119.
Sich nicht verhaßt machen. Man rufe nicht den Widerwillen hervor: denn auch ungesucht kommt er gar bald von selbst. Viele verabscheuen aus freien Stücken, ohne zu wissen wofür oder warum. Ihr Uebelwollen kommt selbst unsrer Zuvorkommenheit zuvor. Die Gehässigkeit unsrer Natur ist thätiger und rascher zum fremden Schaden, als die Begehrlichkeit derselben zum eignen Vortheil. Einige gefallen sich darin, mit Allen auf einem schlechten Fuß zu seyn; weil sie Ueberdruß empfinden oder erregen. Hat einmal der Haß Wurzel gefaßt; so ist er, wie der schlechte Ruf, schwer auszurotten. Leute von vielem Verstande werden gefürchtet, die von böser Zunge werden verabscheut, die Anmaaßenden sind zum Ekel, die Spötter ein Gräuel, die Sonderlinge läßt man stehn. Demnach bezeuge man Hochachtung, um welche einzuerndten, und denke, daß geschätzt seyn ein Schatz ist.
Nicht zu hassen, Freund, das sei meiner Antwort vorangestellt, nicht zu hassen, reicht allerdings nicht, um geschätzt zu werden. Ich bin, was die Frage des Geschätzwerdens betrifft, davon überzeugt, dass wir uns des Schätzens wertzeigen müssen. Es kann halt nur zur Schätzung eingereicht werden, was einen Wert besitzt. Verstehen Sie mich bitte richtig: Vom schnöden Mammon spreche ich hier ganz und gar nicht. Wir werden doch in Wahrheit nicht geschätzt, weil wir dieses oder jenes Sümmchen abgezweigt haben und großspurig damit angeben. Tatsächlich schätzen uns Andere, weil wir Liebenswürdiges tun. Wird dagegen Außerordentliches geleistet, sagen wir im Sport, würde ich eher von Anerkennung sprechen. Das Schätzen ist uns dabei emotional näher als die Anerkennung.
Der Hass, Freund, Sie können's dank des Zeit-Tals, das zwischen meinem und Ihrem Lebensgipfel liegt, nicht wissen, der Hass ist wohl die härteste Währung meiner Ära, um genau zu sein: des noch jungen Internet-Zeitalters. Aus der angeblichen Distanz, die viele Hasserïnnen als Schutzschild benutzen - das World Wide Web, was erwähnt werden muss, gaukelt uns sowohl eine gewaltige Entfernung als auch die Anonymität einer Trutzburg vor, obwohl wir einander heutzutage sogar noch viel einfacher und schneller als früher unter die dünne Haut kriechen -, aus der irrtümlich vermuteten Distanz erlauben sich viele meiner Zeitgenossen Dinge, die ihnen mit ihren Nachbarïnnen, träfen sie sie auf der Straße, niemals einfielen. Man schlägt und prügelt aufeinander ein, bricht Versprechen, missachtet den menschlichen Ab- und Anstand und geifert, was die dümmsten Instinkte hergeben.
Ja, das sei erwähnt, natürlich gibt's auch Frauen und Männer, die sich online verlieben und zarteste Worte füreinander finden. Es ist also an sich beinahe wie immer: Einer oder eine schneidet mit dem Messer Brot, der oder die andere sticht uns mit demselben Instrument kaltblütig das Herz aus.
Wir vergessen gerade reihenweise Ihren Rat, dass das Geschätztsein ein Schatz ist. Und ich nehme mich davon nicht aus. Erst vorgestern, ich war vom Potsdamer Platz Richtung Hauptbahnhof unterwegs, traf ich, ausgerechnet vorm Kanzleramt, eine Gruppe Gelbwesten, vom deutschen Ableger des Mouvement des Gilets jaunes. Etwa 200 Menschen, deutlich mehr Männer als Frauen. Einer hielt eine Rede, in der er über die Islamisierung Europas schwadronierte, garniert von rechtspopulistischen Forderungen. In mir knallte die Vernunftsicherung durch. Ich bremste mein Fahrrad ab und machte mich, anders lässt's sich nicht formulieren, über die dümmlichen Gedankengänge und emotionalen Achsensprünge lustig - zwar mit Argumenten, aber eben auch mit, ja, einem Hauch von Hass, für den ich mich, noch beim Sprechen, zwar sofort schämte, ihn dennoch nicht ad hoc abstellen konnte. Der Hass hatte mich fest im Griff, er lenkte meine Zunge, ließ mich abkanzeln, anstatt zu fragen und zu debattieren. Eine verpasste Gelegenheit zum Gespräch. Gewiss, geholfen hat's wenig, dass die muskulösen Gelbwesten-Aufpasser mich umringten und mit geballten Fäusten bearbeiteten. Dennoch: Vielleicht wär's anders abgelaufen, hätte ich mich heiterer gezeigt, in meiner Kritik, in meinem Verständnis für Mitbürgerïnnen, die sich abgehängt fühlen.
Empathie schwächt den Hass, Sympathie unterstützt die Liebe.
Wer Wut walten lässt, verscherzt sich manche Erkenntnis. Erst beim Zuhören fängt das eigentliche Reden an. Ein Monolog sei kein Gespräch, sondern eine monotone Selbstbefriedigung. Ohne Fragen gelingt keine Konversation. Statements sind Büsche ohne Beeren, sie mögen uns gefallen, nähren tun sie nicht.
29. April 2019 und 12. Januar 2021
Sich nicht verhaßt machen. Man rufe nicht den Widerwillen hervor: denn auch ungesucht kommt er gar bald von selbst. Viele verabscheuen aus freien Stücken, ohne zu wissen wofür oder warum. Ihr Uebelwollen kommt selbst unsrer Zuvorkommenheit zuvor. Die Gehässigkeit unsrer Natur ist thätiger und rascher zum fremden Schaden, als die Begehrlichkeit derselben zum eignen Vortheil. Einige gefallen sich darin, mit Allen auf einem schlechten Fuß zu seyn; weil sie Ueberdruß empfinden oder erregen. Hat einmal der Haß Wurzel gefaßt; so ist er, wie der schlechte Ruf, schwer auszurotten. Leute von vielem Verstande werden gefürchtet, die von böser Zunge werden verabscheut, die Anmaaßenden sind zum Ekel, die Spötter ein Gräuel, die Sonderlinge läßt man stehn. Demnach bezeuge man Hochachtung, um welche einzuerndten, und denke, daß geschätzt seyn ein Schatz ist.
Nicht zu hassen, Freund, das sei meiner Antwort vorangestellt, nicht zu hassen, reicht allerdings nicht, um geschätzt zu werden. Ich bin, was die Frage des Geschätzwerdens betrifft, davon überzeugt, dass wir uns des Schätzens wertzeigen müssen. Es kann halt nur zur Schätzung eingereicht werden, was einen Wert besitzt. Verstehen Sie mich bitte richtig: Vom schnöden Mammon spreche ich hier ganz und gar nicht. Wir werden doch in Wahrheit nicht geschätzt, weil wir dieses oder jenes Sümmchen abgezweigt haben und großspurig damit angeben. Tatsächlich schätzen uns Andere, weil wir Liebenswürdiges tun. Wird dagegen Außerordentliches geleistet, sagen wir im Sport, würde ich eher von Anerkennung sprechen. Das Schätzen ist uns dabei emotional näher als die Anerkennung.
Der Hass, Freund, Sie können's dank des Zeit-Tals, das zwischen meinem und Ihrem Lebensgipfel liegt, nicht wissen, der Hass ist wohl die härteste Währung meiner Ära, um genau zu sein: des noch jungen Internet-Zeitalters. Aus der angeblichen Distanz, die viele Hasserïnnen als Schutzschild benutzen - das World Wide Web, was erwähnt werden muss, gaukelt uns sowohl eine gewaltige Entfernung als auch die Anonymität einer Trutzburg vor, obwohl wir einander heutzutage sogar noch viel einfacher und schneller als früher unter die dünne Haut kriechen -, aus der irrtümlich vermuteten Distanz erlauben sich viele meiner Zeitgenossen Dinge, die ihnen mit ihren Nachbarïnnen, träfen sie sie auf der Straße, niemals einfielen. Man schlägt und prügelt aufeinander ein, bricht Versprechen, missachtet den menschlichen Ab- und Anstand und geifert, was die dümmsten Instinkte hergeben.
Ja, das sei erwähnt, natürlich gibt's auch Frauen und Männer, die sich online verlieben und zarteste Worte füreinander finden. Es ist also an sich beinahe wie immer: Einer oder eine schneidet mit dem Messer Brot, der oder die andere sticht uns mit demselben Instrument kaltblütig das Herz aus.
Wir vergessen gerade reihenweise Ihren Rat, dass das Geschätztsein ein Schatz ist. Und ich nehme mich davon nicht aus. Erst vorgestern, ich war vom Potsdamer Platz Richtung Hauptbahnhof unterwegs, traf ich, ausgerechnet vorm Kanzleramt, eine Gruppe Gelbwesten, vom deutschen Ableger des Mouvement des Gilets jaunes. Etwa 200 Menschen, deutlich mehr Männer als Frauen. Einer hielt eine Rede, in der er über die Islamisierung Europas schwadronierte, garniert von rechtspopulistischen Forderungen. In mir knallte die Vernunftsicherung durch. Ich bremste mein Fahrrad ab und machte mich, anders lässt's sich nicht formulieren, über die dümmlichen Gedankengänge und emotionalen Achsensprünge lustig - zwar mit Argumenten, aber eben auch mit, ja, einem Hauch von Hass, für den ich mich, noch beim Sprechen, zwar sofort schämte, ihn dennoch nicht ad hoc abstellen konnte. Der Hass hatte mich fest im Griff, er lenkte meine Zunge, ließ mich abkanzeln, anstatt zu fragen und zu debattieren. Eine verpasste Gelegenheit zum Gespräch. Gewiss, geholfen hat's wenig, dass die muskulösen Gelbwesten-Aufpasser mich umringten und mit geballten Fäusten bearbeiteten. Dennoch: Vielleicht wär's anders abgelaufen, hätte ich mich heiterer gezeigt, in meiner Kritik, in meinem Verständnis für Mitbürgerïnnen, die sich abgehängt fühlen.
Empathie schwächt den Hass, Sympathie unterstützt die Liebe.
Wer Wut walten lässt, verscherzt sich manche Erkenntnis. Erst beim Zuhören fängt das eigentliche Reden an. Ein Monolog sei kein Gespräch, sondern eine monotone Selbstbefriedigung. Ohne Fragen gelingt keine Konversation. Statements sind Büsche ohne Beeren, sie mögen uns gefallen, nähren tun sie nicht.
29. April 2019 und 12. Januar 2021
118.
Den Ruf der Höflichkeit erwerben: denn er ist hinreichend, um beliebt zu seyn. Die Höflichkeit ist ein Haupttheil der Bildung und ist eine Art Hexerei, welche die Gunst Aller erobert, wie im Gegentheil Unhöflichkeit allgemeine Verachtung und Widerwillen erregt: wenn aus Stolz entspringend, ist sie abscheulich; wenn aus Grobheit, verächtlich. Die Höflichkeit sei allemal eher zu groß als zu klein, jedoch nicht gleich gegen Alle, wodurch sie zur Ungerechtigkeit würde. Zwischen Feinden ist sie Schuldigkeit, damit man seinen Werth zeige. Sie kostet wenig und hilft viel: jeder Verehrer ist geehrt. Höflichkeit und Ehre haben vor andern Dingen dies voraus, daß sie bei dem, der sie erzeigt, bleiben.
Eine bemerkenswerte conclusio, Freund, über die ich viel nachgedacht habe - vor allen Dingen über das Tunwort "bleiben". Bleibt etwas, hat es, scheint mir, einen eigenen Willen. Es bleibt, gewissermaßen, aus eigenen Stücken, wird nicht zum Dableiben gezwungen. Ob nun Ehre und Höflichkeit solch ein Eigenleben führen? Also, zugespitzt gesagt, rein gesellschaftlich festgelegt sind? Ich demgemäß keine eigene Höflichkeit oder Ehre schaffen kann, die allein zu mir gehört? Die grundlegendere Frage, die dahinter lauert, wäre somit die des Determinismus. Bin ich höflich im Sinne der gesellschaftlichen oder der individuellen Höflichkeit? Und welcher Wertmaßstab überwiegt, im Zweifelsfalle? Die Ehre Aufständischer, die sich gegen ein diktatorisches Regime stellen, ist sie größer als die Ehre derjenigen, die sich in der Diktatur eingerichtet haben, ohne selbst Verbrechen zu begeben? Für mich ist die Antwort klar - aber ich darf nicht apodiktisch festlegen, dass meine Wahl auch von Anderen geteilt wird, die, stellten sie sich gegen die Diktatorïn, ihre ganze Familie in Schwierigkeiten brächten. Nun gut, genug davon.
Wieder, Freund, überzeugt mich das Bedenkliche weit mehr als das Unbedenkliche, welches Sie, quasi als falsche Masche, untreu und ergeben in Ihre Betrachtungen einfügen. Woher, bevor ich beides kurz beleuchte, woher mag diese Widerhakenlust stammen, die, zugegeben, viele von uns als Marotte im Hirn tragen? Schrecken wir davor zurück, als eindimensional freundlich oder kurvenlos ablehnend zu gelten? Suchen wir das Sowohl-als-auch, weil wir in Wahrheit kompromisslos verwaschen sind? Oder, wohl eher die Wahrheit, sind und bleiben die Menschen und Dinge, wie wir sie auch wenden und drehen, nun mal vielstimmig? Krähen, kreischen, krawallen, obwohl in ihnen der Jubelwunsch nach Unisono-Aufmerksamkeit heischt?
