, beginnt die Furcht.
Seltsam ist, dass Reiche, um Ihre bemerkenswerten und unterhaltsamen Ideen noch einmal zu drehen, Freund, seltsam ist, dass Reiche, die sich nahezu jeden materiellen Wunsch erfüllen können, nicht viel, viel glücklicher sind. Was, natürlich, an der einfachen Tatsache liegt, dass man sich, jetzt spricht der Romantiker in mir, wahre Liebe, die sich jeder Mensch wünscht, nicht kaufen kann. Tief im Herzen wissen wir, warum wir und warum wir nicht geliebt werden. Ist's allein oder maßgeblich das Geld, das uns attraktiv macht, herrscht stets eine emotionale Falschheit in Beziehungen, die jede Geste, jedes Lachen mit einem Riss versieht. Liebe zu kaufen und zu verkaufen, geht nicht. Egal, was Menschen behaupten, wie sehr sie sich und andere belügen, welche Gründe sie auch anführen. Die Liebe gibt's nicht im Freudenhaus, in dem übrigens auch so gut wie niemals Freude herrscht, sondern Gewalt, Brutalität und Ausbeutung das Sagen haben.
Liebe sei der eigentliche Wunsch, der köstlichste und kostbarste, den wir uns erfüllen können, sind wir tatsächlich glücklich. Und von der Liebe, Freund, gibt's niemals genug. Wahre Liebe hat keinen Endpunkt, kennt keine Begrenzung, stellt das Glück per se dar.
Ein Gedanke zum Materiellen, von dem Sie so sophistisch sprechen, dessen Verzicht Sie als Glückspfand anführen. Nicht wenige hoffen, sich ab und an überhaupt einen Wunsch erfüllen zu können. Und ich spreche nicht, Freund, von Luxusgütern, sondern den grundlegenden Dingen, also Nahrung, Wasser und Unterkunft. Heutzutage, wie zu Ihrer Zeit auch, leben die einen in Saus und Braus, während andere fürchterlich darben. Klar, Sie haben nicht pauschal von der Einschränkung als Glückschance gesprochen, sondern argumentieren aus der Lage der Priveligierten. Dennoch haftet solch Elitengetuschel der schale Geruch der Arroganz und Ignoranz an.
Nur den eigenen Wünschen Bedeutung beizumessen, sei das Vorrecht der Menschenfeinde. Wer andere liebt, hört genau zu, sieht genau hin und handelt, wenn andere von ihren nachvollziehbaren Wünschen und Nöten berichten.
22. Juli
201.
Narren sind Alle, die es scheinen, und die Hälfte derer, die es nicht scheinen. Die Narrheit ist mit der Welt davon gelaufen: und giebt es noch einige Weisheit, so ist sie Thorheit vor der himmlischen. Jedoch ist der größte Narr, wer es nicht zu seyn glaubt und alle Andern dafür erklärt. Um weise zu seyn, reicht nicht hin, daß man es scheine, am wenigsten sich selber. Der weiß, welcher nicht denkt, daß er wisse: und der sieht nicht, der nicht sieht, daß die Andern sehn. Und obschon die Welt voll Narren ist, so ist keiner darunter, der es von sich dächte, ja nur argwöhnte.
Ein spitzfindiges Stück Lebensliteratur, Freund, das Sie uns hier vor den närrischen Bug knallen. Mit Chuzpe, wohlgemerkt. Der Gedankengang erinnert mich, im gewissen Sinne, an Russels Barbier-Paradox: Wir können einen Barbier als einen definieren, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Die Frage lautet nun: Rasiert der Barbier sich selbst? Beim Versuch, eine Antwort zu finden, ergibt sich ein Widerspruch. Denn angenommen, der Barbier rasiert sich selbst, dann gehört er sehr wohl zu denen, die er laut Bestimmung nicht rasiert, was der Annahme zuwiderläuft. Angenommen, es gilt das Gegenteil, und der Barbier rasiert sich also nicht selbst, dann erfüllt er selbst die Eigenschaft derer, die er rasiert, entgegen der Annahme.
Es gibt demgemäß keinen, der genau diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Die auf den ersten Blick sinnvoll erscheinende Barbier-Festlegung erzeugt als Folge dessen einen harmlosen leeren Begriff beziehungsweise eine leere Menge. Die Antinomie führt die Barbier-Definition ad absurdum. Russells Lösung demonstriert allein den Definitionsfehler, weist aber keine Lösung auf, wie der Barbier sinnvoll zu bestimmen wäre.
Russell leitete seine Antinomie folgendermaßen ab: Angenommen R enthält sich selbst, dann gilt aufgrund der Klasseneigenschaft, mit der R definiert wurde, dass R sich nicht enthält, was der Annahme widerspricht. Angenommen es gilt das Gegenteil und R enthält sich nicht selbst, dann erfüllt R die Klasseneigenschaft, so dass R sich doch selbst enthält entgegen der Annahme.
Für mich ist die Frage, wer in welche Gedanken-Kategorie, welche Klasse, aktiv oder passiv gehört, also Teil oder nicht Teil einer Klasse ist, die er und sie selbst bestimmen oder die durch ihn oder sie bestimmt wird, wichtig.
Sie dürften Brants Narrenschiff kennen oder wenigstens von dem Buch gehört haben. Eine Moralsatire, die ihresgleichen sucht. 100 Narren auf dem Weg nach Narragonien. So fühle ich mich jeden Tag: ich bin an Bord des Narrenschiffs und werde, wie's halt so geht, allmählich selbst unzurechnungsfähig. Wenig ist ansteckender als die Umnachtung. Das geht so weit, dass wir irgendwann keinen Funken Licht mehr sehen, obwohl's taghell ist.
Der Narr in mir wartet. Er ist geduldiger als die Vernunft, immer schon gewesen, weil er weiß, dass seine Zeit, so oder so, kommen wird. Mensch zu sein, heißt, närrisch zu sein oder zu werden. Ausnahmen bestätigen, womöglich, die Regel.
