270.
Was Vielen gefällt, nicht allein verwerfen. Etwas Gutes muß daran seyn, da es so Vielen genügt, und läßt es sich auch nicht erklären, so wird es doch genossen. Die Absonderung ist stets verhaßt und, wenn irrthümlich, lächerlich. Man wird eher dem Ansehn seiner Auffassungsgabe, als dem des Gegenstandes schaden, und dann bleibt man mit seinem schlechten Geschmack allein. Kann man das Gute nicht herausfinden; so verhehle man seine Unfähigkeit und verdamme die Sache nicht schlechthin. Gewöhnlich entspringt der schlechte Geschmack aus Unwissenheit. Was Alle sagen, ist; oder will doch seyn.
Schwierig, Freund, Ihnen hier Ihre Überzeugung abspenstig zu machen, dass am allgemeinen Beifall etwas Interessantes zu sein habe; denn Sie mögen, in einigen Fällen, durchaus richtig liegen. Ich sehe ziemlich oft nicht, was sich genau vor meiner Nase befindet und landauf, landab in den Himmel gelobt wird. Das Problem, das ich mit Ihrer großzügigen Idee der Toleranz habe, besteht aus zwei Teilen. Erstens wissen die meisten von uns relativ schnell, wenn man uns Unsinn unterjubeln will, wenn sich schlechter Rat den Mantel des Altruismus umhängt, wenn sich Kapitalismus als Heilsversprechen geriert. Und zweitens, nun entblöße ich mich selbst, mache mich zum arroganten Geschmacksaffen, und zweitens wird der Mainstream mit Mittelmäßigkeiten verköstigt und unterhalten, die mir aus allerlei Gründen nicht schmecken - Fleisch etwa rühre ich bereits seit 34 Jahren nicht mehr an - oder mich persönlich gnadenlos langweilen, weil sie Altbekanntes ewig und drei Tage umrühren.
Sich selbst zu kennen, heißt (beinahe zwangsweise), der Menge zu misstrauen.
Je älter wir werden, umso schwieriger sind wir zufriedenzustellen.
Die Begeisterung der Jugend sucht neue Banden, die der Reife Abwechslung und Beständigkeit.
Treu und vernünftig ist, wer sich zum Besseren verändert, ohne alles Vergangene schlichtweg zu verdammen.
30. Oktober
Was Vielen gefällt, nicht allein verwerfen. Etwas Gutes muß daran seyn, da es so Vielen genügt, und läßt es sich auch nicht erklären, so wird es doch genossen. Die Absonderung ist stets verhaßt und, wenn irrthümlich, lächerlich. Man wird eher dem Ansehn seiner Auffassungsgabe, als dem des Gegenstandes schaden, und dann bleibt man mit seinem schlechten Geschmack allein. Kann man das Gute nicht herausfinden; so verhehle man seine Unfähigkeit und verdamme die Sache nicht schlechthin. Gewöhnlich entspringt der schlechte Geschmack aus Unwissenheit. Was Alle sagen, ist; oder will doch seyn.
Schwierig, Freund, Ihnen hier Ihre Überzeugung abspenstig zu machen, dass am allgemeinen Beifall etwas Interessantes zu sein habe; denn Sie mögen, in einigen Fällen, durchaus richtig liegen. Ich sehe ziemlich oft nicht, was sich genau vor meiner Nase befindet und landauf, landab in den Himmel gelobt wird. Das Problem, das ich mit Ihrer großzügigen Idee der Toleranz habe, besteht aus zwei Teilen. Erstens wissen die meisten von uns relativ schnell, wenn man uns Unsinn unterjubeln will, wenn sich schlechter Rat den Mantel des Altruismus umhängt, wenn sich Kapitalismus als Heilsversprechen geriert. Und zweitens, nun entblöße ich mich selbst, mache mich zum arroganten Geschmacksaffen, und zweitens wird der Mainstream mit Mittelmäßigkeiten verköstigt und unterhalten, die mir aus allerlei Gründen nicht schmecken - Fleisch etwa rühre ich bereits seit 34 Jahren nicht mehr an - oder mich persönlich gnadenlos langweilen, weil sie Altbekanntes ewig und drei Tage umrühren.
Sich selbst zu kennen, heißt (beinahe zwangsweise), der Menge zu misstrauen.
Je älter wir werden, umso schwieriger sind wir zufriedenzustellen.
Die Begeisterung der Jugend sucht neue Banden, die der Reife Abwechslung und Beständigkeit.
Treu und vernünftig ist, wer sich zum Besseren verändert, ohne alles Vergangene schlichtweg zu verdammen.
30. Oktober
271.
In jedem Fache halte sich, wer wenig weiß, stets an das Sicherste: wird er dann auch nicht für sein, so wird er doch für gründlich gelten. Wer hingegen unterrichtet ist, kann sich einlassen und nach Gutdünken handeln. Allein, wenig wissen und sich doch in Gefahr setzen, heißt freiwillig sein Verderben suchen. Vielmehr halte man sich alsdann immer zur rechten Hand: denn das Ausgemachte kann nicht fehlen. Für geringe Kenntnisse ist die Heerstraße: und in allen Fällen, sei man kundig oder unkundig, ist die Sicherheit immer klüger als die Absonderung.
Die Gründlichkeit, Freund, ist ein zu oft unterschätztes Merkmal der Qualität - und nicht allein der, die's nicht besser weiß. Ein Geniestreich, dem nicht oder nur halbherzig nachgegangen wird, verpufft. Während Präzision eben auch heißt, dass wir eine Angelegenheit nicht oberflächlich anreißen, sondern akribisch ausführen, uns auch um die Details mühen, welche schließlich, so ist das Sein, den echten Unterschied ausmachen.
Viel zu wissen, das sei noch angemerkt, hilft leider nicht immer gegen Fehlurteile. Am besten ist's wohl, Wissen mit anderen zu teilen, sich allerlei widersprüchliche Ratschläge zu holen und am Ende, nach bestem Wissen und Gewissen, eine Entscheidung zu treffen, die nicht uns allein, sondern allen nutzt.
Geringe Kenntnisse zu verachten, heißt doch auch den notwendigen Mut der Jugend zu verkennen, etwas zu verändern, was sehr wohl kenntnisreich, aber eben seit Ewigkeiten falsch ist.
Ein moralisches Leben zu führen, steht allen offen. Was dazu nötig ist? Zunächst Herzensbildung, das eigentliche Wissen akkumuliert sich häufig danach, beim Machen.
31. Oktober
In jedem Fache halte sich, wer wenig weiß, stets an das Sicherste: wird er dann auch nicht für sein, so wird er doch für gründlich gelten. Wer hingegen unterrichtet ist, kann sich einlassen und nach Gutdünken handeln. Allein, wenig wissen und sich doch in Gefahr setzen, heißt freiwillig sein Verderben suchen. Vielmehr halte man sich alsdann immer zur rechten Hand: denn das Ausgemachte kann nicht fehlen. Für geringe Kenntnisse ist die Heerstraße: und in allen Fällen, sei man kundig oder unkundig, ist die Sicherheit immer klüger als die Absonderung.
Die Gründlichkeit, Freund, ist ein zu oft unterschätztes Merkmal der Qualität - und nicht allein der, die's nicht besser weiß. Ein Geniestreich, dem nicht oder nur halbherzig nachgegangen wird, verpufft. Während Präzision eben auch heißt, dass wir eine Angelegenheit nicht oberflächlich anreißen, sondern akribisch ausführen, uns auch um die Details mühen, welche schließlich, so ist das Sein, den echten Unterschied ausmachen.
Viel zu wissen, das sei noch angemerkt, hilft leider nicht immer gegen Fehlurteile. Am besten ist's wohl, Wissen mit anderen zu teilen, sich allerlei widersprüchliche Ratschläge zu holen und am Ende, nach bestem Wissen und Gewissen, eine Entscheidung zu treffen, die nicht uns allein, sondern allen nutzt.
Geringe Kenntnisse zu verachten, heißt doch auch den notwendigen Mut der Jugend zu verkennen, etwas zu verändern, was sehr wohl kenntnisreich, aber eben seit Ewigkeiten falsch ist.
Ein moralisches Leben zu führen, steht allen offen. Was dazu nötig ist? Zunächst Herzensbildung, das eigentliche Wissen akkumuliert sich häufig danach, beim Machen.
31. Oktober
272.
Die Sachen um den Höflichkeitspreis verkaufen: dadurch verpflichtet man am meisten. Nie wird die Forderung des Interessirten der Gabe des edelmüthigen Verpflichteten gleich kommen. Die Höflichkeit schenkt nicht, sondern legt eine Verpflichtung auf, und die edle Sitte ist die größte Verpflichtung. Für den rechtlichen Mann ist keine Sache theurer, als die, welche man ihm schenkt: man verkauft sie ihm dadurch zwei Mal und für zwei Preise, den des Werthes und den der Höflichkeit. Inzwischen ist es wahr, daß für den Niedrigdenkenden die edle Sitte Kauderwelsch ist: denn er versteht die Sprache des guten Vernehmens nicht.
Alles, Freund, hat seinen Preis. Wir dürfen uns nichts vormachen, auch wenn Sie uns auf die Gabe als verbindlicher Höflichkeit, als Bund zwischen Ehrenhaften und als Preislabel einschwören wollen, deren Interessen es gut miteinander meinen. Im Begriff Meinung steckt übrigens, nicht umsonst, jedenfalls im Deutschen, steckt assoziativ das persönliche Fürwort mein. Platt gesagt: es heißt nun mal weder Deinung noch Wirung, was, scheint mir, durchaus möglich, sogar recht schön wär. Wenn wir's also gut meinen, meinen wir's immer auch, häufig wohl zuerst, gut mit uns selbst.
Bekommst du etwas geschenkt, weißt du an sich, dass ein Vollzug stattgefunden hat, eine Transaktion, die Absichten hegt, duraus auch verborgene. Im Geschenk wohnen Verpflichtungen, die uns, die Beschenkten, als Untermieterinnen und Untermieter, als Pächterinnen und Pächter betrachten und als Schlagfrauen und Ruderer ins Boot holen wollen.
Kommt ein Geschenk als Gabe daher, dient es mehr den Gebenden als den Beschenkten.
Edle Sitten sind, nicht zu selten, soziale Konstruktionen, die unedle Absichten haben und besonderen Wert auf Klassenunterschiede legen.
Demokratisches Recht stehe über jeder Sitte.
1. November
Die Sachen um den Höflichkeitspreis verkaufen: dadurch verpflichtet man am meisten. Nie wird die Forderung des Interessirten der Gabe des edelmüthigen Verpflichteten gleich kommen. Die Höflichkeit schenkt nicht, sondern legt eine Verpflichtung auf, und die edle Sitte ist die größte Verpflichtung. Für den rechtlichen Mann ist keine Sache theurer, als die, welche man ihm schenkt: man verkauft sie ihm dadurch zwei Mal und für zwei Preise, den des Werthes und den der Höflichkeit. Inzwischen ist es wahr, daß für den Niedrigdenkenden die edle Sitte Kauderwelsch ist: denn er versteht die Sprache des guten Vernehmens nicht.
Alles, Freund, hat seinen Preis. Wir dürfen uns nichts vormachen, auch wenn Sie uns auf die Gabe als verbindlicher Höflichkeit, als Bund zwischen Ehrenhaften und als Preislabel einschwören wollen, deren Interessen es gut miteinander meinen. Im Begriff Meinung steckt übrigens, nicht umsonst, jedenfalls im Deutschen, steckt assoziativ das persönliche Fürwort mein. Platt gesagt: es heißt nun mal weder Deinung noch Wirung, was, scheint mir, durchaus möglich, sogar recht schön wär. Wenn wir's also gut meinen, meinen wir's immer auch, häufig wohl zuerst, gut mit uns selbst.
Bekommst du etwas geschenkt, weißt du an sich, dass ein Vollzug stattgefunden hat, eine Transaktion, die Absichten hegt, duraus auch verborgene. Im Geschenk wohnen Verpflichtungen, die uns, die Beschenkten, als Untermieterinnen und Untermieter, als Pächterinnen und Pächter betrachten und als Schlagfrauen und Ruderer ins Boot holen wollen.
Kommt ein Geschenk als Gabe daher, dient es mehr den Gebenden als den Beschenkten.
Edle Sitten sind, nicht zu selten, soziale Konstruktionen, die unedle Absichten haben und besonderen Wert auf Klassenunterschiede legen.
Demokratisches Recht stehe über jeder Sitte.
1. November
273.
Die Gemüthsarten derer, mit denen man zu thun hat, begreifen: um ihre Absichten zu ergründen. Denn ist die Ursache richtig erkannt; so ist es auch die Wirkung, erstlich aus jener, sodann aus dem Motiv. Der Melancholische sieht stets Unglücksfälle, der Boshafte Verbrechen voraus: denn immer stellt sich ihnen das Schlimmste dar, und da sie des gegenwärtigen Guten nicht inne werden; so verkünden sie das mögliche Uebel vorher. Der Leidenschaftliche redet stets eine fremde Sprache, die von dem, was die Dinge sind, abweicht: aus ihm spricht die Leidenschaft, nicht die Vernunft. So redet Jeder gemäß seinem Affekt, oder seiner Laune, und Alle gar fern von der Wahrheit. Man lerne ein Gesicht entziffern und aus den Zügen die Seele herausbuchstabiren. Man erkenne in dem, der immer lacht, einen Narren, in dem, der nie lacht, einen Falschen. Man hüte sich vor dem Frager, weil er leichtsinnig oder ein Späher ist. Wenig Gutes erwarte man von den Mißgestalteten: denn diese pflegen sich an der Natur zu rächen, und wie sie ihnen wenig Ehre erzeigte, so sie ihr keine. So groß als die Schönheit eines Menschen, pflegt seine Dummheit zu seyn.
Ach, Freund, bevor ich Ihnen antworte, möchte ich kurz trauern, da ich Ihnen, was Sie nicht wissen können, an sich auf diese Suade bereits geantwortet habe, recht ausführlich sogar, mit, wie mir schien, allerlei treffenden Bemerkungen. Beim Abspeichern ist mir jedoch soeben der ganze Text abhandengekommen; übrigens passiert mir das, wenn ich online schreibe, immer wieder. Ich könnte mich ohrfeigen, was weder die Sätze noch die verlorene Lebenszeit zurückbringt. Zwar weiß ich, dass der Verlust per se ein Teil unserer Korrespondenz ist - Ihnen dürften meine Briefe eh durch die Zeitlappen gehen, es sei denn, es existierte eine Ewigkeit, was ich (leider) nicht glaube, und Sie hätten die Gelegenheit dort, im Dauerhaften, Post zu empfangen.
Zunächst ein wenig Lob: Ja, die Schwermütigen sehen wohl tatsächlich häufig durch die Niedergedrücktbrille, blurren sich, voller Weltschmerz, den Blick aufs herrliche Sein. Und es stimmt auch, dass die Temperamentvollen oft genug ungestüm alles mit knackiger Hitze und irrlichtender Verzückung überziehen, was eher der Kühle bedarf und der Stille angehört; übrigens, aber das nur am Rande, ist mir die Leidenschaft viel lieber als das unterträgliche Phlegma, das im Leben wie eine Leiche im Sarg ruht.
Damit hat's sich aber auch schon mit der Anerkennung. Ihre idiotische Vermutung, im Gesicht ließe sich der Geist unseres Gegenübers erkunden, hat, weit nach Ihrer Zeit, zu unfassbar rassistischen Gräueltaten geführt. Die Eugenik fußt auf solch faschistischem Denken, das schon im Kleinen gestoppt werden muss. Ganz widerwärtig und absurd ist auch Ihre Idee, dass behinderte Menschen voller Rachedurst steckten und schöne keinen Verstand besäßen.
Jede Zeit hat ihre Vorurteile, die wenigsten halten den Zeitläuften stand.
Wer sich, ohne Vernunft, zu weit aus dem Fenster lehnt, fällt berechtigterweise hinaus.
Sich selbst in den anderen zu sehen, stoppt blindwütige Ressentiments.
2. November
Die Gemüthsarten derer, mit denen man zu thun hat, begreifen: um ihre Absichten zu ergründen. Denn ist die Ursache richtig erkannt; so ist es auch die Wirkung, erstlich aus jener, sodann aus dem Motiv. Der Melancholische sieht stets Unglücksfälle, der Boshafte Verbrechen voraus: denn immer stellt sich ihnen das Schlimmste dar, und da sie des gegenwärtigen Guten nicht inne werden; so verkünden sie das mögliche Uebel vorher. Der Leidenschaftliche redet stets eine fremde Sprache, die von dem, was die Dinge sind, abweicht: aus ihm spricht die Leidenschaft, nicht die Vernunft. So redet Jeder gemäß seinem Affekt, oder seiner Laune, und Alle gar fern von der Wahrheit. Man lerne ein Gesicht entziffern und aus den Zügen die Seele herausbuchstabiren. Man erkenne in dem, der immer lacht, einen Narren, in dem, der nie lacht, einen Falschen. Man hüte sich vor dem Frager, weil er leichtsinnig oder ein Späher ist. Wenig Gutes erwarte man von den Mißgestalteten: denn diese pflegen sich an der Natur zu rächen, und wie sie ihnen wenig Ehre erzeigte, so sie ihr keine. So groß als die Schönheit eines Menschen, pflegt seine Dummheit zu seyn.
Ach, Freund, bevor ich Ihnen antworte, möchte ich kurz trauern, da ich Ihnen, was Sie nicht wissen können, an sich auf diese Suade bereits geantwortet habe, recht ausführlich sogar, mit, wie mir schien, allerlei treffenden Bemerkungen. Beim Abspeichern ist mir jedoch soeben der ganze Text abhandengekommen; übrigens passiert mir das, wenn ich online schreibe, immer wieder. Ich könnte mich ohrfeigen, was weder die Sätze noch die verlorene Lebenszeit zurückbringt. Zwar weiß ich, dass der Verlust per se ein Teil unserer Korrespondenz ist - Ihnen dürften meine Briefe eh durch die Zeitlappen gehen, es sei denn, es existierte eine Ewigkeit, was ich (leider) nicht glaube, und Sie hätten die Gelegenheit dort, im Dauerhaften, Post zu empfangen.
Zunächst ein wenig Lob: Ja, die Schwermütigen sehen wohl tatsächlich häufig durch die Niedergedrücktbrille, blurren sich, voller Weltschmerz, den Blick aufs herrliche Sein. Und es stimmt auch, dass die Temperamentvollen oft genug ungestüm alles mit knackiger Hitze und irrlichtender Verzückung überziehen, was eher der Kühle bedarf und der Stille angehört; übrigens, aber das nur am Rande, ist mir die Leidenschaft viel lieber als das unterträgliche Phlegma, das im Leben wie eine Leiche im Sarg ruht.
Damit hat's sich aber auch schon mit der Anerkennung. Ihre idiotische Vermutung, im Gesicht ließe sich der Geist unseres Gegenübers erkunden, hat, weit nach Ihrer Zeit, zu unfassbar rassistischen Gräueltaten geführt. Die Eugenik fußt auf solch faschistischem Denken, das schon im Kleinen gestoppt werden muss. Ganz widerwärtig und absurd ist auch Ihre Idee, dass behinderte Menschen voller Rachedurst steckten und schöne keinen Verstand besäßen.
Jede Zeit hat ihre Vorurteile, die wenigsten halten den Zeitläuften stand.
Wer sich, ohne Vernunft, zu weit aus dem Fenster lehnt, fällt berechtigterweise hinaus.
Sich selbst in den anderen zu sehen, stoppt blindwütige Ressentiments.
2. November
274.
