210.
Die Wahrheit zu handhaben verstehn. Sie ist ein gefährlich Ding: jedoch kann der rechtliche Mann nicht unterlassen sie zu sagen. Hier bedarf es nun der Kunst: geschickte Aerzte der Seele haben auf Arten sie zu versüßen gedacht; denn wenn sie auf Zerstörung einer Täuschung hinausläuft, ist sie die Quintessenz des Bittern. Die gute Manier wendet hier ihre Geschicklichkeit an: sie kann mit derselben Wahrheit dem Einen schmeicheln und den Andern zu Boden werfen. Man handle die Sache der Gegenwärtigen in der der längst Vergangenen ab. Bei dem, der zu verstehn weiß, ist ein Wink hinreichend: Wäre aber nichts hinreichend; so tritt der Fall des Verstummens ein. Fürsten darf man nicht mit bittern Arzneien kuriren: deshalb ist es eine Kunst, die Enttäuschungen zu vergolden.
Das Lavieren mit der Wahrheit, Freund, sei die hohe Kunst des Familienlebens. Bevor ich dazu komme, möchte ich anmerken, dass ich, seit einigen Jahren, eine Vorliebe für bittere Speisen entwickelt habe. Je älter ich werde, scheint mir, je unnötiger dünkt mir die Süße. Es geht soweit, dass mich zuckersüße Klebrigkeit, in jeder Art und Form, regelrecht anekelt. Das schließt, selbstverständlich, auch Ihr elendiges Süßholzraspeln ein, von dem Sie, als Kind Ihrer Empirezeit, nicht lassen können. Nun aber zur Familie.
Sind wir brutal, legen wir also die Maßstäbe an, die ansonsten überall gelten, vergraulen wir unsere Geschwister, Mütter, Väter, Tanten und Onkel. Ist Ehrlichkeit die einzige Familienmaxime, was sie, wenigstens theoretisch, sein müsste, meucheln wir uns, buchstäblich, alsbald gegenseitig. Jedenfalls als Erwachsene.
Kleine Kinder lieben ihre Familie, weil sie nicht verstehen, was tatsächlich passiert. Teenager hassen ihre Familie, weil sie nicht verstehen, was mit ihnen selbst passiert. Und Erwachsene wissen nicht, ob sie ihre Familie lieben oder hassen sollen, weil sie felsenfest glauben, zu gut zu verstehen, was passiert.
Die Folge solch eines Dilemmas, Freund? Die Wahrheit hat ihre Momente, Lug und Trug wiederum andere. Müssen wir uns deswegen schämen? Lassen Sie mich das so beantworten: Familie sei wie Selbstbefriedigung - zu schön, um sie aufzugeben. Oder, anders gesagt, Einsamkeit und Zölibat machen niemanden glücklich.
Das Glück sei eine Lüge wert. Was das allerdings mit dem Glück macht, steht auf einem anderen Blatt.
1. August
Die Wahrheit zu handhaben verstehn. Sie ist ein gefährlich Ding: jedoch kann der rechtliche Mann nicht unterlassen sie zu sagen. Hier bedarf es nun der Kunst: geschickte Aerzte der Seele haben auf Arten sie zu versüßen gedacht; denn wenn sie auf Zerstörung einer Täuschung hinausläuft, ist sie die Quintessenz des Bittern. Die gute Manier wendet hier ihre Geschicklichkeit an: sie kann mit derselben Wahrheit dem Einen schmeicheln und den Andern zu Boden werfen. Man handle die Sache der Gegenwärtigen in der der längst Vergangenen ab. Bei dem, der zu verstehn weiß, ist ein Wink hinreichend: Wäre aber nichts hinreichend; so tritt der Fall des Verstummens ein. Fürsten darf man nicht mit bittern Arzneien kuriren: deshalb ist es eine Kunst, die Enttäuschungen zu vergolden.
Das Lavieren mit der Wahrheit, Freund, sei die hohe Kunst des Familienlebens. Bevor ich dazu komme, möchte ich anmerken, dass ich, seit einigen Jahren, eine Vorliebe für bittere Speisen entwickelt habe. Je älter ich werde, scheint mir, je unnötiger dünkt mir die Süße. Es geht soweit, dass mich zuckersüße Klebrigkeit, in jeder Art und Form, regelrecht anekelt. Das schließt, selbstverständlich, auch Ihr elendiges Süßholzraspeln ein, von dem Sie, als Kind Ihrer Empirezeit, nicht lassen können. Nun aber zur Familie.
Sind wir brutal, legen wir also die Maßstäbe an, die ansonsten überall gelten, vergraulen wir unsere Geschwister, Mütter, Väter, Tanten und Onkel. Ist Ehrlichkeit die einzige Familienmaxime, was sie, wenigstens theoretisch, sein müsste, meucheln wir uns, buchstäblich, alsbald gegenseitig. Jedenfalls als Erwachsene.
Kleine Kinder lieben ihre Familie, weil sie nicht verstehen, was tatsächlich passiert. Teenager hassen ihre Familie, weil sie nicht verstehen, was mit ihnen selbst passiert. Und Erwachsene wissen nicht, ob sie ihre Familie lieben oder hassen sollen, weil sie felsenfest glauben, zu gut zu verstehen, was passiert.
Die Folge solch eines Dilemmas, Freund? Die Wahrheit hat ihre Momente, Lug und Trug wiederum andere. Müssen wir uns deswegen schämen? Lassen Sie mich das so beantworten: Familie sei wie Selbstbefriedigung - zu schön, um sie aufzugeben. Oder, anders gesagt, Einsamkeit und Zölibat machen niemanden glücklich.
Das Glück sei eine Lüge wert. Was das allerdings mit dem Glück macht, steht auf einem anderen Blatt.
1. August
211.
Im Himmel ist Alles Wonne, in der Hölle Alles Jammer, in der Welt, als dem Mittleren, das Eine und das Andre. Wir stehn zwischen zwei Extremen, und sind daher beider theilhaft. Das Schicksal wechselt: Alles soll nicht Glück, noch Alles Mißgeschick seyn. Diese Welt ist eine Null: für sich allein gilt sie nichts, aber mit dem Himmel in Verbindung gesetzt, viel. Gleichmuth bei ihrem Wechsel ist vernünftig, und Neuheit ist nicht die Sache des Weisen. Unser Leben verwickelt sich in seinem Fortgang, wie ein Schauspiel, und entwickelt sich zuletzt wieder: daher sei man auf das gute Ende bedacht.
Ach, Freund, das Theologische und das Teleologische gehen bei Ihnen tatsächlich Hand in Hand. Meistens, was mir behagt, verkneifen Sie sich ja ein Glaubensbekenntnis, heute musste es halt mal wieder sein apokalyptisches und, wohlgemerkt, auch elysisches Gesicht zeigen. Ich kann nicht anders als lächeln, denke ich an die absurde Idee der Hölle oder des Himmels, die, so oder so, auf uns warten.
Nichts, Freund, rein gar nichts harrt unser, hört das Herz mit dem Schlagen auf. Womit Ihr Ratschlag, aufs Ende zu achten, einerseits zwar stimmt, besonders in der Vermeidung, andererseits auch gar nicht, da wir nur im Hier und Jetzt atmen, denken und lieben können. Die Welt sei keine Null, sondern ein Meer unendlicher Zahlen. Wir dürfen rechnen, wir können's auch sein lassen.
Neuigkeiten, das sei noch angefügt, ist selbstverständlich Sache der Weisen. Wer nur im Bekannten lebt, macht keine neuen Freundinnen und Freunde, schneidet sich selbst vom Fortschritt ab.
Enttäuschung wie Genugtuung über das Aktuelle gehört zum Wissenserwerb. Im Jetzt, nur im Jetzt, Freund, steckt das Morgen. Wer allein vom Gestern träumt, kann das Atmen besser gleich einstellen.
2. August
Im Himmel ist Alles Wonne, in der Hölle Alles Jammer, in der Welt, als dem Mittleren, das Eine und das Andre. Wir stehn zwischen zwei Extremen, und sind daher beider theilhaft. Das Schicksal wechselt: Alles soll nicht Glück, noch Alles Mißgeschick seyn. Diese Welt ist eine Null: für sich allein gilt sie nichts, aber mit dem Himmel in Verbindung gesetzt, viel. Gleichmuth bei ihrem Wechsel ist vernünftig, und Neuheit ist nicht die Sache des Weisen. Unser Leben verwickelt sich in seinem Fortgang, wie ein Schauspiel, und entwickelt sich zuletzt wieder: daher sei man auf das gute Ende bedacht.
Ach, Freund, das Theologische und das Teleologische gehen bei Ihnen tatsächlich Hand in Hand. Meistens, was mir behagt, verkneifen Sie sich ja ein Glaubensbekenntnis, heute musste es halt mal wieder sein apokalyptisches und, wohlgemerkt, auch elysisches Gesicht zeigen. Ich kann nicht anders als lächeln, denke ich an die absurde Idee der Hölle oder des Himmels, die, so oder so, auf uns warten.
Nichts, Freund, rein gar nichts harrt unser, hört das Herz mit dem Schlagen auf. Womit Ihr Ratschlag, aufs Ende zu achten, einerseits zwar stimmt, besonders in der Vermeidung, andererseits auch gar nicht, da wir nur im Hier und Jetzt atmen, denken und lieben können. Die Welt sei keine Null, sondern ein Meer unendlicher Zahlen. Wir dürfen rechnen, wir können's auch sein lassen.
Neuigkeiten, das sei noch angefügt, ist selbstverständlich Sache der Weisen. Wer nur im Bekannten lebt, macht keine neuen Freundinnen und Freunde, schneidet sich selbst vom Fortschritt ab.
Enttäuschung wie Genugtuung über das Aktuelle gehört zum Wissenserwerb. Im Jetzt, nur im Jetzt, Freund, steckt das Morgen. Wer allein vom Gestern träumt, kann das Atmen besser gleich einstellen.
2. August
212.
Die letzten Feinheiten der Kunst stets zurückbehalten. Eine Maxime großer Meister, die ihre Klugheit, auch indem sie solche lehren, noch anwenden: immer muß man überlegen bleiben, immer Meister. Mit Kunst muß man die Kunst mittheilen und nie die Quelle der Belehrung erschöpfen, so wenig als die des Gebens. Dadurch wird man sein Ansehn und die fremde Abhängigkeit erhalten. Im Gefallen und im Belehren hat man jene große Vorschrift zu beobachten, stets mit Bewundrung kirre zu erhalten und die Vollkommenheit immer weiter zu führen. Die Reserve bei allen Dingen ist eine große Regel zum Leben, zum Siegen und am meisten auf hohen Stellen.
Sie machen mich kirre, Freund, mit Ihrer auratischen Bodenlosigkeit, die, was beinahe noch schlimmer ist, tatsächlich weiterhin ihre Wirkung entfaltet und die Eitelkeit anspitzt, bis sie uns zerbricht. Oft erschöpft sich Meisterschaft am Festklammern der erreichten Position. Ist man oben, tritt man lustvoll diejenigen, die unten ausharren. Sitzen wir auf dem Boden, treibt uns die Gier um, die anderen brutal vom Stuhl zu stoßen. Werden Unterschiede betont und sind Hierarchien in Stein gemeißelt, haben Missgunst und Eifersucht das Sagen.
Der Geniekult schafft Schulen, die nichts als hirnverbrannte Epigonen produzieren.
Vollkommenheit erlaubt keine Einsamkeit. Generös zu teilen, sei das wahre Ideal.
Beim Korrigiertwerden zeigt sich die einzige, die aufrichtige Meisterschaft.
Sich für perfekt zu halten, sei der Irrtum der Scheinheiligen schlechthin.
3. August
Die letzten Feinheiten der Kunst stets zurückbehalten. Eine Maxime großer Meister, die ihre Klugheit, auch indem sie solche lehren, noch anwenden: immer muß man überlegen bleiben, immer Meister. Mit Kunst muß man die Kunst mittheilen und nie die Quelle der Belehrung erschöpfen, so wenig als die des Gebens. Dadurch wird man sein Ansehn und die fremde Abhängigkeit erhalten. Im Gefallen und im Belehren hat man jene große Vorschrift zu beobachten, stets mit Bewundrung kirre zu erhalten und die Vollkommenheit immer weiter zu führen. Die Reserve bei allen Dingen ist eine große Regel zum Leben, zum Siegen und am meisten auf hohen Stellen.
Sie machen mich kirre, Freund, mit Ihrer auratischen Bodenlosigkeit, die, was beinahe noch schlimmer ist, tatsächlich weiterhin ihre Wirkung entfaltet und die Eitelkeit anspitzt, bis sie uns zerbricht. Oft erschöpft sich Meisterschaft am Festklammern der erreichten Position. Ist man oben, tritt man lustvoll diejenigen, die unten ausharren. Sitzen wir auf dem Boden, treibt uns die Gier um, die anderen brutal vom Stuhl zu stoßen. Werden Unterschiede betont und sind Hierarchien in Stein gemeißelt, haben Missgunst und Eifersucht das Sagen.
Der Geniekult schafft Schulen, die nichts als hirnverbrannte Epigonen produzieren.
Vollkommenheit erlaubt keine Einsamkeit. Generös zu teilen, sei das wahre Ideal.
Beim Korrigiertwerden zeigt sich die einzige, die aufrichtige Meisterschaft.
Sich für perfekt zu halten, sei der Irrtum der Scheinheiligen schlechthin.
3. August
213.
Zu widersprechen verstehn. Eine große List zum Erforschen; nicht um sich, sondern um den Andern in Verwickelung zu bringen. Die wirksamste Daumschraube ist die, welche die Affekten in Bewegung setzt: daher ist ein wahres Vomitiv für Geheimnisse die Lauheit im glauben derselben: sie ist der Schlüssel zur verschlossensten Brust, und untersucht, mit großer Feinheit, zugleich den Willen und den Verstand. Eine schlaue Geringschätzung des mysteriösen Wortes, welches der Andre fallen ließ, jagt die verborgensten Geheimnisse auf, bringt sie mit Süßigkeit in einzelnen Bissen zum Munde, bis sie auf die Zunge und von da ins Netz des künstlichen Betruges gerathen. Die Zurückhaltung des Aufpassenden macht, daß die des Andern die Vorsicht aus der Acht läßt, und so kommt seine Gesinnung an den Tag, wann auch sein Herz auf andere Weise unerforschlich war. Ein erkünsteltes Zweifeln ist der feinste Dietrich, dessen die Neugier sich bedienen kann, um herauszubringen was sie verlangt. Auch beim Lernen sogar ist es eine gute List des Schülers, dem Lehrer zu widersprechen, der jetzt, von größerm Eifer hingerissen, sich tiefer in die Eröffnung des Grundes seiner Wahrheiten einläßt; so daß eine gemäßigte Bestreitung eine vollendete Belehrung veranlaßt.
So betrachtet, Freund, dürfte der Widerspruch, den Ihre Einsichten in mir wecken, ein nützlicher sein. Sie wissen, woran Sie bei mir sind; ich weiß, trete ich hermeneutisch einen Schritt zurück, woran ich bei mir selbst bin. Die Antinomie sei also eine die Erkenntis häufig bereichernde Tat. Allerdings raubt sie uns auch oft genug die Seelenruhe. Wird der Einwand zur Marotte, machen wir uns weder Freundinnen noch Freunde. Irgendwann platzt auch den geduldigsten Menschen der Kragen, und wir dürfen verdientermaßen damit rechnen, im Stich gelassen zu werden. Ein Begriff, Freund, der die Zeit der Ritterspiele überdauert hat. Allein sind wenige von uns hieb- und stichfest. Um ehrlich zu sein und das Thema zu wechseln: ich bilde mir auf meine Verletzbarkeit sogar einiges ein. Ich glaube, dass in der Verwundbarkeit die Chance auf Änderung liegt.
Ein Mensch mit Panzer fühlt nicht die laue Luft.
Kennst du den eigenen Schmerz, fühlst du eher die Pein der anderen.
Jede geteilte Wunde verhindert weitere.
4. August
Zu widersprechen verstehn. Eine große List zum Erforschen; nicht um sich, sondern um den Andern in Verwickelung zu bringen. Die wirksamste Daumschraube ist die, welche die Affekten in Bewegung setzt: daher ist ein wahres Vomitiv für Geheimnisse die Lauheit im glauben derselben: sie ist der Schlüssel zur verschlossensten Brust, und untersucht, mit großer Feinheit, zugleich den Willen und den Verstand. Eine schlaue Geringschätzung des mysteriösen Wortes, welches der Andre fallen ließ, jagt die verborgensten Geheimnisse auf, bringt sie mit Süßigkeit in einzelnen Bissen zum Munde, bis sie auf die Zunge und von da ins Netz des künstlichen Betruges gerathen. Die Zurückhaltung des Aufpassenden macht, daß die des Andern die Vorsicht aus der Acht läßt, und so kommt seine Gesinnung an den Tag, wann auch sein Herz auf andere Weise unerforschlich war. Ein erkünsteltes Zweifeln ist der feinste Dietrich, dessen die Neugier sich bedienen kann, um herauszubringen was sie verlangt. Auch beim Lernen sogar ist es eine gute List des Schülers, dem Lehrer zu widersprechen, der jetzt, von größerm Eifer hingerissen, sich tiefer in die Eröffnung des Grundes seiner Wahrheiten einläßt; so daß eine gemäßigte Bestreitung eine vollendete Belehrung veranlaßt.