Das noch am Rande, Freund: Boris Johnson, ein Narr wie er im Buche steht, dürfte heute zum Vorsitzender der Konservativen in Großbritannien gewählt werden - und damit morgen die Regierungsverantwortung im Vereinigten Königsreich übernehmen. Jeder weiß, dass er verrückt und durchtrieben, ein populistischer Lügner und Aufschneider ist, aber keiner hält ihn auf. Eine größere Narrheit ist kaum denkbar.
23. Juli
Narren sind Alle, die es scheinen, und die Hälfte derer, die es nicht scheinen. Die Narrheit ist mit der Welt davon gelaufen: und giebt es noch einige Weisheit, so ist sie Thorheit vor der himmlischen. Jedoch ist der größte Narr, wer es nicht zu seyn glaubt und alle Andern dafür erklärt. Um weise zu seyn, reicht nicht hin, daß man es scheine, am wenigsten sich selber. Der weiß, welcher nicht denkt, daß er wisse: und der sieht nicht, der nicht sieht, daß die Andern sehn. Und obschon die Welt voll Narren ist, so ist keiner darunter, der es von sich dächte, ja nur argwöhnte.
Ein spitzfindiges Stück Lebensliteratur, Freund, das Sie uns hier vor den närrischen Bug knallen. Mit Chuzpe, wohlgemerkt. Der Gedankengang erinnert mich, im gewissen Sinne, an Russels Barbier-Paradox: Wir können einen Barbier als einen definieren, der all jene und nur jene rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Die Frage lautet nun: Rasiert der Barbier sich selbst? Beim Versuch, eine Antwort zu finden, ergibt sich ein Widerspruch. Denn angenommen, der Barbier rasiert sich selbst, dann gehört er sehr wohl zu denen, die er laut Bestimmung nicht rasiert, was der Annahme zuwiderläuft. Angenommen, es gilt das Gegenteil, und der Barbier rasiert sich also nicht selbst, dann erfüllt er selbst die Eigenschaft derer, die er rasiert, entgegen der Annahme.
Es gibt demgemäß keinen, der genau diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Die auf den ersten Blick sinnvoll erscheinende Barbier-Festlegung erzeugt als Folge dessen einen harmlosen leeren Begriff beziehungsweise eine leere Menge. Die Antinomie führt die Barbier-Definition ad absurdum. Russells Lösung demonstriert allein den Definitionsfehler, weist aber keine Lösung auf, wie der Barbier sinnvoll zu bestimmen wäre.
Russell leitete seine Antinomie folgendermaßen ab: Angenommen R enthält sich selbst, dann gilt aufgrund der Klasseneigenschaft, mit der R definiert wurde, dass R sich nicht enthält, was der Annahme widerspricht. Angenommen es gilt das Gegenteil und R enthält sich nicht selbst, dann erfüllt R die Klasseneigenschaft, so dass R sich doch selbst enthält entgegen der Annahme.
Für mich ist die Frage, wer in welche Gedanken-Kategorie, welche Klasse, aktiv oder passiv gehört, also Teil oder nicht Teil einer Klasse ist, die er und sie selbst bestimmen oder die durch ihn oder sie bestimmt wird, wichtig.
Sie dürften Brants Narrenschiff kennen oder wenigstens von dem Buch gehört haben. Eine Moralsatire, die ihresgleichen sucht. 100 Narren auf dem Weg nach Narragonien. So fühle ich mich jeden Tag: ich bin an Bord des Narrenschiffs und werde, wie's halt so geht, allmählich selbst unzurechnungsfähig. Wenig ist ansteckender als die Umnachtung. Das geht so weit, dass wir irgendwann keinen Funken Licht mehr sehen, obwohl's taghell ist.
Der Narr in mir wartet. Er ist geduldiger als die Vernunft, immer schon gewesen, weil er weiß, dass seine Zeit, so oder so, kommen wird. Mensch zu sein, heißt, närrisch zu sein oder zu werden. Ausnahmen bestätigen, womöglich, die Regel.
Das noch am Rande, Freund: Boris Johnson, ein Narr wie er im Buche steht, dürfte heute zum Vorsitzender der Konservativen in Großbritannien gewählt werden - und damit morgen die Regierungsverantwortung im Vereinigten Königsreich übernehmen. Jeder weiß, dass er verrückt und durchtrieben, ein populistischer Lügner und Aufschneider ist, aber keiner hält ihn auf. Eine größere Narrheit ist kaum denkbar.
23. Juli
202.
Reden und Thaten machen einen vollendeten Mann. Sagen soll man was vortrefflich und thun was ehrenvoll ist: das Eine zeigt die Vollkommenheit des Kopfes, das Andere die des Herzens, und Beide gehen aus der Erhabenheit der Seele hervor. Die Reden sind der Schatten der Thaten; jene sind weiblicher, diese männlicher Natur. Besser gerühmt zu seyn, als ein Rühmer. Das Sagen ist leicht, das Thun schwer. Die Thaten sind die Substanz des Lebens, die Reden sein Schmuck. Das Ausgezeichnete in Thaten ist bleibend, das in Reden vergänglich. Die Handlungen sind die Frucht der Gedanken: waren diese weise; so sind jene erfolgreich.
Redseligkeit, Freund, macht nicht selig, Tatkraft andererseits, zugespitzt gesagt, auch nicht zwangsläufig kräftig, in moralischer Hinsicht. Reden steht beinahe immer vorm Handeln. Geht's um Leben und Tod, mag's durchaus andersherum sein. Aber im Allgemeinen ermöglicht das Gespräch eine gründlichere Tiefenauslotung, die der sofortige Sprung ins flache Wasser, summa summarum, nicht erlaubt.
Was ich von Ihrem törichten Gendergenuschel halte, Reden sei weiblich, Handeln männlich, dürfte Sie nicht überraschen. Seltsam kommt's mir vor, dass solch idiotischen Ideen eine sagenhafte Halbwertszeit besitzen. Ich bin von ähnlichen Überzeugungen reihenweise umgeben. Die Misogynie versteckt sich hinter traditionellen Klischees, die mir die Schamesröte ins Gesicht treiben. Das Internet, in dem Sie, wären Sie später geboren, ein erfolgreicher Neo-Con-Blogger gewesen wären, ist voll von frauenfeindlichen Stereotypien, die sich als esoterische Weisheiten gerieren. Eklig.