Wie auch immer, Sie haben, wie eingangs erwähnt, Recht mit Ihrer Anbetung der Höflichkeit, gerade der, die wir unseren Opponenten zeigen sollten. Kracht es zwischen Freundïnnen, klärt sich die Luft, zwischen Feindïnnen ziehen dagegen weitere Gewitterwolken auf und Sekunden später ist, oft genug, die Atmosphäre auf immer vergiftet. Man überlege sich also den Moment der Unhöflichkeit sehr genau, da er ein Giftpfeil ist, den wir nicht zu oft folgenlos abschießen können.
Nun noch ein Wort zu Ihrer Idee, dass wir die Höflichkeit wie eine Ware abwiegen sollten, da sie ansonsten zur Ungerechtigkeit führte. Hier spricht, Pardon, Freund, mal wieder ungeniert die machtversonnene Hofschranze aus Ihnen, der Courtier, der Handel mit der hierarchischen Etikette treibt, da es sich am Hofstaat als Kriecher besser aushalten lässt.
Finden wir Unhöflichkeit vor, die angestammt ist, sollten wir ihr grundsätzlich nicht mit Geduld und Freundlichkeit begegnen, sondern sie ausbooten.
Wer Ungerechtigkeit akzeptiert, begeht eine moralische Rechtswidrigkeit.
Kann jemand die Wahrheit nicht verdauen, sollten wir sie oder ihn nicht mit weiteren Lügen füttern. Auf Dauer mundet allein die Wahrheit. Aufgeblasene Höflichkeit, zu der uns die Tradition vermeintlich verpflichtet, obwohl man sie uns nicht entgegenbringt, liegt schwer im Magen.
Das Gute sei nicht zu müde, ist das Böse doch meistens hellwach.
29. April 2019 und 11. Januar 2021
Den Ruf der Höflichkeit erwerben: denn er ist hinreichend, um beliebt zu seyn. Die Höflichkeit ist ein Haupttheil der Bildung und ist eine Art Hexerei, welche die Gunst Aller erobert, wie im Gegentheil Unhöflichkeit allgemeine Verachtung und Widerwillen erregt: wenn aus Stolz entspringend, ist sie abscheulich; wenn aus Grobheit, verächtlich. Die Höflichkeit sei allemal eher zu groß als zu klein, jedoch nicht gleich gegen Alle, wodurch sie zur Ungerechtigkeit würde. Zwischen Feinden ist sie Schuldigkeit, damit man seinen Werth zeige. Sie kostet wenig und hilft viel: jeder Verehrer ist geehrt. Höflichkeit und Ehre haben vor andern Dingen dies voraus, daß sie bei dem, der sie erzeigt, bleiben.
Eine bemerkenswerte conclusio, Freund, über die ich viel nachgedacht habe - vor allen Dingen über das Tunwort "bleiben". Bleibt etwas, hat es, scheint mir, einen eigenen Willen. Es bleibt, gewissermaßen, aus eigenen Stücken, wird nicht zum Dableiben gezwungen. Ob nun Ehre und Höflichkeit solch ein Eigenleben führen? Also, zugespitzt gesagt, rein gesellschaftlich festgelegt sind? Ich demgemäß keine eigene Höflichkeit oder Ehre schaffen kann, die allein zu mir gehört? Die grundlegendere Frage, die dahinter lauert, wäre somit die des Determinismus. Bin ich höflich im Sinne der gesellschaftlichen oder der individuellen Höflichkeit? Und welcher Wertmaßstab überwiegt, im Zweifelsfalle? Die Ehre Aufständischer, die sich gegen ein diktatorisches Regime stellen, ist sie größer als die Ehre derjenigen, die sich in der Diktatur eingerichtet haben, ohne selbst Verbrechen zu begeben? Für mich ist die Antwort klar - aber ich darf nicht apodiktisch festlegen, dass meine Wahl auch von Anderen geteilt wird, die, stellten sie sich gegen die Diktatorïn, ihre ganze Familie in Schwierigkeiten brächten. Nun gut, genug davon.
Wieder, Freund, überzeugt mich das Bedenkliche weit mehr als das Unbedenkliche, welches Sie, quasi als falsche Masche, untreu und ergeben in Ihre Betrachtungen einfügen. Woher, bevor ich beides kurz beleuchte, woher mag diese Widerhakenlust stammen, die, zugegeben, viele von uns als Marotte im Hirn tragen? Schrecken wir davor zurück, als eindimensional freundlich oder kurvenlos ablehnend zu gelten? Suchen wir das Sowohl-als-auch, weil wir in Wahrheit kompromisslos verwaschen sind? Oder, wohl eher die Wahrheit, sind und bleiben die Menschen und Dinge, wie wir sie auch wenden und drehen, nun mal vielstimmig? Krähen, kreischen, krawallen, obwohl in ihnen der Jubelwunsch nach Unisono-Aufmerksamkeit heischt?
Wie auch immer, Sie haben, wie eingangs erwähnt, Recht mit Ihrer Anbetung der Höflichkeit, gerade der, die wir unseren Opponenten zeigen sollten. Kracht es zwischen Freundïnnen, klärt sich die Luft, zwischen Feindïnnen ziehen dagegen weitere Gewitterwolken auf und Sekunden später ist, oft genug, die Atmosphäre auf immer vergiftet. Man überlege sich also den Moment der Unhöflichkeit sehr genau, da er ein Giftpfeil ist, den wir nicht zu oft folgenlos abschießen können.
Nun noch ein Wort zu Ihrer Idee, dass wir die Höflichkeit wie eine Ware abwiegen sollten, da sie ansonsten zur Ungerechtigkeit führte. Hier spricht, Pardon, Freund, mal wieder ungeniert die machtversonnene Hofschranze aus Ihnen, der Courtier, der Handel mit der hierarchischen Etikette treibt, da es sich am Hofstaat als Kriecher besser aushalten lässt.
Finden wir Unhöflichkeit vor, die angestammt ist, sollten wir ihr grundsätzlich nicht mit Geduld und Freundlichkeit begegnen, sondern sie ausbooten.
Wer Ungerechtigkeit akzeptiert, begeht eine moralische Rechtswidrigkeit.
Kann jemand die Wahrheit nicht verdauen, sollten wir sie oder ihn nicht mit weiteren Lügen füttern. Auf Dauer mundet allein die Wahrheit. Aufgeblasene Höflichkeit, zu der uns die Tradition vermeintlich verpflichtet, obwohl man sie uns nicht entgegenbringt, liegt schwer im Magen.
Das Gute sei nicht zu müde, ist das Böse doch meistens hellwach.
29. April 2019 und 11. Januar 2021
117.
Nie von sich reden. Entweder man lobt sich, welches Eitelkeit, oder man tadelt sich, welches Kleinheit ist: und wie es im Sprecher Unklugheit verräth, so ist es für den Hörer eine Pein. Wenn nun dieses schon im gewöhnlichen Umgang zu vermeiden ist, wie viel mehr auf einem hohen Posten, wo man zur Versammlung redet, und wo der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gilt. Der gleiche Verstoß gegen die Klugheit liegt im Reden von Anwesenden, wegen der Gefahr auf eine von zwei Klippen zu stoßen: Schmeichelei oder Tadel.
Spitzen wir gleich mal zu, Freund, was Sie uns hier raten, und fragen uns: Wovon dürften wir dann noch reden? Spaßeshalber sei gesagt: zunächst sicherlich von Angelegenheiten, was einige jedoch schnell langweilen würde, und dann konzentrierte sich die Unterhaltung alsbald auf die Anwesenden. Also, wenn Sie im Raum wären, würde somit von Ihnen und Ihresgleichen die Rede sein - Sie sprächen also, dank Ihrer Vorgaben, nach einem kleinen Umweg, wieder von sich selbst. Das finde ich, mit Verlaub, so, als ob man selbstzufrieden im eigenen Saft schmorte.
Sich selbst zu tadeln oder zu loben, Freund, zeugt von Einsicht - sowohl ins vermeindlich Gute als auch unvermeindlich Schlechte des eigenen Charakters, der eigenen Handlungen, der eigenen Errungenschaften und, was anspornt oder deprimiert, Aussichten. Das Lausige als auch das Hervorragende sind doch beides Zustände des Lebens, die immerdar sind. Manchmal, was arg verwirrt, sogar zugleich.
Die Rolle des auswärtigen Kritikers und die der eingeflogenen Kritikerin, die wir uns alle beständig anmaßen, mehr oder minder begründet, langweilt und steht uns auf Dauer nicht zu. Erst einmal am eigenen Hemd die Flecken zu entdecken, sei die Rezensentenpflicht und Jurorinnenobliegenheit, bevor man anderen das Zeug am Leibe flickt.
Wer nicht vernünftig über sich selbst sprechen kann, kann kaum gescheit über andere sprechen.
Damit, Freund, möchte ich aber, der ich nach drei Stunden Schlaf gnadenlos übermüdet bin, gerade einen arg kurzen Geduldsfaden habe, nicht enden. Ihre überaus kluge Bemerkung, dass der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gelte, hat mich vorübergehend ins Reich der Wachen zurückgeholt. Danke, diese scharfsinnige Erkenntnis dürfte mich auf alle Zeiten begleiten.
28. April 2019 und 10. Januar 2021
Nie von sich reden. Entweder man lobt sich, welches Eitelkeit, oder man tadelt sich, welches Kleinheit ist: und wie es im Sprecher Unklugheit verräth, so ist es für den Hörer eine Pein. Wenn nun dieses schon im gewöhnlichen Umgang zu vermeiden ist, wie viel mehr auf einem hohen Posten, wo man zur Versammlung redet, und wo der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gilt. Der gleiche Verstoß gegen die Klugheit liegt im Reden von Anwesenden, wegen der Gefahr auf eine von zwei Klippen zu stoßen: Schmeichelei oder Tadel.
Spitzen wir gleich mal zu, Freund, was Sie uns hier raten, und fragen uns: Wovon dürften wir dann noch reden? Spaßeshalber sei gesagt: zunächst sicherlich von Angelegenheiten, was einige jedoch schnell langweilen würde, und dann konzentrierte sich die Unterhaltung alsbald auf die Anwesenden. Also, wenn Sie im Raum wären, würde somit von Ihnen und Ihresgleichen die Rede sein - Sie sprächen also, dank Ihrer Vorgaben, nach einem kleinen Umweg, wieder von sich selbst. Das finde ich, mit Verlaub, so, als ob man selbstzufrieden im eigenen Saft schmorte.
Sich selbst zu tadeln oder zu loben, Freund, zeugt von Einsicht - sowohl ins vermeindlich Gute als auch unvermeindlich Schlechte des eigenen Charakters, der eigenen Handlungen, der eigenen Errungenschaften und, was anspornt oder deprimiert, Aussichten. Das Lausige als auch das Hervorragende sind doch beides Zustände des Lebens, die immerdar sind. Manchmal, was arg verwirrt, sogar zugleich.
Die Rolle des auswärtigen Kritikers und die der eingeflogenen Kritikerin, die wir uns alle beständig anmaßen, mehr oder minder begründet, langweilt und steht uns auf Dauer nicht zu. Erst einmal am eigenen Hemd die Flecken zu entdecken, sei die Rezensentenpflicht und Jurorinnenobliegenheit, bevor man anderen das Zeug am Leibe flickt.
Wer nicht vernünftig über sich selbst sprechen kann, kann kaum gescheit über andere sprechen.
Damit, Freund, möchte ich aber, der ich nach drei Stunden Schlaf gnadenlos übermüdet bin, gerade einen arg kurzen Geduldsfaden habe, nicht enden. Ihre überaus kluge Bemerkung, dass der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gelte, hat mich vorübergehend ins Reich der Wachen zurückgeholt. Danke, diese scharfsinnige Erkenntnis dürfte mich auf alle Zeiten begleiten.
28. April 2019 und 10. Januar 2021
116.
Sich nur mit Leuten von Ehr- und Pflichtgefühl abgeben. Mit solchen kann man gegenseitige Verpflichtungen eingehn. Ihre eigene Ehre ist der beste Bürge für ihr Benehmen, sogar bei Mißhelligkeiten: denn sie handeln stets mit Rücksicht auf ihre Würde, daher Streit mit rechtlichen Leuten besser ist, als Sieg über unrechtliche. Mit den Verworfenen giebt es keinen sichern Umgang, weil sie keine Verpflichtung zur Rechtlichkeit fühlen: daher giebt es unter solchen auch keine wahre Freundschaft und ihre Freundschaftsbezeugungen sind nicht ächt, wenn sie es gleich scheinen, weil kein Ehrgefühl sie bekräftigt, und Leute, denen dieses fehlt, halte man immer von sich ab: denn wer die Ehre nicht hochhält, hält auch die Tugend nicht hoch, indem die Ehre der Thron der Rechtlichkeit ist.