Anziehungskraft besitzen: sie ist ein Zauber kluger Höflichkeit. Man benutze diesen Magnet seiner angenehmen Eigenschaften mehr zur Erwerbung der Zuneigung, als wirklicher Vortheile, doch auch zu Allem. Verdienste reichen nicht aus, wenn sie nicht von der Gunst unterstützt werden, welche es eigentlich ist, die den Beifall verleiht. Das wirksamste Werkzeug der Herrschaft über Andre, das im Schwunge seyn, ist Sache des Glücks: doch läßt es sich durch Kunst befördern: denn wo ausgezeichnete natürliche Anlagen sind, faßt das Künstliche besser Wurzel. Durch jenes nun gewinnt man die Herzen und allmälig kommt man in den Besitz der allgemeinen Gunst.
Wohlangesehen zu sein, Freund, ja, mit Glück, geliebt, also: der eigenen Attraktivität durch andere versichert, heißt auch, dass man auf Gunst und Geneigtheit mit Aufmerksamkeit und Gewogenheit antwortet. Wer sich nur feiern lässt, verursacht bei anderen alsbald einen gewaltigen Kater.
Missgunst stammt, nicht zu selten, aus dem Gefühl, zu viel geliebt zu haben.
Wer sich ganz und gar der Narrheit für einen anderen Menschen, ohne echte Erwiderung, hingibt, wie ein von Würmern durchnagter, überreifer Apfel vom Baum fällt, darf sich nicht wundern, wenn sie oder er, aus dem Traum aufwachend, vom Sturz überall arge Blessuren verspürt.
Ein Herz, das krachend bricht, findet en passant keine passende, leise Krücke.
Die Kunst, mit anderen glücklich zu leben, fordert keine Künstlichkeit, sondern Glaubwürdigkeit.
Zur Zuverlässigkeit gehört der Streit um den richtigen Weg.
3. November
Anziehungskraft besitzen: sie ist ein Zauber kluger Höflichkeit. Man benutze diesen Magnet seiner angenehmen Eigenschaften mehr zur Erwerbung der Zuneigung, als wirklicher Vortheile, doch auch zu Allem. Verdienste reichen nicht aus, wenn sie nicht von der Gunst unterstützt werden, welche es eigentlich ist, die den Beifall verleiht. Das wirksamste Werkzeug der Herrschaft über Andre, das im Schwunge seyn, ist Sache des Glücks: doch läßt es sich durch Kunst befördern: denn wo ausgezeichnete natürliche Anlagen sind, faßt das Künstliche besser Wurzel. Durch jenes nun gewinnt man die Herzen und allmälig kommt man in den Besitz der allgemeinen Gunst.
Wohlangesehen zu sein, Freund, ja, mit Glück, geliebt, also: der eigenen Attraktivität durch andere versichert, heißt auch, dass man auf Gunst und Geneigtheit mit Aufmerksamkeit und Gewogenheit antwortet. Wer sich nur feiern lässt, verursacht bei anderen alsbald einen gewaltigen Kater.
Missgunst stammt, nicht zu selten, aus dem Gefühl, zu viel geliebt zu haben.
Wer sich ganz und gar der Narrheit für einen anderen Menschen, ohne echte Erwiderung, hingibt, wie ein von Würmern durchnagter, überreifer Apfel vom Baum fällt, darf sich nicht wundern, wenn sie oder er, aus dem Traum aufwachend, vom Sturz überall arge Blessuren verspürt.
Ein Herz, das krachend bricht, findet en passant keine passende, leise Krücke.
Die Kunst, mit anderen glücklich zu leben, fordert keine Künstlichkeit, sondern Glaubwürdigkeit.
Zur Zuverlässigkeit gehört der Streit um den richtigen Weg.
3. November
275.
Mitmachen, so weit es der Anstand erlaubt. Man mache sich nicht immer wichtig und widerwärtig: dies gehört zur edlen Sitte. Etwas kann man sich von seiner Würde vergeben, um die allgemeine Zuneigung zu gewinnen: man lasse sich zuweilen das gefallen, was die Meisten sich gefallen lassen; jedoch ohne Unanständigkeit. Denn wer öffentlich für einen Narren gilt, wird nicht im Stillen für gescheut gehalten werden. An Einem Tage der Lustigkeit kann man mehr verlieren, als man an allen Tagen der Ehrbarkeit gewonnen hat. Jedoch soll man auch nicht sich immer ausschließen: denn durch Absonderung verurtheilt man die Uebrigen. Noch weniger darf man Ziererei affektiren: diese überlasse man dem Geschlecht, welchem sie eigen ist: sogar die religiöse Ziererei ist lächerlich. Dem Mann steht nichts besser an, als daß er ein Mann scheine: das Weib kann das Männliche als eine Vollkommenheit affektiren: nicht so umgekehrt.
Hier, Freund, bleibt mir zunächst die Spucke weg, und ich muss tief Luft holen, um nicht fuchsteufelswild, gar ausfällig zu werden; was die Sache, die mir am Herzen liegt, nicht verbesserte. Im Gegenteil.
Wer zuerst die Contenance verliert, schadet, im Allgemeinen, dem eigenen Anliegen. Wird das Gute herausgebrüllt, schließen selbst die Willigen zuverlässig die Ohren und die Unwilligen machen sich entweder beflissen aus dem Staub oder schreien lautstark zurück.
Damit aber zum Knackpunkt meiner heutigen Kritik, die alle anderen Sachen, von denen Sie sprechen, unwichtig macht: unsere Geschlechtervorstellungen unterscheiden sich, vorsichtig ausgedrückt, diametral. Unter dem von Ihnen großspurig propagierten Männlichkeitswahn leidet die Menschheit seit Urzeiten. Machismo ist zwar ein spanischer Begriff, aber global anzutreffen. Die emotionalen Verhärtungen, die Männer ihrer vermeintlichen Superman-Rolle wegen an den Tag legen, sind extrem zerstörerisch: sowohl für die Gesellschaft als auch die Individuen. Das Plustergehabe ist sogar toxisch. Sowohl Sexismus als auch Rassismus, sowohl Faschismus als auch Fremdenhass finden ihre Zündlute in der "männlichen Vollkommenheit", von der Sie grobmotorisch schwärmen. Es reicht schon, wenn ein Mann glaubt, aufgrund seines Geschlechtsteils, irgendein atavistisches Recht zu haben, einer Frau zu sagen, "was Sache sei", wie sie ihr Leben zu führen habe, welche Gebote zu befolgen seien. Die Geschichte der Menschheit lässt sich als Abfolge emotional und - damit - geistig behinderter Machomänner lesen, die ihren Willen durchdrücken, keinerlei Rücksicht auf ihre Mitmenschen und die Welt nehmen, die nichts fühlen als die immense Gier, alles zu zertreten, zu zerstückeln, zu foltern, zu töten und zu vergewaltigen, was sich ihnen in den Weg stellt.
Ein Mann, der dominiert, wird nicht geliebt, sondern gefürchtet.
Wer Angst verbreitet, ist kein Mann, sondern ein Monster.
Gefühle zu erlauben, macht erst den wahren Mann.
4. November
Mitmachen, so weit es der Anstand erlaubt. Man mache sich nicht immer wichtig und widerwärtig: dies gehört zur edlen Sitte. Etwas kann man sich von seiner Würde vergeben, um die allgemeine Zuneigung zu gewinnen: man lasse sich zuweilen das gefallen, was die Meisten sich gefallen lassen; jedoch ohne Unanständigkeit. Denn wer öffentlich für einen Narren gilt, wird nicht im Stillen für gescheut gehalten werden. An Einem Tage der Lustigkeit kann man mehr verlieren, als man an allen Tagen der Ehrbarkeit gewonnen hat. Jedoch soll man auch nicht sich immer ausschließen: denn durch Absonderung verurtheilt man die Uebrigen. Noch weniger darf man Ziererei affektiren: diese überlasse man dem Geschlecht, welchem sie eigen ist: sogar die religiöse Ziererei ist lächerlich. Dem Mann steht nichts besser an, als daß er ein Mann scheine: das Weib kann das Männliche als eine Vollkommenheit affektiren: nicht so umgekehrt.
Hier, Freund, bleibt mir zunächst die Spucke weg, und ich muss tief Luft holen, um nicht fuchsteufelswild, gar ausfällig zu werden; was die Sache, die mir am Herzen liegt, nicht verbesserte. Im Gegenteil.
Wer zuerst die Contenance verliert, schadet, im Allgemeinen, dem eigenen Anliegen. Wird das Gute herausgebrüllt, schließen selbst die Willigen zuverlässig die Ohren und die Unwilligen machen sich entweder beflissen aus dem Staub oder schreien lautstark zurück.
Damit aber zum Knackpunkt meiner heutigen Kritik, die alle anderen Sachen, von denen Sie sprechen, unwichtig macht: unsere Geschlechtervorstellungen unterscheiden sich, vorsichtig ausgedrückt, diametral. Unter dem von Ihnen großspurig propagierten Männlichkeitswahn leidet die Menschheit seit Urzeiten. Machismo ist zwar ein spanischer Begriff, aber global anzutreffen. Die emotionalen Verhärtungen, die Männer ihrer vermeintlichen Superman-Rolle wegen an den Tag legen, sind extrem zerstörerisch: sowohl für die Gesellschaft als auch die Individuen. Das Plustergehabe ist sogar toxisch. Sowohl Sexismus als auch Rassismus, sowohl Faschismus als auch Fremdenhass finden ihre Zündlute in der "männlichen Vollkommenheit", von der Sie grobmotorisch schwärmen. Es reicht schon, wenn ein Mann glaubt, aufgrund seines Geschlechtsteils, irgendein atavistisches Recht zu haben, einer Frau zu sagen, "was Sache sei", wie sie ihr Leben zu führen habe, welche Gebote zu befolgen seien. Die Geschichte der Menschheit lässt sich als Abfolge emotional und - damit - geistig behinderter Machomänner lesen, die ihren Willen durchdrücken, keinerlei Rücksicht auf ihre Mitmenschen und die Welt nehmen, die nichts fühlen als die immense Gier, alles zu zertreten, zu zerstückeln, zu foltern, zu töten und zu vergewaltigen, was sich ihnen in den Weg stellt.
Ein Mann, der dominiert, wird nicht geliebt, sondern gefürchtet.
Wer Angst verbreitet, ist kein Mann, sondern ein Monster.
Gefühle zu erlauben, macht erst den wahren Mann.
4. November
276.
Seinen Geist, mit Hülfe der Natur und Kunst, zu erneuern verstehn. Man sagt, daß von sieben zu sieben Jahren die Gemüthsart sich ändert: nun so sei es ein Verbessern und Veredeln seines Geschmacks. Nach den ersten sieben Jahren tritt die Vernunft ein: so möge nachher mit jedem Stufenjahr eine neue Vollkommenheit hinzukommen. Man beobachte diesen natürlichen Wechsel, um ihm nachzuhelfen, und hoffe auch an Andern eine Verbesserung. Hieraus entspringt es, daß Viele mit dem Stande oder Amt ihr Betragen geändert haben. Bisweilen wird man es nicht eher gewahr, als bis es im höchsten Grade hervortritt. Mit zwanzig Jahren ist der Mensch ein Pfau; mit dreißig, ein Löwe; mit vierzig, ein Kameel; mit fünfzig, eine Schlange; mit sechszig, ein Hund; mit siebenzig, ein Affe; mit achtzig, – nichts.
Gewissermaßen, Freund, treffen Sie, mit Ihrer seltsamen Menagerie, zufällig meinen 50-Jahre-Zustand: gerade nun häute ich mich, schlängele mich geistig an- und abwesend durchs Dasein, ohne recht irgendwo Halt und Hilfe zu finden, bin, wie manches sich in der untergehenden Sonne räkelnde Reptil, schnell und langsam zugleich. Ob andere sich als Löwin oder Kamel sehen, mag ich nicht beurteilen, lass es also lieber; mir scheint: eher nicht. Verallgemeinerungen, wir haben darüber gesprochen, taugen eh nur als oberflächliche Staubsauger, man dringt mit Klischees niemals in die Tiefe, zur kleinen Wahrheit vor. Und ist nicht die überschaubare Erkenntnis die einzig ehrliche?
Ein Satz noch zum Anfang, der Idee, dass Kunst und Natur regelmäßig zusammenwirken mögen, um das eigene Wesen zu erneuern. Ich bin zwar, Sie wissen's, Freund, stets für Fortschritt zu haben, merke allerdings auch, dass Menschen, in meiner Umgebung, werden sie älter, oft genug den Rückwärtsgang einlegen. Entpuppt sich die Erneuerung als reaktionär, sollten wir nicht stumm und still beistehen, sondern unseren Mitmenschen weitere Möglichkeiten aufzeigen oder, ein positiver Konservatismus, sie zur alten Position zurückgeleiten.
Nicht jeder Aufbruch endet im Fortschritt. In solchen Momenten ohne Scham abzudrehen, bewahrt uns vor unnötigen Stürmen.
Wer zu viele Antworten gibt, verlernt das Fragen - und damit das Zu-Leben.
5. November
Seinen Geist, mit Hülfe der Natur und Kunst, zu erneuern verstehn. Man sagt, daß von sieben zu sieben Jahren die Gemüthsart sich ändert: nun so sei es ein Verbessern und Veredeln seines Geschmacks. Nach den ersten sieben Jahren tritt die Vernunft ein: so möge nachher mit jedem Stufenjahr eine neue Vollkommenheit hinzukommen. Man beobachte diesen natürlichen Wechsel, um ihm nachzuhelfen, und hoffe auch an Andern eine Verbesserung. Hieraus entspringt es, daß Viele mit dem Stande oder Amt ihr Betragen geändert haben. Bisweilen wird man es nicht eher gewahr, als bis es im höchsten Grade hervortritt. Mit zwanzig Jahren ist der Mensch ein Pfau; mit dreißig, ein Löwe; mit vierzig, ein Kameel; mit fünfzig, eine Schlange; mit sechszig, ein Hund; mit siebenzig, ein Affe; mit achtzig, – nichts.
Gewissermaßen, Freund, treffen Sie, mit Ihrer seltsamen Menagerie, zufällig meinen 50-Jahre-Zustand: gerade nun häute ich mich, schlängele mich geistig an- und abwesend durchs Dasein, ohne recht irgendwo Halt und Hilfe zu finden, bin, wie manches sich in der untergehenden Sonne räkelnde Reptil, schnell und langsam zugleich. Ob andere sich als Löwin oder Kamel sehen, mag ich nicht beurteilen, lass es also lieber; mir scheint: eher nicht. Verallgemeinerungen, wir haben darüber gesprochen, taugen eh nur als oberflächliche Staubsauger, man dringt mit Klischees niemals in die Tiefe, zur kleinen Wahrheit vor. Und ist nicht die überschaubare Erkenntnis die einzig ehrliche?
Ein Satz noch zum Anfang, der Idee, dass Kunst und Natur regelmäßig zusammenwirken mögen, um das eigene Wesen zu erneuern. Ich bin zwar, Sie wissen's, Freund, stets für Fortschritt zu haben, merke allerdings auch, dass Menschen, in meiner Umgebung, werden sie älter, oft genug den Rückwärtsgang einlegen. Entpuppt sich die Erneuerung als reaktionär, sollten wir nicht stumm und still beistehen, sondern unseren Mitmenschen weitere Möglichkeiten aufzeigen oder, ein positiver Konservatismus, sie zur alten Position zurückgeleiten.
Nicht jeder Aufbruch endet im Fortschritt. In solchen Momenten ohne Scham abzudrehen, bewahrt uns vor unnötigen Stürmen.
Wer zu viele Antworten gibt, verlernt das Fragen - und damit das Zu-Leben.
5. November
277.
Zu prunken verstehn. Es ist die Glanzbeleuchtung der Talente: für jedes derselben kommt eine günstige Zeit: die benutze man, denn nicht jeder Tag wird der des Triumphs seyn. Es giebt Prachtmenschen, in welchen schon das Geringe sehr, das Bedeutende zum Erstaunen glänzt. Gesellt sich zu ausgezeichneten Gaben die Fähigkeit damit zu prunken; so erlangen sie den Ruf eines Wunders. Es giebt prunkende Nationen, und die Spanische ist es im höchsten Grad. Erst das Licht ließ die Pracht der Schöpfung hervortreten. Das Prunken füllt Vieles aus, ersetzt Vieles und giebt Allem ein zweites Daseyn, zumal wenn es sich auf wirklichen Gehalt stützt. Der Himmel, welcher die Vollkommenheiten verleiht, versieht sie auch mit dem Hange zu prunken: denn jedes von beiden allein würde unpassend seyn. Es gehört Kunst zum Prunken. Sogar das Vortrefflichste hängt von Umständen ab und hat nicht immer seinen Tag. Das Prunken geräth schlecht, wenn es zur Unzeit kommt: mehr als jeder andre Vorzug muß es frei von Affektation seyn, an welchem Uebelstande es allemal scheitert, weil es nahe an die Eitelkeit gränzt und diese an das Verächtliche: es muß sehr gemäßigt seyn, damit es nicht gemein werde, und sein Uebermaaß steht bei den Klugen schlecht angeschrieben. Bisweilen besteht es mehr in einer stummen Beredsamkeit, indem man gleichsam nur aus Nachlässigkeit seine Vollkommenheiten zum Vorschein kommen läßt: denn das kluge Verhehlen derselben ist das wirksamste Paradiren damit, da man eben durch solches Entziehn die Neugier am lebhaftesten anreizt. Sehr geschickt auch ist es, nicht die ganze Vollkommenheit mit einem Male aufzudecken, sondern nur einzelne Proben davon verstohlnen Blicken preiszugeben und dann immer mehr. Jede glänzende Leistung muß das Unterpfand einer größern seyn und im Beifall der ersten schon die Erwartung der folgenden liegen.
Wer es schafft, Freund, Appetithäppchen ihrer oder seiner selbst zu servieren, die anderen so in permanenter Vorfreude auf den Hauptgang zu halten, der nicht mal kommen muss, wird mit einer Gier nach mehr belohnt, die, und hier haben Sie Recht, diejenigen, die sich ganz und gar entblättern, niemals wachrufen dürften, jedenfalls nicht in der öffentlichen Arena. Angezogen schwelgt, wachgeküsst, die Fantasie auf immerdar im berauschten Chor, nackt schläft sie, nicht zu selten, sang- und klanglos nach einem kurzen, süßen Song ein. Im Privaten, das sei als Einschränkung noch erwähnt, ist die Unmittelbarkeit, die sich vollkommen hingibt, die Schleusen stolz und brausend öffnet, dagegen der Garant für eine allumfassende Liebe, die, da nicht alles Gold ist, was glänzt, auch Fehler attraktiv findet. Um ganz ehrlich mit Ihnen zu sein: mir käm’s unheimlich vor, wenn die Menschen, die ich liebe, alle prunk-perfekt wären, was ich nun mal keinesfalls selbst bin. Wenn ich an etwas keinen Mangel leide, dann sind’s Fehler, Sollbruchstellen und unerquickliche Lücken.
Ihren mit aufgeplusterter Brust rausgekrähten Nationenunsinn gilt’s - Sie warten sicherlich darauf, dass ich Ihnen, aus der Besserwisserzukunft wieder mal die historischen Leviten lese - erheblich einzuschränken. Was die europäischen Mächte während der kolonialen Feldzüge weltumspannend an mörderischen Untaten begangen haben, ist ein unfassbares Verbrechen gegen die Menschheit und die Natur. Spaniens Konquistadoren haben in Südamerika höhnisch und goldgierig Zivilisation um Zivilisation ausgelöscht. Ein Fait accompli, was Ihnen, Freund, nicht unbekannt sein dürfte. Dass Sie, ein kritischer Geist, auf dem blutverschmierten Glorienschein tatsächlich stolz sind, zeigt wie selbstherrlich viele sich im Schatten der Prunkbauten fühlen, die doch nahezu alle mit dem Blutzoll errichtet worden sind.