Noch eins: Gedanken können und sollten auch die Frucht von Handlungen sein, eigener wie fremder.
Wer über Fehler spricht, vermeidet sie zukünftig.
Unsinn braucht Raum. In der Anarchie steckt Vergnügen, dessen Maßlosigkeit befreit und neue Gedanken ermöglicht.
Regeln, die nicht ausgelegt werden können, sind Fesseln, die wir besser durchschneiden.
24. Juli
Reden und Thaten machen einen vollendeten Mann. Sagen soll man was vortrefflich und thun was ehrenvoll ist: das Eine zeigt die Vollkommenheit des Kopfes, das Andere die des Herzens, und Beide gehen aus der Erhabenheit der Seele hervor. Die Reden sind der Schatten der Thaten; jene sind weiblicher, diese männlicher Natur. Besser gerühmt zu seyn, als ein Rühmer. Das Sagen ist leicht, das Thun schwer. Die Thaten sind die Substanz des Lebens, die Reden sein Schmuck. Das Ausgezeichnete in Thaten ist bleibend, das in Reden vergänglich. Die Handlungen sind die Frucht der Gedanken: waren diese weise; so sind jene erfolgreich.
Redseligkeit, Freund, macht nicht selig, Tatkraft andererseits, zugespitzt gesagt, auch nicht zwangsläufig kräftig, in moralischer Hinsicht. Reden steht beinahe immer vorm Handeln. Geht's um Leben und Tod, mag's durchaus andersherum sein. Aber im Allgemeinen ermöglicht das Gespräch eine gründlichere Tiefenauslotung, die der sofortige Sprung ins flache Wasser, summa summarum, nicht erlaubt.
Was ich von Ihrem törichten Gendergenuschel halte, Reden sei weiblich, Handeln männlich, dürfte Sie nicht überraschen. Seltsam kommt's mir vor, dass solch idiotischen Ideen eine sagenhafte Halbwertszeit besitzen. Ich bin von ähnlichen Überzeugungen reihenweise umgeben. Die Misogynie versteckt sich hinter traditionellen Klischees, die mir die Schamesröte ins Gesicht treiben. Das Internet, in dem Sie, wären Sie später geboren, ein erfolgreicher Neo-Con-Blogger gewesen wären, ist voll von frauenfeindlichen Stereotypien, die sich als esoterische Weisheiten gerieren. Eklig.
Noch eins: Gedanken können und sollten auch die Frucht von Handlungen sein, eigener wie fremder.
Wer über Fehler spricht, vermeidet sie zukünftig.
Unsinn braucht Raum. In der Anarchie steckt Vergnügen, dessen Maßlosigkeit befreit und neue Gedanken ermöglicht.
Regeln, die nicht ausgelegt werden können, sind Fesseln, die wir besser durchschneiden.
24. Juli
203.
Das ausgezeichnet Große seines Jahrhunderts kennen. Es wird desselben nicht viel seyn: ein Phönix in einer ganzen Welt, ein großer Feldherr, ein vollkommner Redner, ein Weiser in einem ganzen Jahrhundert, ein großer König in vielen. Das Mittelmäßige ist sehr gewöhnlich, sowohl der Zahl als der Wertschätzung nach; hingegen das ausgezeichnet Große selten in jeder Hinsicht, weil es vollendete Vollkommenheit erfordert, und je höher die Gattung, desto schwieriger ist das Höchste in ihr. Viele haben den Beinamen der Großen, der dem Cäsar und Alexander gehört, angenommen, aber vergeblich, da ohne die Thaten das Wort ein bloßer Hauch ist. Wenige Senekas hat es gegeben und nur Einen Apelles kannte die Welt.
Jener von Ihnen gerühmte Apelles, Freund, ein verehrter Maler der Antike, ist, gewissermaßen, für Sie wie für mich, eine Fata Morgana. Keines seiner Bilder hat im Original überlebt. Ja, er hat auf uns gewirkt. Denken wir nur an Botticellis Verleumdung des Apelles. Ich frage mich nun, und überlegen wir's ruhig zusammen, wägen wir die Lage ab, ob's gut ist, dass Apelles' Werke nicht mehr vorhanden sind. Sein Ruhm bleibt unbeschmutzt, keiner kann seine Linienführung kritisieren, in situ an seiner Kunst mäkeln. Er ist zum Genie schlechthin geworden, gerade weil alles futsch ist, was er ausgeführt hat. Und, Freund, was sagt das über uns? Über unsere Begeisterung? Über Ihr unheimliches Lob? Sind wir positiv, wonach mir heute der Mut steht, lässt sich feststellen, dass wir eine Idee loben, eine Imagination hochleben lassen, einer Erinnerung Tribut zollen. Vielleicht steckt genau, ja allein in diesen Erinnerungstechniken das bisschen Zivilisation, was wir bislang erreicht haben. Nicht das Vorhandene, sondern das Abhandengekommene scheint uns zu symbolisieren. Wir sind, denke ich, stets und auf immer der Vergangenheit ausgeliefert, niemals der Zukunft, von der man doch wohl nur weiß, dass auch sie irgendwann zur Vergangenheit wird. Genug davon.
Wert sei ephemer, Erinnerung ein seltenes Glück. Und wer im Jetzt wirken kann, hat erreicht, was wir als Menschen erreichen können. Nach unserem Tode beginnt die Vergangenheit, die Zukunft ist und beginnt heute.
25. Juli
Das ausgezeichnet Große seines Jahrhunderts kennen. Es wird desselben nicht viel seyn: ein Phönix in einer ganzen Welt, ein großer Feldherr, ein vollkommner Redner, ein Weiser in einem ganzen Jahrhundert, ein großer König in vielen. Das Mittelmäßige ist sehr gewöhnlich, sowohl der Zahl als der Wertschätzung nach; hingegen das ausgezeichnet Große selten in jeder Hinsicht, weil es vollendete Vollkommenheit erfordert, und je höher die Gattung, desto schwieriger ist das Höchste in ihr. Viele haben den Beinamen der Großen, der dem Cäsar und Alexander gehört, angenommen, aber vergeblich, da ohne die Thaten das Wort ein bloßer Hauch ist. Wenige Senekas hat es gegeben und nur Einen Apelles kannte die Welt.