So betrachtet, Freund, dürfte der Widerspruch, den Ihre Einsichten in mir wecken, ein nützlicher sein. Sie wissen, woran Sie bei mir sind; ich weiß, trete ich hermeneutisch einen Schritt zurück, woran ich bei mir selbst bin. Die Antinomie sei also eine die Erkenntis häufig bereichernde Tat. Allerdings raubt sie uns auch oft genug die Seelenruhe. Wird der Einwand zur Marotte, machen wir uns weder Freundinnen noch Freunde. Irgendwann platzt auch den geduldigsten Menschen der Kragen, und wir dürfen verdientermaßen damit rechnen, im Stich gelassen zu werden. Ein Begriff, Freund, der die Zeit der Ritterspiele überdauert hat. Allein sind wenige von uns hieb- und stichfest. Um ehrlich zu sein und das Thema zu wechseln: ich bilde mir auf meine Verletzbarkeit sogar einiges ein. Ich glaube, dass in der Verwundbarkeit die Chance auf Änderung liegt.
Ein Mensch mit Panzer fühlt nicht die laue Luft.
Kennst du den eigenen Schmerz, fühlst du eher die Pein der anderen.
Jede geteilte Wunde verhindert weitere.
4. August
214.
Nicht aus Einem dummen Streich zwei machen: es geschieht häufig, daß man, um einen zu verbessern, vier andere begeht, oder Eine Ungehörigkeit durch eine größere gut machen will. Entweder ist die Thorheit aus der Familie der Lüge, oder diese aus der jener; da beide dies gemein haben, daß jede einzelne, um sich aufrecht zu erhalten, viele andre nothwendig macht. Schlimmer als die schlechte Anklage war stets die Inschutznahme derselben, und übler als das Uebel selbst ist es, solches nicht verhehlen zu können. Es ist das Erbtheil der Unvollkommenheiten, daß jede noch viele andre auf Zinsen giebt. Ein Versehn zu machen, kann dem gescheutesten Manne begegnen, jedoch nicht zwei; und selbst jenes nur im Lauf, nicht im Sitzen.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Freund, wie oft ich versucht habe, meistens beim Schreiben, einen Fehler mit einem weiteren auszubügeln. Zunächst, was wirklich schockiert, scheint das Flicken sogar aufzugehen. Ich rede mir ein, dass es niemand merken wird. Und dass ich nicht noch mal alles umkrempeln muss. Das Problem ist: da ich's selbst weiß, kann's nicht stehen bleiben. Am Ende, was vielleicht überrascht, ist's mir nämlich schnurzegal, was andere von mir und meinen Gedanken halten. Bin ich selbst unzufrieden, lasse ich nichts unversucht, den Fehler zu beheben.
Wahrlich törlich sei, wer sich selbst belügt.
Versehen lassen sich, im Laufe des Lebens, weder zählen noch begrenzen. Das Dasein sei, schlussendlich, ein einziges Versehen.
Schwächen zu verhehlen, gelingt nur Dummen gegenüber; und das ist keine Kunst, der wir uns rühmen sollten.
5. August
Nicht aus Einem dummen Streich zwei machen: es geschieht häufig, daß man, um einen zu verbessern, vier andere begeht, oder Eine Ungehörigkeit durch eine größere gut machen will. Entweder ist die Thorheit aus der Familie der Lüge, oder diese aus der jener; da beide dies gemein haben, daß jede einzelne, um sich aufrecht zu erhalten, viele andre nothwendig macht. Schlimmer als die schlechte Anklage war stets die Inschutznahme derselben, und übler als das Uebel selbst ist es, solches nicht verhehlen zu können. Es ist das Erbtheil der Unvollkommenheiten, daß jede noch viele andre auf Zinsen giebt. Ein Versehn zu machen, kann dem gescheutesten Manne begegnen, jedoch nicht zwei; und selbst jenes nur im Lauf, nicht im Sitzen.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Freund, wie oft ich versucht habe, meistens beim Schreiben, einen Fehler mit einem weiteren auszubügeln. Zunächst, was wirklich schockiert, scheint das Flicken sogar aufzugehen. Ich rede mir ein, dass es niemand merken wird. Und dass ich nicht noch mal alles umkrempeln muss. Das Problem ist: da ich's selbst weiß, kann's nicht stehen bleiben. Am Ende, was vielleicht überrascht, ist's mir nämlich schnurzegal, was andere von mir und meinen Gedanken halten. Bin ich selbst unzufrieden, lasse ich nichts unversucht, den Fehler zu beheben.
Wahrlich törlich sei, wer sich selbst belügt.
Versehen lassen sich, im Laufe des Lebens, weder zählen noch begrenzen. Das Dasein sei, schlussendlich, ein einziges Versehen.
Schwächen zu verhehlen, gelingt nur Dummen gegenüber; und das ist keine Kunst, der wir uns rühmen sollten.
5. August
215.
Dem aufpassen, der mit der zweiten Absicht herankommt. Es ist eine List der Unterhändler, den fremden Willen einzuschläfern, um ihn anzugreifen: denn ist er umgangen, so ist er überwunden. Sie verhehlen ihre Absicht, um sie zu erreichen, und stellen sie zu hinterst, damit sie bei der Ausführung vorne zu stehn komme; und der Streich gelingt, wenn man ihn nicht bemerkt. Daher schlafe die Aufmerksamkeit nicht, da die Absichtlichkeit so sehr wach ist: und stellt diese sich nach hinten, um sich zu verstecken; so trete jene nach vorne, um sie zu erkennen. Die Vorsicht bemerke die Künste, mit denen so ein Mann von zwei Absichten herankommt, und sehe die Vorwände, die er, um seine wahre Absicht zu erreichen, aufstellt. Eins schlägt er vor, ein andres will er haben; plötzlich aber kehrt er es geschickt um, und trifft grade in das Weiße seiner Zielscheibe. Man wisse deshalb, was man ihm einräumt: und bisweilen wird es angemessen seyn, ihm zu verstehn zu geben, daß man ihn verstanden hat.
Die größten Triumphe der Propaganda, das glaubte jedenfalls Aldous Huxley, Freund, werden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht. Groß sei die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, sei ihr Verschweigen. Unterhändlerinnen und Unterhändlier - vielleicht sogar Diplomatinnen und Diplomaten per se - sind Propagandisten. Sie haben eine Überzeugung im Gepäck, die nicht ihre sein muss, aber ihre zu sein hat. Sie nehmen die Bürde der Vor-Gabe auf sich. Manchmal, geht's nicht anders, sagen sie zunächst eine Sache, haben aber eine zweite im Sinn. Mir scheint, dass unser Leben nicht zu selten solch einem Muster folgt. Wir kreisen uns, gewissermaßen, selbst ein, legen eine Schicht um die Wahrheit, die geschützt werden soll und muss, da die Zeit noch nicht reif für sie ist. Verstehen Sie mich bitte richtig, Freund, Ihre Schlauheit im Umgang mit falschen Botschafterinnen und falschen Botschaftern möchte ich Ihnen nicht ausreden, ganz und gar nicht. Ich denke nur, dass, häufig genug, eine Art von Häutung vonnöten ist, freiwillig oder erzwungen, bis wir wissen, was jene von uns, wir von ihnen wollen.
Was offensichtlich ist, kommt der Wahrheit selten gefährlich nahe.
In der Entfernung wartet Ehrlichkeit; der Weg dahin sei steinig.
6. August
Dem aufpassen, der mit der zweiten Absicht herankommt. Es ist eine List der Unterhändler, den fremden Willen einzuschläfern, um ihn anzugreifen: denn ist er umgangen, so ist er überwunden. Sie verhehlen ihre Absicht, um sie zu erreichen, und stellen sie zu hinterst, damit sie bei der Ausführung vorne zu stehn komme; und der Streich gelingt, wenn man ihn nicht bemerkt. Daher schlafe die Aufmerksamkeit nicht, da die Absichtlichkeit so sehr wach ist: und stellt diese sich nach hinten, um sich zu verstecken; so trete jene nach vorne, um sie zu erkennen. Die Vorsicht bemerke die Künste, mit denen so ein Mann von zwei Absichten herankommt, und sehe die Vorwände, die er, um seine wahre Absicht zu erreichen, aufstellt. Eins schlägt er vor, ein andres will er haben; plötzlich aber kehrt er es geschickt um, und trifft grade in das Weiße seiner Zielscheibe. Man wisse deshalb, was man ihm einräumt: und bisweilen wird es angemessen seyn, ihm zu verstehn zu geben, daß man ihn verstanden hat.
Die größten Triumphe der Propaganda, das glaubte jedenfalls Aldous Huxley, Freund, werden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht. Groß sei die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, sei ihr Verschweigen. Unterhändlerinnen und Unterhändlier - vielleicht sogar Diplomatinnen und Diplomaten per se - sind Propagandisten. Sie haben eine Überzeugung im Gepäck, die nicht ihre sein muss, aber ihre zu sein hat. Sie nehmen die Bürde der Vor-Gabe auf sich. Manchmal, geht's nicht anders, sagen sie zunächst eine Sache, haben aber eine zweite im Sinn. Mir scheint, dass unser Leben nicht zu selten solch einem Muster folgt. Wir kreisen uns, gewissermaßen, selbst ein, legen eine Schicht um die Wahrheit, die geschützt werden soll und muss, da die Zeit noch nicht reif für sie ist. Verstehen Sie mich bitte richtig, Freund, Ihre Schlauheit im Umgang mit falschen Botschafterinnen und falschen Botschaftern möchte ich Ihnen nicht ausreden, ganz und gar nicht. Ich denke nur, dass, häufig genug, eine Art von Häutung vonnöten ist, freiwillig oder erzwungen, bis wir wissen, was jene von uns, wir von ihnen wollen.
Was offensichtlich ist, kommt der Wahrheit selten gefährlich nahe.
In der Entfernung wartet Ehrlichkeit; der Weg dahin sei steinig.
6. August
216.
Die Kunst des Ausdrucks besitzen: sie besteht nicht nur in der Deutlichkeit, sondern auch in der Lebendigkeit des Vortrags. Einige haben eine glückliche Empfängniß, aber eine schwere Geburt: denn ohne Klarheit können die Kinder des Geistes, die Gedanken und Beschlüsse, nicht wohl zur Welt gebracht werden. Manche gleichen, in ihrer Fassungskraft, jenen Gefäßen, die zwar viel fassen, aber nur wenig von sich geben: Andre wieder sagen sogar mehr, als sie gedacht haben. Was für den Willen die Entschlossenheit, ist für den Verstand die Gabe des Vortrags: zwei hohe Vorzüge. Die Köpfe, welche die Gabe lichtvoller Klarheit haben, erlangen Beifall; die verworrenen werden bisweilen verehrt, weil Keiner sie versteht. Zu Zeiten ist es passend dunkel zu seyn, um nicht gemein zu werden: allein wie sollen die Hörer den begreifen, der mit dem, was er sagt, eigentlich selbst keinen Begriff verknüpft?
Heute, Freund, macht mir mein Körper zu schaffen. Ich fühle mich trübe wie schmutziges Wasser. Die Gedanken schwanken im schweren Kopf, den ich kaum rühren kann, ohne das Gefühl des Erbrechenwollens zu empfinden. Nun, aus dieser misslichen Lage, in der ich mich, glücklicherweise, selten befinde, stellt sich mir die Frage, wie ich einen Vortrag hielte, der sich nicht verschieben ließe. Ich käme als armer Wicht am Pult an, schlösse, möglicherweise vor Erschöpfung stammelnd, zwischendurch die Augen, verlöre abwechselnd den roten und schwarzen Faden, glänzte mit Ausdrucksschwäche und emotionaler Leichenstarre. Sie wissen bereits, worauf die Litanei hinausläuft, Freund: wir sind nicht allzeit wir selbst, können's nicht sein. Und es auch nicht von anderen erwarten.
Toleranz sei die Gabe des Verstands, die uns, am Ende, am schönsten nützt und am ehesten ansteht.
Wer schnell urteilt, liegt schnell daneben.
Jede Gerade kennt und kommt aus einer Kurve.
7. August
Die Kunst des Ausdrucks besitzen: sie besteht nicht nur in der Deutlichkeit, sondern auch in der Lebendigkeit des Vortrags. Einige haben eine glückliche Empfängniß, aber eine schwere Geburt: denn ohne Klarheit können die Kinder des Geistes, die Gedanken und Beschlüsse, nicht wohl zur Welt gebracht werden. Manche gleichen, in ihrer Fassungskraft, jenen Gefäßen, die zwar viel fassen, aber nur wenig von sich geben: Andre wieder sagen sogar mehr, als sie gedacht haben. Was für den Willen die Entschlossenheit, ist für den Verstand die Gabe des Vortrags: zwei hohe Vorzüge. Die Köpfe, welche die Gabe lichtvoller Klarheit haben, erlangen Beifall; die verworrenen werden bisweilen verehrt, weil Keiner sie versteht. Zu Zeiten ist es passend dunkel zu seyn, um nicht gemein zu werden: allein wie sollen die Hörer den begreifen, der mit dem, was er sagt, eigentlich selbst keinen Begriff verknüpft?
Heute, Freund, macht mir mein Körper zu schaffen. Ich fühle mich trübe wie schmutziges Wasser. Die Gedanken schwanken im schweren Kopf, den ich kaum rühren kann, ohne das Gefühl des Erbrechenwollens zu empfinden. Nun, aus dieser misslichen Lage, in der ich mich, glücklicherweise, selten befinde, stellt sich mir die Frage, wie ich einen Vortrag hielte, der sich nicht verschieben ließe. Ich käme als armer Wicht am Pult an, schlösse, möglicherweise vor Erschöpfung stammelnd, zwischendurch die Augen, verlöre abwechselnd den roten und schwarzen Faden, glänzte mit Ausdrucksschwäche und emotionaler Leichenstarre. Sie wissen bereits, worauf die Litanei hinausläuft, Freund: wir sind nicht allzeit wir selbst, können's nicht sein. Und es auch nicht von anderen erwarten.
Toleranz sei die Gabe des Verstands, die uns, am Ende, am schönsten nützt und am ehesten ansteht.
Wer schnell urteilt, liegt schnell daneben.
Jede Gerade kennt und kommt aus einer Kurve.
7. August
217.
Nicht auf immer lieben, noch hassen. Seinen heutigen Freunden traue man so, als ob sie morgen Feinde seyn würden und zwar die schlimmsten. Da dieses in der Wirklichkeit Statt hat; so finde es solche auch in der Vorkehr. Man gebe nicht den Ueberläufern der Freundschaft Waffen in die Hände, mit denen sie nachher den blutigsten Krieg führen. Dagegen stehe den Feinden beständig die Thüre zur Versöhnung offen, und zwar sei es die des Edelsinns, als die sicherste. Manchem ist schon seine frühere Rache zur Quaal geworden und die Freude über seinen verübten bösen Streich hat sich in Betrübniß verkehrt.
Sie sind ein Monster, Freund. Ein, was für eine seltene Gabe, gütiges. Ihr Realitätssinnn in Sachen Freund- und Feindschaft, den wohl jede und jeder leid- und lustvoll ihr und sein eigen nennt und bestätigen kann, entweder jetzt oder in der Zukunft, ihr bodenfester Realitätssinn sei gelobt. Und, ach, ja, auch das, aus ganzem Herzen für seine Mutlosigkeit, seine Abgeklärtheit, seine Illusionsferne, seine Liebunhudelei verachtet. Mir geht Ihr Abgebrühtsein ab. Sie sind mir zu hart, zu ausgekocht. In Sachen Freundschaft halt ich's mehr mit Schwärmern wie Montaigne, mit romantischen Geistern wie Bettina von Arnim, die an Goethe geschrieben hat, was Wissen denn überhaupt sei, wenn's nicht von Liebe ausgehe.
Zu wollen, dass jede Schraube in der Freundschaft per se solide sitzt, steht dem Wesen der Freundschaft entgegen, die zwar fest zu sein hat, aber beweglich bleiben muss.
Wer mit dem Hass spekuliert, wird ihn eher ernten als andere, die ihn erst gar nicht auf die Rechnung setzen.
Enttäuschungen kommen früh genug, wir müssen sie nicht herbeireden.
8. August
Nicht auf immer lieben, noch hassen. Seinen heutigen Freunden traue man so, als ob sie morgen Feinde seyn würden und zwar die schlimmsten. Da dieses in der Wirklichkeit Statt hat; so finde es solche auch in der Vorkehr. Man gebe nicht den Ueberläufern der Freundschaft Waffen in die Hände, mit denen sie nachher den blutigsten Krieg führen. Dagegen stehe den Feinden beständig die Thüre zur Versöhnung offen, und zwar sei es die des Edelsinns, als die sicherste. Manchem ist schon seine frühere Rache zur Quaal geworden und die Freude über seinen verübten bösen Streich hat sich in Betrübniß verkehrt.
Sie sind ein Monster, Freund. Ein, was für eine seltene Gabe, gütiges. Ihr Realitätssinnn in Sachen Freund- und Feindschaft, den wohl jede und jeder leid- und lustvoll ihr und sein eigen nennt und bestätigen kann, entweder jetzt oder in der Zukunft, ihr bodenfester Realitätssinn sei gelobt. Und, ach, ja, auch das, aus ganzem Herzen für seine Mutlosigkeit, seine Abgeklärtheit, seine Illusionsferne, seine Liebunhudelei verachtet. Mir geht Ihr Abgebrühtsein ab. Sie sind mir zu hart, zu ausgekocht. In Sachen Freundschaft halt ich's mehr mit Schwärmern wie Montaigne, mit romantischen Geistern wie Bettina von Arnim, die an Goethe geschrieben hat, was Wissen denn überhaupt sei, wenn's nicht von Liebe ausgehe.