Wer mit Güte und Liebe punktet, kann auf Prunk gut und gerne verzichten.
Ist Besitz unsere einzige Waffe, um Herzen zu gewinnen, muss man ununterbrochen aufrüsten, um den Status Quo zu halten.
Nichts sei so langweilig wie der bereits überschrittene Rubikon.
6. November
Zu prunken verstehn. Es ist die Glanzbeleuchtung der Talente: für jedes derselben kommt eine günstige Zeit: die benutze man, denn nicht jeder Tag wird der des Triumphs seyn. Es giebt Prachtmenschen, in welchen schon das Geringe sehr, das Bedeutende zum Erstaunen glänzt. Gesellt sich zu ausgezeichneten Gaben die Fähigkeit damit zu prunken; so erlangen sie den Ruf eines Wunders. Es giebt prunkende Nationen, und die Spanische ist es im höchsten Grad. Erst das Licht ließ die Pracht der Schöpfung hervortreten. Das Prunken füllt Vieles aus, ersetzt Vieles und giebt Allem ein zweites Daseyn, zumal wenn es sich auf wirklichen Gehalt stützt. Der Himmel, welcher die Vollkommenheiten verleiht, versieht sie auch mit dem Hange zu prunken: denn jedes von beiden allein würde unpassend seyn. Es gehört Kunst zum Prunken. Sogar das Vortrefflichste hängt von Umständen ab und hat nicht immer seinen Tag. Das Prunken geräth schlecht, wenn es zur Unzeit kommt: mehr als jeder andre Vorzug muß es frei von Affektation seyn, an welchem Uebelstande es allemal scheitert, weil es nahe an die Eitelkeit gränzt und diese an das Verächtliche: es muß sehr gemäßigt seyn, damit es nicht gemein werde, und sein Uebermaaß steht bei den Klugen schlecht angeschrieben. Bisweilen besteht es mehr in einer stummen Beredsamkeit, indem man gleichsam nur aus Nachlässigkeit seine Vollkommenheiten zum Vorschein kommen läßt: denn das kluge Verhehlen derselben ist das wirksamste Paradiren damit, da man eben durch solches Entziehn die Neugier am lebhaftesten anreizt. Sehr geschickt auch ist es, nicht die ganze Vollkommenheit mit einem Male aufzudecken, sondern nur einzelne Proben davon verstohlnen Blicken preiszugeben und dann immer mehr. Jede glänzende Leistung muß das Unterpfand einer größern seyn und im Beifall der ersten schon die Erwartung der folgenden liegen.
Wer es schafft, Freund, Appetithäppchen ihrer oder seiner selbst zu servieren, die anderen so in permanenter Vorfreude auf den Hauptgang zu halten, der nicht mal kommen muss, wird mit einer Gier nach mehr belohnt, die, und hier haben Sie Recht, diejenigen, die sich ganz und gar entblättern, niemals wachrufen dürften, jedenfalls nicht in der öffentlichen Arena. Angezogen schwelgt, wachgeküsst, die Fantasie auf immerdar im berauschten Chor, nackt schläft sie, nicht zu selten, sang- und klanglos nach einem kurzen, süßen Song ein. Im Privaten, das sei als Einschränkung noch erwähnt, ist die Unmittelbarkeit, die sich vollkommen hingibt, die Schleusen stolz und brausend öffnet, dagegen der Garant für eine allumfassende Liebe, die, da nicht alles Gold ist, was glänzt, auch Fehler attraktiv findet. Um ganz ehrlich mit Ihnen zu sein: mir käm’s unheimlich vor, wenn die Menschen, die ich liebe, alle prunk-perfekt wären, was ich nun mal keinesfalls selbst bin. Wenn ich an etwas keinen Mangel leide, dann sind’s Fehler, Sollbruchstellen und unerquickliche Lücken.
Ihren mit aufgeplusterter Brust rausgekrähten Nationenunsinn gilt’s - Sie warten sicherlich darauf, dass ich Ihnen, aus der Besserwisserzukunft wieder mal die historischen Leviten lese - erheblich einzuschränken. Was die europäischen Mächte während der kolonialen Feldzüge weltumspannend an mörderischen Untaten begangen haben, ist ein unfassbares Verbrechen gegen die Menschheit und die Natur. Spaniens Konquistadoren haben in Südamerika höhnisch und goldgierig Zivilisation um Zivilisation ausgelöscht. Ein Fait accompli, was Ihnen, Freund, nicht unbekannt sein dürfte. Dass Sie, ein kritischer Geist, auf dem blutverschmierten Glorienschein tatsächlich stolz sind, zeigt wie selbstherrlich viele sich im Schatten der Prunkbauten fühlen, die doch nahezu alle mit dem Blutzoll errichtet worden sind.
Wer mit Güte und Liebe punktet, kann auf Prunk gut und gerne verzichten.
Ist Besitz unsere einzige Waffe, um Herzen zu gewinnen, muss man ununterbrochen aufrüsten, um den Status Quo zu halten.
Nichts sei so langweilig wie der bereits überschrittene Rubikon.
6. November
278.
Abzeichen jeder Art vermeiden: denn die Vorzüge selbst werden zu Fehlern, sobald sie zur Bezeichnung dienen. Die Abzeichen entstehn aus Sonderbarkeit, welche stets getadelt wird: man läßt den Sonderling allein. Sogar die Schönheit, wenn sie überschwänglich wird, schadet unserm Ansehn; denn indem sie die Augen auf sich zieht, beleidigt sie: wie viel mehr werden Sonderbarkeiten, die schon an sich in schlechtem Ruf stehn, nachtheilig wirken. Dennoch wollen Einige sogar durch Laster allgemein bekannt seyn und suchen in der Verworfenheit die Auszeichnung, um einer so ehrlosen Ehre theilhaft zu werden. Selbst in der Einsicht kann das Uebermaaß in Geschwätz ausarten.
Ihr letzter Satz, Freund, versetzt den moralischen Biederfrauen und Biedermännern einen sophistischen Schuss vor den Bug, der's in sich hat. Des Guten zu viel - wer machte sich, wenn sie oder er glaubt, die Wahrheit mit Riesenkellen gelöffelt und in einem Rutsch verspeist zu haben, nicht solch ärgerlicher Philisterei ab und an unnötigerweise schuldig? Wir beide, Sie und ich, sind da, seien wir ehrlich, zu meinem Bedauern keine Ausnahme.
Wahrheit, die auf uns einprügelt, lehnen wir, hehre Absichten hin oder her, berechtigterweise ab.
Schmerz entzieht sich, in aller Regel, der Vernunft.
Wer sich im Besitz einer momentanen Einsicht befindet - zeitlose existieren, so leid's mir tut, nun mal nicht -, sollte sie als Glückes Unterpfand, nicht als rachdurstige Speerspitze betrachten und sowohl vorsichtig als auch dosiert einsetzen.
Echte Erkenntnis findet, über kurz oder lang, Freundinnen und Freunde, die sich ihr freiwillig verpflichtet fühlen. Zwang gebiert verlogene Loyalität, die sich bei erster Gelegenheit, im Falle der Schwäche, hohnlachend abwendet.
7. November
Abzeichen jeder Art vermeiden: denn die Vorzüge selbst werden zu Fehlern, sobald sie zur Bezeichnung dienen. Die Abzeichen entstehn aus Sonderbarkeit, welche stets getadelt wird: man läßt den Sonderling allein. Sogar die Schönheit, wenn sie überschwänglich wird, schadet unserm Ansehn; denn indem sie die Augen auf sich zieht, beleidigt sie: wie viel mehr werden Sonderbarkeiten, die schon an sich in schlechtem Ruf stehn, nachtheilig wirken. Dennoch wollen Einige sogar durch Laster allgemein bekannt seyn und suchen in der Verworfenheit die Auszeichnung, um einer so ehrlosen Ehre theilhaft zu werden. Selbst in der Einsicht kann das Uebermaaß in Geschwätz ausarten.
Ihr letzter Satz, Freund, versetzt den moralischen Biederfrauen und Biedermännern einen sophistischen Schuss vor den Bug, der's in sich hat. Des Guten zu viel - wer machte sich, wenn sie oder er glaubt, die Wahrheit mit Riesenkellen gelöffelt und in einem Rutsch verspeist zu haben, nicht solch ärgerlicher Philisterei ab und an unnötigerweise schuldig? Wir beide, Sie und ich, sind da, seien wir ehrlich, zu meinem Bedauern keine Ausnahme.
Wahrheit, die auf uns einprügelt, lehnen wir, hehre Absichten hin oder her, berechtigterweise ab.
Schmerz entzieht sich, in aller Regel, der Vernunft.
Wer sich im Besitz einer momentanen Einsicht befindet - zeitlose existieren, so leid's mir tut, nun mal nicht -, sollte sie als Glückes Unterpfand, nicht als rachdurstige Speerspitze betrachten und sowohl vorsichtig als auch dosiert einsetzen.
Echte Erkenntnis findet, über kurz oder lang, Freundinnen und Freunde, die sich ihr freiwillig verpflichtet fühlen. Zwang gebiert verlogene Loyalität, die sich bei erster Gelegenheit, im Falle der Schwäche, hohnlachend abwendet.
7. November
279.
Dem Widersprecher nicht widersprechen. Man muß unterscheiden, ob der Widerspruch aus List, oder aus Gemeinheit entspringt. Es ist nicht immer Eigensinn, sondern bisweilen ein Kunstgriff. (Vergl. 213.) Dann sei man aufmerksam, sich im erstem Fall nicht in Verwickelungen, im andern nicht ins Verderben ziehn zu lassen. Keine Sorgfalt ist besser angewandt, als die gegen Spione. Gegen die Dietriche der Seelen ist die beste Gegenlist, den Schlüssel der Vorsicht inwendig stecken zu lassen.
Niemandem auf den Leim gehen, Freund, der uns arglistig provozieren, fintenreich aus der Reserve locken und hinterhältig ausspionieren will, das empfehlen Sie. Kein schlechter Rat, durchaus nicht. Besonders gefällt mir, als Bild, der Dietrich zur Seele. Und mir scheint, als gäben wir, in meiner digitalen Zeit, den Nachschlüssel zum Ich noch viel leichtfertiger weg als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor. Das Privateste wird momentan leichtfertig zum Social-Media-Markt getragen und, als hätten wir viele Seelen, geistesabwesend verschleudert. Es ist eine seltsame Zeit, in der viele glauben, alles von uns wissen zu dürfen. Und wenn wir uns entziehen, gelten wir als Außenseiterin und Eigenbrötler, die sich der Konsumentengesellschaft in den Weg stellen.
Sich mit der Dummheit zu streiten, macht selten klüger.
Ruhe ist die letzte Bürger- und Bürgerinnenpflicht.
Widerspruch lohnt sich, wenn die Unvereinbarkeit demokratisch überbrückbar ist - ist sie dagegen unüberbruckbar, da sie auf diktatorischen Ansichten beruht, empfiehlt sich demokratischer, hartnäckiger, unbeugsamer Widerstand.
8. November
Dem Widersprecher nicht widersprechen. Man muß unterscheiden, ob der Widerspruch aus List, oder aus Gemeinheit entspringt. Es ist nicht immer Eigensinn, sondern bisweilen ein Kunstgriff. (Vergl. 213.) Dann sei man aufmerksam, sich im erstem Fall nicht in Verwickelungen, im andern nicht ins Verderben ziehn zu lassen. Keine Sorgfalt ist besser angewandt, als die gegen Spione. Gegen die Dietriche der Seelen ist die beste Gegenlist, den Schlüssel der Vorsicht inwendig stecken zu lassen.
Niemandem auf den Leim gehen, Freund, der uns arglistig provozieren, fintenreich aus der Reserve locken und hinterhältig ausspionieren will, das empfehlen Sie. Kein schlechter Rat, durchaus nicht. Besonders gefällt mir, als Bild, der Dietrich zur Seele. Und mir scheint, als gäben wir, in meiner digitalen Zeit, den Nachschlüssel zum Ich noch viel leichtfertiger weg als jemals in der Menschheitsgeschichte zuvor. Das Privateste wird momentan leichtfertig zum Social-Media-Markt getragen und, als hätten wir viele Seelen, geistesabwesend verschleudert. Es ist eine seltsame Zeit, in der viele glauben, alles von uns wissen zu dürfen. Und wenn wir uns entziehen, gelten wir als Außenseiterin und Eigenbrötler, die sich der Konsumentengesellschaft in den Weg stellen.
Sich mit der Dummheit zu streiten, macht selten klüger.
Ruhe ist die letzte Bürger- und Bürgerinnenpflicht.
Widerspruch lohnt sich, wenn die Unvereinbarkeit demokratisch überbrückbar ist - ist sie dagegen unüberbruckbar, da sie auf diktatorischen Ansichten beruht, empfiehlt sich demokratischer, hartnäckiger, unbeugsamer Widerstand.
8. November
280.
Ein Biedermann seyn. Mit dem redlichen Verfahren ist es zu Ende: Verpflichtungen werden nicht anerkannt: ein gegenseitiges lobenswerthes Benehmen findet sich selten, vielmehr erhält der beste Dienst den schlimmsten Lohn: und so ist heut zu Tage der Brauch der ganzen Welt. Es giebt ganze Nationen, die zur Schlechtigkeit geneigt sind: bei der einen hat man stets den Verrats bei der andern den Unbestand, bei der dritten den Betrug zu fürchten. Allein das schlechte Benehmen Andrer sei für uns kein Gegenstand der Nachahmung, sondern der Vorsicht. Die Gefahr dabei ist, daß der Anblick jener nichtswürdigen Verfahrungsweise auch unsre Redlichkeit erschüttere. Aber der Biedermann vergißt nie, über das was die Andern sind, wer er ist.
Hier, Freund, zeigt sich, dass Sprache lebt, Worte sich fleißig wandeln, ihren eigenen Weg nehmen. Im Deutschen verlangt "Biedermann" fast automatisch den "Brandstifter", um Max Frischs Dramatitel zu zitieren. Biederleute machen sich, in der heutigen Lesart, mitschuldig an den üblen Umtrieben der Demokratiefeinde, da sie, eben ganz biedermeierlich, ihr persönliches Wohlbefinden über den common wealth stellen. Das Unredliche liegt in der begrenzten Redlichkeit der Monade, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigt, nicht mit den Angelegenheiten der Öffentlichkeit.
Nationen existieren per se nicht, nur Einzelwesen, die sich nationalistisch verhalten.
Wer Grenzen akzeptiert, billigt automatisch Ungleichbehandlungen.
Menschen unterscheiden sich in dem Grad, in dem sie Wert auf Unterschiede legen.
9. November
Ein Biedermann seyn. Mit dem redlichen Verfahren ist es zu Ende: Verpflichtungen werden nicht anerkannt: ein gegenseitiges lobenswerthes Benehmen findet sich selten, vielmehr erhält der beste Dienst den schlimmsten Lohn: und so ist heut zu Tage der Brauch der ganzen Welt. Es giebt ganze Nationen, die zur Schlechtigkeit geneigt sind: bei der einen hat man stets den Verrats bei der andern den Unbestand, bei der dritten den Betrug zu fürchten. Allein das schlechte Benehmen Andrer sei für uns kein Gegenstand der Nachahmung, sondern der Vorsicht. Die Gefahr dabei ist, daß der Anblick jener nichtswürdigen Verfahrungsweise auch unsre Redlichkeit erschüttere. Aber der Biedermann vergißt nie, über das was die Andern sind, wer er ist.
Hier, Freund, zeigt sich, dass Sprache lebt, Worte sich fleißig wandeln, ihren eigenen Weg nehmen. Im Deutschen verlangt "Biedermann" fast automatisch den "Brandstifter", um Max Frischs Dramatitel zu zitieren. Biederleute machen sich, in der heutigen Lesart, mitschuldig an den üblen Umtrieben der Demokratiefeinde, da sie, eben ganz biedermeierlich, ihr persönliches Wohlbefinden über den common wealth stellen. Das Unredliche liegt in der begrenzten Redlichkeit der Monade, die sich nur noch mit sich selbst beschäftigt, nicht mit den Angelegenheiten der Öffentlichkeit.
Nationen existieren per se nicht, nur Einzelwesen, die sich nationalistisch verhalten.
Wer Grenzen akzeptiert, billigt automatisch Ungleichbehandlungen.
Menschen unterscheiden sich in dem Grad, in dem sie Wert auf Unterschiede legen.
9. November
281.
Gunst bei den Einsichtigen finden. Das laue Ja eines außerordentlichen Mannes ist höher zu schätzen, als der ganze allgemeine Beifall. Denn aus den Weisen spricht Einsicht und daher giebt ihr Lob eine unversiegbare Zufriedenheit. Der verständige Antigonus beschränkte den ganzen Schauplatz seines Ruhmes auf den einzigen Zeno, und Plato nannte den Aristoteles seine ganze Schule. Allein Manche sind nur darauf bedacht, sich den Magen zu füllen und wäre es mit dem gemeinsten Kehricht. Sogar die Fürsten bedürfen der Schriftsteller, und fürchten die Feder derselben mehr, als häßliche Weiber den Pinsel.
Ihre Frauenverachtung, Freund, überstrahlt, am Ende, alles, was halbwegs, an diesem Abschnitt, Gefallen erregen könnte. Sie sind so misogyn, so auf die Übermacht des Männlichen fixiert, dass ich kaum noch sagen kann, wie sehr ich solch einen Standpunkt verabscheue. Ich muss mich zusammenreißen, wir haben schließlich noch eine Strecke vor uns. Und wohl weiß ich auch, wie zuvor bereits erklärt, dass Sie ein typischer Kerl Ihrer Zeit sind und außerdem einer weitgehend frauenfeindlichen Organisation, der Katholischen Kirche, angehören. Ja, es gibt Priester, die Frauen lieben, die keinen Unterschied zwischen Frau und Mann machen, denen es übel aufstößt, dass Frauen keine Priesterinnnen werden dürfen. Die meisten katholischen Geistlichen jedoch, Freund, machen wir uns nichts vor, sind beglückt, dass ihnen der Vatikan die Frauen als "minderwertig" ausliefert, dass nur sie die Sakramente sprechen dürfen und allein die Macht in den Kirchen haben. Nonnen sind, im Katholizismus, in Wahrheit machtlos. Sie bleiben ohne Wirkung, dürfen den Kardinälen und Päpsten zujubeln und stumm und artig den Klostergarten bestellen. Warum die katholischen Laien, Frauen wie Männer, das mit sich machen lassen? Warum es keinen Aufstand gegen den Altherrenmuff gibt? Keine Ahnung. Vielleicht Hörigkeit. Die Lust an der Unter- und Einordnung, die Freude, Teil einer Hierarchie zu sein, unseren Platz zu kennen, verspüren, in letzter Konsequenz, viele von uns.
Worte allein schaffen in Diktaturen keine Taten, Taten allein schaffen neue Worte, die zu anderen Handlungen führen.
Wer schweigt, stimmt zu.
Zu sprechen sei die erste Bürgerinnen- und Bürgerpflicht.