Jener von Ihnen gerühmte Apelles, Freund, ein verehrter Maler der Antike, ist, gewissermaßen, für Sie wie für mich, eine Fata Morgana. Keines seiner Bilder hat im Original überlebt. Ja, er hat auf uns gewirkt. Denken wir nur an Botticellis Verleumdung des Apelles. Ich frage mich nun, und überlegen wir's ruhig zusammen, wägen wir die Lage ab, ob's gut ist, dass Apelles' Werke nicht mehr vorhanden sind. Sein Ruhm bleibt unbeschmutzt, keiner kann seine Linienführung kritisieren, in situ an seiner Kunst mäkeln. Er ist zum Genie schlechthin geworden, gerade weil alles futsch ist, was er ausgeführt hat. Und, Freund, was sagt das über uns? Über unsere Begeisterung? Über Ihr unheimliches Lob? Sind wir positiv, wonach mir heute der Mut steht, lässt sich feststellen, dass wir eine Idee loben, eine Imagination hochleben lassen, einer Erinnerung Tribut zollen. Vielleicht steckt genau, ja allein in diesen Erinnerungstechniken das bisschen Zivilisation, was wir bislang erreicht haben. Nicht das Vorhandene, sondern das Abhandengekommene scheint uns zu symbolisieren. Wir sind, denke ich, stets und auf immer der Vergangenheit ausgeliefert, niemals der Zukunft, von der man doch wohl nur weiß, dass auch sie irgendwann zur Vergangenheit wird. Genug davon.
Wert sei ephemer, Erinnerung ein seltenes Glück. Und wer im Jetzt wirken kann, hat erreicht, was wir als Menschen erreichen können. Nach unserem Tode beginnt die Vergangenheit, die Zukunft ist und beginnt heute.
25. Juli
204.
Man unternehme das Leichte, als wäre es schwer, und das Schwere, als wäre es leicht: jenes, damit das Selbstvertrauen uns nicht sorglos, dieses, damit die Zaghaftigkeit uns nicht muthlos mache. Damit eine Sache nicht gethan werde, bedarf es nur, daß man sie als schon gethan betrachte: und im Gegentheil macht Fleiß und Anstrengung das Unmögliche möglich. Die großen Obliegenheiten darf man sogar nicht bedenken, damit der Anblick der Schwierigkeit nicht unsre Thatkraft lähme.
Was für eine Gedankenfreude! Wenig gibt's zu sagen, Freund. Vielleicht, als schmale Ergänzung, nur jenes:
Das Mittelleichte oder Mittelschwere, was weder dies noch das ist, weder Bürde noch Beschwingtheit, sollten wir nehmen, wie's sich uns anbietet. Alles in Schubladen zu stecken, um ja Ordnung zu halten, stiehlt nur unnötig Zeit. Vielleicht, auch das fällt mir gerade ein, wär's eh manchmal am besten, die Zuordnung, was schwer oder was leicht sei, zu unterlassen.
Die Dinge überraschen uns, wenn wir erst vor ihnen unsere Augen öffnen. Sich vorab von allem ein Bild machen zu wollen, tötet jede Überraschung. Und wer sich überraschen lässt, macht sich und, was nicht vergessen werden sollte, auch andere glücklich.
26. Juli
Man unternehme das Leichte, als wäre es schwer, und das Schwere, als wäre es leicht: jenes, damit das Selbstvertrauen uns nicht sorglos, dieses, damit die Zaghaftigkeit uns nicht muthlos mache. Damit eine Sache nicht gethan werde, bedarf es nur, daß man sie als schon gethan betrachte: und im Gegentheil macht Fleiß und Anstrengung das Unmögliche möglich. Die großen Obliegenheiten darf man sogar nicht bedenken, damit der Anblick der Schwierigkeit nicht unsre Thatkraft lähme.
Was für eine Gedankenfreude! Wenig gibt's zu sagen, Freund. Vielleicht, als schmale Ergänzung, nur jenes:
Das Mittelleichte oder Mittelschwere, was weder dies noch das ist, weder Bürde noch Beschwingtheit, sollten wir nehmen, wie's sich uns anbietet. Alles in Schubladen zu stecken, um ja Ordnung zu halten, stiehlt nur unnötig Zeit. Vielleicht, auch das fällt mir gerade ein, wär's eh manchmal am besten, die Zuordnung, was schwer oder was leicht sei, zu unterlassen.
Die Dinge überraschen uns, wenn wir erst vor ihnen unsere Augen öffnen. Sich vorab von allem ein Bild machen zu wollen, tötet jede Überraschung. Und wer sich überraschen lässt, macht sich und, was nicht vergessen werden sollte, auch andere glücklich.
26. Juli
205.
Die Verachtung zu handhaben verstehen. Um die Sachen zu erlangen, ist ein schlauer Kunstgriff, daß man sie geringschätze: gewöhnlich wird man ihrer nicht habhaft, wann man sie sucht, und nachher, wann man nicht darauf achtet, fallen sie uns von selbst in die Hand. Da alle Dinge dieser Welt ein Schatten der ewigen Dinge sind; so haben sie mit dem Schatten auch diese Eigenschaft gemein, daß sie den fliehen, der ihnen folgt, und dem folgen, der vor ihnen flieht. Die Verachtung ist ferner auch die klügste Rache; es ist feste Maxime der Weisen, sich nicht mit der Feder zu vertheidigen: denn solche Verteidigung läßt eine Spur nach und schlägt mehr in Verherrlichung der Widersacher, als in Züchtigung ihrer Verwegenheit aus. Es ist ein Kniff der Unwürdigen, als Gegner großer Männer aufzutreten, um auf indirektem Wege zu der Berühmtheit zu gelangen, welcher sie auf dem direkten, durch Verdienste, nie theilhaft geworden wären: und von Vielen würden wir nie Kunde erhalten haben, hätten ihre ausgezeichneten Gegner sich nicht um sie gekümmert. Keine Rache thut es dem Vergessen gleich, durch welches sie im Staube ihres Nichts begraben werden. Solche Verwegne wähnen sich dadurch unsterblich zu machen, daß sie an die Wunder der Welt und der Jahrhunderte Feuer anlegen. Die Kunst die Verläumdung zu beschwichtigen ist sie unbeachtet zu lassen; gegen sie ankämpfen, bringt Nachtheil: und eine Herstellung unsers Ansehns, die es schmälert, ist den Gegnern wohlgefällig: denn selbst jener Schatten eines Makels benimmt unserm Ruhm seinen Glanz, wenn er ihn auch nicht ganz verdunkeln kann.