Zu wollen, dass jede Schraube in der Freundschaft per se solide sitzt, steht dem Wesen der Freundschaft entgegen, die zwar fest zu sein hat, aber beweglich bleiben muss.
Wer mit dem Hass spekuliert, wird ihn eher ernten als andere, die ihn erst gar nicht auf die Rechnung setzen.
Enttäuschungen kommen früh genug, wir müssen sie nicht herbeireden.
8. August
218.
Nie aus Eigensinn handeln, sondern aus Einsicht. Jeder Eigensinn ist ein Auswuchs des Geistes, ein Erzeugniß der Leidenschaft, welche noch nie die Dinge richtig geleitet hat. Es giebt Leute, die aus Allem einen kleinen Krieg machen, wahre Banditen des Umgangs: Alles was sie ausführen, soll zu einem Siege werden und sie kennen kein friedliches Verfahren. Diese sind, wenn sie gebieten und herrschen, verderblich: denn sie machen aus der Regierung eine Faktion, und Feinde aus denen, die sie als ihre Kinder ansehen sollten. Sie wollen Alles durch Ränke vorbereiten und es sodann als die Frucht ihrer Künstelei erlangen. Allein wann die Uebrigen ihren verkehrten Sinn erkannt haben; so lehnt Alles sich gegen sie auf, weiß ihre schimärischen Pläne zu stören und sie erlangen nichts, sondern tragen nur eine Last von Verdrießlichkeiten davon, indem Alle helfen ihr Leidwesen zu vermehren. Diese haben einen verschrobnen Kopf und mitunter auch ein verruchtes Herz. Gegen Ungeheuer dieser Art ist weiter nichts zu thun, als sie zu fliehen und wäre es bis zu den Antipoden, deren Barbarei leichter zu ertragen seyn wird, als die Abscheulichkeit jener.
Viele gute Ratschläge, Freund, in einem wilden Kugelhaufen vereint, der glänzt und funkelt, über die Jahre hinweg, die uns trennen. Darf ich Ihnen gestehen, dass ich's sehr genieße, wenn Sie, unphilosophisch gesagt, sich die Klamotten vom Leib reißen und sich als Meinungs-Nudist zeigen? Sie werden, schätze ich, für Ihre Entschlossenheit passende Gründe haben, und dass der Eigensinn weiterhin seine schrägen Blüten treibt, sei Ihnen hiermit versichert. Einsicht, das aber nur am rebellischen Rande, Einsicht hat sehr wohl unglaubliche Mängel, glaubt sie doch oft genug auf einem festen Fundament zu stehen, obwohl der Boden unter ihr ununterbrochen schwankt, sich permanent Risse in allerlei Denkgebäuden zeigen. Dank falscher Einsichten schlägt in mancher guter Brust ein verruchtes Herz. Schlimm, Freund, wirklich schlimm wird's, wenn Eigensinn und falsche Einsichten auf dem allgemeinen Lehrplan stehen.
Jede Schimäre startet oder endet als angesehene Gestalt.
Wer sich den Hass auf die Fahnen schreibt, wird in diese eingewickelt im schäbigsten Sarg landen.
9. August
Nie aus Eigensinn handeln, sondern aus Einsicht. Jeder Eigensinn ist ein Auswuchs des Geistes, ein Erzeugniß der Leidenschaft, welche noch nie die Dinge richtig geleitet hat. Es giebt Leute, die aus Allem einen kleinen Krieg machen, wahre Banditen des Umgangs: Alles was sie ausführen, soll zu einem Siege werden und sie kennen kein friedliches Verfahren. Diese sind, wenn sie gebieten und herrschen, verderblich: denn sie machen aus der Regierung eine Faktion, und Feinde aus denen, die sie als ihre Kinder ansehen sollten. Sie wollen Alles durch Ränke vorbereiten und es sodann als die Frucht ihrer Künstelei erlangen. Allein wann die Uebrigen ihren verkehrten Sinn erkannt haben; so lehnt Alles sich gegen sie auf, weiß ihre schimärischen Pläne zu stören und sie erlangen nichts, sondern tragen nur eine Last von Verdrießlichkeiten davon, indem Alle helfen ihr Leidwesen zu vermehren. Diese haben einen verschrobnen Kopf und mitunter auch ein verruchtes Herz. Gegen Ungeheuer dieser Art ist weiter nichts zu thun, als sie zu fliehen und wäre es bis zu den Antipoden, deren Barbarei leichter zu ertragen seyn wird, als die Abscheulichkeit jener.
Viele gute Ratschläge, Freund, in einem wilden Kugelhaufen vereint, der glänzt und funkelt, über die Jahre hinweg, die uns trennen. Darf ich Ihnen gestehen, dass ich's sehr genieße, wenn Sie, unphilosophisch gesagt, sich die Klamotten vom Leib reißen und sich als Meinungs-Nudist zeigen? Sie werden, schätze ich, für Ihre Entschlossenheit passende Gründe haben, und dass der Eigensinn weiterhin seine schrägen Blüten treibt, sei Ihnen hiermit versichert. Einsicht, das aber nur am rebellischen Rande, Einsicht hat sehr wohl unglaubliche Mängel, glaubt sie doch oft genug auf einem festen Fundament zu stehen, obwohl der Boden unter ihr ununterbrochen schwankt, sich permanent Risse in allerlei Denkgebäuden zeigen. Dank falscher Einsichten schlägt in mancher guter Brust ein verruchtes Herz. Schlimm, Freund, wirklich schlimm wird's, wenn Eigensinn und falsche Einsichten auf dem allgemeinen Lehrplan stehen.
Jede Schimäre startet oder endet als angesehene Gestalt.
Wer sich den Hass auf die Fahnen schreibt, wird in diese eingewickelt im schäbigsten Sarg landen.
9. August
219.
Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich's ohne solche heut zu Tage nicht leben läßt. Für vorsichtig sei man gehalten, nicht für listig. Daß man schlicht in seinem Thun sei, ist Allen angenehm, wiewohl es nicht Jeder für sein eigenes Haus mag. Die Aufrichtigkeit gehe nicht in Einfalt über, und die Klugheit nicht in Arglist. Man sei lieber als ein Weiser geehrt, als wegen seiner Schlauheit gefürchtet. Die Offenherzigen werden geliebt, aber betrogen. Die größte Kunst bestehe darin, daß man bedecke was für Betrug gehalten wird. Im goldnen Zeitalter war die Gradheit an der Tagesordnung, in diesem eisernen ist es die Arglist. Der Ruf, ein Mann zu seyn, welcher weiß was er zu thun hat, ist ehrenvoll und erwirbt Zutrauen; aber der eines verstellten Menschen ist verfänglich und erregt Mißtrauen.
Hier ließe sich nun, Freund, ein Sammelsurium an Standpunkten als Antwort in die Welt posaunen, so wie Sie's in Ihrem starken Stück tun. Etliche würden sich gegenseitig ausschließen, in anderen bekämen Sie ob des Macho-Zentrismus mal wieder ordentlich Ihr Fett weg. Mich lüstet's aber nach nur einer Sache. Sie schreiben so schön, dass die Offenherzigen geliebt, aber betrogen würden. Das geht mir gar nicht aus den Sinn, es schmerzt mich gar, lässt mich vor Angst flattern. Denn es sei gestanden: ich zähle mich - was andere über mich in dieser Angelegenheit sagen, weiß ich nicht -, ich zähle mich zu eben jenen Offenherzigen, fühle auch die Liebe, von der Sie treffenderweise schreiben, weiß aber nichts vom Betrug, der uns Offenherzigen droht. Nun, so ist's mit Neuigkeiten, nun will ich diesen möglichen Betrügereien, die hinter meinem Rücken passieren, auf den Grund gehen, weiß aber nicht, wo ich ansetzen soll. Wer käme als Verräter, als Verräterin in Frage? Wer hätte ein Interesse daran, mich zu leimen? Ihre Weisheit, Freund, hat widerborstige Haken, die tief ins Fleich, tief in die Seele dringen. Aber das wollte und will ich so. Von Ihrem Nektar zu trinken, ist selten süß.
Stört uns das Wissen, lohnt sich die Flucht.
Wer allzeit zurückblickt, verdirbt sich die Erinnerung.
Jede Naivität hat ihren Preis, der an der Börse des Glücks allerlei Kursschwankungen unterliegt.
10. August
Man gelte nicht für einen Mann von Verstellung, obgleich sich's ohne solche heut zu Tage nicht leben läßt. Für vorsichtig sei man gehalten, nicht für listig. Daß man schlicht in seinem Thun sei, ist Allen angenehm, wiewohl es nicht Jeder für sein eigenes Haus mag. Die Aufrichtigkeit gehe nicht in Einfalt über, und die Klugheit nicht in Arglist. Man sei lieber als ein Weiser geehrt, als wegen seiner Schlauheit gefürchtet. Die Offenherzigen werden geliebt, aber betrogen. Die größte Kunst bestehe darin, daß man bedecke was für Betrug gehalten wird. Im goldnen Zeitalter war die Gradheit an der Tagesordnung, in diesem eisernen ist es die Arglist. Der Ruf, ein Mann zu seyn, welcher weiß was er zu thun hat, ist ehrenvoll und erwirbt Zutrauen; aber der eines verstellten Menschen ist verfänglich und erregt Mißtrauen.
Hier ließe sich nun, Freund, ein Sammelsurium an Standpunkten als Antwort in die Welt posaunen, so wie Sie's in Ihrem starken Stück tun. Etliche würden sich gegenseitig ausschließen, in anderen bekämen Sie ob des Macho-Zentrismus mal wieder ordentlich Ihr Fett weg. Mich lüstet's aber nach nur einer Sache. Sie schreiben so schön, dass die Offenherzigen geliebt, aber betrogen würden. Das geht mir gar nicht aus den Sinn, es schmerzt mich gar, lässt mich vor Angst flattern. Denn es sei gestanden: ich zähle mich - was andere über mich in dieser Angelegenheit sagen, weiß ich nicht -, ich zähle mich zu eben jenen Offenherzigen, fühle auch die Liebe, von der Sie treffenderweise schreiben, weiß aber nichts vom Betrug, der uns Offenherzigen droht. Nun, so ist's mit Neuigkeiten, nun will ich diesen möglichen Betrügereien, die hinter meinem Rücken passieren, auf den Grund gehen, weiß aber nicht, wo ich ansetzen soll. Wer käme als Verräter, als Verräterin in Frage? Wer hätte ein Interesse daran, mich zu leimen? Ihre Weisheit, Freund, hat widerborstige Haken, die tief ins Fleich, tief in die Seele dringen. Aber das wollte und will ich so. Von Ihrem Nektar zu trinken, ist selten süß.
Stört uns das Wissen, lohnt sich die Flucht.
Wer allzeit zurückblickt, verdirbt sich die Erinnerung.
Jede Naivität hat ihren Preis, der an der Börse des Glücks allerlei Kursschwankungen unterliegt.
10. August
220.
Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz. Der Zeit nachgeben, heißt sie überflügeln. Wer sein Vorhaben durchsetzt, wird nie sein Ansehen verlieren. Wo es mit der Gewalt nicht geht, mit der Geschicklichkeit. Auf Einem Wege oder dem andern, entweder auf der Heerstraße der Tapferkeit, oder auf dem Nebenwege der Schlauheit. Mehr Dinge hat Geschick durchgesetzt, als Gewalt, und öfter haben die Klugen die Tapfern besiegt, als umgekehrt. Wenn man eine Sache nicht erlangen kann, ist es an der Zeit sie zu verachten.
Martialisch, Freund, wie Sie hier erneut furchtbare Furchen, schnöde Schneisen schlagen. Amoralische, utilitaristischste Gräben der übelsten Art. Und doch, ein fadenscheiniges Doch, und doch sprechen Sie mich unmittelbar an, singen im Duo mit meinem atavistischen Einst-Ich, das all das irgendwie glaubt, irgendwie das Brachiale, das Schlaue und Hinterlistige insgeheim für ziemlich lauter hält. Der Erfolg, heißt's, gäbe uns recht, und davon erzählen Sie, genau davon, vom gordischen Knoten, der durchschlagen werden muss, auch wenn er - drehen wir die Geschichte mal um - den Frieden garantiert. Der Egotrip, den Sie mit Vorliebe großartig finden, ist, natürlich, ein undemokratischer. In einem funktionierenden Gemeinwesen wird sich keine Mehrheit für Gewaltgaunerinnen und Gewaltgauner finden, die töten und tröten, treten und heuchlerisch beten.
Am längsten lässt mich Ihr letzter Ratschlag flennen. Wir alle kennen den urtiefen, vor Abscheu triefenden Hass den Dingen gegenüber, die wir einst am meisten begehrt haben. Ich heule, weil die Leidenschaft, die sich in ihr Gegenteil verkehrt hat, eine Verletzung darstellt, die uns niemals verlassen wird.
Zurückgewiesene Liebe schmerzt mehr als irgendwas. Und das Zweitbeste schließt zwar Wunden, aber ist, wahrlich, kein nachhaltiger Trost.
Wer Zurücksetzungen nicht verkraftet, soll sich am besten des Verstands bedienen. Beim kühlen Überlegen legen wir Leidenschaften auf Eis, an denen wir uns normalerweise verbrennen würden.
Im Maßhalten zeigt sich Weisheit, die ein Leben in Würde und Zuversicht erlaubt.
11. August
Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz. Der Zeit nachgeben, heißt sie überflügeln. Wer sein Vorhaben durchsetzt, wird nie sein Ansehen verlieren. Wo es mit der Gewalt nicht geht, mit der Geschicklichkeit. Auf Einem Wege oder dem andern, entweder auf der Heerstraße der Tapferkeit, oder auf dem Nebenwege der Schlauheit. Mehr Dinge hat Geschick durchgesetzt, als Gewalt, und öfter haben die Klugen die Tapfern besiegt, als umgekehrt. Wenn man eine Sache nicht erlangen kann, ist es an der Zeit sie zu verachten.
Martialisch, Freund, wie Sie hier erneut furchtbare Furchen, schnöde Schneisen schlagen. Amoralische, utilitaristischste Gräben der übelsten Art. Und doch, ein fadenscheiniges Doch, und doch sprechen Sie mich unmittelbar an, singen im Duo mit meinem atavistischen Einst-Ich, das all das irgendwie glaubt, irgendwie das Brachiale, das Schlaue und Hinterlistige insgeheim für ziemlich lauter hält. Der Erfolg, heißt's, gäbe uns recht, und davon erzählen Sie, genau davon, vom gordischen Knoten, der durchschlagen werden muss, auch wenn er - drehen wir die Geschichte mal um - den Frieden garantiert. Der Egotrip, den Sie mit Vorliebe großartig finden, ist, natürlich, ein undemokratischer. In einem funktionierenden Gemeinwesen wird sich keine Mehrheit für Gewaltgaunerinnen und Gewaltgauner finden, die töten und tröten, treten und heuchlerisch beten.
Am längsten lässt mich Ihr letzter Ratschlag flennen. Wir alle kennen den urtiefen, vor Abscheu triefenden Hass den Dingen gegenüber, die wir einst am meisten begehrt haben. Ich heule, weil die Leidenschaft, die sich in ihr Gegenteil verkehrt hat, eine Verletzung darstellt, die uns niemals verlassen wird.
Zurückgewiesene Liebe schmerzt mehr als irgendwas. Und das Zweitbeste schließt zwar Wunden, aber ist, wahrlich, kein nachhaltiger Trost.
Wer Zurücksetzungen nicht verkraftet, soll sich am besten des Verstands bedienen. Beim kühlen Überlegen legen wir Leidenschaften auf Eis, an denen wir uns normalerweise verbrennen würden.
Im Maßhalten zeigt sich Weisheit, die ein Leben in Würde und Zuversicht erlaubt.
11. August
221.
Nicht leicht Anlaß nehmen, sich oder Andre in Verwickelungen zu bringen. Es giebt Leute, die beständig gegen die Wohlanständigkeit anstoßen, indem sie in sich oder in Andern den Anstand verletzen. Man kommt leicht mit ihnen zusammen und mit Unannehmlichkeit wieder auseinander. Hundert Verdrießlichkeiten des Tags sind ihnen wenig. Ihre Laune hat das Haar wider den Strich, daher sie Allen und Jedem widersprechen: sie haben sich den Verstand verkehrt angezogen, weshalb sie Alles verdammen. Jedoch sind die größten Versucher fremder Klugheit die, welche nichts gut machen und von Allem schlecht sprechen. Es giebt gar viele Ungeheuer im weiten Reiche der Unziemlichkeit.
D'accord, Freund, Miesmacherinnen und Miesmacher sind die Boten und Botinnen des Ordinären, das mir bereits übel aufstößt, wenn ich's in kleinsten Dosen verabreicht bekomme. Ist's nicht seltsam, dass in den fabrizierten Ungereimtheiten, den gesuchten Obszönitäten und unvernünftig gehätschelten Geschmacklosigkeiten viele von uns regelrecht aufgehen? Sich geradezu glücklich fühlen?