10. November
Gunst bei den Einsichtigen finden. Das laue Ja eines außerordentlichen Mannes ist höher zu schätzen, als der ganze allgemeine Beifall. Denn aus den Weisen spricht Einsicht und daher giebt ihr Lob eine unversiegbare Zufriedenheit. Der verständige Antigonus beschränkte den ganzen Schauplatz seines Ruhmes auf den einzigen Zeno, und Plato nannte den Aristoteles seine ganze Schule. Allein Manche sind nur darauf bedacht, sich den Magen zu füllen und wäre es mit dem gemeinsten Kehricht. Sogar die Fürsten bedürfen der Schriftsteller, und fürchten die Feder derselben mehr, als häßliche Weiber den Pinsel.
Ihre Frauenverachtung, Freund, überstrahlt, am Ende, alles, was halbwegs, an diesem Abschnitt, Gefallen erregen könnte. Sie sind so misogyn, so auf die Übermacht des Männlichen fixiert, dass ich kaum noch sagen kann, wie sehr ich solch einen Standpunkt verabscheue. Ich muss mich zusammenreißen, wir haben schließlich noch eine Strecke vor uns. Und wohl weiß ich auch, wie zuvor bereits erklärt, dass Sie ein typischer Kerl Ihrer Zeit sind und außerdem einer weitgehend frauenfeindlichen Organisation, der Katholischen Kirche, angehören. Ja, es gibt Priester, die Frauen lieben, die keinen Unterschied zwischen Frau und Mann machen, denen es übel aufstößt, dass Frauen keine Priesterinnnen werden dürfen. Die meisten katholischen Geistlichen jedoch, Freund, machen wir uns nichts vor, sind beglückt, dass ihnen der Vatikan die Frauen als "minderwertig" ausliefert, dass nur sie die Sakramente sprechen dürfen und allein die Macht in den Kirchen haben. Nonnen sind, im Katholizismus, in Wahrheit machtlos. Sie bleiben ohne Wirkung, dürfen den Kardinälen und Päpsten zujubeln und stumm und artig den Klostergarten bestellen. Warum die katholischen Laien, Frauen wie Männer, das mit sich machen lassen? Warum es keinen Aufstand gegen den Altherrenmuff gibt? Keine Ahnung. Vielleicht Hörigkeit. Die Lust an der Unter- und Einordnung, die Freude, Teil einer Hierarchie zu sein, unseren Platz zu kennen, verspüren, in letzter Konsequenz, viele von uns.
Worte allein schaffen in Diktaturen keine Taten, Taten allein schaffen neue Worte, die zu anderen Handlungen führen.
Wer schweigt, stimmt zu.
Zu sprechen sei die erste Bürgerinnen- und Bürgerpflicht.
10. November
282.
Durch Abwesenheit seine Hochschätzung oder Verehrung befördern. Wie die Gegenwart den Ruhm vermindert, so vermehrt ihn die Abwesenheit. Wer abwesend für einen Löwen galt, war bei seiner Anwesenheit nur die lächerliche Ausgeburt des Berges. Die großen Talente verlieren durch die Berührung ihren Glanz: denn es ist leichter die Rinde der Außenseite, als den großen Gehalt des Geistes zu sehn. Die Einbildungskraft reicht weiter als das Gesicht, und die Täuschung, welche ihren Eingang gewöhnlich durch die Ohren findet, hat ihren Ausgang durch die Augen. Wer sich still im Mittelpunkt des Umkreises seines Rufes hält, wird sich in seinem Ansehn erhalten. Der Phönix selbst benutzt seine Zurückgezogenheit, um verehrt, und das durch sie erregte Verlangen, um geschätzt zu bleiben.
Interessant, Freund, was Sie hier anführen. Ich frage mich, wenn ich Ihnen folgte, ob der Tod dann wohl der beste aller Prestigeaufmöbler wäre? Sind wir tot möglicherweise mehr wert als lebendig? Sehe ich mir an, was einige von uns mit zunehmenden Alter verzapfen, könnte man das vermuten. Gerade die notorischen alten weißen Männer, die ihre Meinung so sehr schätzen, dass sie aufs Zuhören lieber gleich ganz verzichten, das Mansplaining zum blindwütigen Modus Vivendi erhoben haben, sollten mit ihrem Abtritt von der öffentlichen Bühne nicht zu lange warten.
Ändern sich die Zeiten, lohnt es sich, die Uhr umzustellen.
Schlägt uns die Stunde, sollten wir pünktlich sein.
Sich zu hinterfragen hilft bei der Zeigenossenschaft.
Nur im Gestern zu schwelgen, langweilt die Welt.
11. November
Durch Abwesenheit seine Hochschätzung oder Verehrung befördern. Wie die Gegenwart den Ruhm vermindert, so vermehrt ihn die Abwesenheit. Wer abwesend für einen Löwen galt, war bei seiner Anwesenheit nur die lächerliche Ausgeburt des Berges. Die großen Talente verlieren durch die Berührung ihren Glanz: denn es ist leichter die Rinde der Außenseite, als den großen Gehalt des Geistes zu sehn. Die Einbildungskraft reicht weiter als das Gesicht, und die Täuschung, welche ihren Eingang gewöhnlich durch die Ohren findet, hat ihren Ausgang durch die Augen. Wer sich still im Mittelpunkt des Umkreises seines Rufes hält, wird sich in seinem Ansehn erhalten. Der Phönix selbst benutzt seine Zurückgezogenheit, um verehrt, und das durch sie erregte Verlangen, um geschätzt zu bleiben.
Interessant, Freund, was Sie hier anführen. Ich frage mich, wenn ich Ihnen folgte, ob der Tod dann wohl der beste aller Prestigeaufmöbler wäre? Sind wir tot möglicherweise mehr wert als lebendig? Sehe ich mir an, was einige von uns mit zunehmenden Alter verzapfen, könnte man das vermuten. Gerade die notorischen alten weißen Männer, die ihre Meinung so sehr schätzen, dass sie aufs Zuhören lieber gleich ganz verzichten, das Mansplaining zum blindwütigen Modus Vivendi erhoben haben, sollten mit ihrem Abtritt von der öffentlichen Bühne nicht zu lange warten.
Ändern sich die Zeiten, lohnt es sich, die Uhr umzustellen.
Schlägt uns die Stunde, sollten wir pünktlich sein.
Sich zu hinterfragen hilft bei der Zeigenossenschaft.
Nur im Gestern zu schwelgen, langweilt die Welt.
11. November
283.
Die Gabe der Erfindung besitzen. Sie beweist das höchste Genie: allein welches Genie kann ohne einen Gran Wahnsinn bestehn? Ist das Erfinden Sache der Genialen; so ist die treffende Wahl Sache der Verständigen. Auch ist jenes eine besondre Gabe des Himmels und viel seltener: denn eine treffende Wahl ist Vielen gelungen, eine gute Erfindung Wenigen, und zwar nur den Ersten, dem Werth und der Zeit nach. Die Neuheit schmeichelt, und war sie glücklich, so giebt sie dem Guten einen doppelten Glanz. In Sachen des Urtheils ist die Neuheit gefährlich, wegen des Paradoxen; in Sachen des Genies aber löblich: jedoch wenn gelungen, verdient die Eine wie die Andre Beifall.
Zunächst, Freund, lässt sich vielleicht festhalten, dass wir Neuigkeiten gegenüber aufgeschlossen sein sollten. Wir können uns, aus der Distanz, weder ein vernünftiges Urteil bilden noch erlauben, wollen wir unseren Ruf als kritische und kritikfähige Zeitgenössinen und Zeitgenossen nicht aufs Spiel setzen. Selbstverständlich gibt's Moden, die wir nicht mitmachen müssen, deren Reizen wir uns sogar, unter allen Umständen, hartnäckig entziehen sollten.
Wer auf jede frivole Neuigkeit und jeden absurden Firlefanz hereinfällt, den langweilt alsbald oft genug das beständige Gute.
Zeitlose Qualität zu verscherbeln, um sich den Nippes der Minute zuzulegen, der alsbald auseinanderbricht und im Müll landet, ist ein neoliberales Übel, dem Nachhaltigkeit fremd ist.
Noch, Freund, ein Satz zum Erfinden. Blicken wir etwas genauer auf die großen Erfindungen, stellen wir sogleich fest, dass es sich nahezu immer um Gemeinschaftsleistungen handelt. Das Genie, von dem Sie so gerne schwärmen, existiert nur im Rahmen des Geniekults. Tief in sich wissen Erfinderinnen und Erfinder, dass sie Kinder ihrer Zeit sind, die allein ernten, was sie mit anderen gesät haben.
12. November
Die Gabe der Erfindung besitzen. Sie beweist das höchste Genie: allein welches Genie kann ohne einen Gran Wahnsinn bestehn? Ist das Erfinden Sache der Genialen; so ist die treffende Wahl Sache der Verständigen. Auch ist jenes eine besondre Gabe des Himmels und viel seltener: denn eine treffende Wahl ist Vielen gelungen, eine gute Erfindung Wenigen, und zwar nur den Ersten, dem Werth und der Zeit nach. Die Neuheit schmeichelt, und war sie glücklich, so giebt sie dem Guten einen doppelten Glanz. In Sachen des Urtheils ist die Neuheit gefährlich, wegen des Paradoxen; in Sachen des Genies aber löblich: jedoch wenn gelungen, verdient die Eine wie die Andre Beifall.
Zunächst, Freund, lässt sich vielleicht festhalten, dass wir Neuigkeiten gegenüber aufgeschlossen sein sollten. Wir können uns, aus der Distanz, weder ein vernünftiges Urteil bilden noch erlauben, wollen wir unseren Ruf als kritische und kritikfähige Zeitgenössinen und Zeitgenossen nicht aufs Spiel setzen. Selbstverständlich gibt's Moden, die wir nicht mitmachen müssen, deren Reizen wir uns sogar, unter allen Umständen, hartnäckig entziehen sollten.
Wer auf jede frivole Neuigkeit und jeden absurden Firlefanz hereinfällt, den langweilt alsbald oft genug das beständige Gute.
Zeitlose Qualität zu verscherbeln, um sich den Nippes der Minute zuzulegen, der alsbald auseinanderbricht und im Müll landet, ist ein neoliberales Übel, dem Nachhaltigkeit fremd ist.
Noch, Freund, ein Satz zum Erfinden. Blicken wir etwas genauer auf die großen Erfindungen, stellen wir sogleich fest, dass es sich nahezu immer um Gemeinschaftsleistungen handelt. Das Genie, von dem Sie so gerne schwärmen, existiert nur im Rahmen des Geniekults. Tief in sich wissen Erfinderinnen und Erfinder, dass sie Kinder ihrer Zeit sind, die allein ernten, was sie mit anderen gesät haben.
12. November
284.
Man sei nicht zudringlich; so wird man nicht zurückgesetzt werden. Man setze selbst Werth auf sich, wenn die Andern es sollen. Eher sei man karg, als freigebig mit seiner Person. Ersehnt komme man an; da wird man wohl empfangen werden. Nie komme man ungerufen und gehe nur, wenn man gesandt wird. Wer aus freien Stücken etwas unternimmt, wird, wenn es schlecht abläuft, den ganzen Unwillen auf sich laden; läuft es hingegen gut ab, weiß man es ihm doch nicht Dank. Der Zudringliche wird mit Geringschätzung und Wegwerfung aller Art überhäuft: eben deshalb, weil er sich mit Unverschämtheit eindrängte, wird er mit Beschämung fortgeschickt.
Ja und Nein, Freund. Wohl stimmt's, dass die Aufdränglichen als Plage gelten, andererseits müssen wir uns auch, sind wir unbekannt, zunächst in Szene setzen; was mir, übrigens, nicht besonders liegt. Bleiben wir stumm in der Ecke stehen, wird's selten passieren, dass irgendein Hahn nach uns kräht. Staub, den dürften wir ansetzen und langsam vermodern.
Wollen wir wirken, hilft der Elan, uns bemerkbar zu machen.
Nur mit sich zu hadern, weckt kein Interesse, sondern den Verdacht der Misanthropie, sich selbst und anderen gegenüber. Wobei, es sei unterstrichen, prinzipiell rein gar nichts gegen eine herzhafte Portion Menschenhass einzuwenden ist. Die meisten von uns sind arge Zeitvergeuderinnen und Ressourcenverschwender, die hirnlos nutzen und hinterhältig beschmutzen, was sorgsam gehegt und nachhaltig gepflegt werden sollte.
Ein Werk, das erst nach unserem Tode von uns zeugt, stellt keinen glücklichen Lebensbeweis dar.
Sich einzumischen, sei der Anfang elementarster Zufriedenheit.
Wer keine Liebe zeigt, wird, auf Dauer, nicht geliebt.
13. November
Man sei nicht zudringlich; so wird man nicht zurückgesetzt werden. Man setze selbst Werth auf sich, wenn die Andern es sollen. Eher sei man karg, als freigebig mit seiner Person. Ersehnt komme man an; da wird man wohl empfangen werden. Nie komme man ungerufen und gehe nur, wenn man gesandt wird. Wer aus freien Stücken etwas unternimmt, wird, wenn es schlecht abläuft, den ganzen Unwillen auf sich laden; läuft es hingegen gut ab, weiß man es ihm doch nicht Dank. Der Zudringliche wird mit Geringschätzung und Wegwerfung aller Art überhäuft: eben deshalb, weil er sich mit Unverschämtheit eindrängte, wird er mit Beschämung fortgeschickt.
Ja und Nein, Freund. Wohl stimmt's, dass die Aufdränglichen als Plage gelten, andererseits müssen wir uns auch, sind wir unbekannt, zunächst in Szene setzen; was mir, übrigens, nicht besonders liegt. Bleiben wir stumm in der Ecke stehen, wird's selten passieren, dass irgendein Hahn nach uns kräht. Staub, den dürften wir ansetzen und langsam vermodern.
Wollen wir wirken, hilft der Elan, uns bemerkbar zu machen.
Nur mit sich zu hadern, weckt kein Interesse, sondern den Verdacht der Misanthropie, sich selbst und anderen gegenüber. Wobei, es sei unterstrichen, prinzipiell rein gar nichts gegen eine herzhafte Portion Menschenhass einzuwenden ist. Die meisten von uns sind arge Zeitvergeuderinnen und Ressourcenverschwender, die hirnlos nutzen und hinterhältig beschmutzen, was sorgsam gehegt und nachhaltig gepflegt werden sollte.
Ein Werk, das erst nach unserem Tode von uns zeugt, stellt keinen glücklichen Lebensbeweis dar.
Sich einzumischen, sei der Anfang elementarster Zufriedenheit.
Wer keine Liebe zeigt, wird, auf Dauer, nicht geliebt.
13. November
285.
Nicht am fremden Unglück sterben. Man kenne den, welcher im Sumpfe steckt und merke sich, daß er uns rufen wird, um sich nachher am beiderseitigen Leiden zu trösten. Solche Leute suchen Jemanden, der ihnen helfe, das Unglück zu tragen, und wem sie im Glück den Rücken wandten, dem reichen sie jetzt die Hand. Großer Vorsicht bedarf es bei denen, die zu ertrinken im Begriff sind, um ihnen, ohne eigene Gefahr, Hülfe zu leisten.
Es stimmt schon Freund, sich für eine schlechte Sache ins Unglück ziehen zu lassen - buchstäblich zu versumpften -, sei uns nicht angeraten, die wir großzügig und wohlgefällig leben wollen. Allein, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ihnen ähnlich gegangen sein dürfte, allein wie häufig, frag ich mich, lag ich mit meinem spontanen Urteil, um nicht zu sagen: Vorurteil über Angelegenheiten wie Menschen daneben? Und, eine weitere moralische Einschränkung des Nur-helfen-wollen-wenn-es-uns-in-den-Kram-passt, handelt's sich nicht um eine unumstößliche Pflicht, in die Bresche zu springen, wenn andere feststecken? Wohlgemerkt, hier bin ich uneingeschränkt bei Ihnen, ohne selbst Leib und Seele aufs Spiel zu setzen; oder - heut ist nichts einfach - nur das eigene Leben zu riskieren, wenn's sich, ein gefährliches Wort, "lohnt"?
Wer für Freundinnen und Freunde, auch eilfertige und leichtsinnige, im Falle des Falles die Tat ergreift, wer sich nicht von dunklen Feldern und tiefen Schluchten abhalten lässt, darf die Krone der Freundschaft tragen. In guten Zeiten schöne Augen zu machen, sei billige Heuchelei, wenn man, kommt's tatsächlich drauf an, lieber die Lider schließt und, die Beine in die Hand nehmend, sich Hals über Kopf abwendet.
Andere, sowohl Tiere, wozu wir Menschen gehören, als auch Pflanzen und Flüsse und Meere, Täler wie Berge, andere aus einer misslichen Lage zu befreien, heißt stets, sich selbst, ein Wesen im Wohlklang des Seins, zu helfen.
Die Vermutung, wir seien allein, ist eine unbedarfte Täuschung. Mich gibt's nur, weil es dich gibt, und dich gibt's nur, weil wir sind.
Das Gute kennt keinen Schlussverkauf.
14. November
Nicht am fremden Unglück sterben. Man kenne den, welcher im Sumpfe steckt und merke sich, daß er uns rufen wird, um sich nachher am beiderseitigen Leiden zu trösten. Solche Leute suchen Jemanden, der ihnen helfe, das Unglück zu tragen, und wem sie im Glück den Rücken wandten, dem reichen sie jetzt die Hand. Großer Vorsicht bedarf es bei denen, die zu ertrinken im Begriff sind, um ihnen, ohne eigene Gefahr, Hülfe zu leisten.
Es stimmt schon Freund, sich für eine schlechte Sache ins Unglück ziehen zu lassen - buchstäblich zu versumpften -, sei uns nicht angeraten, die wir großzügig und wohlgefällig leben wollen. Allein, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Ihnen ähnlich gegangen sein dürfte, allein wie häufig, frag ich mich, lag ich mit meinem spontanen Urteil, um nicht zu sagen: Vorurteil über Angelegenheiten wie Menschen daneben? Und, eine weitere moralische Einschränkung des Nur-helfen-wollen-wenn-es-uns-in-den-Kram-passt, handelt's sich nicht um eine unumstößliche Pflicht, in die Bresche zu springen, wenn andere feststecken? Wohlgemerkt, hier bin ich uneingeschränkt bei Ihnen, ohne selbst Leib und Seele aufs Spiel zu setzen; oder - heut ist nichts einfach - nur das eigene Leben zu riskieren, wenn's sich, ein gefährliches Wort, "lohnt"?
Wer für Freundinnen und Freunde, auch eilfertige und leichtsinnige, im Falle des Falles die Tat ergreift, wer sich nicht von dunklen Feldern und tiefen Schluchten abhalten lässt, darf die Krone der Freundschaft tragen. In guten Zeiten schöne Augen zu machen, sei billige Heuchelei, wenn man, kommt's tatsächlich drauf an, lieber die Lider schließt und, die Beine in die Hand nehmend, sich Hals über Kopf abwendet.
Andere, sowohl Tiere, wozu wir Menschen gehören, als auch Pflanzen und Flüsse und Meere, Täler wie Berge, andere aus einer misslichen Lage zu befreien, heißt stets, sich selbst, ein Wesen im Wohlklang des Seins, zu helfen.
Die Vermutung, wir seien allein, ist eine unbedarfte Täuschung. Mich gibt's nur, weil es dich gibt, und dich gibt's nur, weil wir sind.
Das Gute kennt keinen Schlussverkauf.
14. November
286.
Man sei Niemandem für Alles, auch nie Allen verbindlich gemacht: denn sonst wird man zum Sklaven, oder gar zum Sklaven Aller. Einige werden unter glücklichem Umständen geboren, als Andre: jene um Gutes zu thun, diese um es zu empfangen. Die Freiheit ist viel köstlicher, als das Geschenk, wofür man sie hingiebt. Man soll weniger Werth darauf legen, Viele von sich, als darauf, sich selbst von Keinem abhängig zu sehn. Der einzige Vorzug des Herrschens ist, daß man mehr Gutes erweisen kann. Besonders halte man die Verbindlichkeit, die Einem aufgelegt wird, nicht für eine Gunst: denn meistentheils wird die fremde List es absichtlich so eingeleitet haben, daß man ihrer bedürfen mußte.