Alles ziemlich richtig, Freund, was Sie uns mitgeben und auftischen, und ich wünschte mir, ich hätte den Glauben, den Sie an die Duldsamkeit, um einen wichtigen Aspekt ihres langen Briefes herauszugreifen, hegen. Die Geringschätzung, das Allheilmittel für unsere Wünsche, auf der Sie so beredsam beharren, hat allerdings auch erhebliche Nachteile: sie färbt irgendwann ab. Die Verachtung, ob vorgetäuscht oder nicht, steht dabei nicht zur Debatte, die Verachtung ist solch ein robustes Gefühl, das es sich nicht so schnell aus dem Weg räumen lässt, wenn wir erneut wir selbst sein wollen. Wer verachtet, ist zuverlässig auf dem Weg zum Hass. Und Hass, ergreift er von uns Besitz, unterscheidet weder zwischen Freund noch Feind. Meine Zeit, Freund, ist voller Hass, und ich fühle, wie er sich an jeder Ecke anschleicht, uns auflauert, sich anhänglich zeigt und sich zum Herrscher unserer Gefühle und Gedanken aufschwingt. Um ehrlich zu sein: ich habe Angst um meine Besonnenheit, die unablässig auf die Probe gestellt wird. Beim geringsten Anlass platzt mir der Kragen, die Galle rumort, ich möchte alles kurz- und kleinschlagen, was sich nicht vernünftig zeigt. Ja, der Widersinn des eben Gesagten ist mir bewusst, aber ich kann nicht anders, weil ich, wie Sie auch, ein Kind meiner Zeit bin.
Aufrichtigkeit ist die Trittleiter zur Vernunft, Unwahrheit die Kellerstiege zur Torheit.
Zufriedenheit kennt weder Verlust noch Gewinn, sondern nur das Ist.
27. Juli
Die Verachtung zu handhaben verstehen. Um die Sachen zu erlangen, ist ein schlauer Kunstgriff, daß man sie geringschätze: gewöhnlich wird man ihrer nicht habhaft, wann man sie sucht, und nachher, wann man nicht darauf achtet, fallen sie uns von selbst in die Hand. Da alle Dinge dieser Welt ein Schatten der ewigen Dinge sind; so haben sie mit dem Schatten auch diese Eigenschaft gemein, daß sie den fliehen, der ihnen folgt, und dem folgen, der vor ihnen flieht. Die Verachtung ist ferner auch die klügste Rache; es ist feste Maxime der Weisen, sich nicht mit der Feder zu vertheidigen: denn solche Verteidigung läßt eine Spur nach und schlägt mehr in Verherrlichung der Widersacher, als in Züchtigung ihrer Verwegenheit aus. Es ist ein Kniff der Unwürdigen, als Gegner großer Männer aufzutreten, um auf indirektem Wege zu der Berühmtheit zu gelangen, welcher sie auf dem direkten, durch Verdienste, nie theilhaft geworden wären: und von Vielen würden wir nie Kunde erhalten haben, hätten ihre ausgezeichneten Gegner sich nicht um sie gekümmert. Keine Rache thut es dem Vergessen gleich, durch welches sie im Staube ihres Nichts begraben werden. Solche Verwegne wähnen sich dadurch unsterblich zu machen, daß sie an die Wunder der Welt und der Jahrhunderte Feuer anlegen. Die Kunst die Verläumdung zu beschwichtigen ist sie unbeachtet zu lassen; gegen sie ankämpfen, bringt Nachtheil: und eine Herstellung unsers Ansehns, die es schmälert, ist den Gegnern wohlgefällig: denn selbst jener Schatten eines Makels benimmt unserm Ruhm seinen Glanz, wenn er ihn auch nicht ganz verdunkeln kann.
Alles ziemlich richtig, Freund, was Sie uns mitgeben und auftischen, und ich wünschte mir, ich hätte den Glauben, den Sie an die Duldsamkeit, um einen wichtigen Aspekt ihres langen Briefes herauszugreifen, hegen. Die Geringschätzung, das Allheilmittel für unsere Wünsche, auf der Sie so beredsam beharren, hat allerdings auch erhebliche Nachteile: sie färbt irgendwann ab. Die Verachtung, ob vorgetäuscht oder nicht, steht dabei nicht zur Debatte, die Verachtung ist solch ein robustes Gefühl, das es sich nicht so schnell aus dem Weg räumen lässt, wenn wir erneut wir selbst sein wollen. Wer verachtet, ist zuverlässig auf dem Weg zum Hass. Und Hass, ergreift er von uns Besitz, unterscheidet weder zwischen Freund noch Feind. Meine Zeit, Freund, ist voller Hass, und ich fühle, wie er sich an jeder Ecke anschleicht, uns auflauert, sich anhänglich zeigt und sich zum Herrscher unserer Gefühle und Gedanken aufschwingt. Um ehrlich zu sein: ich habe Angst um meine Besonnenheit, die unablässig auf die Probe gestellt wird. Beim geringsten Anlass platzt mir der Kragen, die Galle rumort, ich möchte alles kurz- und kleinschlagen, was sich nicht vernünftig zeigt. Ja, der Widersinn des eben Gesagten ist mir bewusst, aber ich kann nicht anders, weil ich, wie Sie auch, ein Kind meiner Zeit bin.
Aufrichtigkeit ist die Trittleiter zur Vernunft, Unwahrheit die Kellerstiege zur Torheit.
Zufriedenheit kennt weder Verlust noch Gewinn, sondern nur das Ist.
27. Juli
206.