Falls wir um die Bösheiten der anderen wissen, lohnt sich die entschlossene Abwesenheit; haben wir keine Wahl, müssen also die Luft der Gehässigen atmen, sollten wir ab und an frische Luft schnappen, allerlei Masken helfen dabei.
Verwandeln sich Menschen, die wir lieben, die einst am Leben gebührlich Gefallen fanden, sich und uns Freude bereiteten, verwandeln sich jene Freundinnen und Freunde in unziemliche Verdrussidioten und haarspalterische Schlechtmacherinnen, sollten wir sie nicht sofort wie heiße Kartoffeln fallen lassen. Es lohnt sich, Freund, den Dingen, auch den unangenehmen, auf den Grund zu gehen. Manches Malheur hat, was wir nicht vergessen sollten, mit uns und unserem Verhalten zu tun. Nicht zu selten schallt's aus dem Wald heraus, wie wir hineingebrüllt haben.
Liebe verzeiht mehr und gleichzeitig weniger als ihr gut tut.
12. August
Nicht leicht Anlaß nehmen, sich oder Andre in Verwickelungen zu bringen. Es giebt Leute, die beständig gegen die Wohlanständigkeit anstoßen, indem sie in sich oder in Andern den Anstand verletzen. Man kommt leicht mit ihnen zusammen und mit Unannehmlichkeit wieder auseinander. Hundert Verdrießlichkeiten des Tags sind ihnen wenig. Ihre Laune hat das Haar wider den Strich, daher sie Allen und Jedem widersprechen: sie haben sich den Verstand verkehrt angezogen, weshalb sie Alles verdammen. Jedoch sind die größten Versucher fremder Klugheit die, welche nichts gut machen und von Allem schlecht sprechen. Es giebt gar viele Ungeheuer im weiten Reiche der Unziemlichkeit.
D'accord, Freund, Miesmacherinnen und Miesmacher sind die Boten und Botinnen des Ordinären, das mir bereits übel aufstößt, wenn ich's in kleinsten Dosen verabreicht bekomme. Ist's nicht seltsam, dass in den fabrizierten Ungereimtheiten, den gesuchten Obszönitäten und unvernünftig gehätschelten Geschmacklosigkeiten viele von uns regelrecht aufgehen? Sich geradezu glücklich fühlen?
Falls wir um die Bösheiten der anderen wissen, lohnt sich die entschlossene Abwesenheit; haben wir keine Wahl, müssen also die Luft der Gehässigen atmen, sollten wir ab und an frische Luft schnappen, allerlei Masken helfen dabei.
Verwandeln sich Menschen, die wir lieben, die einst am Leben gebührlich Gefallen fanden, sich und uns Freude bereiteten, verwandeln sich jene Freundinnen und Freunde in unziemliche Verdrussidioten und haarspalterische Schlechtmacherinnen, sollten wir sie nicht sofort wie heiße Kartoffeln fallen lassen. Es lohnt sich, Freund, den Dingen, auch den unangenehmen, auf den Grund zu gehen. Manches Malheur hat, was wir nicht vergessen sollten, mit uns und unserem Verhalten zu tun. Nicht zu selten schallt's aus dem Wald heraus, wie wir hineingebrüllt haben.
Liebe verzeiht mehr und gleichzeitig weniger als ihr gut tut.
12. August
222.
Zurückhaltung ist ein sicherer Beweis von Klugheit. Ein wildes Thier ist die Zunge: hat sie sich ein Mal losgerissen; so hält es schwer sie wieder anzuketten: sie ist der Puls der Seele, an welchem die Weisen die Beschaffenheit derselben erkennen: an diesem Puls fühlt der Aufmerksame jede Bewegung des Herzens. Das Schlimmste ist, daß wer sich am meisten mäßigen sollte, es am wenigsten thut. Der Weise erspart sich Verdrießlichkeiten und Verwickelungen und zeigt seine Herrschaft über sich. Er geht seinen Weg behutsam, ein Janus an billigem Urtheil, ein Argus an Scharfblick. Momus hätte wahrlich noch eher die Augen in der Hand, als das Fensterchen auf der Brust vermissen sollen.
Mit der Zunge, Freund, hat's gar viele Bewandnisse, sie dient uns für allerlei Bilder, gute wie schlechte. Erwähnt sei nur, im Deutschen, der Zungenbrecher - und klingt das nicht gleich, holterdiepolter, nach Zungenverbrecher? Auch eine passende Momentaufnahme, scheint mir, die an Ihrer beredsamen Beschreibung der Zunge als wildes Tier, das sich nicht zähmen lässt, anknüpft. Wir alle kennen Zeitpunkte, wenn wir Dinge von uns gegeben haben, die uns auf der Zunge lagen, gar brannten.
Gespaltene Zungen sind zwar immer zu zweit, finden sich irgendwann aber allein wieder.
Eingerostete Zungen haben, bei ihrer Wiederentdeckung, einen eigentümlichen, gar wunderbaren Klang.
Kein kleiner Geschmack ohne große Zungenfertigkeit.
Dass ich ein Freund der Glossolalie bin, der surrealistischen, nicht der religiösen, sei nur noch am Rande erwähnt.
13. August
Zurückhaltung ist ein sicherer Beweis von Klugheit. Ein wildes Thier ist die Zunge: hat sie sich ein Mal losgerissen; so hält es schwer sie wieder anzuketten: sie ist der Puls der Seele, an welchem die Weisen die Beschaffenheit derselben erkennen: an diesem Puls fühlt der Aufmerksame jede Bewegung des Herzens. Das Schlimmste ist, daß wer sich am meisten mäßigen sollte, es am wenigsten thut. Der Weise erspart sich Verdrießlichkeiten und Verwickelungen und zeigt seine Herrschaft über sich. Er geht seinen Weg behutsam, ein Janus an billigem Urtheil, ein Argus an Scharfblick. Momus hätte wahrlich noch eher die Augen in der Hand, als das Fensterchen auf der Brust vermissen sollen.
Mit der Zunge, Freund, hat's gar viele Bewandnisse, sie dient uns für allerlei Bilder, gute wie schlechte. Erwähnt sei nur, im Deutschen, der Zungenbrecher - und klingt das nicht gleich, holterdiepolter, nach Zungenverbrecher? Auch eine passende Momentaufnahme, scheint mir, die an Ihrer beredsamen Beschreibung der Zunge als wildes Tier, das sich nicht zähmen lässt, anknüpft. Wir alle kennen Zeitpunkte, wenn wir Dinge von uns gegeben haben, die uns auf der Zunge lagen, gar brannten.
Gespaltene Zungen sind zwar immer zu zweit, finden sich irgendwann aber allein wieder.
Eingerostete Zungen haben, bei ihrer Wiederentdeckung, einen eigentümlichen, gar wunderbaren Klang.
Kein kleiner Geschmack ohne große Zungenfertigkeit.
Dass ich ein Freund der Glossolalie bin, der surrealistischen, nicht der religiösen, sei nur noch am Rande erwähnt.
13. August
223.
Weder aus Affektation, noch aus Unachtsamkeit, etwas ganz Besonderes an sich haben. Manche haben auffallende Sonderbarkeiten an sich, mit verrückten Gebehrden. Dergleichen sind mehr Fehler als Auszeichnungen. Und wie nun Einige wegen einer besonderen Häßlichkeit des Gesichts bekannt sind, so Jene durch irgend etwas Anstößiges im äußerlichen Betragen. Dergleichen Sonderbarkeiten dienen bloß als Abzeichen, durch eine unschickliche Eigenheit, und erregen theils Gelächter, theils Widerwillen.
Was für ein verfluchter Pharisäer Sie ab und an doch sind, Freund! Nicht zu fassen. Ihre Engstirnigkeit wird nur noch von Ihrem beredsamen Menschenhass überboten. Beinahe zum Lachen, da Ihre Brutalität so gar nichts mit Ihrem Beruf als Seelsorger zu tun hat. Schon gut, ich weiß, dass Ihnen die Seele von Hässlich-Krethi und Sonderbar-Plethi schnuppe ist. Sie hecheln den Hochgeborenen hinterher, die Ihnen stets und zuverlässig Freude machen, wenn Sie von ihrer Gunst leben.
In der Eigenart, in ihr allein liegt Schönheit.
Jeder Fehler beweist unsere Vollkommenheit, da keine Perfektion ohne Makel denkbar ist.
14. August
Weder aus Affektation, noch aus Unachtsamkeit, etwas ganz Besonderes an sich haben. Manche haben auffallende Sonderbarkeiten an sich, mit verrückten Gebehrden. Dergleichen sind mehr Fehler als Auszeichnungen. Und wie nun Einige wegen einer besonderen Häßlichkeit des Gesichts bekannt sind, so Jene durch irgend etwas Anstößiges im äußerlichen Betragen. Dergleichen Sonderbarkeiten dienen bloß als Abzeichen, durch eine unschickliche Eigenheit, und erregen theils Gelächter, theils Widerwillen.
Was für ein verfluchter Pharisäer Sie ab und an doch sind, Freund! Nicht zu fassen. Ihre Engstirnigkeit wird nur noch von Ihrem beredsamen Menschenhass überboten. Beinahe zum Lachen, da Ihre Brutalität so gar nichts mit Ihrem Beruf als Seelsorger zu tun hat. Schon gut, ich weiß, dass Ihnen die Seele von Hässlich-Krethi und Sonderbar-Plethi schnuppe ist. Sie hecheln den Hochgeborenen hinterher, die Ihnen stets und zuverlässig Freude machen, wenn Sie von ihrer Gunst leben.
In der Eigenart, in ihr allein liegt Schönheit.
Jeder Fehler beweist unsere Vollkommenheit, da keine Perfektion ohne Makel denkbar ist.
14. August
224.
Die Dinge nie wider den Strich nehmen, wie sie auch kommen mögen. Alle haben eine rechte und eine Kehrseite und selbst das Beste und Günstigste verursacht Schmerz, wenn man es bei der Schneide ergreift, hingegen wird das Feindseligste zur schlitzenden Waffe, wenn beim Griff angefaßt. Ueber viele Dinge hat man sich schon betrübt, über welche man sich würde gefreut haben, hätte man ihre Vortheile betrachtet. In Allem liegt Günstiges und Ungünstiges; die Geschicklichkeit besteht im Herausfinden des Vorteilhaften. Dieselbe Sache nimmt sich, in verschiedenem Lichte gesehen, gar verschieden aus: man betrachte sie also im günstigen Lichte, und verwechsele nicht das Gute mit dem Schlimmen. Hieraus entsteht es, daß Manche aus Allem Zufriedenheit, Andre aus Allem Betrübniß schöpfen. Diese Betrachtung ist eine große Schutzwehr gegen die Widerwärtigkeiten des Geschicks und eine wichtige Lebensregel für alle Zeiten und alle Stände.
Um's anders zu sagen, Freund - aber eben, entschuldigen Sie bitte, klingelt's an der Tür, ich gehe mal nachsehen; nun bin ich zurück, es sind die Bücher für meine Partnerin, die Erstauflage im Original, das Paket habe ich ihr, ungeöffnet, auf den Tisch gelegt; es geht um Gastfreundschaft, die auch richtig betrachtet werden muss, das aber nur am Rande -, um's anders zu sagen, Freund, der Blickwinkel macht das vollkommene Bild. Stellen wir uns in einen dunklen Winkel, hilft's halt nichts, wenn um die Ecke die Sonne scheint. Manchmal, bin ich ehrlich, scheint's mir, dass wir uns entscheiden können, ob Zufriedenheit oder Missbehagen unser Dasein leitet. Ich habe mich, vor langer Zeit, fürs Behagen entschieden, auch wenn's mir nicht immer leicht fällt, mir nicht nur ab und an, sondern regelmäßig der schlechte Atem der Melancholie den Tag vermiesen will. Ich drehe dann ab, lenke mein Daseinsschiff in freundlichere Gewässer, mit Süßwind, und warte bis sich der Trübsinnorkan gelegt hat. Ob ich mir etwas vormache?, wollen Sie wissen. Ja, natürlich, denn der melancholische Odem ist schließlich dennoch in Reichweite. Und doch, scheint mir, reicht's, wenn wir uns von den eigenen Niedergeschlagenheiten eine Pause gönnen. Dass wir damit anderen weniger zur Last fallen, ist ein erfreulicher Nebeneffekt.
Da alles endet, müssen wir nicht vorher den Stopschalter umlegen.
Wer sich verletzen will, findet immer einen Grund, ob gut oder schlecht, spielt dabei keine Rolle.
Jedes Lachen stammt aus einem Unglück.
16. August
Die Dinge nie wider den Strich nehmen, wie sie auch kommen mögen. Alle haben eine rechte und eine Kehrseite und selbst das Beste und Günstigste verursacht Schmerz, wenn man es bei der Schneide ergreift, hingegen wird das Feindseligste zur schlitzenden Waffe, wenn beim Griff angefaßt. Ueber viele Dinge hat man sich schon betrübt, über welche man sich würde gefreut haben, hätte man ihre Vortheile betrachtet. In Allem liegt Günstiges und Ungünstiges; die Geschicklichkeit besteht im Herausfinden des Vorteilhaften. Dieselbe Sache nimmt sich, in verschiedenem Lichte gesehen, gar verschieden aus: man betrachte sie also im günstigen Lichte, und verwechsele nicht das Gute mit dem Schlimmen. Hieraus entsteht es, daß Manche aus Allem Zufriedenheit, Andre aus Allem Betrübniß schöpfen. Diese Betrachtung ist eine große Schutzwehr gegen die Widerwärtigkeiten des Geschicks und eine wichtige Lebensregel für alle Zeiten und alle Stände.
Um's anders zu sagen, Freund - aber eben, entschuldigen Sie bitte, klingelt's an der Tür, ich gehe mal nachsehen; nun bin ich zurück, es sind die Bücher für meine Partnerin, die Erstauflage im Original, das Paket habe ich ihr, ungeöffnet, auf den Tisch gelegt; es geht um Gastfreundschaft, die auch richtig betrachtet werden muss, das aber nur am Rande -, um's anders zu sagen, Freund, der Blickwinkel macht das vollkommene Bild. Stellen wir uns in einen dunklen Winkel, hilft's halt nichts, wenn um die Ecke die Sonne scheint. Manchmal, bin ich ehrlich, scheint's mir, dass wir uns entscheiden können, ob Zufriedenheit oder Missbehagen unser Dasein leitet. Ich habe mich, vor langer Zeit, fürs Behagen entschieden, auch wenn's mir nicht immer leicht fällt, mir nicht nur ab und an, sondern regelmäßig der schlechte Atem der Melancholie den Tag vermiesen will. Ich drehe dann ab, lenke mein Daseinsschiff in freundlichere Gewässer, mit Süßwind, und warte bis sich der Trübsinnorkan gelegt hat. Ob ich mir etwas vormache?, wollen Sie wissen. Ja, natürlich, denn der melancholische Odem ist schließlich dennoch in Reichweite. Und doch, scheint mir, reicht's, wenn wir uns von den eigenen Niedergeschlagenheiten eine Pause gönnen. Dass wir damit anderen weniger zur Last fallen, ist ein erfreulicher Nebeneffekt.
Da alles endet, müssen wir nicht vorher den Stopschalter umlegen.
Wer sich verletzen will, findet immer einen Grund, ob gut oder schlecht, spielt dabei keine Rolle.
Jedes Lachen stammt aus einem Unglück.
16. August
225.
Seinen Hauptfehler kennen. Keiner lebt, der nicht das Gegengewicht seines glänzendesten Vorzugs in sich trüge: wird nun dasselbe noch von der Neigung begünstigt; so erlangt es eine tyrannische Gewalt. Man eröffne den Krieg dawider durch Aufrufen der Sorgfalt dagegen, und der erste Schritt sei, seinen Hauptfehler sich offenbar zu machen: denn ein Mal erkannt, wird er bald besiegt seyn, vorzüglich wenn der damit Behaftete ihn ebenso deutlich auffaßt, wie die Beobachter. Um Herr über sich zu seyn, muß man sich gründlich kennen. Hat man erst jenen Anführer seiner Unvollkommenheiten zur Unterwerfung gebracht, werden alle übrigen nachfolgen.
Wohl und schön, Freund, überaus hilfreich, was Sie schreiben. Selbst die Erkenntnis, dass im Hellsten auch das Dunkelste steckt und vice versa. Die Sache mit dem Hauptfehler hat nur einen ziemlichen Haken. Die Offenbarung des größten Mangels, was der Hauptfehler vieler ist, bleibt eben unglücklicherweise aus. Wir hangeln uns von der Behandlung eines winzigen zur Therapie eines noch viel kleineren Leidens. Den Hauptcharakterwucher gehen wir aber nicht an, da wir ihn schlichtweg nicht kennen. Oder, was es selbstverständlich auch gibt, nicht kennen wollen.
Beim Verrennen hilft der Kompass nur, wenn wir ihn benutzen können und, ganz grundsätzlich, einsetzen wollen.
Einige von uns lieben Bosheiten; wer ihnen zu oft mit dem Guten kommt, dem servieren sie am Ende Giftpillen.
Wer keine Fehler hat, sei tot.