Ein ziemliches Kuddelmuddel, Freund, das Sie hier, durchaus aufklärerisch und wagemutig, ausbreiten. Das Lob der Unverbindlichkeit, das Sie singen, verdient vorab eine Einschränkung. Mir scheint, dass Staatsdienerinnen und Staatsdiener - und, Sie wissen's, selbstverständlich schließe ich die unverdient an Positionen katapultierten "Hochwohlgeborenen", die Ihnen noch so viel Achtung abfordern, als Teil dieser dem Staate dienenden Gruppe aus, da in solchen Fällen ein bedenkliches Gottesgnadentum zuverlässig zum narzistischen Dünkel und zur zementierten Klassengesellschaft führt, in der jede und jeder seinen Platz auf immerdar zugewiesen bekommt -, mir scheint, dass Staatsdienerinnen und Staatsdiener auf jeden Fall die Verbindlichkeit des demokratischen Dienes obliegt. Beamtinnen und Beamte können sich nicht aus der Verantwortung fürs Gemeinwesen stehlen. Wer einen Eid auf eine demokratische Verfassung leistet, steht unablässig in der Pflicht.
Zu den Herrscherinnen und Herrschern läßt sich sagen, dass sie nur auf begrenzte Zeit am Schalthebel der Macht sitzen sollten, maximal ein halbes Jahrzehnt - und niemals alleine. Die Idee des einen Staatsoberhaupts erscheint mir absurd. Ich bin kein Freund einer Präsidentin oder eines Präsidenten, einer Kanzlerin oder eines Kanzlers. Macht muss geteilt werden. Keine Einzelperson hat das letzte Wort zu haben. Entscheidungen werden im Parlament oder per Referendum getroffen. Kabinettsbeschlüsse, die nicht vom Parlament legitimiert sind, sind undemokratisch. Die repräsentative Demokratie funktioniert nur, wenn sie erheblich besser die Gesellschaft abbildet, also die Bevölkerung repräsentiert. Sie wollen ein Beispiel? Ich finde es absurd, dass Menschen, die in einem Staat leben, nicht in diesem Staat wählen dürfen. Die Vorstellung, dass jemand Ausländerin oder Ausländer ist, der neben und mit mir wohnt, ist lächerlich und falsch. Bevölkerung statt Volk, Verfassungspatriotismus statt Nationalismus.
Teilhabe schafft Zugehörigkeit.
Verantwortung, die auf Hörigkeit beruht, verkauft Menschen für dumm. Intelligenz wird geweckt, wenn wir Ungehörigkeit zulassen, das Neue akzeptieren, uns allzeit demokratisch abgleichen und vernünftig streitend auf die besten möglichen Maßnahmen gemeinsam einigen. Demokratie lebt vom gehaltvollen Widerspruch und stirbt am schalen Unisono.
15. November
Man sei Niemandem für Alles, auch nie Allen verbindlich gemacht: denn sonst wird man zum Sklaven, oder gar zum Sklaven Aller. Einige werden unter glücklichem Umständen geboren, als Andre: jene um Gutes zu thun, diese um es zu empfangen. Die Freiheit ist viel köstlicher, als das Geschenk, wofür man sie hingiebt. Man soll weniger Werth darauf legen, Viele von sich, als darauf, sich selbst von Keinem abhängig zu sehn. Der einzige Vorzug des Herrschens ist, daß man mehr Gutes erweisen kann. Besonders halte man die Verbindlichkeit, die Einem aufgelegt wird, nicht für eine Gunst: denn meistentheils wird die fremde List es absichtlich so eingeleitet haben, daß man ihrer bedürfen mußte.
Ein ziemliches Kuddelmuddel, Freund, das Sie hier, durchaus aufklärerisch und wagemutig, ausbreiten. Das Lob der Unverbindlichkeit, das Sie singen, verdient vorab eine Einschränkung. Mir scheint, dass Staatsdienerinnen und Staatsdiener - und, Sie wissen's, selbstverständlich schließe ich die unverdient an Positionen katapultierten "Hochwohlgeborenen", die Ihnen noch so viel Achtung abfordern, als Teil dieser dem Staate dienenden Gruppe aus, da in solchen Fällen ein bedenkliches Gottesgnadentum zuverlässig zum narzistischen Dünkel und zur zementierten Klassengesellschaft führt, in der jede und jeder seinen Platz auf immerdar zugewiesen bekommt -, mir scheint, dass Staatsdienerinnen und Staatsdiener auf jeden Fall die Verbindlichkeit des demokratischen Dienes obliegt. Beamtinnen und Beamte können sich nicht aus der Verantwortung fürs Gemeinwesen stehlen. Wer einen Eid auf eine demokratische Verfassung leistet, steht unablässig in der Pflicht.
Zu den Herrscherinnen und Herrschern läßt sich sagen, dass sie nur auf begrenzte Zeit am Schalthebel der Macht sitzen sollten, maximal ein halbes Jahrzehnt - und niemals alleine. Die Idee des einen Staatsoberhaupts erscheint mir absurd. Ich bin kein Freund einer Präsidentin oder eines Präsidenten, einer Kanzlerin oder eines Kanzlers. Macht muss geteilt werden. Keine Einzelperson hat das letzte Wort zu haben. Entscheidungen werden im Parlament oder per Referendum getroffen. Kabinettsbeschlüsse, die nicht vom Parlament legitimiert sind, sind undemokratisch. Die repräsentative Demokratie funktioniert nur, wenn sie erheblich besser die Gesellschaft abbildet, also die Bevölkerung repräsentiert. Sie wollen ein Beispiel? Ich finde es absurd, dass Menschen, die in einem Staat leben, nicht in diesem Staat wählen dürfen. Die Vorstellung, dass jemand Ausländerin oder Ausländer ist, der neben und mit mir wohnt, ist lächerlich und falsch. Bevölkerung statt Volk, Verfassungspatriotismus statt Nationalismus.
Teilhabe schafft Zugehörigkeit.
Verantwortung, die auf Hörigkeit beruht, verkauft Menschen für dumm. Intelligenz wird geweckt, wenn wir Ungehörigkeit zulassen, das Neue akzeptieren, uns allzeit demokratisch abgleichen und vernünftig streitend auf die besten möglichen Maßnahmen gemeinsam einigen. Demokratie lebt vom gehaltvollen Widerspruch und stirbt am schalen Unisono.
15. November
287.
Nie handle man im leidenschaftlichen Zustande: sonst wird man Alles verderben. Der kann nicht für sich handeln, der nicht bei sich ist: stets aber verbannt die Leidenschaft die Vernunft. In solchen Fällen lasse man für sich einen vernünftigen Vermittler eintreten, und das wird Jeder seyn, der ohne Leidenschaft ist. Stets sehn die Zuschauer mehr als die Spieler, weil sie leidenschaftslos sind. Sobald man merkt, daß man außer Fassung geräth, blase die Klugheit zum Rückzuge: denn kaum wird das Blut sich vollends erhitzt haben, so wird man blutig zu Werke gehen und in wenig Augenblicken auf lange Zeit sich zur Beschämung und Andern zur Verläumdung Stoff gegeben haben.
Übereinkunft, Freund, wenn auch nur eingeschränkte, erreichen Sie hier, mit diesem klugen Abschnitt. Denn sehr wohl stimmt's, dass Leidenschaft häufig genug Leiden schafft, aber halt nicht immer, nicht, worauf's ankommt, zwangsläufig. Das Herzblut, die Verve, der Eifer befeuern uns nicht zu selten derart, dass überhaupt etwas Eigenartiges, etwas Außergewöhnliches entsteht. Wer immer trottelt und trödelt, bleibt, Pardon, ein Trottel. Zu rennen, ja: zu rasen, heißt doch auch, dass wir einiges an Strecke zurücklegen, uns umsehen und, nicht unwichtig, gesehen werden.
Das Mittelmaß sei eine Idee, die in der Wirklichkeit weder temperamentvolle Freundinnen noch feurige Freunde kennt.
Nur wer nichts will, verachtet die Passion.
Kunst, die Bestand hat, kommt nicht allein vom Können und den staubigen Kenntnissen, sondern vom ungestümen Wollen, das den Konventionen widersteht.
16. November
Nie handle man im leidenschaftlichen Zustande: sonst wird man Alles verderben. Der kann nicht für sich handeln, der nicht bei sich ist: stets aber verbannt die Leidenschaft die Vernunft. In solchen Fällen lasse man für sich einen vernünftigen Vermittler eintreten, und das wird Jeder seyn, der ohne Leidenschaft ist. Stets sehn die Zuschauer mehr als die Spieler, weil sie leidenschaftslos sind. Sobald man merkt, daß man außer Fassung geräth, blase die Klugheit zum Rückzuge: denn kaum wird das Blut sich vollends erhitzt haben, so wird man blutig zu Werke gehen und in wenig Augenblicken auf lange Zeit sich zur Beschämung und Andern zur Verläumdung Stoff gegeben haben.
Übereinkunft, Freund, wenn auch nur eingeschränkte, erreichen Sie hier, mit diesem klugen Abschnitt. Denn sehr wohl stimmt's, dass Leidenschaft häufig genug Leiden schafft, aber halt nicht immer, nicht, worauf's ankommt, zwangsläufig. Das Herzblut, die Verve, der Eifer befeuern uns nicht zu selten derart, dass überhaupt etwas Eigenartiges, etwas Außergewöhnliches entsteht. Wer immer trottelt und trödelt, bleibt, Pardon, ein Trottel. Zu rennen, ja: zu rasen, heißt doch auch, dass wir einiges an Strecke zurücklegen, uns umsehen und, nicht unwichtig, gesehen werden.
Das Mittelmaß sei eine Idee, die in der Wirklichkeit weder temperamentvolle Freundinnen noch feurige Freunde kennt.
Nur wer nichts will, verachtet die Passion.
Kunst, die Bestand hat, kommt nicht allein vom Können und den staubigen Kenntnissen, sondern vom ungestümen Wollen, das den Konventionen widersteht.
16. November
288.
Nach der Gelegenheit leben. Unser Handeln, unser Denken, Alles muß sich nach den Umständen richten. Man wolle wann man kann: denn Zeit und Gelegenheit warten auf Niemanden. Man lebe nicht nach ein für alle Mal gefaßten Vorsätzen, es sei denn zu Gunsten der Tugend; noch schreibe man dem Willen bestimmte Gesetze vor: denn morgen wird man das Wasser trinken müssen, welches man heute verschmähte. Es giebt so verschrobene Queerköpfe, daß sie verlangen, alle Umstände bei einem Unternehmen sollen sich nach ihren verrückten Grillen fügen und nicht anders. Der Weise hingegen weiß, daß der Leitstern der Klugheit darin besteht, daß man sich nach der Gelegenheit richte.
Was für ein Lesevergnügen, Freund! Dürfte und könnte ich, ich umarmte Sie. Wir zögen aus, nutzten die Gunst der Stunde, unsere Übereinkunft und ließen Fünfe gerade sein. Meine Partnerin, der ich vor einiger Zeit erzählt habe, dass ich mit einem von mir verehrten Autor, der ein großer Trinker und Kettenraucher ist, am liebsten die Nacht durchzechen würde, obwohl ich an sich allerhöchstens ab und an bei Abendgesellschaften ein Glas Weißwein vertrage, meine Partnerin zieht mich regelmäßig damit auf, dass diese Gelegenheit wohl niemals kommen werde, ich zur Vernunft und Nüchternheit verdammt sei. Und, bin ich ehrlich, wahrscheinlich hat sie Recht. Der Autor ist durch den Erfolg seines Mammutwerks noch menschenscheuer und seltsamer geworden, als er eh per se gewesen ist. Die Chance, mich mit ihm zu betrinken, die mir übrigens ein anderer Freund, der gerade eine Veranstaltung mit dem Schriftsteller in Tübingen vorbereitet, bietet, suche ich nicht, um weder mich verunglimpfen zu lassen, was eine Nichtbeachtung schließlich wäre, noch ihn zu brüskieren, der vor mir, dem aufdringlichen Romanzyklusverehrer, das Weite suchen müsste.
Noch etwas, Freund, spricht gegen den Plan, jeden scheinbar günstigen Anlass ungeniert beim Schlafittchen zu packen. Gelegenheit, so heißt's nun mal, macht Diebinnen und Diebe. Was wiederum bedeutet, dass es womöglich besser ist, Anlässe zu vermeiden, bei denen wir uns falsch benehmen könnten.
Wer ohne Unterlass die Versuchung sucht, findet irgendwann das Verderben.
Zu glauben, wir hätten auf die Welt ein Anrecht, macht uns, in aller Regel, zu schlechten Menschen.
Ausgelassene Gelegenheiten zeugen oftmals von Klugheit.
17. November
Nach der Gelegenheit leben. Unser Handeln, unser Denken, Alles muß sich nach den Umständen richten. Man wolle wann man kann: denn Zeit und Gelegenheit warten auf Niemanden. Man lebe nicht nach ein für alle Mal gefaßten Vorsätzen, es sei denn zu Gunsten der Tugend; noch schreibe man dem Willen bestimmte Gesetze vor: denn morgen wird man das Wasser trinken müssen, welches man heute verschmähte. Es giebt so verschrobene Queerköpfe, daß sie verlangen, alle Umstände bei einem Unternehmen sollen sich nach ihren verrückten Grillen fügen und nicht anders. Der Weise hingegen weiß, daß der Leitstern der Klugheit darin besteht, daß man sich nach der Gelegenheit richte.
Was für ein Lesevergnügen, Freund! Dürfte und könnte ich, ich umarmte Sie. Wir zögen aus, nutzten die Gunst der Stunde, unsere Übereinkunft und ließen Fünfe gerade sein. Meine Partnerin, der ich vor einiger Zeit erzählt habe, dass ich mit einem von mir verehrten Autor, der ein großer Trinker und Kettenraucher ist, am liebsten die Nacht durchzechen würde, obwohl ich an sich allerhöchstens ab und an bei Abendgesellschaften ein Glas Weißwein vertrage, meine Partnerin zieht mich regelmäßig damit auf, dass diese Gelegenheit wohl niemals kommen werde, ich zur Vernunft und Nüchternheit verdammt sei. Und, bin ich ehrlich, wahrscheinlich hat sie Recht. Der Autor ist durch den Erfolg seines Mammutwerks noch menschenscheuer und seltsamer geworden, als er eh per se gewesen ist. Die Chance, mich mit ihm zu betrinken, die mir übrigens ein anderer Freund, der gerade eine Veranstaltung mit dem Schriftsteller in Tübingen vorbereitet, bietet, suche ich nicht, um weder mich verunglimpfen zu lassen, was eine Nichtbeachtung schließlich wäre, noch ihn zu brüskieren, der vor mir, dem aufdringlichen Romanzyklusverehrer, das Weite suchen müsste.
Noch etwas, Freund, spricht gegen den Plan, jeden scheinbar günstigen Anlass ungeniert beim Schlafittchen zu packen. Gelegenheit, so heißt's nun mal, macht Diebinnen und Diebe. Was wiederum bedeutet, dass es womöglich besser ist, Anlässe zu vermeiden, bei denen wir uns falsch benehmen könnten.
Wer ohne Unterlass die Versuchung sucht, findet irgendwann das Verderben.
Zu glauben, wir hätten auf die Welt ein Anrecht, macht uns, in aller Regel, zu schlechten Menschen.
Ausgelassene Gelegenheiten zeugen oftmals von Klugheit.
17. November
289.
Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehen läßt, daß er ein Mensch sei. An dem Tage hören sie auf ihn für göttlich zu halten, an welchem sie ihn recht menschlich erblicken. Der Leichtsinn ist das größte Hinderniß unsers Ansehns. Wie der zurückhaltende Mann für mehr als Mensch gehalten wird, so der leichtsinnige für weniger als Mensch. Es giebt keinen Fehler, der mehr herabwürdigte, weil der Leichtsinn das grade Gegentheil des überlegten, gewichtigen Ernstes ist. Ein leichtsinniger Mensch kann nicht von Gehalt seyn, zumal wenn er alt ist, wo die Jahre ihn zur Ueberlegung verpflichten. Und obgleich dieser Makel an so Vielen haftet; so ist er nichts desto weniger ganz besonders herabwürdigend.
Sie vermischen, Freund, zwei sehr unterschiedliche Dinge, legen Begriffe auf- und übereinander, als handelte es sich um die beiden einzigen Teile einer Schablone, die zwangsläufig zusammengehörten: Menschsein und Leichtsinn. Das eine, der Überbegriff, Menschsein, hat jedoch mit dem anderen, einem Verhalten, Leichtsinn, allein dadurch zu tun, dass die Unbedarftheit und Unbekümmertheit selbstverständlich zum Menschsein gehören. Und dass der leichte Sinn, von Ihnen und fast allen anderen Moralistinnen und Moralisten, verachtet wird, scheint mir eine engstirnige Vorverurteilung zu sein. Gewiss, Sorglosigkeit kann zu allerlei Ausrutschern, Patzern und Missgeschicken führen, aber eben auch zum Glück des Augenblicks.
Wer sich dem Moment leichtfüßig anvertraut, entdeckt in ihm manch Schönes, das den schwerherzigen Übervorsichtigen auf immer verborgen bleibt.
Wer das Schwere aufhebt und sich längerfristig aufbürdet, sollte sich nicht wundern, dass es einiges wiegt und zur Last werden kann.
Was ist leichter als die Luft, die sinnlich uns umhüllt, in uns das Herz zum Schlagen bringt?
Lasten finden uns, Rast müssen wir uns selbst erlauben.
18. November
Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehen läßt, daß er ein Mensch sei. An dem Tage hören sie auf ihn für göttlich zu halten, an welchem sie ihn recht menschlich erblicken. Der Leichtsinn ist das größte Hinderniß unsers Ansehns. Wie der zurückhaltende Mann für mehr als Mensch gehalten wird, so der leichtsinnige für weniger als Mensch. Es giebt keinen Fehler, der mehr herabwürdigte, weil der Leichtsinn das grade Gegentheil des überlegten, gewichtigen Ernstes ist. Ein leichtsinniger Mensch kann nicht von Gehalt seyn, zumal wenn er alt ist, wo die Jahre ihn zur Ueberlegung verpflichten. Und obgleich dieser Makel an so Vielen haftet; so ist er nichts desto weniger ganz besonders herabwürdigend.
Sie vermischen, Freund, zwei sehr unterschiedliche Dinge, legen Begriffe auf- und übereinander, als handelte es sich um die beiden einzigen Teile einer Schablone, die zwangsläufig zusammengehörten: Menschsein und Leichtsinn. Das eine, der Überbegriff, Menschsein, hat jedoch mit dem anderen, einem Verhalten, Leichtsinn, allein dadurch zu tun, dass die Unbedarftheit und Unbekümmertheit selbstverständlich zum Menschsein gehören. Und dass der leichte Sinn, von Ihnen und fast allen anderen Moralistinnen und Moralisten, verachtet wird, scheint mir eine engstirnige Vorverurteilung zu sein. Gewiss, Sorglosigkeit kann zu allerlei Ausrutschern, Patzern und Missgeschicken führen, aber eben auch zum Glück des Augenblicks.
Wer sich dem Moment leichtfüßig anvertraut, entdeckt in ihm manch Schönes, das den schwerherzigen Übervorsichtigen auf immer verborgen bleibt.