Man soll wissen, daß es Pöbel überall giebt, selbst im schönen Korinth, in der auserlesensten Familie: Jeder macht ja die Erfahrung in seinem eigenen Hause. Nun giebt es aber Pöbel und Gegen-Pöbel, der noch schlimmer ist: dieser specielle theilt mit dem allgemeinen alle Eigenschaften, wie die Stücke des zerbrochenen Spiegels: er ist aber schädlicher: er redet dumm, tadelt verkehrt, ist ein großer Schüler der Unwissenheit, Gönner und Patron der Narrheit und Bundesgenosse der Klatscherei: man beachte nicht was er sagt, noch weniger was er denkt. Es ist wichtig, ihn zu kennen, um sich von ihm zu befreien: denn jede Dummheit ist Pöbelhaftigkeit, und der Pöbel besteht aus den Dummen.
Pöbel, Freund, jenes gemeine Wort für die einfachen Leute, das Ihr Translator gewählt hat, beruht auf dem Lateinischischen populus, was doch, ohne Wertung, am Ende nur Volk meint - also, um's platt zu sagen, uns alle. Ich bin wie Ihr seid, wir sind der Pöbel, im Guten wie im Schlechten. Wir fehlen, und wir liegen richtig, treffen den Ton oder äußern Kakofonien.
Kein außerordentliches Talent existiert, das nicht, ab und an, falsche Meinungen vertritt oder sich übel verhält.
Das Wissen ist der nächste, der allernächste Verwandte des Unwissens.
Sich über andere zu stellen, heißt, in letzter Konsequenz, auf andere zu treten.
28. Juli
Man soll wissen, daß es Pöbel überall giebt, selbst im schönen Korinth, in der auserlesensten Familie: Jeder macht ja die Erfahrung in seinem eigenen Hause. Nun giebt es aber Pöbel und Gegen-Pöbel, der noch schlimmer ist: dieser specielle theilt mit dem allgemeinen alle Eigenschaften, wie die Stücke des zerbrochenen Spiegels: er ist aber schädlicher: er redet dumm, tadelt verkehrt, ist ein großer Schüler der Unwissenheit, Gönner und Patron der Narrheit und Bundesgenosse der Klatscherei: man beachte nicht was er sagt, noch weniger was er denkt. Es ist wichtig, ihn zu kennen, um sich von ihm zu befreien: denn jede Dummheit ist Pöbelhaftigkeit, und der Pöbel besteht aus den Dummen.
Pöbel, Freund, jenes gemeine Wort für die einfachen Leute, das Ihr Translator gewählt hat, beruht auf dem Lateinischischen populus, was doch, ohne Wertung, am Ende nur Volk meint - also, um's platt zu sagen, uns alle. Ich bin wie Ihr seid, wir sind der Pöbel, im Guten wie im Schlechten. Wir fehlen, und wir liegen richtig, treffen den Ton oder äußern Kakofonien.
Kein außerordentliches Talent existiert, das nicht, ab und an, falsche Meinungen vertritt oder sich übel verhält.
Das Wissen ist der nächste, der allernächste Verwandte des Unwissens.
Sich über andere zu stellen, heißt, in letzter Konsequenz, auf andere zu treten.
28. Juli
207.
Sich mäßigen. Man soll einen Fall wohl überlegen, zumal einen Unfall. Die Anwandlungen der Leidenschaft sind das Glatteis der Klugheit, und hier liegt die Gefahr, sich ins Verderben zu stürzen. Von Einem Augenblick der Wuth, oder der Fröhlichkeit wird man weiter geführt, als von vielen Stunden des Gleichmuths; und da bereitet manchmal eine kurze Weile die Beschämung des ganzen Lebens. Fremde Arglist legt oft absichtlich solche Versuchungen der Vernunft an, um eine Entdeckungsreise ins Innere des Geistes zu machen, und benutzt dergleichen Daumschrauben der Geheimnisse, die im Stande sind den überlegensten Kopf aufs Aeußerste zu treiben. Zur Gegenlist diene die Mäßigung, vorzüglich bei plötzlichen Fällen. Ein sehr überlegter Geist ist erfordert, wenn nicht ein Mal eine Leidenschaft das Gebiß zwischen die Zähne nehmen soll, und gewaltig klug muß der seyn, der es zu Pferde bleibt. Wer die Gefahr begriffen hat, geht mit Behutsamkeit seinen Weg. So leicht ein Wort dem scheint, der es hinwirft, so schwer dem, der es aufnimmt und wiegt.
Maßvoll handeln zu wollen, das klingt überzeugend, Freund. Gerade in zwickligen Lagen, in denen Vernunft und Übersicht gefragt wären, aber sachlicher und emotionaler Kuddelmuddel herrschen, alle an uns ziehen, und wir uns, ein Fehler, an uns ziehen lassen. Der Probleme gibt's in solchen unschönen Momenten eben viele. Oft genug zu viele, um sich an adrette, fein gezirkelte Kenngrößen zu halten, die wir uns zuvor gemütlich am Grünen Tisch ausgedacht und für den Fall der Fälle zurechtgelegt haben. Unser Charakter sieht sich rebellischen Ungemütlichkeiten gegenüber, die seine guten Vorsätze ignorieren. Zum Maßhalten gehören, scheint mir, nahezu immer zwei, seien's Menschen, seien's Situationen oder, was oberflächlich klingt, für viele von uns jedoch ein riesiges Problem darstellt, oder seien's Dinge; was meistens eh nur auf ein Ding hinausläuft: Geld.
Geld sei die Maßlosigkeit schlechthin. Ein, häufig genug, moralischer Unfall. Geld besitzt eine exorbitante Kraft, die unsere Denkfähigkeit unterläuft, Vorsätze wegwischt, Beziehungen zerstört und und, läuft's richtig schlecht, psychisch vereisen lässt.
Ein Ich ist allein wahrhaftig Ich, wenn's frei von finanziellen Absichten sein kann. Die Ziele des Geldes laufen der Liebe und der Mitmenschlichkeit zuwider.
Wer Maß halten will, muss sich genügsam zeigen. Beim Verzicht zeigt sich das Glück, beim übermäßigen Verbrauch Unbill.