Nun ja, Freund, die Annahme, dass Ehre und Rechtlchkeit allzeit Hand in Hand gehen, würde ich gerne, zu gerne gelten lassen. Allein, es ist nun mal eine seltsame Sache mit der Ehre. Sie lebt in wenigen von uns für sich. Häufig nötigt sie uns, vor die Tür zu treten und uns in die Reihe der anderen Ehrenhaften einzureihen. Die Ehre ist, in ihrer schwachen Form, ein Werkzeug, um gut und angepasst zu leben, in ihrer starken Form dagegen, die uns angeraten sein sollte, ein moralisches Instrument, das auch bereit ist, das Orchester zu verlassen und als Soloinstrument zu musizieren. Mir ist sehr wohl bekannt, dass sich die Überwältigung, die viele empfinden, wenn sie einem Orchesterwerk lauschen, bei einem Kammermusikabend anders anfühlt. Und dennoch: Müsste ich mich entscheiden, hörte ich eher den Wenigen zu, die alles durchdrungen haben, als den Vielen, die im Strom mitschwimmen und, bei Bedarf, fünfe gerade sein lassen.
Der Streit mit rechtlichen Leuten sei besser, schreiben Sie, als der Sieg über unrechtliche. Richtiger kann man, theoretisch, kaum liegen, scheint mir. Und lassen Sie mich hinzufügen, dass mich besonders das Eingeständnis des eigenen Falschliegens, was eben in dieser Äußerung steckt, beeindruckt. Denn Irrtümer passieren auch den ehrwürdigsten Personen. Niemand ist frei von Fehlurteilen. Wer das Gegenteil behauptet, beweist eben genau jenes.
Bleibt die beinahe obligatorische Einschränkung, die Sie, Freund, dank Ihrer Ideen in mir wachrufen. Unseren Kontakt auf Menschen mit Ehr- und Pflichtgefühl zu beschränken, ist nun mal Humbug. Erstens treffen, wie erwähnt, unsere eigenen moralischen Pfeile selten ins Urteilsschwarze, Launen und Intrigen lenken sie häufig ab. Zweitens haben wir oft genug von den Wertvorstellungen, die Entscheidungen motivieren, nicht den leisesten Schimmer. Und drittens halten wir ein bestimmtes Benehmen, das uns ständig in unserer Umgebung begegnet, oftmals für die Norm, obwohl es für andere einen Sittenverstoß, gar ein Verbrechen darstellt.
Menschen sind moralische Gewohnheitstiere, die höchst ungern ihr Gatter verlassen.
Wer erst von der Freiheit gekostet hat, dem schmeckt die Knechtschaft niemals wieder.
26. April 2019 und 9. Januar 2021
Sich nur mit Leuten von Ehr- und Pflichtgefühl abgeben. Mit solchen kann man gegenseitige Verpflichtungen eingehn. Ihre eigene Ehre ist der beste Bürge für ihr Benehmen, sogar bei Mißhelligkeiten: denn sie handeln stets mit Rücksicht auf ihre Würde, daher Streit mit rechtlichen Leuten besser ist, als Sieg über unrechtliche. Mit den Verworfenen giebt es keinen sichern Umgang, weil sie keine Verpflichtung zur Rechtlichkeit fühlen: daher giebt es unter solchen auch keine wahre Freundschaft und ihre Freundschaftsbezeugungen sind nicht ächt, wenn sie es gleich scheinen, weil kein Ehrgefühl sie bekräftigt, und Leute, denen dieses fehlt, halte man immer von sich ab: denn wer die Ehre nicht hochhält, hält auch die Tugend nicht hoch, indem die Ehre der Thron der Rechtlichkeit ist.
Nun ja, Freund, die Annahme, dass Ehre und Rechtlchkeit allzeit Hand in Hand gehen, würde ich gerne, zu gerne gelten lassen. Allein, es ist nun mal eine seltsame Sache mit der Ehre. Sie lebt in wenigen von uns für sich. Häufig nötigt sie uns, vor die Tür zu treten und uns in die Reihe der anderen Ehrenhaften einzureihen. Die Ehre ist, in ihrer schwachen Form, ein Werkzeug, um gut und angepasst zu leben, in ihrer starken Form dagegen, die uns angeraten sein sollte, ein moralisches Instrument, das auch bereit ist, das Orchester zu verlassen und als Soloinstrument zu musizieren. Mir ist sehr wohl bekannt, dass sich die Überwältigung, die viele empfinden, wenn sie einem Orchesterwerk lauschen, bei einem Kammermusikabend anders anfühlt. Und dennoch: Müsste ich mich entscheiden, hörte ich eher den Wenigen zu, die alles durchdrungen haben, als den Vielen, die im Strom mitschwimmen und, bei Bedarf, fünfe gerade sein lassen.
Der Streit mit rechtlichen Leuten sei besser, schreiben Sie, als der Sieg über unrechtliche. Richtiger kann man, theoretisch, kaum liegen, scheint mir. Und lassen Sie mich hinzufügen, dass mich besonders das Eingeständnis des eigenen Falschliegens, was eben in dieser Äußerung steckt, beeindruckt. Denn Irrtümer passieren auch den ehrwürdigsten Personen. Niemand ist frei von Fehlurteilen. Wer das Gegenteil behauptet, beweist eben genau jenes.
Bleibt die beinahe obligatorische Einschränkung, die Sie, Freund, dank Ihrer Ideen in mir wachrufen. Unseren Kontakt auf Menschen mit Ehr- und Pflichtgefühl zu beschränken, ist nun mal Humbug. Erstens treffen, wie erwähnt, unsere eigenen moralischen Pfeile selten ins Urteilsschwarze, Launen und Intrigen lenken sie häufig ab. Zweitens haben wir oft genug von den Wertvorstellungen, die Entscheidungen motivieren, nicht den leisesten Schimmer. Und drittens halten wir ein bestimmtes Benehmen, das uns ständig in unserer Umgebung begegnet, oftmals für die Norm, obwohl es für andere einen Sittenverstoß, gar ein Verbrechen darstellt.
Menschen sind moralische Gewohnheitstiere, die höchst ungern ihr Gatter verlassen.
Wer erst von der Freiheit gekostet hat, dem schmeckt die Knechtschaft niemals wieder.
26. April 2019 und 9. Januar 2021
115.
Sich an die Karakterfehler seiner Bekannten gewöhnen: eben wie an häßliche Gesichter. Es ist unerläßlich, wo Verpflichtungen uns an sie knüpfen. Es giebt erschreckliche Karaktere, mit welchen man nicht leben kann: jedoch ohne sie nun auch nicht. Dann ist es geschickt, sich an sie, wie an häßliche Gesichter, allmälig zu gewöhnen, damit man nicht, bei irgend einer fürchterlichen Gelegenheit, ganz aus der Fassung gerathe. Das erste Mal erregen sie Entsetzen: allein nach und nach verlieren sie an Scheußlichkeit, und die Ueberlegung weiß Unannehmlichkeiten vorzubeugen oder sie zu ertragen.
Dass Relationen und Relativität, Freund, arg aneinander hängen, sich auf einen gemeinsamen Stamm gründen, ist Ihnen natürlich bewusst. Beziehungen tragen eben stets, denke ich, in sich Bedingtheiten, die nicht nur einfach und schön, sondern, um ihren Begriff aufzunehmen, auch hässlich und schwierig sind. Jede Liebe kennt den Hass, jeder Hass die Liebe; nicht umsonst gibt's im Deutschen den Begriff der Hassliebe, wobei ich mich häufig frage, ob's nicht auch den des Liebehasses geben sollte. Nun gut, worauf ich hinauswill: Die Hässlichkeit, von der Sie sprechen, liegt mehr an uns, ist mehr dem Augenblick verpflichtet, hat weniger mit den Menschen zu tun, mit denen wir's zu tun haben. Als Beispiel sei erwähnt, dass etlichen Älteren die Jugend per se schön erscheint, während die Jugend selbst sehr wohl strenge Trennlinien innerhalb ihres eigenen Areals setzt.
Außerdem: Was sind Charakterfehler, Freund? Lächeln Sie bitte nicht, selbst wenn Ihnen die Antwort so offensichtlich erscheint. Anders als in der Mathematik, wo Zahlen stur auf jeden Abzug mit einem Wertverlust reagieren, ist das nämlich mit dem Charakter und seinen Fehlern eine ziemlich seltsame Sache: Nicht allein reißen sie etwas aus uns heraus, machen uns an Tugenden leichter, sehr wohl kommt es auch zu einer Stärkung der übriggebliebenen Vortrefflichkeiten. Die Arete - ein griechischer Begriff für Exzellenz, der mit der Erfüllung eines Zwecks oder einer Funktion verbunden ist - leckt nicht niedergeschlagen ihre Wunden, sondern stärkt, was in uns an Güte steckt.
Wer um die eigenen Fehler weiß, sollte nicht vor den Missgriffen anderer zittern. Schlimmer als in uns sei's, bleiben wir ehrlich, in Wahrheit nirgends.
Und der Begriff der Hässlichkeit, Freund, kommen wir zum Abschluss noch mal auf ihn zurück, den Sie leichtsinnig als Vorurteil und Schreckensgrund einführen, hat sehr wohl vielerlei Seiten, an denen wir uns manchmal und manch andere allzeit ergötzen.
Das Hässliche entpuppt sich häufig genug als eigentliche Schönheit.
Dem oberflächlich Attraktiven am ästhetischen Altar zu huldigen, sei das Vorrecht naiver Artnarren und leichtgläubiger Kunstelevinnen, die sich weder für üble Geschmackstiefe noch die großartige Denkkraft des wütenden Widerstands interessieren.
25. April 2019 und 7. Januar 2021
Sich an die Karakterfehler seiner Bekannten gewöhnen: eben wie an häßliche Gesichter. Es ist unerläßlich, wo Verpflichtungen uns an sie knüpfen. Es giebt erschreckliche Karaktere, mit welchen man nicht leben kann: jedoch ohne sie nun auch nicht. Dann ist es geschickt, sich an sie, wie an häßliche Gesichter, allmälig zu gewöhnen, damit man nicht, bei irgend einer fürchterlichen Gelegenheit, ganz aus der Fassung gerathe. Das erste Mal erregen sie Entsetzen: allein nach und nach verlieren sie an Scheußlichkeit, und die Ueberlegung weiß Unannehmlichkeiten vorzubeugen oder sie zu ertragen.
Dass Relationen und Relativität, Freund, arg aneinander hängen, sich auf einen gemeinsamen Stamm gründen, ist Ihnen natürlich bewusst. Beziehungen tragen eben stets, denke ich, in sich Bedingtheiten, die nicht nur einfach und schön, sondern, um ihren Begriff aufzunehmen, auch hässlich und schwierig sind. Jede Liebe kennt den Hass, jeder Hass die Liebe; nicht umsonst gibt's im Deutschen den Begriff der Hassliebe, wobei ich mich häufig frage, ob's nicht auch den des Liebehasses geben sollte. Nun gut, worauf ich hinauswill: Die Hässlichkeit, von der Sie sprechen, liegt mehr an uns, ist mehr dem Augenblick verpflichtet, hat weniger mit den Menschen zu tun, mit denen wir's zu tun haben. Als Beispiel sei erwähnt, dass etlichen Älteren die Jugend per se schön erscheint, während die Jugend selbst sehr wohl strenge Trennlinien innerhalb ihres eigenen Areals setzt.
Außerdem: Was sind Charakterfehler, Freund? Lächeln Sie bitte nicht, selbst wenn Ihnen die Antwort so offensichtlich erscheint. Anders als in der Mathematik, wo Zahlen stur auf jeden Abzug mit einem Wertverlust reagieren, ist das nämlich mit dem Charakter und seinen Fehlern eine ziemlich seltsame Sache: Nicht allein reißen sie etwas aus uns heraus, machen uns an Tugenden leichter, sehr wohl kommt es auch zu einer Stärkung der übriggebliebenen Vortrefflichkeiten. Die Arete - ein griechischer Begriff für Exzellenz, der mit der Erfüllung eines Zwecks oder einer Funktion verbunden ist - leckt nicht niedergeschlagen ihre Wunden, sondern stärkt, was in uns an Güte steckt.
Wer um die eigenen Fehler weiß, sollte nicht vor den Missgriffen anderer zittern. Schlimmer als in uns sei's, bleiben wir ehrlich, in Wahrheit nirgends.
Und der Begriff der Hässlichkeit, Freund, kommen wir zum Abschluss noch mal auf ihn zurück, den Sie leichtsinnig als Vorurteil und Schreckensgrund einführen, hat sehr wohl vielerlei Seiten, an denen wir uns manchmal und manch andere allzeit ergötzen.
Das Hässliche entpuppt sich häufig genug als eigentliche Schönheit.
Dem oberflächlich Attraktiven am ästhetischen Altar zu huldigen, sei das Vorrecht naiver Artnarren und leichtgläubiger Kunstelevinnen, die sich weder für üble Geschmackstiefe noch die großartige Denkkraft des wütenden Widerstands interessieren.
25. April 2019 und 7. Januar 2021
114.
Nie ein Mitbewerber seyn. Jeder Anspruch, dem Andre sich entgegenstellen, schadet dem Ansehn: die Mitbewerber streben sogleich uns zu verunglimpfen, um uns zu verdunkeln. Wenige Menschen führen auf eine redliche Art Krieg. Die Nebenbuhler decken die Fehler auf, welche die Nachsicht vergessen hatte. Viele standen in Ansehn, so lange sie keine Nebenbuhler hatten. Die Hitze des Wettstreits ruft längst abgestorbenen Schimpf ins Leben zurück und gräbt die ältesten Stänkereien wieder aus der Erde. Die Mitwerbung hebt an mit einem Manifest von Verunglimpfungen und nimmt nicht was sie darf, sondern was sie kann zur Hülfe. Und wenn gleich oft, ja meistens die Waffen der Herabsetzung nicht zum Zwecke führen; so suchen wenigstens durch solche die Gegner die niedrige Befriedigung der Rache, und schütteln sie dermaaßen in der Luft, daß von beschämenden Unfällen der Staub der Vergessenheit herabstiegt. Stets waren die Wohlwollenden friedlich und die Leute von Ruf und Ansehn wohlwollend.