Wer das Schwere aufhebt und sich längerfristig aufbürdet, sollte sich nicht wundern, dass es einiges wiegt und zur Last werden kann.
Was ist leichter als die Luft, die sinnlich uns umhüllt, in uns das Herz zum Schlagen bringt?
Lasten finden uns, Rast müssen wir uns selbst erlauben.
18. November
290.
Es ist viel Glück, zur Hochachtung auch die Liebe zu besitzen. Gemeiniglich darf man, um sich die Achtung zu erhalten, nicht sehr geliebt seyn. Die Liebe ist verwegner als der Haß. Zuneigung und Verehrung lassen sich nicht wohl vereinen. Zwar soll man nicht sehr gefürchtet seyn, aber auch nicht sehr geliebt. Die Liebe führt die Vertraulichkeit ein, und mit jedem Schritt, den diese vorwärts macht, macht die Hochachtung einen zurück. Man sei eher im Besitz einer verehrenden als einer hingebenden Liebe: so ist sie ganzen Leuten angemessen.
Wie kurz Sie, Freund, in romantischen Dingen doch springen! Erstaunlich. Andererseits, denke ich an Ihre Berufsentscheidung, auch wiederum nicht. Wer Hierarchien schätzt, schätzt die freie Liebe nun mal selten.
Dass es Liebe gibt, die sowohl gleichzeitig vertraulich als auch - eh ein seltsamer Begriff in Liebesdingen - hochachtungsvoll ist, finde ich selbstverständlich.
Ehrlich gesagt: falls Innigkeit tatsächlich die Wertschätzung in einer intimen Beziehung herabsetzt, stimmt etwas mit dieser Liebe nicht.
Wer Verehrung will, hat Liebe nicht verdient.
19. November
Es ist viel Glück, zur Hochachtung auch die Liebe zu besitzen. Gemeiniglich darf man, um sich die Achtung zu erhalten, nicht sehr geliebt seyn. Die Liebe ist verwegner als der Haß. Zuneigung und Verehrung lassen sich nicht wohl vereinen. Zwar soll man nicht sehr gefürchtet seyn, aber auch nicht sehr geliebt. Die Liebe führt die Vertraulichkeit ein, und mit jedem Schritt, den diese vorwärts macht, macht die Hochachtung einen zurück. Man sei eher im Besitz einer verehrenden als einer hingebenden Liebe: so ist sie ganzen Leuten angemessen.
Wie kurz Sie, Freund, in romantischen Dingen doch springen! Erstaunlich. Andererseits, denke ich an Ihre Berufsentscheidung, auch wiederum nicht. Wer Hierarchien schätzt, schätzt die freie Liebe nun mal selten.
Dass es Liebe gibt, die sowohl gleichzeitig vertraulich als auch - eh ein seltsamer Begriff in Liebesdingen - hochachtungsvoll ist, finde ich selbstverständlich.
Ehrlich gesagt: falls Innigkeit tatsächlich die Wertschätzung in einer intimen Beziehung herabsetzt, stimmt etwas mit dieser Liebe nicht.
Wer Verehrung will, hat Liebe nicht verdient.
19. November
291.
Zu prüfen verstehn. Die Aufmerksamkeit des Klugen wetteifre mit der Zurückhaltung des Vorsichtigen. Viel Kopf ist erfordert, um den fremden auszumessen. Es ist wichtiger, die Gemüthsarten und Eigenschaften der Personen, als die der Kräuter und Steine zu kennen. Jenes ist eine der scharfsinnigsten Beschäftigungen im Leben. Am Klange kennt man die Metalle, und an der Rede die Menschen. Die Worte geben Anzeichen der Rechtlichkeit, aber viel mehr die Thaten. Hier nun bedarf es der außerordentlichsten Vorsicht, der tiefen Beobachtung, der seinen Auffassung und des richtigen Urtheils.
Viel Stoff, Freund, den Sie in diesen kurzen Abschnitt gepackt haben - das verdient Respekt. Zweifellos, wenn ich Sie loben darf, ist das eine Ihrer Stärken: sie spitzen zu, kraxeln auf den Berggipfel und rennen dann, geschickt argumentierend, ins Flache zurück, um sich einer weiteren Eskalation zu widmen. Langweilig ist das höchst selten, aber - ein Aber, das ich auf mich selbst anwenden möchte -, aber wohin führt uns die Kurzweil? Knapp sitzen die Gedanken, schleichen sich dann, ohne große Verabschiedung, heimlich davon und lassen uns rastlos, wenn auch ratvoll zurück. Was ich sagen will: Ihre Gedankenschweifigkeit macht süchtig, ist, wie alles Wahre, aus der Zeit gefallen und doch, ein prachtvoller Widerspruch, im jeweiligen Jetzt Ihrer Leserinnen und Leser verankert.
Ein, zwei Sätze zum Inhalt.
Wer die Erde nicht kennt, die Namen der Pflanzen und Tiere nicht respektvoll nennt, versteht und verdient nicht, auf ihr lustvoll zu wandeln.
Taten sind bessere Zeitzeugen als Worte; allein um Erstere zu bewerten, benötigen wir doch Letztere.
Sich selbst präzise zu sehen, sei die unumstößliche Voraussetzung, um andere auch nur ansatzweise zu erkennen.
20. November
Zu prüfen verstehn. Die Aufmerksamkeit des Klugen wetteifre mit der Zurückhaltung des Vorsichtigen. Viel Kopf ist erfordert, um den fremden auszumessen. Es ist wichtiger, die Gemüthsarten und Eigenschaften der Personen, als die der Kräuter und Steine zu kennen. Jenes ist eine der scharfsinnigsten Beschäftigungen im Leben. Am Klange kennt man die Metalle, und an der Rede die Menschen. Die Worte geben Anzeichen der Rechtlichkeit, aber viel mehr die Thaten. Hier nun bedarf es der außerordentlichsten Vorsicht, der tiefen Beobachtung, der seinen Auffassung und des richtigen Urtheils.
Viel Stoff, Freund, den Sie in diesen kurzen Abschnitt gepackt haben - das verdient Respekt. Zweifellos, wenn ich Sie loben darf, ist das eine Ihrer Stärken: sie spitzen zu, kraxeln auf den Berggipfel und rennen dann, geschickt argumentierend, ins Flache zurück, um sich einer weiteren Eskalation zu widmen. Langweilig ist das höchst selten, aber - ein Aber, das ich auf mich selbst anwenden möchte -, aber wohin führt uns die Kurzweil? Knapp sitzen die Gedanken, schleichen sich dann, ohne große Verabschiedung, heimlich davon und lassen uns rastlos, wenn auch ratvoll zurück. Was ich sagen will: Ihre Gedankenschweifigkeit macht süchtig, ist, wie alles Wahre, aus der Zeit gefallen und doch, ein prachtvoller Widerspruch, im jeweiligen Jetzt Ihrer Leserinnen und Leser verankert.
Ein, zwei Sätze zum Inhalt.
Wer die Erde nicht kennt, die Namen der Pflanzen und Tiere nicht respektvoll nennt, versteht und verdient nicht, auf ihr lustvoll zu wandeln.
Taten sind bessere Zeitzeugen als Worte; allein um Erstere zu bewerten, benötigen wir doch Letztere.
Sich selbst präzise zu sehen, sei die unumstößliche Voraussetzung, um andere auch nur ansatzweise zu erkennen.
20. November
292.
Die persönlichen Eigenschaften müssen die Obliegenheiten des Amtes übersteigen: und nicht umgekehrt. So hoch auch der Posten seyn mag, stets muß die Person sich als ihm überlegen zeigen. Ein umfassender Geist breitet sich immer mehr aus und tritt mehr und mehr hervor in seinem Amte. Hingegen wird der Engherzige bald seine Blöße zeigen und am Ende an Verpflichtungen und Ansehn bankerott werden. Der große Augustus setzte seine Ehre darein, als Mensch größer, denn als Fürst zu seyn. Hier kommt nun ein hoher Sinn zu Statten und auch ein wohlüberlegtes Selbstvertrauen trägt viel bei.
Beamtinnen und Beamte, Freund, die sich als strikte Vollstreckerinnen und Erfüllungsgehilfen hartherziger, ja verbrecherischer Anordnungen zeigen, die sich von unmenschlichen Befehlen, welche "von oben" kommen, denen deswegen "ohne Wenn und Aber" Folge geleistet werden muss, beeinflussen und lenken lassen, haben in vielen Ländern dieser Erde, besonders aber in meinem, unermesslichen Schaden angerichtet. Sie haben Recht: stellen wir das Amt nicht in Frage, haben die anderen das Kleinherzige oft genug bald amtlich. Doch es gibt auch, versteht sich, Ausnahmen. Richterinnen und Richter, die sich über das demokratische Gesetz stellen, weil sie sich für juristische Genies halten oder persönliche Eigenschaften sowohl besitzen als auch schätzen, die nicht Teil der Rechtsprechung sind und, obwohl die Eigenschaften als positiv elitär und avantgardistisch gelten, auch besser niemals werden sollten, da sie dem egalitären Grundsatz widersprechen, solche Richterinnen und Richter müssen sich in die vorsichtigen Zeitläufte fügen.
Der Grad zwischen Genie und Hybris ist, in aller Regel, ziemlich schmal, und der Geniekult hat noch keiner Gesellschaft, die an Gleichberechtigung interessiert ist, gut getan.
Weder Tief- noch Hochmut sind erstrebenswert. Der Gleichmut - sprich: die Courage zur Chancengleichheit - schmückt ein wahrhaft aufgeklärtes Gemeinwesen.
Wer auf Dauer wirken will, der oder dem sollte die eigene, augenblickliche Wirkung einerlei sein.
21. November
Die persönlichen Eigenschaften müssen die Obliegenheiten des Amtes übersteigen: und nicht umgekehrt. So hoch auch der Posten seyn mag, stets muß die Person sich als ihm überlegen zeigen. Ein umfassender Geist breitet sich immer mehr aus und tritt mehr und mehr hervor in seinem Amte. Hingegen wird der Engherzige bald seine Blöße zeigen und am Ende an Verpflichtungen und Ansehn bankerott werden. Der große Augustus setzte seine Ehre darein, als Mensch größer, denn als Fürst zu seyn. Hier kommt nun ein hoher Sinn zu Statten und auch ein wohlüberlegtes Selbstvertrauen trägt viel bei.
Beamtinnen und Beamte, Freund, die sich als strikte Vollstreckerinnen und Erfüllungsgehilfen hartherziger, ja verbrecherischer Anordnungen zeigen, die sich von unmenschlichen Befehlen, welche "von oben" kommen, denen deswegen "ohne Wenn und Aber" Folge geleistet werden muss, beeinflussen und lenken lassen, haben in vielen Ländern dieser Erde, besonders aber in meinem, unermesslichen Schaden angerichtet. Sie haben Recht: stellen wir das Amt nicht in Frage, haben die anderen das Kleinherzige oft genug bald amtlich. Doch es gibt auch, versteht sich, Ausnahmen. Richterinnen und Richter, die sich über das demokratische Gesetz stellen, weil sie sich für juristische Genies halten oder persönliche Eigenschaften sowohl besitzen als auch schätzen, die nicht Teil der Rechtsprechung sind und, obwohl die Eigenschaften als positiv elitär und avantgardistisch gelten, auch besser niemals werden sollten, da sie dem egalitären Grundsatz widersprechen, solche Richterinnen und Richter müssen sich in die vorsichtigen Zeitläufte fügen.
Der Grad zwischen Genie und Hybris ist, in aller Regel, ziemlich schmal, und der Geniekult hat noch keiner Gesellschaft, die an Gleichberechtigung interessiert ist, gut getan.
Weder Tief- noch Hochmut sind erstrebenswert. Der Gleichmut - sprich: die Courage zur Chancengleichheit - schmückt ein wahrhaft aufgeklärtes Gemeinwesen.
Wer auf Dauer wirken will, der oder dem sollte die eigene, augenblickliche Wirkung einerlei sein.
21. November
293.
Von der Reife. Sie leuchtet aus dem Aeußern hervor, noch mehr aus der Sitte. Die materielle Gewichtigkeit macht das Gold, die moralische den Mann werthvoll. Die Reife verbreitet über alle seine Fähigkeiten einen gewissen Austand und erregt Hochachtung. Die Gesetztheit des Menschen ist die Fassade seiner Seele: sie besteht nicht in der Unbeweglichkeit des Dummen, wie es der Leichtsinn haben möchte, sondern in einer sehr ruhigen Autorität. Ihre Reden sind Sentenzen, ihr Wirken gelingende Thaten. Sie erfordert einen sehr vollendeten Mann: denn Jeder ist so weit ein ganzer Mann, als er Reife hat. Indem er aufhörte ein Kind zu seyn, fieng er an Ernst und Autorität zu erhalten.
Ach, Freund, Sie klingen schon wieder nach arg leiernder Gebetsmühle, die alte Männer, summa summarum, schmerzfrei hochleben lässt, als gäb’s nur ein Geschlecht auf der Welt. Erst gestern durft ich erleben, dass sich, da eine junge Frau, zum Leidwesen der Kremser Literaturtage, für eine Diskussionsrunde zum Guten Leben abgesagt hatte, zwei angejährte Schriftsteller auf der Wachauer Bühne schamlos blamiert haben. „Reiflich“ aufgeblasen klopften sie sich verbal fleißig auf die Schultern, lobhudelten sich im langweiligen, chauvinistischen Akkord, bis das halbe Publikum vor lauter Gähnen schreckliche Mundkrämpfe bekam. Grausig und fahrig. Ihnen hätt’s wohl arg gefallen, schätz ich; zumal die ganze leidige Selbstentblößung auch noch in einer ehemaligen Minoritenkirche stattgefunden hat.
Reife, die neue Ideen abwürgt, verdient nicht nur das Label Stagnation, sondern Rückschritt.
Fortgeschrittenes Alter sei per se kein Kriterium für irgendetwas – außer fürs dröge Zählen vergangener Tage.
Neugierig zu sein, heißt, auf immerdar jung zu bleiben.
Wir müssen wohl oder übel, akzeptieren, dass es allein einen endgültigen Reifegrad gibt, den Tod.
22. November
Von der Reife. Sie leuchtet aus dem Aeußern hervor, noch mehr aus der Sitte. Die materielle Gewichtigkeit macht das Gold, die moralische den Mann werthvoll. Die Reife verbreitet über alle seine Fähigkeiten einen gewissen Austand und erregt Hochachtung. Die Gesetztheit des Menschen ist die Fassade seiner Seele: sie besteht nicht in der Unbeweglichkeit des Dummen, wie es der Leichtsinn haben möchte, sondern in einer sehr ruhigen Autorität. Ihre Reden sind Sentenzen, ihr Wirken gelingende Thaten. Sie erfordert einen sehr vollendeten Mann: denn Jeder ist so weit ein ganzer Mann, als er Reife hat. Indem er aufhörte ein Kind zu seyn, fieng er an Ernst und Autorität zu erhalten.
Ach, Freund, Sie klingen schon wieder nach arg leiernder Gebetsmühle, die alte Männer, summa summarum, schmerzfrei hochleben lässt, als gäb’s nur ein Geschlecht auf der Welt. Erst gestern durft ich erleben, dass sich, da eine junge Frau, zum Leidwesen der Kremser Literaturtage, für eine Diskussionsrunde zum Guten Leben abgesagt hatte, zwei angejährte Schriftsteller auf der Wachauer Bühne schamlos blamiert haben. „Reiflich“ aufgeblasen klopften sie sich verbal fleißig auf die Schultern, lobhudelten sich im langweiligen, chauvinistischen Akkord, bis das halbe Publikum vor lauter Gähnen schreckliche Mundkrämpfe bekam. Grausig und fahrig. Ihnen hätt’s wohl arg gefallen, schätz ich; zumal die ganze leidige Selbstentblößung auch noch in einer ehemaligen Minoritenkirche stattgefunden hat.
Reife, die neue Ideen abwürgt, verdient nicht nur das Label Stagnation, sondern Rückschritt.
Fortgeschrittenes Alter sei per se kein Kriterium für irgendetwas – außer fürs dröge Zählen vergangener Tage.
Neugierig zu sein, heißt, auf immerdar jung zu bleiben.
Wir müssen wohl oder übel, akzeptieren, dass es allein einen endgültigen Reifegrad gibt, den Tod.
22. November
294.
Sich in seinen Meinungen mäßigen. Jeder faßt seine Ansichten nach seinem Interesse und glaubt einen Ueberfluß an Gründen für dieselben zu haben. Denn in den Meisten muß das Urtheil der Neigung den Platz einräumen. Nun trifft es sich leicht, daß Zwei mit einander gradezu widersprechenden Meinungen sich begegnen, und Jeder glaubt die Vernunft auf seiner Seite zu haben, wiewohl diese, stets unverfälscht, nie ein doppeltes Antlitz trug. Bei einem so schwierigen Punkt gehe der Kluge mit Ueberlegung zu Werke: dann wird das Mißtrauen gegen sich selbst sein Urtheil über das Benehmen des Gegners berichtigen. Er stelle sich auch einmal auf die andre Seite und untersuche von da die Gründe des Andern: dann wird er nicht mit so starker Verblendung jenen verurtheilen und sich rechtfertigen.
Zunächst, Freund, sei zugegeben, dass es recht häufig hilft, wenigstens für einen Moment, in den Schuhen der anderen zu stehen und, falls angeraten, einige Meter zu gehen, ja vielleicht sogar in ihnen zu tanzen, um zu sehen, ob das Tretwerk uns möglicherweise halbwegs passt und wohin es uns tragen könnte, ob die Figuren uns besser gelingen als in unseren eingelaufenen Schuhen. Wer jemals in steile Plateau-Heels geschlüpft ist, versteht, wovon ich spreche: sowohl verändert sich die Augenhöhe, ein bereits interessanter Perspektivwechsel, als auch Erdverbundenheit und Schrittfolge.
Dass die Vernunft ausschließlich einer Seite gehört, die somit eine Art von Dauer-Copyright auf die Wahrheit hat, halte ich übrigens für eine altmodische Überzeugung, Freund. Mir scheint, dass von verschiedenen Punkten ein- und dieselbe Sache durchaus andere Facetten zeigt, die dadurch weder unvernünftig noch falsch sind.
Jede Orthodoxie, auch die der omnipotenten Vernunft, beschneidet Gedankenfreiheit.
Was heute plausibel erscheint, erweist sich morgen oftmals als Irrglaube.
Die Wahrheit zu pachten, treibt den Preis für Schutzgeldforderungen hoch.
Im Exorbitanten steckt oft genug der schlimmste Kleinmut.
23. November
Sich in seinen Meinungen mäßigen. Jeder faßt seine Ansichten nach seinem Interesse und glaubt einen Ueberfluß an Gründen für dieselben zu haben. Denn in den Meisten muß das Urtheil der Neigung den Platz einräumen. Nun trifft es sich leicht, daß Zwei mit einander gradezu widersprechenden Meinungen sich begegnen, und Jeder glaubt die Vernunft auf seiner Seite zu haben, wiewohl diese, stets unverfälscht, nie ein doppeltes Antlitz trug. Bei einem so schwierigen Punkt gehe der Kluge mit Ueberlegung zu Werke: dann wird das Mißtrauen gegen sich selbst sein Urtheil über das Benehmen des Gegners berichtigen. Er stelle sich auch einmal auf die andre Seite und untersuche von da die Gründe des Andern: dann wird er nicht mit so starker Verblendung jenen verurtheilen und sich rechtfertigen.