29. Juli
Sich mäßigen. Man soll einen Fall wohl überlegen, zumal einen Unfall. Die Anwandlungen der Leidenschaft sind das Glatteis der Klugheit, und hier liegt die Gefahr, sich ins Verderben zu stürzen. Von Einem Augenblick der Wuth, oder der Fröhlichkeit wird man weiter geführt, als von vielen Stunden des Gleichmuths; und da bereitet manchmal eine kurze Weile die Beschämung des ganzen Lebens. Fremde Arglist legt oft absichtlich solche Versuchungen der Vernunft an, um eine Entdeckungsreise ins Innere des Geistes zu machen, und benutzt dergleichen Daumschrauben der Geheimnisse, die im Stande sind den überlegensten Kopf aufs Aeußerste zu treiben. Zur Gegenlist diene die Mäßigung, vorzüglich bei plötzlichen Fällen. Ein sehr überlegter Geist ist erfordert, wenn nicht ein Mal eine Leidenschaft das Gebiß zwischen die Zähne nehmen soll, und gewaltig klug muß der seyn, der es zu Pferde bleibt. Wer die Gefahr begriffen hat, geht mit Behutsamkeit seinen Weg. So leicht ein Wort dem scheint, der es hinwirft, so schwer dem, der es aufnimmt und wiegt.
Maßvoll handeln zu wollen, das klingt überzeugend, Freund. Gerade in zwickligen Lagen, in denen Vernunft und Übersicht gefragt wären, aber sachlicher und emotionaler Kuddelmuddel herrschen, alle an uns ziehen, und wir uns, ein Fehler, an uns ziehen lassen. Der Probleme gibt's in solchen unschönen Momenten eben viele. Oft genug zu viele, um sich an adrette, fein gezirkelte Kenngrößen zu halten, die wir uns zuvor gemütlich am Grünen Tisch ausgedacht und für den Fall der Fälle zurechtgelegt haben. Unser Charakter sieht sich rebellischen Ungemütlichkeiten gegenüber, die seine guten Vorsätze ignorieren. Zum Maßhalten gehören, scheint mir, nahezu immer zwei, seien's Menschen, seien's Situationen oder, was oberflächlich klingt, für viele von uns jedoch ein riesiges Problem darstellt, oder seien's Dinge; was meistens eh nur auf ein Ding hinausläuft: Geld.
Geld sei die Maßlosigkeit schlechthin. Ein, häufig genug, moralischer Unfall. Geld besitzt eine exorbitante Kraft, die unsere Denkfähigkeit unterläuft, Vorsätze wegwischt, Beziehungen zerstört und und, läuft's richtig schlecht, psychisch vereisen lässt.
Ein Ich ist allein wahrhaftig Ich, wenn's frei von finanziellen Absichten sein kann. Die Ziele des Geldes laufen der Liebe und der Mitmenschlichkeit zuwider.
Wer Maß halten will, muss sich genügsam zeigen. Beim Verzicht zeigt sich das Glück, beim übermäßigen Verbrauch Unbill.
29. Juli
208.
Nicht an der Narrenkrankheit sterben. Meistens sterben die Weisen, nachdem sie den Verstand verloren haben; die Narren hingegen ganz voll von gutem Rath. Wie ein Narr sterben, heißt, von zu vielem Denken sterben. Einige sterben, weil sie denken und empfinden; Andere leben, weil sie nicht denken und empfinden: diese sind Narren, weil sie nicht vor Schmerz sterben, und jene, weil sie es thun. Ein Narr ist, wer an zu großem Verstande stirbt: demnach sterben Einige, weil sie gescheut, und leben Andre, weil sie nicht gescheut sind. Jedoch obgleich Viele wie Narren sterben; so sterben doch wenige Narren.
Im letzten Satz, Freund, kulminiert Ihr spitzfindiger, bisweilen bösartiger, immer denkwürdiger Witz. Mir gefällt das, obwohl Sie sagenhaft austeilen, im ganzen Brief, das sei angemerkt, der in sich, keine Neuigkeit, sprunghaft ist. Was mir ebenfalls gefällt; und auch hier gibt's ein Obwohl: auch wenn Sie weitflächig dreschen. Im Aphorismus, ihrer Variante, die Sie perfektioniert haben, im misanthropischen, klaren Geistesblitz, scheint mir, steckt eher die Wut als der Wille zum Witz, der doch, was zum Kern der Parömie gehört, die kleine Form so lebendig und wirkungsmächtig macht.
Witze, die sich scheuen, auf den Punkt zu kommen, sind Anekdoten.
Humor trägt keinen Staat, er zeigt allein dessen Fehler auf.
Ohne Beleidigung des vermeintlichen Anstands sei kein Witz denkbar.
Komikerinnen und Komiker leiden sowohl an sich als auch der Gesellschaft.
Das Unbequeme, in dem wir uns spiegeln, sei der Kern des politischen Witzes.
Situationskomik besitzt das Recht zum Fauxpas.
Wer keine Geschmacklosigkeiten erträgt, sei der Langweiligkeit Untertänin und Untertan.
Schlechter Geschmack hat seinen Platz; ohne ihn gäb's nicht den guten.
30. Juli
Nicht an der Narrenkrankheit sterben. Meistens sterben die Weisen, nachdem sie den Verstand verloren haben; die Narren hingegen ganz voll von gutem Rath. Wie ein Narr sterben, heißt, von zu vielem Denken sterben. Einige sterben, weil sie denken und empfinden; Andere leben, weil sie nicht denken und empfinden: diese sind Narren, weil sie nicht vor Schmerz sterben, und jene, weil sie es thun. Ein Narr ist, wer an zu großem Verstande stirbt: demnach sterben Einige, weil sie gescheut, und leben Andre, weil sie nicht gescheut sind. Jedoch obgleich Viele wie Narren sterben; so sterben doch wenige Narren.
Im letzten Satz, Freund, kulminiert Ihr spitzfindiger, bisweilen bösartiger, immer denkwürdiger Witz. Mir gefällt das, obwohl Sie sagenhaft austeilen, im ganzen Brief, das sei angemerkt, der in sich, keine Neuigkeit, sprunghaft ist. Was mir ebenfalls gefällt; und auch hier gibt's ein Obwohl: auch wenn Sie weitflächig dreschen. Im Aphorismus, ihrer Variante, die Sie perfektioniert haben, im misanthropischen, klaren Geistesblitz, scheint mir, steckt eher die Wut als der Wille zum Witz, der doch, was zum Kern der Parömie gehört, die kleine Form so lebendig und wirkungsmächtig macht.