Nun ja, wie soll ich's sagen, Freund, aber in meiner Zeit, die von der Demokratie geprägt ist, gehört die Mitbewerbung zum guten demokratischen Ton. Erst wer vergleichen kann, kann schließlich wählen. Und natürlich liegen Sie richtig mit Ihrer Bestandsaufnahme, dass der Kampf um den Platz an der Sonne eklig sein kann. Allein: dafür gibt's halt nachvollziehbare Regeln, die eingehalten werden müssen. Wer dagegen verstößt, fliegt aus dem Rennen. So einfach - und so schwierig ist das. Lassen Sie mich ein Beispiel aus der Schweiz geben. Werden in der Eidgenossenschaft Bauaufträge von der öffentlichen Hand vergeben, bekommt nicht der billigste Anbieter den Zuschlag, sondern derjenige, der das zweitgünstigste Angebort vorgelegt hat. So werden die Firmen, die sich für den Bauauftrag bewerben, dazu gezwungen, realistischer zu kalkulieren. Irrwitzige Nachforderungen bleiben zwar auch in der Schweiz nicht aus, sind aber durch diesen Realitäts-Check weniger häufig.
Zweierlei, Freund, fällt mir außerdem zur Frage der Mitbewerbung ein.
Zunächst der offensichtlichere Punkt. Stünden wir zu unseren Fehlern, wären also die Ersten, die Irrtümer offenlegten, könnte uns niemand diese Verfehlungen als erwähnenswerte Neuigkeiten ankreiden.
Reinen Tisch zu machen, heißt wiederum nicht, den Abfall unter den Teppich zu kehren. Das sittliche Recyclen befreit von Altlasten. Die illegale moralische Müllkippe fliegt uns dagegen dank ihrer Sicker- und Blähkraft früher oder später um die Ohren.
Dann, als zweite Issue, was, wenigstens heutzutage, außerordentlich wichtig ist, dann wäre da noch die Sache des Wofür. Welche Position streben wir warum an? In einer Parteiendemokratie ist das sowohl die Gretchen- als auch Faustfrage. Taugen die Kandidatinnen und Kandidaten wenig, sind für die fraglichen Positionen fachlich oder aus menschlichen Gründen ungeeignet, sollten sie, an sich, keinen Erfolg haben. Und selbst wenn eine weniger befähigte Persönlichkeit es in einer Partei an die Spitze der Wahlliste schafft, hat das Elektorat, normalerweise, wenn es über ausreichend Informationen verfügt und nicht von Hass und Rachegelüsten getrieben ist, genug Crowdvernunft und Schwarmintelligenz, um das Schlimmste abzuwenden. Ausnahmen bestätigen, bekanntlich, die Regel.
Erst wer sich bewirbt, lernt den Unterschied zwischen Freunden und Feinden kennen, die, nicht zuletzt, auch in der eigenen Seele wohnen.
Nicht jede Position verdient uns, wie wir nicht jede Stellung verdienen. Zu glauben, für alles geeignet zu sein, heißt nur, für nichts genau zu passen.
Mit Verstand begabte Generalistinnen und Generalisten haben den Vorteil, in einem öffentlichen Amt beratungsbereit zu sein, engstirnige Spezialistinnen und Spezialisten den Nachteil, sich zu oft in Details zu verheddern.
24. April 2019 und 25. November 2020
Nie ein Mitbewerber seyn. Jeder Anspruch, dem Andre sich entgegenstellen, schadet dem Ansehn: die Mitbewerber streben sogleich uns zu verunglimpfen, um uns zu verdunkeln. Wenige Menschen führen auf eine redliche Art Krieg. Die Nebenbuhler decken die Fehler auf, welche die Nachsicht vergessen hatte. Viele standen in Ansehn, so lange sie keine Nebenbuhler hatten. Die Hitze des Wettstreits ruft längst abgestorbenen Schimpf ins Leben zurück und gräbt die ältesten Stänkereien wieder aus der Erde. Die Mitwerbung hebt an mit einem Manifest von Verunglimpfungen und nimmt nicht was sie darf, sondern was sie kann zur Hülfe. Und wenn gleich oft, ja meistens die Waffen der Herabsetzung nicht zum Zwecke führen; so suchen wenigstens durch solche die Gegner die niedrige Befriedigung der Rache, und schütteln sie dermaaßen in der Luft, daß von beschämenden Unfällen der Staub der Vergessenheit herabstiegt. Stets waren die Wohlwollenden friedlich und die Leute von Ruf und Ansehn wohlwollend.
Nun ja, wie soll ich's sagen, Freund, aber in meiner Zeit, die von der Demokratie geprägt ist, gehört die Mitbewerbung zum guten demokratischen Ton. Erst wer vergleichen kann, kann schließlich wählen. Und natürlich liegen Sie richtig mit Ihrer Bestandsaufnahme, dass der Kampf um den Platz an der Sonne eklig sein kann. Allein: dafür gibt's halt nachvollziehbare Regeln, die eingehalten werden müssen. Wer dagegen verstößt, fliegt aus dem Rennen. So einfach - und so schwierig ist das. Lassen Sie mich ein Beispiel aus der Schweiz geben. Werden in der Eidgenossenschaft Bauaufträge von der öffentlichen Hand vergeben, bekommt nicht der billigste Anbieter den Zuschlag, sondern derjenige, der das zweitgünstigste Angebort vorgelegt hat. So werden die Firmen, die sich für den Bauauftrag bewerben, dazu gezwungen, realistischer zu kalkulieren. Irrwitzige Nachforderungen bleiben zwar auch in der Schweiz nicht aus, sind aber durch diesen Realitäts-Check weniger häufig.
Zweierlei, Freund, fällt mir außerdem zur Frage der Mitbewerbung ein.
Zunächst der offensichtlichere Punkt. Stünden wir zu unseren Fehlern, wären also die Ersten, die Irrtümer offenlegten, könnte uns niemand diese Verfehlungen als erwähnenswerte Neuigkeiten ankreiden.
Reinen Tisch zu machen, heißt wiederum nicht, den Abfall unter den Teppich zu kehren. Das sittliche Recyclen befreit von Altlasten. Die illegale moralische Müllkippe fliegt uns dagegen dank ihrer Sicker- und Blähkraft früher oder später um die Ohren.
Dann, als zweite Issue, was, wenigstens heutzutage, außerordentlich wichtig ist, dann wäre da noch die Sache des Wofür. Welche Position streben wir warum an? In einer Parteiendemokratie ist das sowohl die Gretchen- als auch Faustfrage. Taugen die Kandidatinnen und Kandidaten wenig, sind für die fraglichen Positionen fachlich oder aus menschlichen Gründen ungeeignet, sollten sie, an sich, keinen Erfolg haben. Und selbst wenn eine weniger befähigte Persönlichkeit es in einer Partei an die Spitze der Wahlliste schafft, hat das Elektorat, normalerweise, wenn es über ausreichend Informationen verfügt und nicht von Hass und Rachegelüsten getrieben ist, genug Crowdvernunft und Schwarmintelligenz, um das Schlimmste abzuwenden. Ausnahmen bestätigen, bekanntlich, die Regel.
Erst wer sich bewirbt, lernt den Unterschied zwischen Freunden und Feinden kennen, die, nicht zuletzt, auch in der eigenen Seele wohnen.
Nicht jede Position verdient uns, wie wir nicht jede Stellung verdienen. Zu glauben, für alles geeignet zu sein, heißt nur, für nichts genau zu passen.
Mit Verstand begabte Generalistinnen und Generalisten haben den Vorteil, in einem öffentlichen Amt beratungsbereit zu sein, engstirnige Spezialistinnen und Spezialisten den Nachteil, sich zu oft in Details zu verheddern.
24. April 2019 und 25. November 2020
113.
Im Glück aufs Unglück bedacht seyn. Es ist eine gute Vorsorge, für den Winter im Sommer und mit mehr Bequemlichkeit den Vorrath zu sammeln. Zur Zeit des Glücks ist die Gunst wohlfeil und Ueberfluß an Freundschaften. Es ist gut, sie zu bewahren für die Zeit des Mißgeschicks, als welche eine sehr theuere und von Allem entblößte ist. Man erhalte sich daher einen Vorrath von Freunden und Verpflichteten: denn einst wird man hoch schätzen, was man jetzt nicht achtet. Gemeine Seelen haben im Glück keine Freunde: und weil sie jetzt solche nicht kennen, werden diese dereinst im Unglück sie nicht kennen.
Das rechtzeitig Einmachen und die Bevorratung, Freund, ist eine schöne alte Tradition, die wunderbar mit allerlei Fruchtaufstrichen und fermentierten Gemüsesorten gelingt. Immer schon habe ich Leute beneidet, die in ihrer Wohnung eine Vorratskammer vorgefunden oder eingeplant haben. Ich habe das nicht, da der Platz nicht reicht. Der Platzmangel ist ein ewiges Problem. Gewiss, wir könnten aufräumen, wegwerfen, uns von alten Dingen trennen, um Raum fürs Wesentliche zu schaffen. Aber das ist schwierig, da der Tag uns fest im Griff hält und sich nicht von der Gegenwart trennen will. Vom dunklen Abend will der helle Morgen nun mal nichts wissen. Verstehen Sie mich richtig: selbstverständlich möchte ich nicht eingeweckte Pflaumen mit einer Freundschaft vergleichen. Mir scheint allerdings, dass die ewige Vorbereitung auf schlechte Stunden bei der Gestaltung des Tages, was das Treffen von Freundinnen und Freunden einschließt, hinderlich sein kann - und zwar dann, wenn wir die Absicht hegen, die Freundschaftsvorratskammer auf Jahrzehnte im Voraus zu bestücken. Mir scheint, dass uns die Herzen gewissermaßen zufliegen sollten, Ihres zu mir, meins zu Ihnen; jedes Herz findet seinen Zeitpunkt, um zu schlagen. Ich merke es, Freund, wir alle merken es, wenn mich jemand mit dem Versprechen einer artigen Lustpartie vor den Karren spannt, um mich dann im Depot zu parken.
Ihr Ratschlag, sich in guten Zeiten mit Proviant zu versorgen, ist dennoch sowohl weise als auch angebracht. Allein: das Glück, von dem Sie sprechen, muss nicht immer mit der Möglichkeit der Bevorratung einhergehen. Weder materiell noch immatierell. Sie argumentieren übrigens von einem bevorzugten Standpunkt aus, der den Ärmsten der Armen oder der viel kleineren Gruppe der Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstlern fremd ist.
Der Utilitarismus, sich Menschen warm zu halten, um sie irgendwann in die Pflicht nehmen zu können, benötigt außerdem einen kalkulierenden Charakter, der die Welt als Schachbrett versteht. Was Opfer einschließt, ja sogar, bleiben wir beim strategischen Denken, erforderlich macht. In allerletzter Konsequenz suchten Sie sich also Ihre Freund- und Bekanntschaften nach der Nützlichkeit aus, um die schweren Tage, die irgendwann kommen, jede und jeder von uns sei im Alter oder im Krankheitsfalle auf Hilfe angewiesen, einigermaßen zu überstehen. Besser, Freund, und jetzt geht's ans moralisch Eingemachte, ist allerdings eine faire Gesellschaftsordnung, die uns im Falle eines Unglücks mit dem Notwendigen versorgt.
Survival of the fittest, der Raubtierkapitalismus, was die Almosenwirtschaft einschließt, in der sich die Reichen als Retterinnen und Retter von den Bedürftigen vergöttern lassen, das Überleben der Stärksten ist eine vordemokratische Lebensweise. Gewiss, ich idealisiere. Wir leben noch lange nicht in der besten aller Welten, aber wir sollten uns für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller einsetzen, anstatt uns als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer im Sturm bewähren zu wollen.
Enteignen wir die Raffgierigen, um unsere Eigentümlichkeiten zu entfalten. Kennt Reichtum eine Obergrenze, setzen wir der Not Grenzen.
Und, was dringend ansteht, erweitern wir die Bezugsgröße für die nachhaltige Anteilnahme: geben wir den Pflanzen- und Tierarten den Raum, den sie benötigen, geben wir den Flüssen und Ozeanen, den Wäldern und Steppen die Freiheit zurück. Nicht das eigene Unglück, Freund, erfordert derzeit Vorsorge. Unsere Erde, die wir uns, fälschlicherweise, beinahe komplett Untertan gemacht haben, die wir an den Rand des Klimakollapses gewirtschaftet haben, verzeiht uns nicht länger und schlägt zurück.
Denken wir nicht um, kommen wir um.
23. April 2019 und 21. November 2020
Im Glück aufs Unglück bedacht seyn. Es ist eine gute Vorsorge, für den Winter im Sommer und mit mehr Bequemlichkeit den Vorrath zu sammeln. Zur Zeit des Glücks ist die Gunst wohlfeil und Ueberfluß an Freundschaften. Es ist gut, sie zu bewahren für die Zeit des Mißgeschicks, als welche eine sehr theuere und von Allem entblößte ist. Man erhalte sich daher einen Vorrath von Freunden und Verpflichteten: denn einst wird man hoch schätzen, was man jetzt nicht achtet. Gemeine Seelen haben im Glück keine Freunde: und weil sie jetzt solche nicht kennen, werden diese dereinst im Unglück sie nicht kennen.