17. August
Seinen Hauptfehler kennen. Keiner lebt, der nicht das Gegengewicht seines glänzendesten Vorzugs in sich trüge: wird nun dasselbe noch von der Neigung begünstigt; so erlangt es eine tyrannische Gewalt. Man eröffne den Krieg dawider durch Aufrufen der Sorgfalt dagegen, und der erste Schritt sei, seinen Hauptfehler sich offenbar zu machen: denn ein Mal erkannt, wird er bald besiegt seyn, vorzüglich wenn der damit Behaftete ihn ebenso deutlich auffaßt, wie die Beobachter. Um Herr über sich zu seyn, muß man sich gründlich kennen. Hat man erst jenen Anführer seiner Unvollkommenheiten zur Unterwerfung gebracht, werden alle übrigen nachfolgen.
Wohl und schön, Freund, überaus hilfreich, was Sie schreiben. Selbst die Erkenntnis, dass im Hellsten auch das Dunkelste steckt und vice versa. Die Sache mit dem Hauptfehler hat nur einen ziemlichen Haken. Die Offenbarung des größten Mangels, was der Hauptfehler vieler ist, bleibt eben unglücklicherweise aus. Wir hangeln uns von der Behandlung eines winzigen zur Therapie eines noch viel kleineren Leidens. Den Hauptcharakterwucher gehen wir aber nicht an, da wir ihn schlichtweg nicht kennen. Oder, was es selbstverständlich auch gibt, nicht kennen wollen.
Beim Verrennen hilft der Kompass nur, wenn wir ihn benutzen können und, ganz grundsätzlich, einsetzen wollen.
Einige von uns lieben Bosheiten; wer ihnen zu oft mit dem Guten kommt, dem servieren sie am Ende Giftpillen.
Wer keine Fehler hat, sei tot.
17. August
226.
Stets aufmerksam seyn, Verbindlichkeiten zu erzeigen. Die Meisten reden nicht gewissenhaft, sondern je nachdem sie Verbindlichkeiten erhalten haben. Das Schlechte glaublich zu machen, ist Jeder vollkommen hinreichend, weil alles Schlechte leicht Glauben findet, sollte es zu Zeiten auch unglaublich seyn. Das Meiste und Beste was wir haben hängt von der Meinung Andrer ab. Einige lassen sich daran genügen, daß sie das Recht auf ihrer Seite haben: das ist aber nicht hinreichend; man muß ihm durch Bemühungen nachhelfen. Jemanden zu verbinden, kostet oft wenig und hilft viel. Mit Worten erkauft man Thaten. In diesem großen Hause der Welt ist kein so unwürdiges Geräth, daß man es nicht wenigstens ein Mal im Jahre nöthig haben sollte, und dann wird man, so wenig es auch werth seyn mag, es sehr vermissen. Jeder redet von einem Gegenstand, gemäß seiner Neigung.
Ein Sammelsurium, Freund, was Sie hier Ihrem Translator aufgebürdet haben, der sich tapfer durchs verschlungene Dickicht hechelt, auf der Suche nach Stringenz, die's halt nicht wirklich gibt. Und warum auch? Patchwork sei das Leben. Ist's nicht so? Außerdem, das aber nur am Gedankenrande, muss man verdammt auf der Hut sein, wenn's bei Ihnen über Stock und Stein geht. Sie verstecken nur zu gern Bemerkenswertes im faulzauberischen Gedröhne. Es ist eine Lust, von Ihnen ab- und umgelenkt zu werden.
Beim Abschweifen hebt sich das Licht, und die Schatten haben ihre Zweifel.
Hielte ich mich nur am gereichten Seil fest, fiele ich, wann es der Seilschaft passte.
Niemals auf Gedeih und Verderb anzugehören, heißt, frei zu sein.
18. August
Stets aufmerksam seyn, Verbindlichkeiten zu erzeigen. Die Meisten reden nicht gewissenhaft, sondern je nachdem sie Verbindlichkeiten erhalten haben. Das Schlechte glaublich zu machen, ist Jeder vollkommen hinreichend, weil alles Schlechte leicht Glauben findet, sollte es zu Zeiten auch unglaublich seyn. Das Meiste und Beste was wir haben hängt von der Meinung Andrer ab. Einige lassen sich daran genügen, daß sie das Recht auf ihrer Seite haben: das ist aber nicht hinreichend; man muß ihm durch Bemühungen nachhelfen. Jemanden zu verbinden, kostet oft wenig und hilft viel. Mit Worten erkauft man Thaten. In diesem großen Hause der Welt ist kein so unwürdiges Geräth, daß man es nicht wenigstens ein Mal im Jahre nöthig haben sollte, und dann wird man, so wenig es auch werth seyn mag, es sehr vermissen. Jeder redet von einem Gegenstand, gemäß seiner Neigung.
Ein Sammelsurium, Freund, was Sie hier Ihrem Translator aufgebürdet haben, der sich tapfer durchs verschlungene Dickicht hechelt, auf der Suche nach Stringenz, die's halt nicht wirklich gibt. Und warum auch? Patchwork sei das Leben. Ist's nicht so? Außerdem, das aber nur am Gedankenrande, muss man verdammt auf der Hut sein, wenn's bei Ihnen über Stock und Stein geht. Sie verstecken nur zu gern Bemerkenswertes im faulzauberischen Gedröhne. Es ist eine Lust, von Ihnen ab- und umgelenkt zu werden.
Beim Abschweifen hebt sich das Licht, und die Schatten haben ihre Zweifel.
Hielte ich mich nur am gereichten Seil fest, fiele ich, wann es der Seilschaft passte.
Niemals auf Gedeih und Verderb anzugehören, heißt, frei zu sein.
18. August
227.
Nicht dem ersten Eindruck angehören. Einige vermählen sich gleichsam mit dem ersten Bericht, der ihnen zu Ohren kommt, so daß alle folgenden nur noch Konkubinen werden können. Da nun aber die Lüge allezeit vorauseilt; so findet nachher die Wahrheit keinen Raum. Weder darf unsern Willen der erste Gegenstand, noch unsern Verstand der erste Bericht einnehmen: denn das ist Geisteskleinheit. Manche sind wie neue Gefäße, welche von der ersten Flüssigkeit, sie sei gut oder schlecht, den Geruch behalten. Wird diese Kleinheit des Geistes nun gar bekannt; so ist sie verderblich: denn jetzt wird sie ein Spielraum boshafter Absichtlichkeit: Schlechtgesinnte beeilen sich den Leichtgläubigen mit ihrer Farbe zu erfüllen. Immer soll Raum bleiben für die zweite Untersuchung. Alexander bewahrte stets ein Ohr für die andere Partei auf. Es bleibe Raum für den zweiten und auch für den dritten Bericht. Das leichte Annehmen des Eindrucks zeugt von geringer Fähigkeit und ist nicht fern von der Leidenschaftlichkeit.
Wie weise und wertvoll gesprochen, Freund! Auch beim zweiten Lesen. Denn, um mit dieser Bemerkung gleich ins Detail zu gehen, denn selbstverständlich lohnt's sich auch, falls es nur einen, also keinen zweiten oder dritten Bericht gibt, die Urbotschaft noch mal in Ruhe zu studieren und ihren vermeintlichen Wahrheitskern abzuklopfen. Was uns beim ersten Mal verblüfft und verzaubert, stößt nicht zuletzt beim nächsten, kritischen Lesen auf Unglauben. Und das ganz zu Recht. Manchmal reicht schon die Aufregung, endlich eine neue Nachricht der oder des Liebsten in der Hand zu halten, um die Message misszuverstehen. Wir wollen, noch so eine Sache, außerdem oft genug Dinge falsch auffassen. Entweder um uns zu schützen oder die anderen nicht zu verlieren. In solchen Fällen, scheint mir, ist jedoch eh schon alles verloren - man selbst und die Liebe, die sich als Liebesmüh herausstellt.
Der Wahrheit fehlen selten die Zeilen, sondern oftmals die Leserinnen und Leser.
Wer sich verhören will, braucht keine große Kunst. Beim Genauhören ist's andersherum.
Geduld mit der Lüge fällt vielen einfacher als Geduld mit der Wahrheit.
19. August
Nicht dem ersten Eindruck angehören. Einige vermählen sich gleichsam mit dem ersten Bericht, der ihnen zu Ohren kommt, so daß alle folgenden nur noch Konkubinen werden können. Da nun aber die Lüge allezeit vorauseilt; so findet nachher die Wahrheit keinen Raum. Weder darf unsern Willen der erste Gegenstand, noch unsern Verstand der erste Bericht einnehmen: denn das ist Geisteskleinheit. Manche sind wie neue Gefäße, welche von der ersten Flüssigkeit, sie sei gut oder schlecht, den Geruch behalten. Wird diese Kleinheit des Geistes nun gar bekannt; so ist sie verderblich: denn jetzt wird sie ein Spielraum boshafter Absichtlichkeit: Schlechtgesinnte beeilen sich den Leichtgläubigen mit ihrer Farbe zu erfüllen. Immer soll Raum bleiben für die zweite Untersuchung. Alexander bewahrte stets ein Ohr für die andere Partei auf. Es bleibe Raum für den zweiten und auch für den dritten Bericht. Das leichte Annehmen des Eindrucks zeugt von geringer Fähigkeit und ist nicht fern von der Leidenschaftlichkeit.
Wie weise und wertvoll gesprochen, Freund! Auch beim zweiten Lesen. Denn, um mit dieser Bemerkung gleich ins Detail zu gehen, denn selbstverständlich lohnt's sich auch, falls es nur einen, also keinen zweiten oder dritten Bericht gibt, die Urbotschaft noch mal in Ruhe zu studieren und ihren vermeintlichen Wahrheitskern abzuklopfen. Was uns beim ersten Mal verblüfft und verzaubert, stößt nicht zuletzt beim nächsten, kritischen Lesen auf Unglauben. Und das ganz zu Recht. Manchmal reicht schon die Aufregung, endlich eine neue Nachricht der oder des Liebsten in der Hand zu halten, um die Message misszuverstehen. Wir wollen, noch so eine Sache, außerdem oft genug Dinge falsch auffassen. Entweder um uns zu schützen oder die anderen nicht zu verlieren. In solchen Fällen, scheint mir, ist jedoch eh schon alles verloren - man selbst und die Liebe, die sich als Liebesmüh herausstellt.
Der Wahrheit fehlen selten die Zeilen, sondern oftmals die Leserinnen und Leser.
Wer sich verhören will, braucht keine große Kunst. Beim Genauhören ist's andersherum.
Geduld mit der Lüge fällt vielen einfacher als Geduld mit der Wahrheit.
19. August
228.
Kein Lästermaul seyn: noch weniger dafür gelten: denn das heißt, den Ruf eines Rufverderbers haben. Man sei nicht witzig auf fremde Kosten, welches weniger schwer, als verhaßt ist. Alle rächen sich an einem solchen dadurch, daß auch sie schlecht von ihm reden: da nun aber ihrer Viele sind und er allein; so wird er eher überwunden, als sie überführt seyn. Das Schlechte soll nie unsre Freude und daher nicht unser Thema seyn. Der Verläumder bleibt ewig verhaßt: und sollte auch dann und wann ein Großer mit ihm reden; so wird es mehr geschehen, weil ihm sein Spott Spaaß macht, als weil er seine Klugheit schätzte. Auch wird, wer Schlechtes spricht, stets noch Schlechteres hören müssen.
Verbalinjurien, Freund, schaukeln sich gegenseitig hoch. Es ist wie mit einer Schleuse, hinter der viel Wasser schläft. Macht man die Schotten ein kleines bisschen auf, drückt die Flüssigkeit, bis sie die Tore komplett gesprengt hat. Mir scheint, dass wir die Moral nur einmal verletzen müssen, und die Wunde dürfte uns, sind wir aus gutem Holz geschnitzt, auf immerdar schmerzen. Anders sieht's mit den notorischen Lügnerinnen und Lügnern aus: sie stört eine Unwahrheit nicht, die dreiste Falschaussage ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein, der umstandslos verdunstet.
Jede Kolportage, die wir in die Welt setzen, kommt zu uns zurück - und niemals mit friedlichen Absichten.
Was wir lieben, liebt uns, leider, nicht immer zurück. Anders steht's um den Hass: wen wir verabscheuen, der abhorriert, mit letzter Sicherheit, auch uns.
Nun, Freund, wie von Ihnen erwartet, ein obligatorisches Scheltwort zum Hofschranzentum. Nein, Ihre geliebten Großen haben kein besonderes Vorrecht, sich vergnügt Verleumdungen anheimzugeben. Wer andere schmutzig lästern lässt, ist halt selbst ein dreckiges Lästermaul.
20. August
Kein Lästermaul seyn: noch weniger dafür gelten: denn das heißt, den Ruf eines Rufverderbers haben. Man sei nicht witzig auf fremde Kosten, welches weniger schwer, als verhaßt ist. Alle rächen sich an einem solchen dadurch, daß auch sie schlecht von ihm reden: da nun aber ihrer Viele sind und er allein; so wird er eher überwunden, als sie überführt seyn. Das Schlechte soll nie unsre Freude und daher nicht unser Thema seyn. Der Verläumder bleibt ewig verhaßt: und sollte auch dann und wann ein Großer mit ihm reden; so wird es mehr geschehen, weil ihm sein Spott Spaaß macht, als weil er seine Klugheit schätzte. Auch wird, wer Schlechtes spricht, stets noch Schlechteres hören müssen.
Verbalinjurien, Freund, schaukeln sich gegenseitig hoch. Es ist wie mit einer Schleuse, hinter der viel Wasser schläft. Macht man die Schotten ein kleines bisschen auf, drückt die Flüssigkeit, bis sie die Tore komplett gesprengt hat. Mir scheint, dass wir die Moral nur einmal verletzen müssen, und die Wunde dürfte uns, sind wir aus gutem Holz geschnitzt, auf immerdar schmerzen. Anders sieht's mit den notorischen Lügnerinnen und Lügnern aus: sie stört eine Unwahrheit nicht, die dreiste Falschaussage ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein, der umstandslos verdunstet.
Jede Kolportage, die wir in die Welt setzen, kommt zu uns zurück - und niemals mit friedlichen Absichten.
Was wir lieben, liebt uns, leider, nicht immer zurück. Anders steht's um den Hass: wen wir verabscheuen, der abhorriert, mit letzter Sicherheit, auch uns.
Nun, Freund, wie von Ihnen erwartet, ein obligatorisches Scheltwort zum Hofschranzentum. Nein, Ihre geliebten Großen haben kein besonderes Vorrecht, sich vergnügt Verleumdungen anheimzugeben. Wer andere schmutzig lästern lässt, ist halt selbst ein dreckiges Lästermaul.
20. August
229.
Sein Leben verständig einzutheilen verstehn; nicht wie es die Gelegenheit bringt, sondern mit Vorhersicht und Auswahl. Ohne Erholungen ist es mühselig, wie eine lange Reise ohne Gasthöfe: mannigfaltige Kenntnisse machen es genußreich. Die erste Tagereise des schönen Lebens verwende man zur Unterhaltung mit den Todten: wir leben, um zu erkennen und um uns selbst zu erkennen; also machen wahrhafte Bücher uns zu Menschen. Die zweite Tagereise bringe man mit den Lebenden zu, indem man alles Gute auf der Welt sieht und anmerkt: in Einem Lande ist nicht Alles zu finden: der Vater der Welt hat seine Gaben vertheilt, und bisweilen grade die Häßliche am reichsten ausgestattet. Die dritte Tagereise hindurch gehöre man ganz sich selber an: das letzte Glück ist zu philosophiren.
Eine schöne, treue Reise, die Sie, Freund, mir da antragen, und ich folgte Ihnen gerne, ließe man mich. Ja, wir sind unseres Glückes Schmied, schon wahr, aber andere legen uns Hindernisse in den Weg, die uns unnötig verweilen lassen, so dass wir die zweite oder dritte Tagesreise kaum antreten können.
Wer ohne Privilegien lebt, müht sich nicht selten genug umsonst ab.
Was andere auch zu schlemmen haben, stillt noch lange nicht den eigenen Hunger.
Kein Gasthof sei wie der nächste, keine Reiseunterbrechung gleich gelungen. Und dass, heißt's nicht so?, der Weg die wahre Exkursion sei, macht die Frage des Proviants und der Zwischenstopps kaum einfacher.
Sich treu zu bleiben, gelingt einigen nur in Bewegung, anderen aber allein im Ruhezustand. Was besser ist, lässt sich nicht per se entscheiden.
Zufriedenheit sei keine Frage des Alters, sondern des Erfolgs.
22. August
Sein Leben verständig einzutheilen verstehn; nicht wie es die Gelegenheit bringt, sondern mit Vorhersicht und Auswahl. Ohne Erholungen ist es mühselig, wie eine lange Reise ohne Gasthöfe: mannigfaltige Kenntnisse machen es genußreich. Die erste Tagereise des schönen Lebens verwende man zur Unterhaltung mit den Todten: wir leben, um zu erkennen und um uns selbst zu erkennen; also machen wahrhafte Bücher uns zu Menschen. Die zweite Tagereise bringe man mit den Lebenden zu, indem man alles Gute auf der Welt sieht und anmerkt: in Einem Lande ist nicht Alles zu finden: der Vater der Welt hat seine Gaben vertheilt, und bisweilen grade die Häßliche am reichsten ausgestattet. Die dritte Tagereise hindurch gehöre man ganz sich selber an: das letzte Glück ist zu philosophiren.
Eine schöne, treue Reise, die Sie, Freund, mir da antragen, und ich folgte Ihnen gerne, ließe man mich. Ja, wir sind unseres Glückes Schmied, schon wahr, aber andere legen uns Hindernisse in den Weg, die uns unnötig verweilen lassen, so dass wir die zweite oder dritte Tagesreise kaum antreten können.