Witze, die sich scheuen, auf den Punkt zu kommen, sind Anekdoten.
Humor trägt keinen Staat, er zeigt allein dessen Fehler auf.
Ohne Beleidigung des vermeintlichen Anstands sei kein Witz denkbar.
Komikerinnen und Komiker leiden sowohl an sich als auch der Gesellschaft.
Das Unbequeme, in dem wir uns spiegeln, sei der Kern des politischen Witzes.
Situationskomik besitzt das Recht zum Fauxpas.
Wer keine Geschmacklosigkeiten erträgt, sei der Langweiligkeit Untertänin und Untertan.
Schlechter Geschmack hat seinen Platz; ohne ihn gäb's nicht den guten.
30. Juli
209.
Sich von allgemeinen Narrheiten frei halten, ist eine recht besondre Klugheit. Jene haben viel Gewalt, weil sie eben allgemein eingeführt sind, und Mancher, welcher sich von keiner Privat-Narrheit überwältigen ließ, konnte doch der allgemeinen nicht entgehn. Es gehören dahin solche gemeine Vorurtheile, wie daß Keiner mit seinem Schicksale, und wäre es das beste, zufrieden, noch unzufrieden mit seinem Verstande ist, wäre er auch der schlechteste; ferner, daß Alle, mit ihrem eigenen Glücke unzufrieden, das fremde beneiden; sodann daß die Leute des heutigen Tages die Dinge von gestern loben, und die von hier die Dinge von dort: alles Vergangene scheint besser, alles Entfernte wird höher geschätzt. Wer über Alles lacht, ist ein eben so großer Narr, als wer sich über Alles betrübt.
Die seltsame Begeisterung für den Krieg, Freund, gehört zweifelsohne zu solch allgemeiner Torheit, die häufig erst auf dem Schlachtfeld kuriert wird. Damit blitzt die Frage des Widerstandes auf. Sobald wir, die wir nicht an den Verrücktheiten teilnehmen, also unsere eigene Meinung hegen und pflegen, der Vernunft Vorfahrt gewähren, sobald wir die Verursacher und Verursacherinnen solch furchtbaren Irrsinns ausgemacht haben - oder sagen wir: diejenigen, die solch katastrophale Hirnrissigkeiten am lautesten propagieren -, müssten wir aktiv werden. Werden wir aber nur selten. Wir wollen uns nicht die Finger schmutzig machen. Glauben, dass es schon nicht so schlimm kommt. Denken, dass andere für uns den Karren aus dem Dreck ziehen. Was nicht passiert. Die allgemeine Narrheit der Vernünftigen, Freund, ist möglicherweise noch unverantwortlicher als die Narrheit der Unvernünftigen.
Wer um das Böse weiß, es aber ungestört gewähren lässt, trägt eine nicht zu unterschätzende Mitschuld an den bösartigen Taten.
Verständnis, Vernunft, Verantwortung und Verwicklung sind die maßgeblichen Tugenden der Demokratinnen und Demokraten.
Durch Enthaltung entsteht zu oft Unheil.
Die verführerische Ferne entpuppt sich aus nächster Nähe nicht zu selten als Wiederholung längst bekannter Nichtigkeiten.
Der Traum kennt Unterschiede, die glücklicherweise nicht den Tatsachen standhalten müssen.
31. Juli
Sich von allgemeinen Narrheiten frei halten, ist eine recht besondre Klugheit. Jene haben viel Gewalt, weil sie eben allgemein eingeführt sind, und Mancher, welcher sich von keiner Privat-Narrheit überwältigen ließ, konnte doch der allgemeinen nicht entgehn. Es gehören dahin solche gemeine Vorurtheile, wie daß Keiner mit seinem Schicksale, und wäre es das beste, zufrieden, noch unzufrieden mit seinem Verstande ist, wäre er auch der schlechteste; ferner, daß Alle, mit ihrem eigenen Glücke unzufrieden, das fremde beneiden; sodann daß die Leute des heutigen Tages die Dinge von gestern loben, und die von hier die Dinge von dort: alles Vergangene scheint besser, alles Entfernte wird höher geschätzt. Wer über Alles lacht, ist ein eben so großer Narr, als wer sich über Alles betrübt.
Die seltsame Begeisterung für den Krieg, Freund, gehört zweifelsohne zu solch allgemeiner Torheit, die häufig erst auf dem Schlachtfeld kuriert wird. Damit blitzt die Frage des Widerstandes auf. Sobald wir, die wir nicht an den Verrücktheiten teilnehmen, also unsere eigene Meinung hegen und pflegen, der Vernunft Vorfahrt gewähren, sobald wir die Verursacher und Verursacherinnen solch furchtbaren Irrsinns ausgemacht haben - oder sagen wir: diejenigen, die solch katastrophale Hirnrissigkeiten am lautesten propagieren -, müssten wir aktiv werden. Werden wir aber nur selten. Wir wollen uns nicht die Finger schmutzig machen. Glauben, dass es schon nicht so schlimm kommt. Denken, dass andere für uns den Karren aus dem Dreck ziehen. Was nicht passiert. Die allgemeine Narrheit der Vernünftigen, Freund, ist möglicherweise noch unverantwortlicher als die Narrheit der Unvernünftigen.
Wer um das Böse weiß, es aber ungestört gewähren lässt, trägt eine nicht zu unterschätzende Mitschuld an den bösartigen Taten.
Verständnis, Vernunft, Verantwortung und Verwicklung sind die maßgeblichen Tugenden der Demokratinnen und Demokraten.
Durch Enthaltung entsteht zu oft Unheil.
Die verführerische Ferne entpuppt sich aus nächster Nähe nicht zu selten als Wiederholung längst bekannter Nichtigkeiten.
Der Traum kennt Unterschiede, die glücklicherweise nicht den Tatsachen standhalten müssen.
31. Juli