Das rechtzeitig Einmachen und die Bevorratung, Freund, ist eine schöne alte Tradition, die wunderbar mit allerlei Fruchtaufstrichen und fermentierten Gemüsesorten gelingt. Immer schon habe ich Leute beneidet, die in ihrer Wohnung eine Vorratskammer vorgefunden oder eingeplant haben. Ich habe das nicht, da der Platz nicht reicht. Der Platzmangel ist ein ewiges Problem. Gewiss, wir könnten aufräumen, wegwerfen, uns von alten Dingen trennen, um Raum fürs Wesentliche zu schaffen. Aber das ist schwierig, da der Tag uns fest im Griff hält und sich nicht von der Gegenwart trennen will. Vom dunklen Abend will der helle Morgen nun mal nichts wissen. Verstehen Sie mich richtig: selbstverständlich möchte ich nicht eingeweckte Pflaumen mit einer Freundschaft vergleichen. Mir scheint allerdings, dass die ewige Vorbereitung auf schlechte Stunden bei der Gestaltung des Tages, was das Treffen von Freundinnen und Freunden einschließt, hinderlich sein kann - und zwar dann, wenn wir die Absicht hegen, die Freundschaftsvorratskammer auf Jahrzehnte im Voraus zu bestücken. Mir scheint, dass uns die Herzen gewissermaßen zufliegen sollten, Ihres zu mir, meins zu Ihnen; jedes Herz findet seinen Zeitpunkt, um zu schlagen. Ich merke es, Freund, wir alle merken es, wenn mich jemand mit dem Versprechen einer artigen Lustpartie vor den Karren spannt, um mich dann im Depot zu parken.
Ihr Ratschlag, sich in guten Zeiten mit Proviant zu versorgen, ist dennoch sowohl weise als auch angebracht. Allein: das Glück, von dem Sie sprechen, muss nicht immer mit der Möglichkeit der Bevorratung einhergehen. Weder materiell noch immatierell. Sie argumentieren übrigens von einem bevorzugten Standpunkt aus, der den Ärmsten der Armen oder der viel kleineren Gruppe der Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstlern fremd ist.
Der Utilitarismus, sich Menschen warm zu halten, um sie irgendwann in die Pflicht nehmen zu können, benötigt außerdem einen kalkulierenden Charakter, der die Welt als Schachbrett versteht. Was Opfer einschließt, ja sogar, bleiben wir beim strategischen Denken, erforderlich macht. In allerletzter Konsequenz suchten Sie sich also Ihre Freund- und Bekanntschaften nach der Nützlichkeit aus, um die schweren Tage, die irgendwann kommen, jede und jeder von uns sei im Alter oder im Krankheitsfalle auf Hilfe angewiesen, einigermaßen zu überstehen. Besser, Freund, und jetzt geht's ans moralisch Eingemachte, ist allerdings eine faire Gesellschaftsordnung, die uns im Falle eines Unglücks mit dem Notwendigen versorgt.
Survival of the fittest, der Raubtierkapitalismus, was die Almosenwirtschaft einschließt, in der sich die Reichen als Retterinnen und Retter von den Bedürftigen vergöttern lassen, das Überleben der Stärksten ist eine vordemokratische Lebensweise. Gewiss, ich idealisiere. Wir leben noch lange nicht in der besten aller Welten, aber wir sollten uns für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller einsetzen, anstatt uns als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer im Sturm bewähren zu wollen.
Enteignen wir die Raffgierigen, um unsere Eigentümlichkeiten zu entfalten. Kennt Reichtum eine Obergrenze, setzen wir der Not Grenzen.
Und, was dringend ansteht, erweitern wir die Bezugsgröße für die nachhaltige Anteilnahme: geben wir den Pflanzen- und Tierarten den Raum, den sie benötigen, geben wir den Flüssen und Ozeanen, den Wäldern und Steppen die Freiheit zurück. Nicht das eigene Unglück, Freund, erfordert derzeit Vorsorge. Unsere Erde, die wir uns, fälschlicherweise, beinahe komplett Untertan gemacht haben, die wir an den Rand des Klimakollapses gewirtschaftet haben, verzeiht uns nicht länger und schlägt zurück.
Denken wir nicht um, kommen wir um.
23. April 2019 und 21. November 2020
112.
Sich Liebe und Wohlwollen erwerben: denn sogar die erste und oberste Ursache läßt solche in ihre hohen Absichten eingehn und ordnet sie an. Mittelst des Wohlwollens erlangt man die günstige Meinung. Einige verlassen sich so sehr auf ihren Werth, daß sie die Erwerbung der Gunst verschmähen. Allein der Erfahrene weiß, daß der Weg der Verdienste allein, ohne Hülfe der Gunst, ein gar sehr langer ist. Alles erleichtert und ergänzt das Wohlwollen: nicht immer setzt es die guten Eigenschaften, wie Muth, Redlichkeit, Gelehrsamkeit, sogar Klugheit, voraus; nein, es nimmt sie ohne Weiteres als vorhanden an: hingegen die garstigen Fehler sieht es nie, weil es sie nicht sehn will. Es entsteht aus der Übereinstimmung, und zwar gewöhnlich aus der materiellen, dergleichen die der Sinnesart, der Nation, der Verwandtschaft, des Vaterlandes und des Amtes ist: die formelle ist höherer Art, sie ist die der Talente, der Verbindlichkeiten, des Ruhms, der Verdienste. Die ganze Schwierigkeit besteht im Erwerben des Wohlwollens; es zu erhalten ist leicht. Es läßt sich aber erlangen, und man wisse es zu nutzen.
Abgesehen davon, Freund, dass Sie mich mit der Erwähnung der Liebe am Anfang kurz auf eine falsche Fährte gelockt haben, sich, gewissermaßen, mein Wohlwollen erschlichen haben, abgesehen davon, beweise Sie hier - sagen wir - Realitätssinn. Denn die Geneigtheit hat tatsächlich immensen Einfluss auf die Entscheidung, wen wir unterstützen, wird aber den nachvollziehbareren Kriterien (Ausbildung und Erfahrung) gerne generell untergeordnet. Sagen wir es so: Wer uns schmeckt, den lassen wir an die Fleischtöpfe. Wir sind, Freund, seltsame Kreaturen. Denn das Wohlwollen, was nicht vergessen werden sollte, basiert in 99 von 100 Fällen auf Bauchgefühl. Sie wollen wissen, worauf der eine andere Fall beruht? Auf dem Bauchgefühl unserer Freundinnen und Berater, die uns, obwohl wir ein schlechtes Gefühl haben, davon überzeugen, es doch mit dieser oder jener Person zu versuchen.
Furchtbar ist, worauf Sie nicht eingehen, dass jenes Bauchgefühl per se rassistisch ist. Die Mehrzahl von uns neigt dazu, kleine Doppelgänger von sich selbst zu protegieren. Wir sind unsere eigenen Götzen; es ist widerlich. Und schon deswegen ist alles, was Sie geschrieben haben, Makulatur, ja reiner Humbug.
Sie wollen wissen, ob es Alternativen gibt? Ja, die existieren. So wird etwa, wenn eine Position in einem Orchester zu besetzen ist, das Vorspiel hinter einer Stellwand durchgeführt. Die Jury sieht nicht, wer spielt, sondern hört nur, wie virtuos eine Musikerin oder ein Musiker ist. Weder Geschlecht, Hautfarbe noch Alter oder Klassenzugehörigkeit, die sich etwa in der Kleidung widerspiegelt, spielen eine Rolle bei der Entscheidung.
Und damit zur zweiten Art des Zugeneigtseins. Wenn man sich das Wohlwollen für sich selbst verscherzt, Freund, wenn man die Liebe zu sich selbst, wohl die Voraussetzung, um überhaupt andere zu lieben, ad acta legt, dann hilft die wohlwollende Meinung der anderen, die nicht nicht wahrhaben wollen, was mit uns passiert, dann helfen Gewogenheit und Zuneigung der anderen rein gar nichts mehr.
Wer in sich wankt, findet außen keinen rechten Halt.
Die Hülle, was verwirren kann, sagt nur sehr bedingt etwas über den Inhalt.
Glatte Oberflächen existieren nicht.
In der kleinsten Spalte haust das größte Graus.
Sind wir in Sicherheit, kann uns das übermäßige Wohlwollen anderer gar auf die Nerven gehen.
PS
Nach dem Enthusiasmus, der mich gestern 21. April 2019 überkam, da ich so viele Briefe geschrieben habe, wie das Jahr bislang Tage hat, quälen mich heute Selbstzweifel, ob ich nicht meine Zeit verplempere, nicht lieber allein reisen sollte, als mit Ihnen einen geistigen Travelogue zu unternehmen und Ihnen dabei wiederholt auf die Füße zu treten. Will sagen: ich grantele vehement mit dem Sein. Wenn wir einen Menschen hassen, glaubt Hermann Hesse, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber sei, das rege uns nicht auf.
22. April 2019 und 20. November 2020
Sich Liebe und Wohlwollen erwerben: denn sogar die erste und oberste Ursache läßt solche in ihre hohen Absichten eingehn und ordnet sie an. Mittelst des Wohlwollens erlangt man die günstige Meinung. Einige verlassen sich so sehr auf ihren Werth, daß sie die Erwerbung der Gunst verschmähen. Allein der Erfahrene weiß, daß der Weg der Verdienste allein, ohne Hülfe der Gunst, ein gar sehr langer ist. Alles erleichtert und ergänzt das Wohlwollen: nicht immer setzt es die guten Eigenschaften, wie Muth, Redlichkeit, Gelehrsamkeit, sogar Klugheit, voraus; nein, es nimmt sie ohne Weiteres als vorhanden an: hingegen die garstigen Fehler sieht es nie, weil es sie nicht sehn will. Es entsteht aus der Übereinstimmung, und zwar gewöhnlich aus der materiellen, dergleichen die der Sinnesart, der Nation, der Verwandtschaft, des Vaterlandes und des Amtes ist: die formelle ist höherer Art, sie ist die der Talente, der Verbindlichkeiten, des Ruhms, der Verdienste. Die ganze Schwierigkeit besteht im Erwerben des Wohlwollens; es zu erhalten ist leicht. Es läßt sich aber erlangen, und man wisse es zu nutzen.
Abgesehen davon, Freund, dass Sie mich mit der Erwähnung der Liebe am Anfang kurz auf eine falsche Fährte gelockt haben, sich, gewissermaßen, mein Wohlwollen erschlichen haben, abgesehen davon, beweise Sie hier - sagen wir - Realitätssinn. Denn die Geneigtheit hat tatsächlich immensen Einfluss auf die Entscheidung, wen wir unterstützen, wird aber den nachvollziehbareren Kriterien (Ausbildung und Erfahrung) gerne generell untergeordnet. Sagen wir es so: Wer uns schmeckt, den lassen wir an die Fleischtöpfe. Wir sind, Freund, seltsame Kreaturen. Denn das Wohlwollen, was nicht vergessen werden sollte, basiert in 99 von 100 Fällen auf Bauchgefühl. Sie wollen wissen, worauf der eine andere Fall beruht? Auf dem Bauchgefühl unserer Freundinnen und Berater, die uns, obwohl wir ein schlechtes Gefühl haben, davon überzeugen, es doch mit dieser oder jener Person zu versuchen.
Furchtbar ist, worauf Sie nicht eingehen, dass jenes Bauchgefühl per se rassistisch ist. Die Mehrzahl von uns neigt dazu, kleine Doppelgänger von sich selbst zu protegieren. Wir sind unsere eigenen Götzen; es ist widerlich. Und schon deswegen ist alles, was Sie geschrieben haben, Makulatur, ja reiner Humbug.
Sie wollen wissen, ob es Alternativen gibt? Ja, die existieren. So wird etwa, wenn eine Position in einem Orchester zu besetzen ist, das Vorspiel hinter einer Stellwand durchgeführt. Die Jury sieht nicht, wer spielt, sondern hört nur, wie virtuos eine Musikerin oder ein Musiker ist. Weder Geschlecht, Hautfarbe noch Alter oder Klassenzugehörigkeit, die sich etwa in der Kleidung widerspiegelt, spielen eine Rolle bei der Entscheidung.
Und damit zur zweiten Art des Zugeneigtseins. Wenn man sich das Wohlwollen für sich selbst verscherzt, Freund, wenn man die Liebe zu sich selbst, wohl die Voraussetzung, um überhaupt andere zu lieben, ad acta legt, dann hilft die wohlwollende Meinung der anderen, die nicht nicht wahrhaben wollen, was mit uns passiert, dann helfen Gewogenheit und Zuneigung der anderen rein gar nichts mehr.
Wer in sich wankt, findet außen keinen rechten Halt.
Die Hülle, was verwirren kann, sagt nur sehr bedingt etwas über den Inhalt.
Glatte Oberflächen existieren nicht.
In der kleinsten Spalte haust das größte Graus.
Sind wir in Sicherheit, kann uns das übermäßige Wohlwollen anderer gar auf die Nerven gehen.
PS
Nach dem Enthusiasmus, der mich gestern 21. April 2019 überkam, da ich so viele Briefe geschrieben habe, wie das Jahr bislang Tage hat, quälen mich heute Selbstzweifel, ob ich nicht meine Zeit verplempere, nicht lieber allein reisen sollte, als mit Ihnen einen geistigen Travelogue zu unternehmen und Ihnen dabei wiederholt auf die Füße zu treten. Will sagen: ich grantele vehement mit dem Sein. Wenn wir einen Menschen hassen, glaubt Hermann Hesse, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber sei, das rege uns nicht auf.