Zunächst, Freund, sei zugegeben, dass es recht häufig hilft, wenigstens für einen Moment, in den Schuhen der anderen zu stehen und, falls angeraten, einige Meter zu gehen, ja vielleicht sogar in ihnen zu tanzen, um zu sehen, ob das Tretwerk uns möglicherweise halbwegs passt und wohin es uns tragen könnte, ob die Figuren uns besser gelingen als in unseren eingelaufenen Schuhen. Wer jemals in steile Plateau-Heels geschlüpft ist, versteht, wovon ich spreche: sowohl verändert sich die Augenhöhe, ein bereits interessanter Perspektivwechsel, als auch Erdverbundenheit und Schrittfolge.
Dass die Vernunft ausschließlich einer Seite gehört, die somit eine Art von Dauer-Copyright auf die Wahrheit hat, halte ich übrigens für eine altmodische Überzeugung, Freund. Mir scheint, dass von verschiedenen Punkten ein- und dieselbe Sache durchaus andere Facetten zeigt, die dadurch weder unvernünftig noch falsch sind.
Jede Orthodoxie, auch die der omnipotenten Vernunft, beschneidet Gedankenfreiheit.
Was heute plausibel erscheint, erweist sich morgen oftmals als Irrglaube.
Die Wahrheit zu pachten, treibt den Preis für Schutzgeldforderungen hoch.
Im Exorbitanten steckt oft genug der schlimmste Kleinmut.
23. November
295.
Nicht wirksam scheinen, sondern seyn. Viele geben sich den Schein wichtige Geschäfte zu treiben, ohne den mindesten Grund: aus Allem machen sie ein Mysterium, auf die albernste Weise. Sie sind Kamäleone des Beifalls und für Alle ein unerschöpflicher Stoff zum Lachen. Die Eitelkeit ist überall widerlich, hier aber auch lächerlich. Diese Ameisen der Ehre betteln sich Großthaten zusammen. Man soll hingegen seine größten Vorzüge am wenigsten affektiren: man begnüge sich mit dem Thun und überlasse Andern das Reden darüber. Man gebe seine Thaten hin, aber verlaufe sie nicht. Auch miethe man sich nicht goldene Federn, die Unflath schreiben, zum Ekel der Klugen. Man strebe lieber danach ein Held zu seyn, als es zu scheinen.
Das Vortäuschen, Freund, wer hätte sich nicht dieser – wie soll ich’s nennen? – Form der Kommunikation schuldig gemacht? Müsst ich einen Stein werfen, ich würd einen x-beliebigen aufheben und, umstandslos, ohne nach einem weiteren Ziel zu suchen, auf mein Spiegelbild feuern. Was dann krachend bräche, wär ich oder doch, at least, ein unangenehmer Teil von mir - denn selbst in die schimmernden Scherben wären weiterhin Eitelkeit und Übermut eingebrannt. Das Schlimme dabei, scheint mir, ist die grenzenlose Selbsttäuschung, die sich, in manch entscheidenden Momenten, ab und an wie eine sichtbare Tarnkappe, denn solche existieren eben auch, mit unserem schweigenden Einverständnis über uns legt und, in Gesellschaft, einen seltsamen Eindruck von unserem Wesen vermittelt.
Wer keine Rolle spielt, spielt, über kurz oder lang, verrückt.
Gutes zu tun und nicht darüber zu reden, sei eine Dummheit, da’s ein Übermaß an schlechten Vorbildern gibt, denen wir entschlossen etwas entgegensetzen sollten.
Wahre Heldinnen und Helden überwinden zunächst das Falsche in sich selbst.
24. November
Nicht wirksam scheinen, sondern seyn. Viele geben sich den Schein wichtige Geschäfte zu treiben, ohne den mindesten Grund: aus Allem machen sie ein Mysterium, auf die albernste Weise. Sie sind Kamäleone des Beifalls und für Alle ein unerschöpflicher Stoff zum Lachen. Die Eitelkeit ist überall widerlich, hier aber auch lächerlich. Diese Ameisen der Ehre betteln sich Großthaten zusammen. Man soll hingegen seine größten Vorzüge am wenigsten affektiren: man begnüge sich mit dem Thun und überlasse Andern das Reden darüber. Man gebe seine Thaten hin, aber verlaufe sie nicht. Auch miethe man sich nicht goldene Federn, die Unflath schreiben, zum Ekel der Klugen. Man strebe lieber danach ein Held zu seyn, als es zu scheinen.
Das Vortäuschen, Freund, wer hätte sich nicht dieser – wie soll ich’s nennen? – Form der Kommunikation schuldig gemacht? Müsst ich einen Stein werfen, ich würd einen x-beliebigen aufheben und, umstandslos, ohne nach einem weiteren Ziel zu suchen, auf mein Spiegelbild feuern. Was dann krachend bräche, wär ich oder doch, at least, ein unangenehmer Teil von mir - denn selbst in die schimmernden Scherben wären weiterhin Eitelkeit und Übermut eingebrannt. Das Schlimme dabei, scheint mir, ist die grenzenlose Selbsttäuschung, die sich, in manch entscheidenden Momenten, ab und an wie eine sichtbare Tarnkappe, denn solche existieren eben auch, mit unserem schweigenden Einverständnis über uns legt und, in Gesellschaft, einen seltsamen Eindruck von unserem Wesen vermittelt.
Wer keine Rolle spielt, spielt, über kurz oder lang, verrückt.
Gutes zu tun und nicht darüber zu reden, sei eine Dummheit, da’s ein Übermaß an schlechten Vorbildern gibt, denen wir entschlossen etwas entgegensetzen sollten.
Wahre Heldinnen und Helden überwinden zunächst das Falsche in sich selbst.
24. November
296.
Ein Mann von erhabenen Eigenschaften: die vom ersten Range machen Männer ersten Ranges: und eine einzige derselben gilt mehr als eine große Anzahl mittelmäßiger. Es gab einen Mann, dem es gefiel, alle seine Sachen, sogar den gewöhnlichen Hausrath, besonders groß zu haben: wie viel mehr muß der große Mann dafür sorgen, daß alle Eigenschaften seines Geistes groß seien. In Gott ist Alles unendlich und unermeßlich; so auch muß in einem Helden Alles groß und majestätisch seyn, dergestalt, daß alle seine Thaten, ja auch seine Reden, mit einer überschwänglichen, großartigen Erhabenheit bekleidet auftreten.
Wir kommen gemeinsam, Freund, auf keinen grünen Zweig, wenn Sie sich, wie hier, in religiöse Machohimmelsfantasien abseilen.
Große Denkerinnen und große Denker sind darin zu erkennen, dass sie ebenfalls gerade im Kleinen daheim sind, sich sowohl in der Enge als auch der Weite zurechtfinden.
Wer nur glänzt, blendet.
Im Universum existiere das Unaufhörliche, in menschlichen Konstruktionen, auch den weitesten, stets das Endliche.
Was uns gestern heldenhaft erschien, lässt uns heute leiden.
Taten, die großtun, zeugen zuverlässig von erheblichen Detailmangeln.
25. November
Ein Mann von erhabenen Eigenschaften: die vom ersten Range machen Männer ersten Ranges: und eine einzige derselben gilt mehr als eine große Anzahl mittelmäßiger. Es gab einen Mann, dem es gefiel, alle seine Sachen, sogar den gewöhnlichen Hausrath, besonders groß zu haben: wie viel mehr muß der große Mann dafür sorgen, daß alle Eigenschaften seines Geistes groß seien. In Gott ist Alles unendlich und unermeßlich; so auch muß in einem Helden Alles groß und majestätisch seyn, dergestalt, daß alle seine Thaten, ja auch seine Reden, mit einer überschwänglichen, großartigen Erhabenheit bekleidet auftreten.
Wir kommen gemeinsam, Freund, auf keinen grünen Zweig, wenn Sie sich, wie hier, in religiöse Machohimmelsfantasien abseilen.
Große Denkerinnen und große Denker sind darin zu erkennen, dass sie ebenfalls gerade im Kleinen daheim sind, sich sowohl in der Enge als auch der Weite zurechtfinden.
Wer nur glänzt, blendet.
Im Universum existiere das Unaufhörliche, in menschlichen Konstruktionen, auch den weitesten, stets das Endliche.
Was uns gestern heldenhaft erschien, lässt uns heute leiden.
Taten, die großtun, zeugen zuverlässig von erheblichen Detailmangeln.
25. November
297.
Stets handeln, als würde man gesehn. Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, daß man ihn steht, oder doch sehn wird. Er weiß, daß die Wände hören, und daß schlechte Handlungen zu bersten drohen, um herauszukommen. Auch wann allein, handelt er wie unter den Augen der ganzen Welt. Denn da er weiß, daß man einst Alles wissen wird; so betrachtet er als schon gegenwärtige Zeugen die, welche es durch die Kunde späterhin werden müssen. Jener, welcher wünschte, daß die ganze Welt ihn stets sehn möchte, war nicht darüber besorgt, daß man ihn in seinem Hause aus den nächsten beobachten konnte.
Eine verzwickte Frage, Freund, die ich mir oft stelle: haben Handlungen, die ich im Verborgenen und nur für mich, sagen wir zur Selbstbefriedigung, durchführe, längerfristige Auswirkungen außerhalb meiner Privatsphäre? Sind geheime Gedanken, derer wir uns schämen sollten, die dennoch ab und an wie Stinkbomben aufploppen, die gegen unseren gutmütigen Willen von uns Besitz ergreifen, uns zu allerlei unangenehmen Träumereien verleiten, sind solche verborgenen Gedanken möglicherweise alles andere als klandestin? Wie wär's, falls jemand uns in der Zukunft - Gläubige führten jetzt den Himmel an - eine vollständige Liste aller schlechten Ideen, hinterhältgen Anwandlungen, neidischen Gemeinheiten, höhnischen Verwünschungen, die wir jemals gedacht haben, auftischte? Denn natürlich ist's so, dass wir die, welche wir doch am allermeisten lieben, in manchen Momenten am allerschlimmsten verfluchen. Und, keine einfache Konfession, Freund, im Gegenteil: eine schmerzhafte, gar erbärmliche, und sind's nicht manchmal pure Äußerlichkeiten, ist's nicht bisweilen der dümmste Lustinstinkt, der uns mit einer tierischen Gier überrascht und das, was wir haben, verfluchen und verachten lässt?
Sind wir also ehrlich, muss gesagt werden, dass Ihre Hoffnung, stets ehrbar und vorbildlich zu sein, der menschlichen Natur gänzlich widerspricht. Worum's geht, ist, scheint mir, das Böse zu durchdenken, aber das Gute vorzuziehen. Wer allein in Gedanken - nun folgt ein Wort nach Ihrem Geschmack - sündigt, macht sich in Wahrheit eben nicht schuldig.
Die Gedanken seien frei; wer das Gemeine nicht kennt, verzichtet auf die Tugend.
Wer im Schlechten ein Lager aufschlägt, verlässt es, in aller Regel, geläutert.
Katharsis macht uns zu besseren Menschen.
Jede Lust kennt notwendigerweise Schattenseiten.
26. November
Stets handeln, als würde man gesehn. Der ist ein umsichtiger Mann, welcher sieht, daß man ihn steht, oder doch sehn wird. Er weiß, daß die Wände hören, und daß schlechte Handlungen zu bersten drohen, um herauszukommen. Auch wann allein, handelt er wie unter den Augen der ganzen Welt. Denn da er weiß, daß man einst Alles wissen wird; so betrachtet er als schon gegenwärtige Zeugen die, welche es durch die Kunde späterhin werden müssen. Jener, welcher wünschte, daß die ganze Welt ihn stets sehn möchte, war nicht darüber besorgt, daß man ihn in seinem Hause aus den nächsten beobachten konnte.
Eine verzwickte Frage, Freund, die ich mir oft stelle: haben Handlungen, die ich im Verborgenen und nur für mich, sagen wir zur Selbstbefriedigung, durchführe, längerfristige Auswirkungen außerhalb meiner Privatsphäre? Sind geheime Gedanken, derer wir uns schämen sollten, die dennoch ab und an wie Stinkbomben aufploppen, die gegen unseren gutmütigen Willen von uns Besitz ergreifen, uns zu allerlei unangenehmen Träumereien verleiten, sind solche verborgenen Gedanken möglicherweise alles andere als klandestin? Wie wär's, falls jemand uns in der Zukunft - Gläubige führten jetzt den Himmel an - eine vollständige Liste aller schlechten Ideen, hinterhältgen Anwandlungen, neidischen Gemeinheiten, höhnischen Verwünschungen, die wir jemals gedacht haben, auftischte? Denn natürlich ist's so, dass wir die, welche wir doch am allermeisten lieben, in manchen Momenten am allerschlimmsten verfluchen. Und, keine einfache Konfession, Freund, im Gegenteil: eine schmerzhafte, gar erbärmliche, und sind's nicht manchmal pure Äußerlichkeiten, ist's nicht bisweilen der dümmste Lustinstinkt, der uns mit einer tierischen Gier überrascht und das, was wir haben, verfluchen und verachten lässt?
Sind wir also ehrlich, muss gesagt werden, dass Ihre Hoffnung, stets ehrbar und vorbildlich zu sein, der menschlichen Natur gänzlich widerspricht. Worum's geht, ist, scheint mir, das Böse zu durchdenken, aber das Gute vorzuziehen. Wer allein in Gedanken - nun folgt ein Wort nach Ihrem Geschmack - sündigt, macht sich in Wahrheit eben nicht schuldig.
Die Gedanken seien frei; wer das Gemeine nicht kennt, verzichtet auf die Tugend.
Wer im Schlechten ein Lager aufschlägt, verlässt es, in aller Regel, geläutert.
Katharsis macht uns zu besseren Menschen.
Jede Lust kennt notwendigerweise Schattenseiten.
26. November
298.
Drei Dinge machen einen Wundermann und sind die höchste Gabe der göttlichen Freigebigkeit: ein fruchtbares Genie, ein tiefer Verstand und ein zugleich erhabener und angenehmer Geschmack. Richtig zu fassen, ist ein großer Vorzug, aber ein noch größerer, richtig zu denken und die Einsicht des Guten zu haben. Der Verstand muß nicht im Rückgrat sitzen: da wäre er mehr mühselig als scharf. Richtig zu denken, ist die Frucht der vernünftigen Natur. Mit zwanzig Jahren herrscht der Wille vor, mit dreißig das Genie, mit vierzig das Urtheil. Es giebt Köpfe, die gleichsam Licht ausströhmen, wie die Augen des Luchses, indem sie, wo die größte Dunkelheit ist, am richtigsten erkennen. Andre sind für die Gelegenheit gemacht, da sie stets auf das fallen, was am meisten zum gegenwärtigen Zweck dient: es bietet sich ihnen Vieles und Gutes dar: eine glückliche Fruchtbarkeit! Inzwischen würzt ein guter Geschmack das ganze Leben.
Nun ja, Freund, hier trifft wohl allein der Begriff "Rundumschlag" zu. Überall könnt ich bohren, sowohl dicke als auch dünne Bretter. Und doch, was mich beinahe melancholisch macht, da ich allmählich merke, dass wir fast am Ende unserer gemeinsamen Proxy-Reise sind, und doch herrscht in diesen Zeilen ein bestimmtes, ein starkes Gefühl vor: das ständige Ausbedingen glänzt in jeder Sentence. Sie sind sich Ihrer absolut sicher, was, bin ich ehrlich, ein wesentlicher Teil der Attraktivität des Orakels ausmacht. Ihre Zweifellosigkeit beeindruckt und erschreckt mich gleichermaßen. Eigentlich existiert für mich, im tiefsten Kern meines Ichs, nur die grenzenlose Fragwürdigkeit. Anders als Sie fühl ich mich allein, im existenzialistischen Sinne. Zwar hab ich das große Glück, zu lieben und geliebt zu werden, aber dennoch bin ich mir mit jedem Atemzug bewusst, dass die Sinnlosigkeit des Seins unüberwindbar ist; jedenfalls in mir und für mich. Dass Sie sich eine Verfassung gegeben haben, leuchtet mir ein und ringt mir Respekt ab. Teilen kann ich indessen Ihre ephemeren Gewissheiten nicht.
Zu wissen, heißt, nicht zu wissen.
Zu glauben, heißt, nicht zu glauben.
Zu sein, heißt, nicht zu sein.
27. November
Drei Dinge machen einen Wundermann und sind die höchste Gabe der göttlichen Freigebigkeit: ein fruchtbares Genie, ein tiefer Verstand und ein zugleich erhabener und angenehmer Geschmack. Richtig zu fassen, ist ein großer Vorzug, aber ein noch größerer, richtig zu denken und die Einsicht des Guten zu haben. Der Verstand muß nicht im Rückgrat sitzen: da wäre er mehr mühselig als scharf. Richtig zu denken, ist die Frucht der vernünftigen Natur. Mit zwanzig Jahren herrscht der Wille vor, mit dreißig das Genie, mit vierzig das Urtheil. Es giebt Köpfe, die gleichsam Licht ausströhmen, wie die Augen des Luchses, indem sie, wo die größte Dunkelheit ist, am richtigsten erkennen. Andre sind für die Gelegenheit gemacht, da sie stets auf das fallen, was am meisten zum gegenwärtigen Zweck dient: es bietet sich ihnen Vieles und Gutes dar: eine glückliche Fruchtbarkeit! Inzwischen würzt ein guter Geschmack das ganze Leben.
Nun ja, Freund, hier trifft wohl allein der Begriff "Rundumschlag" zu. Überall könnt ich bohren, sowohl dicke als auch dünne Bretter. Und doch, was mich beinahe melancholisch macht, da ich allmählich merke, dass wir fast am Ende unserer gemeinsamen Proxy-Reise sind, und doch herrscht in diesen Zeilen ein bestimmtes, ein starkes Gefühl vor: das ständige Ausbedingen glänzt in jeder Sentence. Sie sind sich Ihrer absolut sicher, was, bin ich ehrlich, ein wesentlicher Teil der Attraktivität des Orakels ausmacht. Ihre Zweifellosigkeit beeindruckt und erschreckt mich gleichermaßen. Eigentlich existiert für mich, im tiefsten Kern meines Ichs, nur die grenzenlose Fragwürdigkeit. Anders als Sie fühl ich mich allein, im existenzialistischen Sinne. Zwar hab ich das große Glück, zu lieben und geliebt zu werden, aber dennoch bin ich mir mit jedem Atemzug bewusst, dass die Sinnlosigkeit des Seins unüberwindbar ist; jedenfalls in mir und für mich. Dass Sie sich eine Verfassung gegeben haben, leuchtet mir ein und ringt mir Respekt ab. Teilen kann ich indessen Ihre ephemeren Gewissheiten nicht.
Zu wissen, heißt, nicht zu wissen.
Zu glauben, heißt, nicht zu glauben.
Zu sein, heißt, nicht zu sein.
27. November
299.
Hunger zurücklassen: selbst den Nektarbecher muß man den Lippen entreißen. Das Begehren ist das Maaß der Wertschätzung. Sogar bei dem leiblichen Durst ist es eine Feinheit, ihn zu beschwichtigen, aber nicht ganz zu löschen. Das Gute, wenn wenig, ist doppelt gut. Das zweite Mal führt ein beträchtliches Sinken herbei. Sättigung mit dem was gefällt ist gefährlich und kann der unsterblichsten Vortrefflichkeit Geringschätzung zuziehn. Die Hauptregel um zu gefallen ist, daß man den Appetit noch durch den Hunger, mit welchem man ihn verließ, gereizt vorfinde. Muß man Unzufriedenheit erregen, so sei es lieber durch die Ungeduld des Begehrens, als durch den Ueberdruß des Genusses. Das mühsam erlangte Glück wird doppelt genossen.