Wer ohne Privilegien lebt, müht sich nicht selten genug umsonst ab.
Was andere auch zu schlemmen haben, stillt noch lange nicht den eigenen Hunger.
Kein Gasthof sei wie der nächste, keine Reiseunterbrechung gleich gelungen. Und dass, heißt's nicht so?, der Weg die wahre Exkursion sei, macht die Frage des Proviants und der Zwischenstopps kaum einfacher.
Sich treu zu bleiben, gelingt einigen nur in Bewegung, anderen aber allein im Ruhezustand. Was besser ist, lässt sich nicht per se entscheiden.
Zufriedenheit sei keine Frage des Alters, sondern des Erfolgs.
22. August
230.
Die Augen bei Zeiten öffnen. Nicht Alle, welche sehn, haben die Augen offen; und nicht Alle, welche um sich blicken, sehn. Zu spät hinter die Sachen kommen, dient nicht zur Abhülfe, wohl aber zur Betrübniß. Einige fangen erst an zu sehn, wann nichts mehr zu sehn da ist, indem sie Haus und Hof zu Grunde richteten, ehe sie selbst zu Menschen wurden. Es ist schwer, dem Verstand beizubringen, der keinen Willen hat, und noch schwerer dem Willen, der keinen Verstand. Die sie umgeben, spielen mit ihnen, wie mit Blinden, zum Gelächter der Uebrigen: und weil sie taub zum Hören sind, öffnen sie auch nicht die Augen zum Sehn. Auch fehlt es nicht an solchen, welche jenen Sinnenschlummer unterhalten, weil ihre Existenz darauf beruht, daß jene nicht seien. Unglückliches Pferd, dessen Herr keine Augen hat! es wird schwerlich fett werden.
Zunächt, Freund, eine Entschuldigung für mein Schweigen, das nicht ausversehen kam, sondern sich anbot, da ich in anderen Texten und Kontexten Aufenthalt genommen hatte. Eine Abstinenz ist keine unnütze Zeit, sondern, oft genug, eine Erfrischungskur, ein Bad in der zufälligen Menge. Ob ich mich erholt habe? Ja und nein. Weil Sommer ist, lohnt sich der Weg zum See, ein schöneres Gefühl als abzutauchen, nichts als Element zu sein, der Glieder viere von sich zu strecken, gibt's wohl kaum. Einerseits. Andererseits hat das Sich-Blindstellen, obwohl doch Ihre Briefe meiner harren, etwas unheimliches, etwas gewissenloses. Sie haben mich im Griff, selbst wenn ich mich aus Ihrem Schraubstock für einige Tage versuchtsweise löse.
Ein Satz zum Nichtsehen, sei noch angebracht. Das Blindwütige, Freund, verdient wohl die Erwähnung, ist es doch ein Zwitterzustand, der sich zwar allen Argumenten verschließt, aber, ich beobachte es an den Brexit-Johnsons und Trumpeteers sehr genau, Erfolge einfährt, die sich nicht logisch begründen lassen. Was in meinem politschen Bewusstsein die Antilogik heftig klopfen lässt. Die tumben Hasser und Hasserinnen entzünden Meuchelfantasien in mir, für die ich mich schäme, mache ich die Augen weit auf. Blinzele ich dagegen nur, kann ich mir vorstellen, noch heute in den Widerstand zu gehen.
Wer alles sieht, sieht nichts. Aber wer nichts sieht, sieht deswegen noch lange nicht alles.
Einen Teil gut verstanden zu haben, sei nicht viel schlechter als, vielleicht sogar besser, als ein durchschnittliches Allzweckwissen.
29. August
Die Augen bei Zeiten öffnen. Nicht Alle, welche sehn, haben die Augen offen; und nicht Alle, welche um sich blicken, sehn. Zu spät hinter die Sachen kommen, dient nicht zur Abhülfe, wohl aber zur Betrübniß. Einige fangen erst an zu sehn, wann nichts mehr zu sehn da ist, indem sie Haus und Hof zu Grunde richteten, ehe sie selbst zu Menschen wurden. Es ist schwer, dem Verstand beizubringen, der keinen Willen hat, und noch schwerer dem Willen, der keinen Verstand. Die sie umgeben, spielen mit ihnen, wie mit Blinden, zum Gelächter der Uebrigen: und weil sie taub zum Hören sind, öffnen sie auch nicht die Augen zum Sehn. Auch fehlt es nicht an solchen, welche jenen Sinnenschlummer unterhalten, weil ihre Existenz darauf beruht, daß jene nicht seien. Unglückliches Pferd, dessen Herr keine Augen hat! es wird schwerlich fett werden.
Zunächt, Freund, eine Entschuldigung für mein Schweigen, das nicht ausversehen kam, sondern sich anbot, da ich in anderen Texten und Kontexten Aufenthalt genommen hatte. Eine Abstinenz ist keine unnütze Zeit, sondern, oft genug, eine Erfrischungskur, ein Bad in der zufälligen Menge. Ob ich mich erholt habe? Ja und nein. Weil Sommer ist, lohnt sich der Weg zum See, ein schöneres Gefühl als abzutauchen, nichts als Element zu sein, der Glieder viere von sich zu strecken, gibt's wohl kaum. Einerseits. Andererseits hat das Sich-Blindstellen, obwohl doch Ihre Briefe meiner harren, etwas unheimliches, etwas gewissenloses. Sie haben mich im Griff, selbst wenn ich mich aus Ihrem Schraubstock für einige Tage versuchtsweise löse.
Ein Satz zum Nichtsehen, sei noch angebracht. Das Blindwütige, Freund, verdient wohl die Erwähnung, ist es doch ein Zwitterzustand, der sich zwar allen Argumenten verschließt, aber, ich beobachte es an den Brexit-Johnsons und Trumpeteers sehr genau, Erfolge einfährt, die sich nicht logisch begründen lassen. Was in meinem politschen Bewusstsein die Antilogik heftig klopfen lässt. Die tumben Hasser und Hasserinnen entzünden Meuchelfantasien in mir, für die ich mich schäme, mache ich die Augen weit auf. Blinzele ich dagegen nur, kann ich mir vorstellen, noch heute in den Widerstand zu gehen.
Wer alles sieht, sieht nichts. Aber wer nichts sieht, sieht deswegen noch lange nicht alles.
Einen Teil gut verstanden zu haben, sei nicht viel schlechter als, vielleicht sogar besser, als ein durchschnittliches Allzweckwissen.
29. August
231.
Nie seine Sachen sehen lassen, wann sie erst halb fertig sind: in ihrer Vollendung wollen sie genossen seyn. Alle Anfänge sind ungestalt und nachmals bleibt diese Mißgestalt in der Einbildungskraft zurück. Die Erinnerung, etwas im Zustande der Unvollkommenheit gesehn zu haben, verdirbt dessen Genuß, wann es vollendet ist. Einen großen Gegenstand mit Einem Male zu genießen, verwirrt zwar das Urtheil über die einzelnen Theile, ist aber doch allein dem Geschmack angemessen. Ehe eine Sache Alles ist, ist sie nichts: und indem sie zu seyn anfängt, steckt sie noch tief in jenem ihren Nichts. Die köstlichste Speise zubereiten zu sehn, erregt mehr Ekel als Appetit. Deshalb verhüte jeder große Meister, daß man seine Werke im Embryonenzustande sehe: von der Natur selbst nehme er die Lehre an, sie nicht eher ans Licht zu bringen, als bis sie sich sehen lassen können.
Den Geniekult, Freund, haben wir nach der Romantik beerdigt, ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts, spätestens mit der Entstehung des Kapitals. Das aber nur am Rande. Was krude an Ihrer Niemand-sieht-mein-Manuskript-Idee ist, dass wir alle Resonanz brauchen, vor der Veröffentlichung, um unsere Fehler zu minimieren. Niemand sei ohne Tadel, keine und keiner trifft auf Anhieb den richtigen Ton. Wer das für sich in Anspruch nimmt, ist dem Ego-Irrsinn verfallen und wird von den falschen Freundinnen und Freunden begleitet.
Ohne Kritik und Korrektur kein Werk, das trägt.
Wer sich selbst über andere stellt, fällt tief.
1. September
Nie seine Sachen sehen lassen, wann sie erst halb fertig sind: in ihrer Vollendung wollen sie genossen seyn. Alle Anfänge sind ungestalt und nachmals bleibt diese Mißgestalt in der Einbildungskraft zurück. Die Erinnerung, etwas im Zustande der Unvollkommenheit gesehn zu haben, verdirbt dessen Genuß, wann es vollendet ist. Einen großen Gegenstand mit Einem Male zu genießen, verwirrt zwar das Urtheil über die einzelnen Theile, ist aber doch allein dem Geschmack angemessen. Ehe eine Sache Alles ist, ist sie nichts: und indem sie zu seyn anfängt, steckt sie noch tief in jenem ihren Nichts. Die köstlichste Speise zubereiten zu sehn, erregt mehr Ekel als Appetit. Deshalb verhüte jeder große Meister, daß man seine Werke im Embryonenzustande sehe: von der Natur selbst nehme er die Lehre an, sie nicht eher ans Licht zu bringen, als bis sie sich sehen lassen können.
Den Geniekult, Freund, haben wir nach der Romantik beerdigt, ungefähr in der Mitte des 19. Jahrhunderts, spätestens mit der Entstehung des Kapitals. Das aber nur am Rande. Was krude an Ihrer Niemand-sieht-mein-Manuskript-Idee ist, dass wir alle Resonanz brauchen, vor der Veröffentlichung, um unsere Fehler zu minimieren. Niemand sei ohne Tadel, keine und keiner trifft auf Anhieb den richtigen Ton. Wer das für sich in Anspruch nimmt, ist dem Ego-Irrsinn verfallen und wird von den falschen Freundinnen und Freunden begleitet.
Ohne Kritik und Korrektur kein Werk, das trägt.
Wer sich selbst über andere stellt, fällt tief.
1. September
232.
Einen ganz kleinen kaufmännischen Anstrich haben. Nicht Alles sei Beschaulichkeit, auch Handlung muß dabei seyn. Sehr weise Leute sind meistens leicht zu betrügen: denn obgleich sie das Außerordentliche wissen; so sind sie mit dem Alltäglichen des Lebens unbekannt, welches doch notwendiger ist. Die Betrachtung erhabener Dinge läßt ihnen für die des täglichen Treibens keine Zeit. Da sie nun das Erste was sie wissen sollten und was Allen auf ein Haar bekannt ist, nicht wissen; so werden sie entweder bewundert, oder von der oberflächlichen Menge für unwissend gehalten. Daher trage der kluge Mann Sorge, etwas vom Kaufmann an sich zu haben, grade so viel als hinreicht, um nicht betrogen und sogar ausgelacht zu werden. Er sei ein Mann auch für's tägliche Thun und Treiben, welches zwar nicht das Höchste, aber doch das Notwendigste im Leben ist. Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist? und zu leben verstehn, ist heut zu Tage das wahre Wissen.
Mir scheint, Freund, dass wir alle eher am Zuviel des Kaufmännischen leiden als an einem Zuwenig. Das Merkantile frisst sich in unsere Existenzen mit einer Wumme, einer Wucht und Wut, die ihresgleichen sucht. Von klein auf trimmt man uns, bloß dem goldenen Kapitalimuskalb zu huldigen, alles an einen Wertzuwachs zu setzen, zu scheffeln, bis wir kalt und steif in der Erde liegen. Sie haben also, ums kurz zu machen, Unrecht mit Ihrer Mahnung. Die Lebenstauglichkeit darf, soll, ja: muss andere Züge als die des Geldes tragen. Und wenn jene oder dieser keinerlei wirtschaftliche Tauglichkeit zeigen, sei das ein Grund zum Jubilieren. Was wiederum nicht heißt, dass wir die Sachbezogenheit und den Pragmatismus nicht pflegen und hegen müssen. Allerdings: eine Rangordnung, wie Sie Ihnen, die Sie Hierarchien überall und jederzeit anpreisen, vorschwebt, ist machtversessener Mummenschanz, egal in welche Richtung man auch guckt.
Im Machen wie im Denken, im Träumen wie im Wachsein zeigt sich das Glück. Wer nur Nachts träumt, lebt beengt.
Und wer andere betrügt, betrügt sich in Wahrheit selbst.
3. September
Einen ganz kleinen kaufmännischen Anstrich haben. Nicht Alles sei Beschaulichkeit, auch Handlung muß dabei seyn. Sehr weise Leute sind meistens leicht zu betrügen: denn obgleich sie das Außerordentliche wissen; so sind sie mit dem Alltäglichen des Lebens unbekannt, welches doch notwendiger ist. Die Betrachtung erhabener Dinge läßt ihnen für die des täglichen Treibens keine Zeit. Da sie nun das Erste was sie wissen sollten und was Allen auf ein Haar bekannt ist, nicht wissen; so werden sie entweder bewundert, oder von der oberflächlichen Menge für unwissend gehalten. Daher trage der kluge Mann Sorge, etwas vom Kaufmann an sich zu haben, grade so viel als hinreicht, um nicht betrogen und sogar ausgelacht zu werden. Er sei ein Mann auch für's tägliche Thun und Treiben, welches zwar nicht das Höchste, aber doch das Notwendigste im Leben ist. Wozu dient das Wissen, wenn es nicht praktisch ist? und zu leben verstehn, ist heut zu Tage das wahre Wissen.
Mir scheint, Freund, dass wir alle eher am Zuviel des Kaufmännischen leiden als an einem Zuwenig. Das Merkantile frisst sich in unsere Existenzen mit einer Wumme, einer Wucht und Wut, die ihresgleichen sucht. Von klein auf trimmt man uns, bloß dem goldenen Kapitalimuskalb zu huldigen, alles an einen Wertzuwachs zu setzen, zu scheffeln, bis wir kalt und steif in der Erde liegen. Sie haben also, ums kurz zu machen, Unrecht mit Ihrer Mahnung. Die Lebenstauglichkeit darf, soll, ja: muss andere Züge als die des Geldes tragen. Und wenn jene oder dieser keinerlei wirtschaftliche Tauglichkeit zeigen, sei das ein Grund zum Jubilieren. Was wiederum nicht heißt, dass wir die Sachbezogenheit und den Pragmatismus nicht pflegen und hegen müssen. Allerdings: eine Rangordnung, wie Sie Ihnen, die Sie Hierarchien überall und jederzeit anpreisen, vorschwebt, ist machtversessener Mummenschanz, egal in welche Richtung man auch guckt.
Im Machen wie im Denken, im Träumen wie im Wachsein zeigt sich das Glück. Wer nur Nachts träumt, lebt beengt.
Und wer andere betrügt, betrügt sich in Wahrheit selbst.
3. September
233.
Den fremden Geschmack nicht verfehlen: sonst macht man ihm, statt eines Vergnügens, einen Verdruß. Einige erregen, indem sie eine Verbindlichkeit erzeigen wollen, Mißfallen, weil sie die verschiedenen Sinnesarten nicht begreifen. Manches ist dem Einen eine Schmeichelei, dem Andern eine Kränkung; und Manches was eine Artigkeit seyn sollte, war eine Beleidigung. Oft hat es mehr gekostet, Jemandem Mißvergnügen zu bereiten, als es gekostet haben würde, ihm Vergnügen zu machen: man verliert alsdann den Dank und das Geschenk, weil man den Leitstern zum fremden Wohlgefallen verloren hatte. Wer den Sinn des Andern nicht kennt, wird ihn schwerlich befriedigen. Daher auch kam es, daß Mancher ein Lob zu äußern vermeinte und einen Tadel aussprach, zu seiner wohlverdienten Strafe. Andre wieder glauben durch ihre Beredsamkeit zu unterhalten, und martern den Geist durch ihre Geschwätzigkeit.
Vielleicht, Freund, ließe sich dieser wurmstichige Teil des Lebenbaums, den Sie uns so treffend um die Ohren pfeffern, als "Menschen machen Fehler" zusammenfassen. Gerne wüsste ich, ob Sie sich selbst als perfekt bezeichnen würden; leider schweigen Sie stumm und stoisch darüber. Ansonsten haben Sie, natürlich, recht: Geschenke passen so gut wie nie, Höflichkeiten kommen als Beleidigungen rüber, Komplimente als Denunziation. Und wissen Sie, was ich besonders seltsam finde? Wir wiederholen immer wieder die selben Fehler. Als hätten wir nichts gelernt. Erst vorgestern waren wir bei Freunden eingeladen, und meine Partnerin hat mich gefragt, ob sie etwas vom köstlichen Artisan-Marzipan aus meiner Heimatstadt einpacken soll, als kleines Mitbringsel. Ich habe zwar einerseits sofort ja gesagt, andererseits davor gewarnt, da unsere großzügigen und herzlichen Freunde - ein verheiratetes Paar -, sagen wir, geht's um sie selbst, gut beim Aus-, aber schlecht beim Teilen sind. Ich malte mir aus, wie er in die Tüte gucken würde, sie ihn zurechtwiese - oder vice versa. Leider ist's genauso gekommen, und aus dem Geschenk wurde eine Machtprobe, vor unseren Augen ausgetragen.
Gaben, die genau passen, sollten flexibel sein.
Wer gibt und gerecht aufteilt, minimiert den möglichen Streit.
Das Nehmen fordert mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie das Geben.