22. April 2019 und 20. November 2020
111.
Freunde haben. Es ist ein zweites Daseyn. Jeder Freund ist gut und weise für den Freund, und unter ihnen geht Alles gut ab. Ein Jeder gilt so viel, als die Andern wollen; damit sie aber wollen, muß man ihr Herz und dadurch ihre Zunge gewinnen. Kein Zauber ist mächtiger, als erzeigte Gefälligkeit, und um Freunde zu erwerben, ist das beste Mittel, sich welche zu machen. Das Meiste und Beste, was wir haben, hängt von Andern ab. Wir müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden leben. Jeden Tag suche man einen zu erwerben, nicht gleich zum genauen, aber doch zum wohlwollenden Freunde: einige werden nachher, nachdem sie eine prüfende Wahl bestanden haben, als Vertraute zurückbleiben.
Hier, Freund, geht's nur an der Oberfläche um Freundschaft - in Wahrheit beschäftigen Sie sich mit Netzwerken, mit Gunstbeweisen, mit dem strategischen Denken. Gewiss, für etliche reicht das, um sich aneinander zu binden, Gefälligkeiten zu horten, auszuteilen und einzufordern. Ja, das sei angemerkt, sicherlich sind solche Wie-du-mir-so-ich-dir-Beziehungen angenehm, retten uns über die Zeit der Einsamkeit. Doch etwas Wesentliches geht ihnen ab: die Leidenschaft, das komplett nutzlose Interesse an einem Ich, das nicht ich selbst bin. Mir scheint es so, wenn ich Ihnen zuhöre, dass Sie am liebsten mit Ihresgleichen befreundet sein möchten. Sind wir ganz hart, ließe sich vielleicht sogar sagen, dass Sie an sich nur mit sich selbst befreundet sein wollen.
Sie sprechen mir, Freund, andererseits aus der Seele. Die Vorteile einer Freundschaft, besonders wenn man sie mit Familienbeziehungen vergleicht, liegen auf der Hand: Wir können uns sowohl bewusst für eine Freundschaft entscheiden, das vertraute Miteinander dementsprechend auf immer und ewig artig pflegen, als die Freundschaft auch genauso bewusst beenden. Letzteres ist mindestens so schwer wie ersteres, manche behaupten sogar, es sei um einiges anstrengender, einen Schlussstrich zu ziehen.
Viel ist über das Befreundetsein geschrieben worden, wenig taugt als Vademecum. Vielleicht, wenn ich meine engste Freundschaft als Beispiel heranziehe, vielleicht liegt das an drei grundlegenden Tatsachen, die alle echten Freundschaften auszeichnen:
- Freundschaft besteht auf der Gleichwertigkeit der Beteiligten. Niemand ist der oder dem anderen auf Dauer in allen Dingen haushoch überlegen, was, selbstverständlich nicht heißt, dass die oder der andere in bestimmten Feldern mehr Talent zeigt oder einfach, dank eines Zufalls, beispielsweise einer Erbschaft oder geschickterer Sinne oder eines vorteilhafteren Aussehens, die oder den anderen in den Schatten stellt.
- Freundschaft hält Widerspruch aus. Wer nur mit sich selbst befreundet sein will und andere Meinungen nicht toleriert, ist ein intellektueller und emotionaler Windbeutel, der unsere Aufmerksamkeit nicht verdient. Ein vernünftiges und energisches Nein hätte mancher Freundschaft gut angestanden. Andererseits sollte das liebenswürdige Ja den Ton zwischen Freundinnen und Freunden lenken. Folgt dann ein fundiertes Aber, das sich nicht vermeiden lässt, bricht nichts entzwei. Ganz im Gegenteil: Jedem harten Trotzdem wohnt ein zarter Zauber inne, der Freundschaften besiegelt.
- Freundschaft basiert auf Liebe. Liebe ist der Motor der Anwesenheit und Aufmerksamkeit, der Motor des Vergebens und des Vergessens. Herrscht in einer Freundschaft keine Liebe, handelt es sich um eine Bekanntschaft.
21. April 2019 und 19. November 2020
Freunde haben. Es ist ein zweites Daseyn. Jeder Freund ist gut und weise für den Freund, und unter ihnen geht Alles gut ab. Ein Jeder gilt so viel, als die Andern wollen; damit sie aber wollen, muß man ihr Herz und dadurch ihre Zunge gewinnen. Kein Zauber ist mächtiger, als erzeigte Gefälligkeit, und um Freunde zu erwerben, ist das beste Mittel, sich welche zu machen. Das Meiste und Beste, was wir haben, hängt von Andern ab. Wir müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden leben. Jeden Tag suche man einen zu erwerben, nicht gleich zum genauen, aber doch zum wohlwollenden Freunde: einige werden nachher, nachdem sie eine prüfende Wahl bestanden haben, als Vertraute zurückbleiben.
Hier, Freund, geht's nur an der Oberfläche um Freundschaft - in Wahrheit beschäftigen Sie sich mit Netzwerken, mit Gunstbeweisen, mit dem strategischen Denken. Gewiss, für etliche reicht das, um sich aneinander zu binden, Gefälligkeiten zu horten, auszuteilen und einzufordern. Ja, das sei angemerkt, sicherlich sind solche Wie-du-mir-so-ich-dir-Beziehungen angenehm, retten uns über die Zeit der Einsamkeit. Doch etwas Wesentliches geht ihnen ab: die Leidenschaft, das komplett nutzlose Interesse an einem Ich, das nicht ich selbst bin. Mir scheint es so, wenn ich Ihnen zuhöre, dass Sie am liebsten mit Ihresgleichen befreundet sein möchten. Sind wir ganz hart, ließe sich vielleicht sogar sagen, dass Sie an sich nur mit sich selbst befreundet sein wollen.
Sie sprechen mir, Freund, andererseits aus der Seele. Die Vorteile einer Freundschaft, besonders wenn man sie mit Familienbeziehungen vergleicht, liegen auf der Hand: Wir können uns sowohl bewusst für eine Freundschaft entscheiden, das vertraute Miteinander dementsprechend auf immer und ewig artig pflegen, als die Freundschaft auch genauso bewusst beenden. Letzteres ist mindestens so schwer wie ersteres, manche behaupten sogar, es sei um einiges anstrengender, einen Schlussstrich zu ziehen.
Viel ist über das Befreundetsein geschrieben worden, wenig taugt als Vademecum. Vielleicht, wenn ich meine engste Freundschaft als Beispiel heranziehe, vielleicht liegt das an drei grundlegenden Tatsachen, die alle echten Freundschaften auszeichnen:
- Freundschaft besteht auf der Gleichwertigkeit der Beteiligten. Niemand ist der oder dem anderen auf Dauer in allen Dingen haushoch überlegen, was, selbstverständlich nicht heißt, dass die oder der andere in bestimmten Feldern mehr Talent zeigt oder einfach, dank eines Zufalls, beispielsweise einer Erbschaft oder geschickterer Sinne oder eines vorteilhafteren Aussehens, die oder den anderen in den Schatten stellt.
- Freundschaft hält Widerspruch aus. Wer nur mit sich selbst befreundet sein will und andere Meinungen nicht toleriert, ist ein intellektueller und emotionaler Windbeutel, der unsere Aufmerksamkeit nicht verdient. Ein vernünftiges und energisches Nein hätte mancher Freundschaft gut angestanden. Andererseits sollte das liebenswürdige Ja den Ton zwischen Freundinnen und Freunden lenken. Folgt dann ein fundiertes Aber, das sich nicht vermeiden lässt, bricht nichts entzwei. Ganz im Gegenteil: Jedem harten Trotzdem wohnt ein zarter Zauber inne, der Freundschaften besiegelt.
- Freundschaft basiert auf Liebe. Liebe ist der Motor der Anwesenheit und Aufmerksamkeit, der Motor des Vergebens und des Vergessens. Herrscht in einer Freundschaft keine Liebe, handelt es sich um eine Bekanntschaft.
21. April 2019 und 19. November 2020
110.
Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei. Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen. Man wisse, aus seinem Ende selbst sich einen Triumph zu bereiten. Sogar die Sonne zieht sich oft, noch bei hellem Scheine, hinter eine Wolke zurück, damit man sie nicht versinken sehe und ungewiß bleibe, ob sie untergegangen sei, oder nicht. Man entziehe sich zeitig den Unfällen, um nicht vor Beschämung vergehn zu müssen. Laßt uns nicht abwarten, daß die Welt uns den Rücken kehre und uns, noch im Gefühl lebendig, aber in der Hochachtung gestorben, zu Grabe trage. Der Kluge versetzt seinen Wettrenner bei Zeiten in den Ruhestand und wartet nicht ab, daß er, mitten auf der Rennbahn niederstürzend, Gelächter errege. Eine Schöne zerbreche schlau bei Zeiten ihren Spiegel, um es nicht später aus Ungeduld zu thun, wann er sie aus ihrer Täuschung gerissen hat.
Leicht fällt es mir, Freund, Ihnen, weitgehend, zuzustimmen. Oft spreche ich mit meiner Liebsten darüber, was ich mir vorm Siechen wünsche. Mit Würde möchte ich abgehen, ohne an Maschinen zu hängen, ohne von ungewissen Therapien geschwächt zu werden. Alleine möchte ich entscheiden, wann ich den Stöpsel ziehe und das Wasser ablaufen lasse. So weit, so gut. Aber - ein großes ABER - wer von uns weiß schon vorab, wie es ist, wenn uns die Lebensgeister allmählich verlassen? Niemand. Dass wir uns in den Stunden der Not, während das Boot, in dem wir sitzen, sinkt, an allen möglichen Rettungsringen festhalten - wem wollen wir das verübeln?
Ich, was das Sterben nicht einfacher macht, glaube an keinen Himmel, keinen gütigen Gott. Das Jetzt ist, was ist. Eine Zukunft existiert für die Toten nicht. Der Himmel, den ich kenne, ist die Gegenwart. Ob ich diesen Himmel verlassen möchte, auch wenn er sich als Hölle auf Körper-Erden herausstellt? Ja, ich hoffe darauf, dass ich die Kraft finde, mit Anstand zu gehen. Und nein, sicher bin ich mir nicht.
Den Absprung zu schaffen, Freund, bevor es nicht mehr geht. Ein unentwegt gehörter Rat, beinahe eine Gebetsmühle. Die Frage, welche sich mir stellt, sobald der Stempel Rückzug gezückt wird, lautet: Was ist jenes ominöse Es-das-nicht-mehr-geht genau genommen? Mir scheint, dass es sich weder um Sachen noch Personen handelt, sondern ums Sein schlechthin. Es ist die ontologische Quintessenz des zaghaft ausgesprochenen Lebens. Eine bei Bedarf vorhandene linguistische Leerstelle für den eigentlichen Sinn, der nicht oder nur sehr selten beim Denken berührt wird.
Um das klarzustellen: Ich beziehe mich ausdrücklich nicht auf Freuds Strukturmodell der Psyche, wo das Es zum dunklen, brodelnden Teil des Charakters wird, nur ex negativo zum Ich bestimmt werden kann und sich in wehenden Träumen und wallenden Neurosen bemerkbar macht.
In Ihrem Fall, Freund, nun lehne ich mich weit aus dem Fenster, ist das Es der Tod. Sie raten uns zum Schlussmachen, bevor wir es nicht mehr mit uns, mit unserer Wirkung, mit der Meinung der anderen über uns aushalten.
Wer nicht wartet, dass die Sonne untergeht, stirbt im hellen Licht. Verpasst die Schönheit der Abenddämmerung. Nichts lässt sich mit dem letzten Licht vergleichen, das uns melancholisch die Augen zudrückt. Ein gutes Leben sei eins, das dem Zwielicht Zeit einräumt.
Ohne ein vernünftiges Ende exisitert kein verständiges Leben. Das Vertrauen in die Meinungen anderer sei gut, sei oft angebracht. Selbstvertrauen ist jedoch die Grundvoraussetzung für jede letztgültige End-Scheidung.
21. April 2019 und 17.11.2020
Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei. Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen. Man wisse, aus seinem Ende selbst sich einen Triumph zu bereiten. Sogar die Sonne zieht sich oft, noch bei hellem Scheine, hinter eine Wolke zurück, damit man sie nicht versinken sehe und ungewiß bleibe, ob sie untergegangen sei, oder nicht. Man entziehe sich zeitig den Unfällen, um nicht vor Beschämung vergehn zu müssen. Laßt uns nicht abwarten, daß die Welt uns den Rücken kehre und uns, noch im Gefühl lebendig, aber in der Hochachtung gestorben, zu Grabe trage. Der Kluge versetzt seinen Wettrenner bei Zeiten in den Ruhestand und wartet nicht ab, daß er, mitten auf der Rennbahn niederstürzend, Gelächter errege. Eine Schöne zerbreche schlau bei Zeiten ihren Spiegel, um es nicht später aus Ungeduld zu thun, wann er sie aus ihrer Täuschung gerissen hat.
Leicht fällt es mir, Freund, Ihnen, weitgehend, zuzustimmen. Oft spreche ich mit meiner Liebsten darüber, was ich mir vorm Siechen wünsche. Mit Würde möchte ich abgehen, ohne an Maschinen zu hängen, ohne von ungewissen Therapien geschwächt zu werden. Alleine möchte ich entscheiden, wann ich den Stöpsel ziehe und das Wasser ablaufen lasse. So weit, so gut. Aber - ein großes ABER - wer von uns weiß schon vorab, wie es ist, wenn uns die Lebensgeister allmählich verlassen? Niemand. Dass wir uns in den Stunden der Not, während das Boot, in dem wir sitzen, sinkt, an allen möglichen Rettungsringen festhalten - wem wollen wir das verübeln?