Das Begehren, sowohl das aktive als auch das passive, wach zu halten, Freund, ist tatsächlich keine ganz einfache Aufgabe, da unser Verlangen - selbst für die attraktivsten Dinge - erstaunlich schnell erlahmt. Gerade wenn wir von einer dreisten Anspruchsberechtigung erfüllt sind. Der Mensch neigt zum Jammern, selbst im Schlaraffenland. Zu viel des Guten schläfert viele von uns ein, wir verlieren jeden Maßstab. Und damit will ich natürlich nicht den unfreiwilligen Hunger loben. Wer von sich aus fastet, wie ich's seit einigen Jahren mehrmals wöchentlich mache, lebt generell im Überfluss, hat jederzeit die Wahl, zuzugreifen, stilisiert nicht zu selten das Entbehren als Lifestyle. Sie merken, ich gehe hier auch mit mir selbst ins Gericht. Denn dass ich das Entsagen sowohl als Merkmal der äußeren Unterscheidung als auch inneren Reinigung benutze, kann ich, will ich ehrlich bleiben, nicht leugnen. Ob mich der Verzicht verändert hat? Eine gute Frage. Vermutlich vergrößert der Nicht-Konsum die Entfernung zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und mir. Was nicht nur gute Seiten hat. Kaufte ich mehr nachhaltige Produkte, profitierten die umweltbewussteren Firmen von meinem Verbrauch. Als Verzicht-Asket fall ich dagegen sang- und klanglos durchs Raster, was, andererseits, wenn ich an die begrenzten Rohstoffe denke, auch Vorteile besitzt.
Entscheidungen, die keine Auswirkungen haben, bleiben Träume.
Wer sich ganz hingibt, bleibt irgendwann allein zurück.
Zu lieben erfordert die Gabe, teilen zu können.
Nur zu nehmen, erhöht die Gier.
Zufriedenheit liegt im Mittelmaß; sowohl Unter- als auch Übermaß stürzen uns und die Welt über kurz oder lang ins Unglück.
28. November
Hunger zurücklassen: selbst den Nektarbecher muß man den Lippen entreißen. Das Begehren ist das Maaß der Wertschätzung. Sogar bei dem leiblichen Durst ist es eine Feinheit, ihn zu beschwichtigen, aber nicht ganz zu löschen. Das Gute, wenn wenig, ist doppelt gut. Das zweite Mal führt ein beträchtliches Sinken herbei. Sättigung mit dem was gefällt ist gefährlich und kann der unsterblichsten Vortrefflichkeit Geringschätzung zuziehn. Die Hauptregel um zu gefallen ist, daß man den Appetit noch durch den Hunger, mit welchem man ihn verließ, gereizt vorfinde. Muß man Unzufriedenheit erregen, so sei es lieber durch die Ungeduld des Begehrens, als durch den Ueberdruß des Genusses. Das mühsam erlangte Glück wird doppelt genossen.
Das Begehren, sowohl das aktive als auch das passive, wach zu halten, Freund, ist tatsächlich keine ganz einfache Aufgabe, da unser Verlangen - selbst für die attraktivsten Dinge - erstaunlich schnell erlahmt. Gerade wenn wir von einer dreisten Anspruchsberechtigung erfüllt sind. Der Mensch neigt zum Jammern, selbst im Schlaraffenland. Zu viel des Guten schläfert viele von uns ein, wir verlieren jeden Maßstab. Und damit will ich natürlich nicht den unfreiwilligen Hunger loben. Wer von sich aus fastet, wie ich's seit einigen Jahren mehrmals wöchentlich mache, lebt generell im Überfluss, hat jederzeit die Wahl, zuzugreifen, stilisiert nicht zu selten das Entbehren als Lifestyle. Sie merken, ich gehe hier auch mit mir selbst ins Gericht. Denn dass ich das Entsagen sowohl als Merkmal der äußeren Unterscheidung als auch inneren Reinigung benutze, kann ich, will ich ehrlich bleiben, nicht leugnen. Ob mich der Verzicht verändert hat? Eine gute Frage. Vermutlich vergrößert der Nicht-Konsum die Entfernung zwischen der kapitalistischen Gesellschaft und mir. Was nicht nur gute Seiten hat. Kaufte ich mehr nachhaltige Produkte, profitierten die umweltbewussteren Firmen von meinem Verbrauch. Als Verzicht-Asket fall ich dagegen sang- und klanglos durchs Raster, was, andererseits, wenn ich an die begrenzten Rohstoffe denke, auch Vorteile besitzt.
Entscheidungen, die keine Auswirkungen haben, bleiben Träume.
Wer sich ganz hingibt, bleibt irgendwann allein zurück.
Zu lieben erfordert die Gabe, teilen zu können.
Nur zu nehmen, erhöht die Gier.
Zufriedenheit liegt im Mittelmaß; sowohl Unter- als auch Übermaß stürzen uns und die Welt über kurz oder lang ins Unglück.
28. November
300.
Mit Einem Wort, ein Heiliger seyn, und damit ist Alles auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten, und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge, welche, im Spanischen mit einem S anfangen, machen glücklich: Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos oder der kleinen Welt und ihre Hemisphäre ist das gute Gewissen. Sie ist so schön, daß sie Gunst findet vor Gott und Menschen. Nichts ist liebenswürdig, als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswerth, als nur das Laster. Die Tugend allein ist Sache des Ernstes, alles Andre ist Scherz. Die Fähigkeit und die Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach Umständen des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im Leben liebenswürdig und im Tode denkwürdig.
Nichts, rein gar nichts, Freund, soll, im letzten Brief, den ich Ihnen schreibe, zwischen uns scheinen als - ich hoffe, Sie vermuten's - Freundschaft. Das wahre und schöne Licht, in dem sich zwei Menschen betrachten können. Und so sei, quasi als Tugenderweiterung jener Güte und Vortrefflichkeit, von der Sie so herzerwärmend sprechen, und so sei das Finale, was, tatsächlich gar keins ist, da ich vorhabe, in den nächsten Wochen und Jahren immer wieder mal in unsere Korrespondenz zu schauen, auf Ihre Zuschriften mit kritischer Sympathie, auf meine Entgegnungen mit achtsamer Vorsicht, wohl werde ich manchen Satz, den ich Ihnen geschrieben habe, auf seinen Gehalt abklopfen, wohl werde ich auch, wie's mir während der Korrespondenz unendlich oft passiert ist, beim Lesen und Denken die Meinung ändern, mich über das Gesagte wundern oder, mit etwas Glück, einige der Aphorismen wesentlich klüger als mich selbst finden, und so sei, um an den Satzanfang zurückzukehren, diese letzte Begegnung zwischen uns, Freund, der Freundschaft gewidmet. Allein ihr.
Heute ist übrigens für etliche Menschen ein rarer Tag besonderer Innigkeit. Eine Tatsache, die ich noch erwähnen möchte, weil viele von uns in diesen Stunden Vertrauen und Freundschaft vorgaukelt bekommen, die gar nicht existieren. Heute ist Black Friday. Ein neuer kommerzieller Feiertag, der Ihnen erspart geblieben ist. Ein pekuniärer Festtag, an dem sich Firmen mit herzerwäremdnen Liebeserklärungen an uns wenden. Uns erst, hoch und heilig, ihrer Sympathie und trauter Gemeinschaft versichern, um uns dann mit, in aller Regel, falschen Schnäppchen über den Tisch zu ziehen. Wissen Sie, was seltsam ist? Diese Art von Freundschaft hat de facto für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt eine amicable Bedeutung. Die Beziehung, die zwischen uns und den Angeboten entsteht, wird als Freundschaftsbündnis verstanden: Produkt und Mensch versichern sich gegenseitiger Hochachtung, es wird fraternisiert, bis die digtialten und analogen Geldbörsen leer sind. Glauben Sie, dass es sich um wahre Emotionen handelt? Ich bin mir, wenn ich mich umblicke - selbst vernünftige Menschen, die ich gut kenne, freuen sich auf den Black Friday, fiebern der Dingejagd entgegen, stellen sich den Wecker, um bloß nicht eine Freundschaftsbezeugung zu versäumen -, ich bin mir nicht sicher, ob ich die anderen nicht einfach konsumrauschen und shopfeiern lassen soll. Sie scheinen, kurz, aber immerhin, glücklich zu sein. Darf ich, eine wichtige Frage zwischen Freundinnen und Freunden, meine Maßstäbe zur entscheidenden moralischen Messlatte werden lassen? Darf ich, wenn diese Latte gerissen wird, empört alte, wohlgefällige Freundschaften aufkündigen? Oder soll ich mich, was mir überaus schwerfällt, mitfreuen? Und wie sieht's, denn auch ich habe Bedürfnisse, die, da ich dem Konsumverzicht seit über zwei Jahren fröhne, und wie sieht's mit meinen eigenen Beziehungen zu den, sagen wir, Firmen aus, die heute Laufschuhe verscherbeln? Sollte ich mich einreihen? Eine ephemere Beziehung mit einem dieser Kapitalismusläden eingehen - wohl wissend, dass die günstigen Black Friday-Schuhe irgendwo unter menschen- und umweltverachtenden Bedingungen produziert worden sind?
Anyway, Freund, darum soll's zwischen Ihnen und mir, die wir am Ende einer ausgedehnten Briefreise angekommen sind, nicht gehen. Über echte Freundschaft gilt's nachzudenken. Über das Gefühl, Zeit miteinander verbracht zu haben, die sich gelohnt hat. Ich möchte zunächst Danke sagen. Mir ist bewusst, dass Sie's nicht einfach gehabt, allerlei Dummköpfe um sich herum gehabt haben, die Ihnen das Leben und Schreiben versauert haben. Was Sie dennoch geleistet haben, nötigt mir Hochachtung ab. Bitte missverstehen Sie nicht meinen wiederholten Widerspruch als Missachtung. Im Gegenteil. Die Unvereinbarkeit, die ich mit Ihren Positionen empfinde, verstehe ich als Bereicherung. An Ihnen und mit Ihnen durfte ich mein Denken schärfen. Dafür haben Sie meinen Respekt, und ich möchte mich bei Ihnen bedanken.
Es ist, jetzt, während ich an Sie schreibe, noch früh am Morgen. Viele der Texte an Sie habe ich, nebenbei bemerkt, im Nachtschwarzpech des Berliner Winters oder im Blaugrauschein der wundervollen Sommerdunkelheit verfasst. Und da's bislang kein Tageslicht gibt, liegt, weiterhin im warmen Bett, meine beste Freundin gleich hinter mir, fünf Meter sind's, die mich von ihr, meiner Gesprächs- und Liebespartnerin trennen. Ich erwähne mein Lebensglück, da ich das Gefühl habe, Freund, dass Sie jede Beschreibung innigster Intimität tunlichst vermieden haben. Mir ist dieser Aspekt der Freundschaft allerdings unabdingbar. Zu missen, was ich gerade habe, hieße, freudlos zu leben. Ich denke, ich habe Ihnen auch geschrieben, um diese Lücke in Ihrem Text zunächst aufzudecken und dann in die geistige und emotionale Lücke zu springen. Ausprobieren wollte ich, ob meine Prinzipien Ihren erprobten und von vielen Leserinnen und Lesern geschätzten Einsichten standhalten. Die Zeit wird zeigen, inwieweit einiges womöglich die Stunde übersteht. Mir hat's gereicht, mit Ihren Texten sein zu dürfen, mich an meine eigenen Vorstellungen anzupirschen, mir selbst über die Schultern zu sehen. Auch, was Sie überraschen mag, Sätze zu formulieren, die mir an sich fremd sind, mit denen ich kaum oder ganz und gar nicht übereinstimme. Ich wollte auf diesen Seiten denken, frei und ungestüm, kritisch und lobend, vorsichtig und liebevoll.
Mit sich kritisch zu sein, heißt, mit anderen unkritisch sein zu können.
Hätt ich einen letzten Freundschaftswunsch, würd ich gern in den Armen meiner Liebsten sterben.
Wer Freundschaft empfindet, findet das Glück.
29. November
Mit Einem Wort, ein Heiliger seyn, und damit ist Alles auf einmal gesagt. Die Tugend ist das gemeinsame Band aller Vollkommenheiten, und der Mittelpunkt aller Glückseligkeit. Sie macht einen Mann vernünftig, umsichtig, klug, verständig, weise, tapfer, überlegt, redlich, glücklich, beifällig, wahrhaft und zu einem Helden in jedem Betracht. Drei Dinge, welche, im Spanischen mit einem S anfangen, machen glücklich: Heiligkeit, Gesundheit und Weisheit. Die Tugend ist die Sonne des Mikrokosmos oder der kleinen Welt und ihre Hemisphäre ist das gute Gewissen. Sie ist so schön, daß sie Gunst findet vor Gott und Menschen. Nichts ist liebenswürdig, als nur die Tugend, und nichts verabscheuungswerth, als nur das Laster. Die Tugend allein ist Sache des Ernstes, alles Andre ist Scherz. Die Fähigkeit und die Größe soll man nach der Tugend messen und nicht nach Umständen des Glücks. Sie allein ist sich selbst genug: sie macht den Menschen im Leben liebenswürdig und im Tode denkwürdig.
Nichts, rein gar nichts, Freund, soll, im letzten Brief, den ich Ihnen schreibe, zwischen uns scheinen als - ich hoffe, Sie vermuten's - Freundschaft. Das wahre und schöne Licht, in dem sich zwei Menschen betrachten können. Und so sei, quasi als Tugenderweiterung jener Güte und Vortrefflichkeit, von der Sie so herzerwärmend sprechen, und so sei das Finale, was, tatsächlich gar keins ist, da ich vorhabe, in den nächsten Wochen und Jahren immer wieder mal in unsere Korrespondenz zu schauen, auf Ihre Zuschriften mit kritischer Sympathie, auf meine Entgegnungen mit achtsamer Vorsicht, wohl werde ich manchen Satz, den ich Ihnen geschrieben habe, auf seinen Gehalt abklopfen, wohl werde ich auch, wie's mir während der Korrespondenz unendlich oft passiert ist, beim Lesen und Denken die Meinung ändern, mich über das Gesagte wundern oder, mit etwas Glück, einige der Aphorismen wesentlich klüger als mich selbst finden, und so sei, um an den Satzanfang zurückzukehren, diese letzte Begegnung zwischen uns, Freund, der Freundschaft gewidmet. Allein ihr.
Heute ist übrigens für etliche Menschen ein rarer Tag besonderer Innigkeit. Eine Tatsache, die ich noch erwähnen möchte, weil viele von uns in diesen Stunden Vertrauen und Freundschaft vorgaukelt bekommen, die gar nicht existieren. Heute ist Black Friday. Ein neuer kommerzieller Feiertag, der Ihnen erspart geblieben ist. Ein pekuniärer Festtag, an dem sich Firmen mit herzerwäremdnen Liebeserklärungen an uns wenden. Uns erst, hoch und heilig, ihrer Sympathie und trauter Gemeinschaft versichern, um uns dann mit, in aller Regel, falschen Schnäppchen über den Tisch zu ziehen. Wissen Sie, was seltsam ist? Diese Art von Freundschaft hat de facto für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt eine amicable Bedeutung. Die Beziehung, die zwischen uns und den Angeboten entsteht, wird als Freundschaftsbündnis verstanden: Produkt und Mensch versichern sich gegenseitiger Hochachtung, es wird fraternisiert, bis die digtialten und analogen Geldbörsen leer sind. Glauben Sie, dass es sich um wahre Emotionen handelt? Ich bin mir, wenn ich mich umblicke - selbst vernünftige Menschen, die ich gut kenne, freuen sich auf den Black Friday, fiebern der Dingejagd entgegen, stellen sich den Wecker, um bloß nicht eine Freundschaftsbezeugung zu versäumen -, ich bin mir nicht sicher, ob ich die anderen nicht einfach konsumrauschen und shopfeiern lassen soll. Sie scheinen, kurz, aber immerhin, glücklich zu sein. Darf ich, eine wichtige Frage zwischen Freundinnen und Freunden, meine Maßstäbe zur entscheidenden moralischen Messlatte werden lassen? Darf ich, wenn diese Latte gerissen wird, empört alte, wohlgefällige Freundschaften aufkündigen? Oder soll ich mich, was mir überaus schwerfällt, mitfreuen? Und wie sieht's, denn auch ich habe Bedürfnisse, die, da ich dem Konsumverzicht seit über zwei Jahren fröhne, und wie sieht's mit meinen eigenen Beziehungen zu den, sagen wir, Firmen aus, die heute Laufschuhe verscherbeln? Sollte ich mich einreihen? Eine ephemere Beziehung mit einem dieser Kapitalismusläden eingehen - wohl wissend, dass die günstigen Black Friday-Schuhe irgendwo unter menschen- und umweltverachtenden Bedingungen produziert worden sind?
Anyway, Freund, darum soll's zwischen Ihnen und mir, die wir am Ende einer ausgedehnten Briefreise angekommen sind, nicht gehen. Über echte Freundschaft gilt's nachzudenken. Über das Gefühl, Zeit miteinander verbracht zu haben, die sich gelohnt hat. Ich möchte zunächst Danke sagen. Mir ist bewusst, dass Sie's nicht einfach gehabt, allerlei Dummköpfe um sich herum gehabt haben, die Ihnen das Leben und Schreiben versauert haben. Was Sie dennoch geleistet haben, nötigt mir Hochachtung ab. Bitte missverstehen Sie nicht meinen wiederholten Widerspruch als Missachtung. Im Gegenteil. Die Unvereinbarkeit, die ich mit Ihren Positionen empfinde, verstehe ich als Bereicherung. An Ihnen und mit Ihnen durfte ich mein Denken schärfen. Dafür haben Sie meinen Respekt, und ich möchte mich bei Ihnen bedanken.
Es ist, jetzt, während ich an Sie schreibe, noch früh am Morgen. Viele der Texte an Sie habe ich, nebenbei bemerkt, im Nachtschwarzpech des Berliner Winters oder im Blaugrauschein der wundervollen Sommerdunkelheit verfasst. Und da's bislang kein Tageslicht gibt, liegt, weiterhin im warmen Bett, meine beste Freundin gleich hinter mir, fünf Meter sind's, die mich von ihr, meiner Gesprächs- und Liebespartnerin trennen. Ich erwähne mein Lebensglück, da ich das Gefühl habe, Freund, dass Sie jede Beschreibung innigster Intimität tunlichst vermieden haben. Mir ist dieser Aspekt der Freundschaft allerdings unabdingbar. Zu missen, was ich gerade habe, hieße, freudlos zu leben. Ich denke, ich habe Ihnen auch geschrieben, um diese Lücke in Ihrem Text zunächst aufzudecken und dann in die geistige und emotionale Lücke zu springen. Ausprobieren wollte ich, ob meine Prinzipien Ihren erprobten und von vielen Leserinnen und Lesern geschätzten Einsichten standhalten. Die Zeit wird zeigen, inwieweit einiges womöglich die Stunde übersteht. Mir hat's gereicht, mit Ihren Texten sein zu dürfen, mich an meine eigenen Vorstellungen anzupirschen, mir selbst über die Schultern zu sehen. Auch, was Sie überraschen mag, Sätze zu formulieren, die mir an sich fremd sind, mit denen ich kaum oder ganz und gar nicht übereinstimme. Ich wollte auf diesen Seiten denken, frei und ungestüm, kritisch und lobend, vorsichtig und liebevoll.
Mit sich kritisch zu sein, heißt, mit anderen unkritisch sein zu können.
Hätt ich einen letzten Freundschaftswunsch, würd ich gern in den Armen meiner Liebsten sterben.
Wer Freundschaft empfindet, findet das Glück.
29. November