Was uns nicht schmeckt, ist deswegen noch lange nicht geschmacklos.
Andere zu lieben, heißt, mehr zu akzeptieren, als einem lieb ist.
4. September
Den fremden Geschmack nicht verfehlen: sonst macht man ihm, statt eines Vergnügens, einen Verdruß. Einige erregen, indem sie eine Verbindlichkeit erzeigen wollen, Mißfallen, weil sie die verschiedenen Sinnesarten nicht begreifen. Manches ist dem Einen eine Schmeichelei, dem Andern eine Kränkung; und Manches was eine Artigkeit seyn sollte, war eine Beleidigung. Oft hat es mehr gekostet, Jemandem Mißvergnügen zu bereiten, als es gekostet haben würde, ihm Vergnügen zu machen: man verliert alsdann den Dank und das Geschenk, weil man den Leitstern zum fremden Wohlgefallen verloren hatte. Wer den Sinn des Andern nicht kennt, wird ihn schwerlich befriedigen. Daher auch kam es, daß Mancher ein Lob zu äußern vermeinte und einen Tadel aussprach, zu seiner wohlverdienten Strafe. Andre wieder glauben durch ihre Beredsamkeit zu unterhalten, und martern den Geist durch ihre Geschwätzigkeit.
Vielleicht, Freund, ließe sich dieser wurmstichige Teil des Lebenbaums, den Sie uns so treffend um die Ohren pfeffern, als "Menschen machen Fehler" zusammenfassen. Gerne wüsste ich, ob Sie sich selbst als perfekt bezeichnen würden; leider schweigen Sie stumm und stoisch darüber. Ansonsten haben Sie, natürlich, recht: Geschenke passen so gut wie nie, Höflichkeiten kommen als Beleidigungen rüber, Komplimente als Denunziation. Und wissen Sie, was ich besonders seltsam finde? Wir wiederholen immer wieder die selben Fehler. Als hätten wir nichts gelernt. Erst vorgestern waren wir bei Freunden eingeladen, und meine Partnerin hat mich gefragt, ob sie etwas vom köstlichen Artisan-Marzipan aus meiner Heimatstadt einpacken soll, als kleines Mitbringsel. Ich habe zwar einerseits sofort ja gesagt, andererseits davor gewarnt, da unsere großzügigen und herzlichen Freunde - ein verheiratetes Paar -, sagen wir, geht's um sie selbst, gut beim Aus-, aber schlecht beim Teilen sind. Ich malte mir aus, wie er in die Tüte gucken würde, sie ihn zurechtwiese - oder vice versa. Leider ist's genauso gekommen, und aus dem Geschenk wurde eine Machtprobe, vor unseren Augen ausgetragen.
Gaben, die genau passen, sollten flexibel sein.
Wer gibt und gerecht aufteilt, minimiert den möglichen Streit.
Das Nehmen fordert mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie das Geben.
Was uns nicht schmeckt, ist deswegen noch lange nicht geschmacklos.
Andere zu lieben, heißt, mehr zu akzeptieren, als einem lieb ist.
4. September
234.
Nie die Ehre Jemandem in die Hände geben, ohne die seinige zum Unterpfand zu haben. Man muß so gehn, daß der beiderseitige Vortheil im Schweigen, der Schaden in der Mittheilung liege. Wo die Ehre im Spiel ist, muß stets der Handel ganz gemeinschaftlich seyn, so daß Jeder von Beiden für die Ehre des Andern, seiner eigenen Ehre wegen, Sorge tragen muß. Nie soll man die Ehre dem Andern anvertrauen: geschieht es dennoch ein Mal; so sei es so künstlich angelegt, daß hier wirklich die Klugheit der Vorsicht weichen konnte. Die Gefahr sei gemeinsam und der Fall gegenseitig, damit nicht etwa der zu einem Zeugen werde, der sich bewußt ist Theilhaber zu seyn.
Um ehrlich zu sein, Freund, ich habe eigentlich keine Ahnung, wovon Sie sprechen, wenn Sie das Wort "Ehre" in den Mund nehmen. Es ist ein haltloser, leerer Begriff für mich, der sich zu sehr nach dem Tageswind dreht, falsche Bücklinge vollführt, komischen Konventionen treu ist, in einer Dikatur Ausflüchte sucht und findet. Im Großen und Ganzen also eine schamlose Luftnummer darstellt. Mag sein, dass Ihnen die Ehre Freude gemacht hat, mir ist sie, unter den beschriebenen Voraussetzungen, eine Dummheit und Last.
Stete Ehrlichkeit steht weiter über jeder laut verkündeten, ephemeren Ehre.
Wer auf seine Ehre pocht, sucht in neun von zehn Fällen Streit, im anderen Fall den Notausgang.
Wenige Sprüche sind so hinterlistig wie "Ehre, wem Ehre gebührt".
Die falsche Ehre liegt am Ende tot auf echten Schlachtfeldern.
5. September
Nie die Ehre Jemandem in die Hände geben, ohne die seinige zum Unterpfand zu haben. Man muß so gehn, daß der beiderseitige Vortheil im Schweigen, der Schaden in der Mittheilung liege. Wo die Ehre im Spiel ist, muß stets der Handel ganz gemeinschaftlich seyn, so daß Jeder von Beiden für die Ehre des Andern, seiner eigenen Ehre wegen, Sorge tragen muß. Nie soll man die Ehre dem Andern anvertrauen: geschieht es dennoch ein Mal; so sei es so künstlich angelegt, daß hier wirklich die Klugheit der Vorsicht weichen konnte. Die Gefahr sei gemeinsam und der Fall gegenseitig, damit nicht etwa der zu einem Zeugen werde, der sich bewußt ist Theilhaber zu seyn.
Um ehrlich zu sein, Freund, ich habe eigentlich keine Ahnung, wovon Sie sprechen, wenn Sie das Wort "Ehre" in den Mund nehmen. Es ist ein haltloser, leerer Begriff für mich, der sich zu sehr nach dem Tageswind dreht, falsche Bücklinge vollführt, komischen Konventionen treu ist, in einer Dikatur Ausflüchte sucht und findet. Im Großen und Ganzen also eine schamlose Luftnummer darstellt. Mag sein, dass Ihnen die Ehre Freude gemacht hat, mir ist sie, unter den beschriebenen Voraussetzungen, eine Dummheit und Last.
Stete Ehrlichkeit steht weiter über jeder laut verkündeten, ephemeren Ehre.
Wer auf seine Ehre pocht, sucht in neun von zehn Fällen Streit, im anderen Fall den Notausgang.
Wenige Sprüche sind so hinterlistig wie "Ehre, wem Ehre gebührt".
Die falsche Ehre liegt am Ende tot auf echten Schlachtfeldern.
5. September
235.
Zu bitten verstehn. Bei Einigen ist nichts schwerer, bei Andern nichts leichter. Denn es giebt Leute, die nichts abzuschlagen im Stande sind: bei solchen ist kein Dietrich vonnöthen. Allein es giebt Andre, deren erstes Wort, zu allen Stunden, Nein ist: bei diesen bedarf es der Geschicklichkeit, bei Allen aber der gelegenen Zeit. Man überrasche sie bei fröhlicher Laune, wann die vorhergegangene Mahlzeit des Leibes oder des Geistes sie aufgeheitert hat; nur daß nicht etwa schon ihre kluge Vorhersicht der Schlauheit des Versuchenden zuvorgekommen sei. Die Tage der Freude sind die der Gunst, da jene aus dem Innern ins Aeußere überströhmt. Man trete nicht heran, wann man eben einen Andern abgewiesen sah: denn nun ist die Scheu vor dem Nein schon abgeworfen. Nach traurigen Ereignissen ist keine gute Gelegenheit. Den Andern zum voraus verbinden, ist ein Austausch, wo man es nicht mit gemeinen Seelen zu thun hat.
Was mir, Freund, in den Sinn kommt, wenn ich Ihnen zuhöre, der Sie sehr wohl auf unser eigenes, privates Wohl und Wehe rekurrieren, ist die Erweiterung der Bitte, die wir nicht für uns, sondern für andere äußern - also die Fürbitte. Und hier interessiert mich, was Ihnen nicht schmecken dürfte, da Sie sich gerne vorm Einem, vorm Hochwohlgeborenen verbeugen, hier interessiert mich, was wir als Gesellschaft für andere tun und lassen sollten, aber noch nicht angefangen haben. Mich bewegt also der demokratische Prozess des sachlichen und emotionalen Fürbittens, der meinetwegen auch die Gesetzeslage ändern soll, zum Besseren, zur Teilhabe. Ihre Bitten, die Sie so gerissen beschreiben, sind arbiträre Akte, die am Schlecht- und Gutdünken der Gewährenden hängen, also am seidenen Faden der Laune und Machtgelüste der Nicht-Gewählten. Das, ganz ehrlich, widert mich an. Wer etwas verdient, soll's bekommen. Die Bitte, von der ich rede, ist eine diskursive, hat mit dem Umlenken, dem Umdenken zu tun. Ihre Gebrauchsanleitung, machen wir uns nichts vor, dient eher dem Betteln als dem Bitten.
Jede Bitte, die auf Willkür trifft, ist ein Akt der Angst, den wir unter allen Umständen vermeiden sollten. Zwingt man uns als solch eine Bittstellerin, solch ein Bittsteller aufzutreten, sollten wir schnellstmöglich den Spieß umdrehen und eine Revolution anzetteln.
Ein Danke wiegt mehr als eine Bitte.
11. September
Zu bitten verstehn. Bei Einigen ist nichts schwerer, bei Andern nichts leichter. Denn es giebt Leute, die nichts abzuschlagen im Stande sind: bei solchen ist kein Dietrich vonnöthen. Allein es giebt Andre, deren erstes Wort, zu allen Stunden, Nein ist: bei diesen bedarf es der Geschicklichkeit, bei Allen aber der gelegenen Zeit. Man überrasche sie bei fröhlicher Laune, wann die vorhergegangene Mahlzeit des Leibes oder des Geistes sie aufgeheitert hat; nur daß nicht etwa schon ihre kluge Vorhersicht der Schlauheit des Versuchenden zuvorgekommen sei. Die Tage der Freude sind die der Gunst, da jene aus dem Innern ins Aeußere überströhmt. Man trete nicht heran, wann man eben einen Andern abgewiesen sah: denn nun ist die Scheu vor dem Nein schon abgeworfen. Nach traurigen Ereignissen ist keine gute Gelegenheit. Den Andern zum voraus verbinden, ist ein Austausch, wo man es nicht mit gemeinen Seelen zu thun hat.
Was mir, Freund, in den Sinn kommt, wenn ich Ihnen zuhöre, der Sie sehr wohl auf unser eigenes, privates Wohl und Wehe rekurrieren, ist die Erweiterung der Bitte, die wir nicht für uns, sondern für andere äußern - also die Fürbitte. Und hier interessiert mich, was Ihnen nicht schmecken dürfte, da Sie sich gerne vorm Einem, vorm Hochwohlgeborenen verbeugen, hier interessiert mich, was wir als Gesellschaft für andere tun und lassen sollten, aber noch nicht angefangen haben. Mich bewegt also der demokratische Prozess des sachlichen und emotionalen Fürbittens, der meinetwegen auch die Gesetzeslage ändern soll, zum Besseren, zur Teilhabe. Ihre Bitten, die Sie so gerissen beschreiben, sind arbiträre Akte, die am Schlecht- und Gutdünken der Gewährenden hängen, also am seidenen Faden der Laune und Machtgelüste der Nicht-Gewählten. Das, ganz ehrlich, widert mich an. Wer etwas verdient, soll's bekommen. Die Bitte, von der ich rede, ist eine diskursive, hat mit dem Umlenken, dem Umdenken zu tun. Ihre Gebrauchsanleitung, machen wir uns nichts vor, dient eher dem Betteln als dem Bitten.
Jede Bitte, die auf Willkür trifft, ist ein Akt der Angst, den wir unter allen Umständen vermeiden sollten. Zwingt man uns als solch eine Bittstellerin, solch ein Bittsteller aufzutreten, sollten wir schnellstmöglich den Spieß umdrehen und eine Revolution anzetteln.
Ein Danke wiegt mehr als eine Bitte.
11. September
236.
Eine vorhergängige Verpflichtung aus dem machen, was nachher Lohn gewesen wäre. Dies ist eine Geschicklichkeit sehr kluger Köpfe: die Gunst, vor dem Verdienst erzeigt, beweist einen Mann, der Gefühl für Verpflichtungen hat. Die so zum voraus erwiesene Gunst hat zwei große Vorzüge: die Schnelligkeit des Gebers verpflichtet den Empfänger um so stärker: und dieselbe Gabe, welche nachmals Schuldigkeit wäre, wird, zum voraus ertheilt, zur Verbindlichkeit des Andern. Dies ist eine sehr feine Weise, die Verpflichtungen zu vertauschen, indem die des Erstern zum Belohnen, jetzt sich in die des Verbundenen zum Leisten verwandelt. Jedoch ist dies nur zu verstehn von Leuten, welche Gefühl für Verpflichtungen haben: denn für niedrige Gemüther würde der zum voraus ertheilte Ehrensold mehr ein Zaum, als ein Sporn seyn.
Wie gewitzt Sie sind, Freund, beim - wie soll ich's nennen? - halbehrlichen Manipulieren. Die Gabe, wie Sie von Ihnen definiert wird, ist nämlich in Wahrheit weder wohltätig noch altruistisch, sondern eine verbrämte Verpflichtung, gar nur eine banale Vorab-Bezahlung. Gewiss, ein utilitaristischer Ratschlag, den Sie hier erteilen, für allerlei Gelegenheiten anzuwenden. Allerdings, bin ich ehrlich, eher bauernschlau, eher gerissen, als angenehm. Ihnen ist wohl bewusst, dass solwohl die Gebenden als auch die Nehmenden um die Falschheit solcher Zuwendungen wissen. Machen wir uns lieber nichts vor: solche Deals gehören auf den amoralischen Rummelplatz, nicht aufs humanistische Katheder.
Wer gibt, um zu nehmen, hat weder Benimm noch Tugend.
Die Begabung zum Guten liegt in, das Schlechte auf uns.
Rechnungen aufzumachen, ist einfacher, als sie zu bezahlen.
Von Tugend zu reden, aber das Konto zu meinen, sei das Grundübel des Kapitalismus.
Zu konsumieren ist keine Gabe, sondern eine Last.
Liebe, die nur nimmt, endet als Einsamkeit.
13. September
Eine vorhergängige Verpflichtung aus dem machen, was nachher Lohn gewesen wäre. Dies ist eine Geschicklichkeit sehr kluger Köpfe: die Gunst, vor dem Verdienst erzeigt, beweist einen Mann, der Gefühl für Verpflichtungen hat. Die so zum voraus erwiesene Gunst hat zwei große Vorzüge: die Schnelligkeit des Gebers verpflichtet den Empfänger um so stärker: und dieselbe Gabe, welche nachmals Schuldigkeit wäre, wird, zum voraus ertheilt, zur Verbindlichkeit des Andern. Dies ist eine sehr feine Weise, die Verpflichtungen zu vertauschen, indem die des Erstern zum Belohnen, jetzt sich in die des Verbundenen zum Leisten verwandelt. Jedoch ist dies nur zu verstehn von Leuten, welche Gefühl für Verpflichtungen haben: denn für niedrige Gemüther würde der zum voraus ertheilte Ehrensold mehr ein Zaum, als ein Sporn seyn.
Wie gewitzt Sie sind, Freund, beim - wie soll ich's nennen? - halbehrlichen Manipulieren. Die Gabe, wie Sie von Ihnen definiert wird, ist nämlich in Wahrheit weder wohltätig noch altruistisch, sondern eine verbrämte Verpflichtung, gar nur eine banale Vorab-Bezahlung. Gewiss, ein utilitaristischer Ratschlag, den Sie hier erteilen, für allerlei Gelegenheiten anzuwenden. Allerdings, bin ich ehrlich, eher bauernschlau, eher gerissen, als angenehm. Ihnen ist wohl bewusst, dass solwohl die Gebenden als auch die Nehmenden um die Falschheit solcher Zuwendungen wissen. Machen wir uns lieber nichts vor: solche Deals gehören auf den amoralischen Rummelplatz, nicht aufs humanistische Katheder.
Wer gibt, um zu nehmen, hat weder Benimm noch Tugend.
Die Begabung zum Guten liegt in, das Schlechte auf uns.
Rechnungen aufzumachen, ist einfacher, als sie zu bezahlen.
Von Tugend zu reden, aber das Konto zu meinen, sei das Grundübel des Kapitalismus.
Zu konsumieren ist keine Gabe, sondern eine Last.
Liebe, die nur nimmt, endet als Einsamkeit.
13. September
237.
Nie um die Geheimnisse der Höheren wissen. Man glaubt Kirschen mit ihnen zu essen, wird aber nur die Steine erhalten. Vielen gereichte es zum Verderben, daß sie Vertraute waren: sie gleichen einem Löffel aus Brod und laufen nachher dieselbe Gefahr wie dieser. Die Mittheilung eines Geheimnisses von Seiten des Fürsten ist keine Gunst, sondern ein Drang seines Herzens. Schon Viele zerbrachen den Spiegel, weil er sie an ihre Häßlichkeit erinnerte. Wir mögen den nicht sehn, der uns hat sehn können; und der ist nicht gern gesehn, der etwas Schlechtes von uns sah. Keiner darf uns gar zu sehr verpflichtet seyn, am wenigsten ein Mächtiger, und dann noch eher durch etwas Gutes, das wir ihm erzeigt, als durch Begünstigungen dieser Art. Besonders gefährlich sind freundschaftlich anvertraute Heimlichkeiten. Wer dem Andern sein Geheimniß mittheilt, macht sich zu dessen Sklaven: einem Fürsten ist dies ein gewaltsamer Zustand, der nicht dauern kann: er wird seine verlorene Freiheit wiedererlangen wollen, und um das zu erreichen, wird er Alles mit Füßen treten, selbst Recht und Vernunft. Also Geheimnisse soll man weder hören, noch sagen.