Ich, was das Sterben nicht einfacher macht, glaube an keinen Himmel, keinen gütigen Gott. Das Jetzt ist, was ist. Eine Zukunft existiert für die Toten nicht. Der Himmel, den ich kenne, ist die Gegenwart. Ob ich diesen Himmel verlassen möchte, auch wenn er sich als Hölle auf Körper-Erden herausstellt? Ja, ich hoffe darauf, dass ich die Kraft finde, mit Anstand zu gehen. Und nein, sicher bin ich mir nicht.
Den Absprung zu schaffen, Freund, bevor es nicht mehr geht. Ein unentwegt gehörter Rat, beinahe eine Gebetsmühle. Die Frage, welche sich mir stellt, sobald der Stempel Rückzug gezückt wird, lautet: Was ist jenes ominöse Es-das-nicht-mehr-geht genau genommen? Mir scheint, dass es sich weder um Sachen noch Personen handelt, sondern ums Sein schlechthin. Es ist die ontologische Quintessenz des zaghaft ausgesprochenen Lebens. Eine bei Bedarf vorhandene linguistische Leerstelle für den eigentlichen Sinn, der nicht oder nur sehr selten beim Denken berührt wird.
Um das klarzustellen: Ich beziehe mich ausdrücklich nicht auf Freuds Strukturmodell der Psyche, wo das Es zum dunklen, brodelnden Teil des Charakters wird, nur ex negativo zum Ich bestimmt werden kann und sich in wehenden Träumen und wallenden Neurosen bemerkbar macht.
In Ihrem Fall, Freund, nun lehne ich mich weit aus dem Fenster, ist das Es der Tod. Sie raten uns zum Schlussmachen, bevor wir es nicht mehr mit uns, mit unserer Wirkung, mit der Meinung der anderen über uns aushalten.
Wer nicht wartet, dass die Sonne untergeht, stirbt im hellen Licht. Verpasst die Schönheit der Abenddämmerung. Nichts lässt sich mit dem letzten Licht vergleichen, das uns melancholisch die Augen zudrückt. Ein gutes Leben sei eins, das dem Zwielicht Zeit einräumt.
Ohne ein vernünftiges Ende exisitert kein verständiges Leben. Das Vertrauen in die Meinungen anderer sei gut, sei oft angebracht. Selbstvertrauen ist jedoch die Grundvoraussetzung für jede letztgültige End-Scheidung.
21. April 2019 und 17.11.2020
109.
Kein Ankläger seyn. Es giebt Menschen von finsterer Gemüthsart, die Alles zum Verbrechen stempeln, nicht von Leidenschaft, sondern von einem natürlichen Hange getrieben. Sie sprechen über Alle ihr Verdammungsurtheil aus, über Jene, für das, was sie gethan haben, über Diese, für das, was sie thun werden. Es zeugt von einem grausamen, ja niederträchtigen Sinn: und sie klagen mit einer solchen Uebertreibung an, daß sie aus Splittern Balken machen, die Augen damit auszustoßen. Ueberall sind sie Zuchtmeister, die ein Elysium in eine Galeere umwandeln möchten. Kommt gar noch Leidenschaft hinzu; so treiben sie Alles aufs Aeußerste. Im Gegentheil weiß ein edles Gemüth für Alles eine Entschuldigung zu finden, und wenn nicht ausdrücklich, durch Nichtbeachtung.
Nun gut, Freund, bis auf die maßgebliche Kleinigkeit, dass die Nichtbeachtung beachtenswerte Grenzen kennt, die Toleranz also nicht zur Ignoranz werden sollte, sind wir hier einer Meinung. Verleumder und Anschwärzerinnen sollten wir keine Bühne geben. Schnappen sich Petzer und Petzerinnen die Zellenschlüssel, landen schnell Unschuldige hinter Gittern. Schnüffeln die Asozialen Macht, ist's an uns, den Verfassungstreuen, das Soziale zu verteidigen. Ihre Kennzeichnung gehört für mich in die Tradition des notwendigen Weckrufs, der, leider, gerade wieder mal tagtäglich erschallen muss. Die Zeit, in der ich das Vergnügen habe, atmen zu dürfen, ist voller populistischer Miesmacher und Miesmacherinnen, die nationalistischen Verschwörungstheorien anhängen. Was am seltsamsten ist, ist die Tatsache, dass die realtiv lange Friedenszeit, jedenfalls in großen Teilen Europas, die Lust am gegenseitigen Totschlagen wachruft. Das gewalttätige Tier schlägt in etlichen Menschenhirnen die Vernunft in die Flucht. Was uns bleibt, Sie haben es gesagt, Freund, was uns bleibt, ist, es sei abermals betont, der entschlossene Widerstand.
Demokratie ist kein Zuckerschlecken. Wer denkt, in einer pluralistischen Konditorei zu leben, in der Selbstbedienung herrscht, alles permanent verschenkt wird, und wir glückich mit allen, die vorbeikommen, am Tisch sitzen und den Wohlstand teilen, irrt sich. Rassistische Brunnenvergifter und xenophobe Brandstifterinnen machen sich gerade in unserer Mitte breit, werden ins Parlament gewählt, planen nichts anderes als die Abschaffung der Mitmenschlichkeit. Wir sind an einem Scheideweg, die Pandemie verstärkt diese Tendenzen noch.
Der Unsinn hat in Krisenzeiten Konjunktur. Hassprediger und Demagoginnen, die sich unter normalen Umständen nicht aus dem braunen Kellerloch getraut hätten, schnuppern plötzlich Morgenluft.
Ein edles Prinzip, kein Ankläger, keine Anklägerin zu sein, Freund. Ein edles Prinzip, dessen halber Kern, die Menschenfreundlichkeit, einleuchtet. Dass Sie - wie ich auch -, dass also wir beide dieses Ideal zwar erkennen, aber, Ihre und meine Äußerungen zeigen es, ganz anders argumentieren, sobald wir die Diskursbühne betreten, sobald wir glauben, Recht zu haben, beweist, dass in uns allen dennoch Anklägerinnen und Ankläger stecken. Stecken müssen.
Ohne Anklage gibt es weder einen Schuldspruch noch, was nicht immer, aber doch manchmal aus einem Urteil stammt, ein Bewusstsein der Schuld.
Der Ton macht, fraglos, die Musik. Und wer sich der eigenen Fehlbarkeit bewusst ist, wird bei der Anklage Vernunft und Umsicht walten lassen, wer sich für unfehlbar hält, sei als Staatsanwalt oder Richterin nicht tragbar. Ähnlich sieht's mit der Verteidigung aus. Wer beim Verteidigen, gegen besseres Wissen, auf der Unschuld der Angeklagten beharrt, hat kein Gewissen. Gier sollte aus dem Gerichtssaal verbannt werden.
Fortschritt stammt oftmals aus der Klage über das Bestehende. Loben wir allein den Ist-Zustand, sind wir dem Untergang geweiht. Im intelligenten Widerspruch steckt der fruchtbarste Zuspruch.
Geschrieben am 19. Oktober 2020 und am 20. April 2019
Kein Ankläger seyn. Es giebt Menschen von finsterer Gemüthsart, die Alles zum Verbrechen stempeln, nicht von Leidenschaft, sondern von einem natürlichen Hange getrieben. Sie sprechen über Alle ihr Verdammungsurtheil aus, über Jene, für das, was sie gethan haben, über Diese, für das, was sie thun werden. Es zeugt von einem grausamen, ja niederträchtigen Sinn: und sie klagen mit einer solchen Uebertreibung an, daß sie aus Splittern Balken machen, die Augen damit auszustoßen. Ueberall sind sie Zuchtmeister, die ein Elysium in eine Galeere umwandeln möchten. Kommt gar noch Leidenschaft hinzu; so treiben sie Alles aufs Aeußerste. Im Gegentheil weiß ein edles Gemüth für Alles eine Entschuldigung zu finden, und wenn nicht ausdrücklich, durch Nichtbeachtung.
Nun gut, Freund, bis auf die maßgebliche Kleinigkeit, dass die Nichtbeachtung beachtenswerte Grenzen kennt, die Toleranz also nicht zur Ignoranz werden sollte, sind wir hier einer Meinung. Verleumder und Anschwärzerinnen sollten wir keine Bühne geben. Schnappen sich Petzer und Petzerinnen die Zellenschlüssel, landen schnell Unschuldige hinter Gittern. Schnüffeln die Asozialen Macht, ist's an uns, den Verfassungstreuen, das Soziale zu verteidigen. Ihre Kennzeichnung gehört für mich in die Tradition des notwendigen Weckrufs, der, leider, gerade wieder mal tagtäglich erschallen muss. Die Zeit, in der ich das Vergnügen habe, atmen zu dürfen, ist voller populistischer Miesmacher und Miesmacherinnen, die nationalistischen Verschwörungstheorien anhängen. Was am seltsamsten ist, ist die Tatsache, dass die realtiv lange Friedenszeit, jedenfalls in großen Teilen Europas, die Lust am gegenseitigen Totschlagen wachruft. Das gewalttätige Tier schlägt in etlichen Menschenhirnen die Vernunft in die Flucht. Was uns bleibt, Sie haben es gesagt, Freund, was uns bleibt, ist, es sei abermals betont, der entschlossene Widerstand.
Demokratie ist kein Zuckerschlecken. Wer denkt, in einer pluralistischen Konditorei zu leben, in der Selbstbedienung herrscht, alles permanent verschenkt wird, und wir glückich mit allen, die vorbeikommen, am Tisch sitzen und den Wohlstand teilen, irrt sich. Rassistische Brunnenvergifter und xenophobe Brandstifterinnen machen sich gerade in unserer Mitte breit, werden ins Parlament gewählt, planen nichts anderes als die Abschaffung der Mitmenschlichkeit. Wir sind an einem Scheideweg, die Pandemie verstärkt diese Tendenzen noch.
Der Unsinn hat in Krisenzeiten Konjunktur. Hassprediger und Demagoginnen, die sich unter normalen Umständen nicht aus dem braunen Kellerloch getraut hätten, schnuppern plötzlich Morgenluft.
Ein edles Prinzip, kein Ankläger, keine Anklägerin zu sein, Freund. Ein edles Prinzip, dessen halber Kern, die Menschenfreundlichkeit, einleuchtet. Dass Sie - wie ich auch -, dass also wir beide dieses Ideal zwar erkennen, aber, Ihre und meine Äußerungen zeigen es, ganz anders argumentieren, sobald wir die Diskursbühne betreten, sobald wir glauben, Recht zu haben, beweist, dass in uns allen dennoch Anklägerinnen und Ankläger stecken. Stecken müssen.
Ohne Anklage gibt es weder einen Schuldspruch noch, was nicht immer, aber doch manchmal aus einem Urteil stammt, ein Bewusstsein der Schuld.
Der Ton macht, fraglos, die Musik. Und wer sich der eigenen Fehlbarkeit bewusst ist, wird bei der Anklage Vernunft und Umsicht walten lassen, wer sich für unfehlbar hält, sei als Staatsanwalt oder Richterin nicht tragbar. Ähnlich sieht's mit der Verteidigung aus. Wer beim Verteidigen, gegen besseres Wissen, auf der Unschuld der Angeklagten beharrt, hat kein Gewissen. Gier sollte aus dem Gerichtssaal verbannt werden.
Fortschritt stammt oftmals aus der Klage über das Bestehende. Loben wir allein den Ist-Zustand, sind wir dem Untergang geweiht. Im intelligenten Widerspruch steckt der fruchtbarste Zuspruch.
Geschrieben am 19. Oktober 2020 und am 20. April 2019
108.
Sich gut zu gesellen verstehn, ist der kürzeste Weg ein ganzer Mann zu werden. Der Umgang ist von eingreifender Wirkung: Sitten und Geschmack theilen sich mit; die Sinnesart, ja sogar den Geist nimmt man an, ohne es zu merken. Deswegen suche der Rasche sich dem Ueberlegten beizugesellen, und ebenso in den übrigen Sinnesarten, woraus, ohne Gewaltsamkeit, eine gemäßigte Stimmung hervorgehn wird. Es ist sehr geschickt, sich nach dem Andern stimmen zu können. Das Wechselspiel der Gegensätze verschönert, ja erhält die Welt, und was in der physischen Harmonie herbeiführt, wird es noch mehr in der moralischen. Man beobachte diese kluge Rücksicht bei der Wahl seiner Freunde und Diener: denn durch die Verbindung der Gegensätze wird man einen sehr gescheuten Mittelweg treffen.
Über das Konzept der Bedienung, Freund, ließe sich einiges sagen, zumal es sich, bleiben wir realistisch, nahezu immer um eine Selbstbedienung handelt. Die Mächtigen bedienen sich der weniger Mächtigen, nutzen sie dabei, im Zweifelsfalle, gnadenlos aus. Dieses Verhältnis, die Beziehung zwischen Diener- und Herrschaft, ist, um in Ihrem Bild des Gesellens zu bleiben, schlecht für die egalitäre Gesellschaft. Mir schmeckt, im Großen und Ganzen, Ihre utilitaristische Herangehensweise an Freundschaften nicht. Sie kalkulieren unablässig, als handelte es sich bei Beziehungen um eine Rechenaufgabe. Gewiss, möglich ist es, die Welt in Plus und Minus einzuteilen. Aber dann dürfen Sie sich weder wundern noch beschweren, wenn Sie auf der Verliererseite landen und als, Pardon, Ausschuss behandelt werden.