Jeder Satz, Freund, den Sie hier als Abgesang aufs hierarchisch-diktatorisch geprägte Ins-Vertrauen-gezogen-Werden anstimmen, stimmt. Ja, wenn Willkür regiert, ernährt sich die Moralpflicht von stummen Brosamen, die, aus Versehen, vom Tisch der Mächtigen herabwehen. Fürstinnen und Fürsten - oder sagen wir lieber, um die Brücke ins Jetzt zu schlagen: Despotinnen und Despoten, Populistinnen und Populisten fürchten nun mal keinen demokratischen Echoraum. Sie müssen weder uns noch sich selbst hören, können nach Lust und Laune schreien und toben, wie's ihnen beliebt, und es beliebt ihnen, bei Bedarf, unentwegt. Hier wirkt Ihr Rat als Quintessenz: Absentia. Ganz anders, versteht sich, sieht's in ebenbürtigen Beziehungen aus oder in Strukturen, die das Auf-Augenhöhe-Sein zum wesentlichen Kern erklärt haben. Dort wird Vertrauen nicht per se missbraucht, obwohl es auch zu argen Verwerfungen und Hinterlist kommen kann. Besonders wenn die Liebe - und damit meine ich jede Art von leidenschaftlicher Loyalität - in schweres Wasser gerät und Lotsinnen und Lotsen reihenweise von Bord in die Rettungsboote springen.
Vertrauen, vielleicht lässt sich das sagen, Freund, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, Vertrauen kennt Hinterhalte, die zu übersehen wenig ratsam ist.
Jedem Jetzt-Sprechakt wohnt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft bei.
Wer von sich behauptet, keine Absichten zu haben, hat den Vorsatz, diese zu verschleiern.
Zu handeln, heißt, zu denken, also zu leben. Zu handeln, ohne zu denken, heißt, zu sterben.
14. September
Nie um die Geheimnisse der Höheren wissen. Man glaubt Kirschen mit ihnen zu essen, wird aber nur die Steine erhalten. Vielen gereichte es zum Verderben, daß sie Vertraute waren: sie gleichen einem Löffel aus Brod und laufen nachher dieselbe Gefahr wie dieser. Die Mittheilung eines Geheimnisses von Seiten des Fürsten ist keine Gunst, sondern ein Drang seines Herzens. Schon Viele zerbrachen den Spiegel, weil er sie an ihre Häßlichkeit erinnerte. Wir mögen den nicht sehn, der uns hat sehn können; und der ist nicht gern gesehn, der etwas Schlechtes von uns sah. Keiner darf uns gar zu sehr verpflichtet seyn, am wenigsten ein Mächtiger, und dann noch eher durch etwas Gutes, das wir ihm erzeigt, als durch Begünstigungen dieser Art. Besonders gefährlich sind freundschaftlich anvertraute Heimlichkeiten. Wer dem Andern sein Geheimniß mittheilt, macht sich zu dessen Sklaven: einem Fürsten ist dies ein gewaltsamer Zustand, der nicht dauern kann: er wird seine verlorene Freiheit wiedererlangen wollen, und um das zu erreichen, wird er Alles mit Füßen treten, selbst Recht und Vernunft. Also Geheimnisse soll man weder hören, noch sagen.
Jeder Satz, Freund, den Sie hier als Abgesang aufs hierarchisch-diktatorisch geprägte Ins-Vertrauen-gezogen-Werden anstimmen, stimmt. Ja, wenn Willkür regiert, ernährt sich die Moralpflicht von stummen Brosamen, die, aus Versehen, vom Tisch der Mächtigen herabwehen. Fürstinnen und Fürsten - oder sagen wir lieber, um die Brücke ins Jetzt zu schlagen: Despotinnen und Despoten, Populistinnen und Populisten fürchten nun mal keinen demokratischen Echoraum. Sie müssen weder uns noch sich selbst hören, können nach Lust und Laune schreien und toben, wie's ihnen beliebt, und es beliebt ihnen, bei Bedarf, unentwegt. Hier wirkt Ihr Rat als Quintessenz: Absentia. Ganz anders, versteht sich, sieht's in ebenbürtigen Beziehungen aus oder in Strukturen, die das Auf-Augenhöhe-Sein zum wesentlichen Kern erklärt haben. Dort wird Vertrauen nicht per se missbraucht, obwohl es auch zu argen Verwerfungen und Hinterlist kommen kann. Besonders wenn die Liebe - und damit meine ich jede Art von leidenschaftlicher Loyalität - in schweres Wasser gerät und Lotsinnen und Lotsen reihenweise von Bord in die Rettungsboote springen.
Vertrauen, vielleicht lässt sich das sagen, Freund, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, Vertrauen kennt Hinterhalte, die zu übersehen wenig ratsam ist.
Jedem Jetzt-Sprechakt wohnt nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft bei.
Wer von sich behauptet, keine Absichten zu haben, hat den Vorsatz, diese zu verschleiern.
Zu handeln, heißt, zu denken, also zu leben. Zu handeln, ohne zu denken, heißt, zu sterben.
14. September
238.
Wissen welche Eigenschaft uns fehlt. Viele wären ganze Leute, wenn ihnen nicht etwas abgienge, ohne welches sie nie zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen können. An Einigen ist es bemerkbar, daß sie sehr viel seyn könnten, wenn sie sich in einer Kleinigkeit besserten: so etwa fehlt es ihnen an Ernst, was große Fähigkeiten verdunkeln kann: Andern geht die Freundlichkeit des Wesens ab; eine Eigenschaft, welche ihre nächste Umgebung bald vermissen wird, zumal wenn sie Leute im Amt sind. Andern wieder fehlt es an Thatkraft, noch Andern an Mäßigung. Allen diesen Uebelständen würde leicht abzuhelfen seyn, wenn man sie nur selbst bemerkte: denn Sorgfalt kann aus der Gewohnheit eine zweite Natur machen.
Den meisten von uns, Freund, fehlt vor allen Dingen eine Eigenschaft: die Eigenschaft zu merken, welche Eigenschaft uns fehlt. Mir scheint's seltsam, wie selbstzufrieden die Mehrheit mit ihrem Auftreten in der Gesellschaft ist. Von sich ohne Wenn und Aber überzeugt zu sein, scheint andererseits häufig genug gleichfalls andere en masse zu blenden. Wer die eigene Schwäche nicht kennt, sucht sich offenbar, unbewusst, Leitbilder, die am selben Charaktermakel leiden. So schaukeln sich denn die Blinden gegenseitig hoch, bis sie sich, allen Ernstes, für die scharfsichtigsten Visionärinnen und Visionäre halten.
Wahre Vollkommenheit - oder sagen wir: die einzig erreichbare Perfektion - weiß um die eigene Unvollkommenheit.
An sich auf Gedeih und Verderb zu glauben, ist den Närrinnen und Narren vorbehalten; wer an der Wahrheit über sich selbst interssiert ist, muss an sich arbeiten, ein Leben lang - und wird doch niemals fertig werden. Was auch ein Glück ist, da ihr oder ihm so der Horror Vacui erspart bleibt, scheinbar den denkbaren Raum gefüllt zu haben. Übrigens, das aber nur am Rande, Freund, stellt solch eine Attitüde ein maßgebliches Problem jedes philosophischen Systems und jeder Religion dar, die sich für fehlerfrei halten, aber sich tatsächlich, vor unseren Augen, permanent mit ihrem Allheitsanspruch blamieren und, unnötigerweise, kompromittieren.
Existiert etwas Perfektes auf dieser Welt, so sei es die Lücke.
15. September
Wissen welche Eigenschaft uns fehlt. Viele wären ganze Leute, wenn ihnen nicht etwas abgienge, ohne welches sie nie zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen können. An Einigen ist es bemerkbar, daß sie sehr viel seyn könnten, wenn sie sich in einer Kleinigkeit besserten: so etwa fehlt es ihnen an Ernst, was große Fähigkeiten verdunkeln kann: Andern geht die Freundlichkeit des Wesens ab; eine Eigenschaft, welche ihre nächste Umgebung bald vermissen wird, zumal wenn sie Leute im Amt sind. Andern wieder fehlt es an Thatkraft, noch Andern an Mäßigung. Allen diesen Uebelständen würde leicht abzuhelfen seyn, wenn man sie nur selbst bemerkte: denn Sorgfalt kann aus der Gewohnheit eine zweite Natur machen.
Den meisten von uns, Freund, fehlt vor allen Dingen eine Eigenschaft: die Eigenschaft zu merken, welche Eigenschaft uns fehlt. Mir scheint's seltsam, wie selbstzufrieden die Mehrheit mit ihrem Auftreten in der Gesellschaft ist. Von sich ohne Wenn und Aber überzeugt zu sein, scheint andererseits häufig genug gleichfalls andere en masse zu blenden. Wer die eigene Schwäche nicht kennt, sucht sich offenbar, unbewusst, Leitbilder, die am selben Charaktermakel leiden. So schaukeln sich denn die Blinden gegenseitig hoch, bis sie sich, allen Ernstes, für die scharfsichtigsten Visionärinnen und Visionäre halten.
Wahre Vollkommenheit - oder sagen wir: die einzig erreichbare Perfektion - weiß um die eigene Unvollkommenheit.
An sich auf Gedeih und Verderb zu glauben, ist den Närrinnen und Narren vorbehalten; wer an der Wahrheit über sich selbst interssiert ist, muss an sich arbeiten, ein Leben lang - und wird doch niemals fertig werden. Was auch ein Glück ist, da ihr oder ihm so der Horror Vacui erspart bleibt, scheinbar den denkbaren Raum gefüllt zu haben. Übrigens, das aber nur am Rande, Freund, stellt solch eine Attitüde ein maßgebliches Problem jedes philosophischen Systems und jeder Religion dar, die sich für fehlerfrei halten, aber sich tatsächlich, vor unseren Augen, permanent mit ihrem Allheitsanspruch blamieren und, unnötigerweise, kompromittieren.
Existiert etwas Perfektes auf dieser Welt, so sei es die Lücke.
15. September
239.
Nicht spitzfindig sehn; sondern klug, woran mehr gelegen. Wer mehr weiß als erfordert ist, gleicht einer zu feinen Spitze, dergleichen gewöhnlich abbricht. Ausgemachte Wahrheit giebt mehr Sicherheit. Es ist gut, Verstand zu haben, aber nicht ein Schwätzer zu seyn. Weitläufige Erörterungen sind schon dem Streite verwandt. Besser ist ein guter solider Kopf, der nicht mehr denkt als die Sache mit sich bringt.
Ein interessanter Ratschlag, Freund, der den Spezialistinnen und Spezialisten, sofern sie ihre Disziplin als Nonplusultra betrachten und denken, dank ihres Spezialwissens, die Weisheit mit Kellen gefressen zu haben, der jenen Spitzfindigen knackig in die neunmalkluge Parade fährt. Wie Ihnen und mir klar ist, ist allerdings auch das Generalistentum nicht das Ende der Fahnenstange, dem doch manche Details abgehen, ohne die Entscheidungen weder bewertet noch getroffen werden sollten. Mir scheint's angeraten, was die Konsequenz der doppelten Minuspunkte sein könnte, dass sich Tausendsassas und Asse, begleitet von der kritischen Masse, regelmäßig unterhalten sollten, um die Dinge im und, was seltsam klingt, aber angeraten ist, außerhalb des Kontexts zu wenden, zu drehen, zu bewundern und, bei Bedarf, meinetwegen auch ab und an konstruktiv zu zerschmettern. Öffentlich zu disputieren, bringt die Sache auf den Punkt - und falls nicht, was durchaus denkbar ist, setzt man halt, ganz demokratisch, weitere Sitzungen an, bis es Einhelligkeit gibt, auch die letzten Bedenken ausgeräumt sind.
Großartig, Freund, wenn ich das einflechten darf, ist Ihre Einsicht, dass ausschweifende Darlegungen dem Scharmützel ähneln - und zwar, denke ich, aus zweierlei Gründen. Wenige von uns schaffen es, in einem langen Vortrag auf logische Widersprüche in der Argumentation zu verzichten. Diese Nachlässigkeit zerstört nicht zu selten den guten Grund, auf dem wir per se stehen. Unsere eigene Geschwätzigkeit reißt uns sodann, holterdiepolter, in den Abgrund. Außerdem, um die zweite Ursache der misslungenen Rede zu benennen, ermüdet das Unermüdliche selbst das geneigteste Publikum. Es ist wie mit den leckersten Süßigkeiten: übertreiben wir's mit ihnen, hängen sie uns zum Halse heraus und wir vermeiden sie in der Zukunft.
Eine Ansprache, die Wirkung zeigen möchte, sei weder zu lang noch zu bündig - und auf gar keinen Fall in sich selbst verliebt.
Wenige von uns haben viel zu sagen. Und das Wenige, was sich sagen lässt, sollte nicht im dekorativen Zuviel verlorengehen.
Wer als Rednerin oder Redner die Wahrheit zu gut im Wortschwall versteckt, darf sich nicht wundern, wenn sie oder er selbst den roten Faden, also die Orientierung verliert und nichts, rein gar nichts an Erkenntnis übrig bleibt.
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, hat Ludwig Wittgenstein gesagt. Vielleicht ließe sich ergänzen: worüber wir zu viel sprechen möchten, sollten wir lieber schweigen; jedenfalls zunächst, bis zur Klärung unserer mäandrischen Gedanken.
16. September
Nicht spitzfindig sehn; sondern klug, woran mehr gelegen. Wer mehr weiß als erfordert ist, gleicht einer zu feinen Spitze, dergleichen gewöhnlich abbricht. Ausgemachte Wahrheit giebt mehr Sicherheit. Es ist gut, Verstand zu haben, aber nicht ein Schwätzer zu seyn. Weitläufige Erörterungen sind schon dem Streite verwandt. Besser ist ein guter solider Kopf, der nicht mehr denkt als die Sache mit sich bringt.
Ein interessanter Ratschlag, Freund, der den Spezialistinnen und Spezialisten, sofern sie ihre Disziplin als Nonplusultra betrachten und denken, dank ihres Spezialwissens, die Weisheit mit Kellen gefressen zu haben, der jenen Spitzfindigen knackig in die neunmalkluge Parade fährt. Wie Ihnen und mir klar ist, ist allerdings auch das Generalistentum nicht das Ende der Fahnenstange, dem doch manche Details abgehen, ohne die Entscheidungen weder bewertet noch getroffen werden sollten. Mir scheint's angeraten, was die Konsequenz der doppelten Minuspunkte sein könnte, dass sich Tausendsassas und Asse, begleitet von der kritischen Masse, regelmäßig unterhalten sollten, um die Dinge im und, was seltsam klingt, aber angeraten ist, außerhalb des Kontexts zu wenden, zu drehen, zu bewundern und, bei Bedarf, meinetwegen auch ab und an konstruktiv zu zerschmettern. Öffentlich zu disputieren, bringt die Sache auf den Punkt - und falls nicht, was durchaus denkbar ist, setzt man halt, ganz demokratisch, weitere Sitzungen an, bis es Einhelligkeit gibt, auch die letzten Bedenken ausgeräumt sind.
Großartig, Freund, wenn ich das einflechten darf, ist Ihre Einsicht, dass ausschweifende Darlegungen dem Scharmützel ähneln - und zwar, denke ich, aus zweierlei Gründen. Wenige von uns schaffen es, in einem langen Vortrag auf logische Widersprüche in der Argumentation zu verzichten. Diese Nachlässigkeit zerstört nicht zu selten den guten Grund, auf dem wir per se stehen. Unsere eigene Geschwätzigkeit reißt uns sodann, holterdiepolter, in den Abgrund. Außerdem, um die zweite Ursache der misslungenen Rede zu benennen, ermüdet das Unermüdliche selbst das geneigteste Publikum. Es ist wie mit den leckersten Süßigkeiten: übertreiben wir's mit ihnen, hängen sie uns zum Halse heraus und wir vermeiden sie in der Zukunft.
Eine Ansprache, die Wirkung zeigen möchte, sei weder zu lang noch zu bündig - und auf gar keinen Fall in sich selbst verliebt.
Wenige von uns haben viel zu sagen. Und das Wenige, was sich sagen lässt, sollte nicht im dekorativen Zuviel verlorengehen.
Wer als Rednerin oder Redner die Wahrheit zu gut im Wortschwall versteckt, darf sich nicht wundern, wenn sie oder er selbst den roten Faden, also die Orientierung verliert und nichts, rein gar nichts an Erkenntnis übrig bleibt.
Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, hat Ludwig Wittgenstein gesagt. Vielleicht ließe sich ergänzen: worüber wir zu viel sprechen möchten, sollten wir lieber schweigen; jedenfalls zunächst, bis zur Klärung unserer mäandrischen Gedanken.
16. September