Wer unablässig gegenrechnet, nicht ablässt vom Multiplizieren und Dividieren, versäumt, beinahe zwangsläufig, die Freude des Ergebnisses.
Sie, Freund, treffen mich übrigens stets in einer Sofort-Haltung, wenn ich Ihnen schreibe. In den vorliegenden Briefen regiert das umstandslose Ad-hoc, ein kreatives Renegatentum. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich möchte nicht gekünstelt klingen. Meine Reaktionen sollen kurz und schmerzlos sein. Zwar überlege ich genau, was ich sage, selbstverständlich, aber ich zensiere mich nicht.
Ehrlichkeit schafft die besten Freunde und noch bessere Feinde.
Gegensätze, heißt es, zögen sich an. Wohl wahr. Allerdings will man, wie in einer Partei, an einem Strang ziehen, um ein politisches Ziel erreichen, kann genau das zu wütenden Attacken auf Parteifreundinnen und Parteifreunde führen, kann zu Übergriffen führen, die vom inhaltlichen Arbeiten abhalten, so dass die Organisation zur Schlangengrube wird, aus der die wenigsten unverletzt steigen.
Wenn wir uns in Bewegungen organisieren, treffen wir zuverlässig auf Persönlichkeiten, die uns lähmen. Wer daraufhin in Paralyse verfällt, wird als Parteisoldatin und Parteisoldat geschätzt, wer aufmuckt, als Abspalterin oder Querulant bis aufs Messer bekämpft.
Sich nach den anderen zu richten, raten Sie, Freund. Keine schlechte Empfehlung - handelt es sich um ein humanistisches Bündnis. Folgen wir allerdings gutgläubig den Ruchlosen, stimmen uns also, gewissermaßen intrinsisch, auf die moralische Kakophonie ein, wird Ihr Hinweis zur Falle. Wenige von uns vermögen den Moment des Absprungs zu treffen. Rechtzeitig zu erkennen, dass etwas ins Unerträgliche kippt, während ich noch selbst am Ausbalancieren bin, gelingt leider zu selten. Den Absprung zu schaffen, auch auf die Gefahr hin, bereits getätigte Investitionen zu verlieren, dazu gehört eine ordentliche Portion Mut. Und doch: am Bösen festzuhalten, weil es sich uns ehedem als das Gute vorgestellt hat, macht uns zu Mitwisserinnen und Komplizen. Nicht umsonst heißt's: mitgefangen, mitgehangen.
Noch ein Satz zu Ihrer Männer-Fixierung. Aufrichtig gesprochen: die Machonummer ermüdet mich - auch deswegen, da der männliche Überlegenheitsdünkel selbst zu Beginn des 21. Jarhunderts nicht aufhört. Meine Partnerin, die häufig auf Podien mit selbstzufriedenen, männerbündischen, vermeintlich aufgeklärten Strotzkerlen sitzt, kann ein Kampflied davon singen. Ich rate bei öffentlichen Debatten dazu, ein gut sichtbares Schild anzubringen, auf dem Noch zehn Sekunden bis zur Kastration als Mahnung aufblinkt, sobald Männer ihre Redezeit überziehen.
30. September 2020 und 19. April 2019
Sich gut zu gesellen verstehn, ist der kürzeste Weg ein ganzer Mann zu werden. Der Umgang ist von eingreifender Wirkung: Sitten und Geschmack theilen sich mit; die Sinnesart, ja sogar den Geist nimmt man an, ohne es zu merken. Deswegen suche der Rasche sich dem Ueberlegten beizugesellen, und ebenso in den übrigen Sinnesarten, woraus, ohne Gewaltsamkeit, eine gemäßigte Stimmung hervorgehn wird. Es ist sehr geschickt, sich nach dem Andern stimmen zu können. Das Wechselspiel der Gegensätze verschönert, ja erhält die Welt, und was in der physischen Harmonie herbeiführt, wird es noch mehr in der moralischen. Man beobachte diese kluge Rücksicht bei der Wahl seiner Freunde und Diener: denn durch die Verbindung der Gegensätze wird man einen sehr gescheuten Mittelweg treffen.
Über das Konzept der Bedienung, Freund, ließe sich einiges sagen, zumal es sich, bleiben wir realistisch, nahezu immer um eine Selbstbedienung handelt. Die Mächtigen bedienen sich der weniger Mächtigen, nutzen sie dabei, im Zweifelsfalle, gnadenlos aus. Dieses Verhältnis, die Beziehung zwischen Diener- und Herrschaft, ist, um in Ihrem Bild des Gesellens zu bleiben, schlecht für die egalitäre Gesellschaft. Mir schmeckt, im Großen und Ganzen, Ihre utilitaristische Herangehensweise an Freundschaften nicht. Sie kalkulieren unablässig, als handelte es sich bei Beziehungen um eine Rechenaufgabe. Gewiss, möglich ist es, die Welt in Plus und Minus einzuteilen. Aber dann dürfen Sie sich weder wundern noch beschweren, wenn Sie auf der Verliererseite landen und als, Pardon, Ausschuss behandelt werden.
Wer unablässig gegenrechnet, nicht ablässt vom Multiplizieren und Dividieren, versäumt, beinahe zwangsläufig, die Freude des Ergebnisses.
Sie, Freund, treffen mich übrigens stets in einer Sofort-Haltung, wenn ich Ihnen schreibe. In den vorliegenden Briefen regiert das umstandslose Ad-hoc, ein kreatives Renegatentum. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich möchte nicht gekünstelt klingen. Meine Reaktionen sollen kurz und schmerzlos sein. Zwar überlege ich genau, was ich sage, selbstverständlich, aber ich zensiere mich nicht.
Ehrlichkeit schafft die besten Freunde und noch bessere Feinde.
Gegensätze, heißt es, zögen sich an. Wohl wahr. Allerdings will man, wie in einer Partei, an einem Strang ziehen, um ein politisches Ziel erreichen, kann genau das zu wütenden Attacken auf Parteifreundinnen und Parteifreunde führen, kann zu Übergriffen führen, die vom inhaltlichen Arbeiten abhalten, so dass die Organisation zur Schlangengrube wird, aus der die wenigsten unverletzt steigen.
Wenn wir uns in Bewegungen organisieren, treffen wir zuverlässig auf Persönlichkeiten, die uns lähmen. Wer daraufhin in Paralyse verfällt, wird als Parteisoldatin und Parteisoldat geschätzt, wer aufmuckt, als Abspalterin oder Querulant bis aufs Messer bekämpft.
Sich nach den anderen zu richten, raten Sie, Freund. Keine schlechte Empfehlung - handelt es sich um ein humanistisches Bündnis. Folgen wir allerdings gutgläubig den Ruchlosen, stimmen uns also, gewissermaßen intrinsisch, auf die moralische Kakophonie ein, wird Ihr Hinweis zur Falle. Wenige von uns vermögen den Moment des Absprungs zu treffen. Rechtzeitig zu erkennen, dass etwas ins Unerträgliche kippt, während ich noch selbst am Ausbalancieren bin, gelingt leider zu selten. Den Absprung zu schaffen, auch auf die Gefahr hin, bereits getätigte Investitionen zu verlieren, dazu gehört eine ordentliche Portion Mut. Und doch: am Bösen festzuhalten, weil es sich uns ehedem als das Gute vorgestellt hat, macht uns zu Mitwisserinnen und Komplizen. Nicht umsonst heißt's: mitgefangen, mitgehangen.
Noch ein Satz zu Ihrer Männer-Fixierung. Aufrichtig gesprochen: die Machonummer ermüdet mich - auch deswegen, da der männliche Überlegenheitsdünkel selbst zu Beginn des 21. Jarhunderts nicht aufhört. Meine Partnerin, die häufig auf Podien mit selbstzufriedenen, männerbündischen, vermeintlich aufgeklärten Strotzkerlen sitzt, kann ein Kampflied davon singen. Ich rate bei öffentlichen Debatten dazu, ein gut sichtbares Schild anzubringen, auf dem Noch zehn Sekunden bis zur Kastration als Mahnung aufblinkt, sobald Männer ihre Redezeit überziehen.
30. September 2020 und 19. April 2019
107.
Keine Selbstzufriedenheit zeigen. Man sei weder unzufrieden mit sich selbst, denn das wäre Kleinmuth, – noch selbstzufrieden, denn das wäre Dummheit. Die Selbstzufriedenheit entsteht meistens aus Unwissenheit und wird zu einer Glückseligkeit des Unverstandes, die zwar nicht ohne Annehmlichkeit seyn mag, jedoch unserm Ruf und Ansehn nicht förderlich ist. Weil man die unendlich höhern Vollkommenheiten Andrer nicht einzusehn im Stande ist, wird man durch irgend ein gemeines und mittelmäßiges Talent in sich höchlich befriedigt. Mißtrauen ist stets klug und überdies auch nützlich, entweder um dem übeln Ausgang der Sachen vorzubeugen, oder um sich, wenn er da ist, zu trösten; da ein Unglück den nicht überrascht, der es schon fürchtete. Auch Homer schläft zu Zeiten, und Alexander fiel von seiner Höhe und aus seiner Täuschung. Die Dinge hängen von gar vielerlei Umständen ab, und was an Einer Stelle und bei Einer Gelegenheit einen Triumph feierte, wurde bei einer andern zu Schande. Inzwischen besteht die unheilbare Dummheit darin, daß die leerste Selbstzufriedenheit zu voller Blüthe aufgegangen ist und mit ihrem Saamen immer weiter wuchert.
Ihre Weltsicht, Freund, ist trostlos. Blicken Sie auf andere, gehen Sie, zunächst, von einer ewigen Ödnis aus. Jede Plflanze im Nachbargarten ist entweder überdüngt oder am Verdursten. Wie gut, dass bei Ihnen alles in bester Ordnung ist! Ja, Sie verstehen es, mit der scharfen Sichel das "Unkraut" umzumähen, danach stutzen Sie den frechen Rest, der sich zwischen den Steinen und am Teich versteckt, mit einer spitzen Schere. Natürlich wissen Sie, worauf ich hinaus will. Der Text, so klug und richtig er auch ist, dient als Widerspruch in sich, denn die Selbstzufriedenheit, den Finger in die Wunde legen zu können, tropft aus jeder Silbe. Mag sein, dass Sie nun, um sich zu verteidigen, darauf hinweisen, dass ich mich, mit dieser Antwort, gleichsam der Contradictio in Adjecto schuldig mache. Nun ja, mag wohl sein. Aber ich glaube eben nicht, dass es keine Selbstzufriedenheit geben darf, die mit einem Mangel behaftet ist. Ich glaube eben nicht, dass es irgendeine Art von unanzweifelbarer Vollkommenheit gibt. Was ich glaube? Ich glaube an, sagen wir, das Glück der Unvollkommenheit. Ich glaube an die kleinen Schritte, an Abzweigungen, Umwege, Abkürzungen, an, ja, die Langsamkeit. Ich glaube an die Möglichkeit, mit wenig viel zu erreichen. Und ich glaube, dass Fehler normal sind. Arroganz? Ich muss Sie enttäuschen, Freund, an die glaube ich dagegen nicht.
Rezepte halten selten, was sie versprechen. Die Umstände entscheiden, was funktioniert, was wann wie wächst und gedeiht.
Die Beschimpfung der Selbstzufriedenen, Freund, will mir also nicht so einfach über die Lippen. Eher packt mich, ganz ehrlich, worauf ich nicht stolz nicht, der abgespeckte Neid. Voll kann die Eifersucht halt nicht sein, da Sie wohl Recht haben, dass im kurzsichtig Blasierten ein geharnischtes Stück Idiotie Unterschlupf gefunden hat. Anders schaut's mit dem weitsichtigen Selbstbewusstsein aus, das sich Ziele gesteckt hat, die erreichbar scheinen, dessen Zufriedenheit ob der echten Lage möglicherweise naiv anmutet, aber uns doch um einiges besser als die unaufhörliche Eigenverachtung tut.
Wer sich selbst beleidigt, bittet das Leid, welches eh, so ist das Sein, kräftig an der Tür kratzt, ohne Not viel zu früh herein.
Der Eigenwert beginnt in uns selbst. Auf Anerkennung von außen zu hoffen, sich aber selbst zu verachten, geht selten lange gut.
Dass Sie eine Rangordnung der Talente erwähnen, finde ich absurd. Talent lässt sich nicht skalieren. Ähnlich bizarr scheint mir die Idee, dass ein Unglück, welches wir voraussähen, uns nicht mehr überraschte, sobald es einträte. Die Gefühle und der leibliche Schmerz können nur höchst ungenau projiziert werden. Selbst die Fantasiebegabtesten wissen nicht, wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn die Liebe ihres Lebens kalt und steif auf dem Totenbett liegt.
29. Juli 2020 und 18. April 2019
Keine Selbstzufriedenheit zeigen. Man sei weder unzufrieden mit sich selbst, denn das wäre Kleinmuth, – noch selbstzufrieden, denn das wäre Dummheit. Die Selbstzufriedenheit entsteht meistens aus Unwissenheit und wird zu einer Glückseligkeit des Unverstandes, die zwar nicht ohne Annehmlichkeit seyn mag, jedoch unserm Ruf und Ansehn nicht förderlich ist. Weil man die unendlich höhern Vollkommenheiten Andrer nicht einzusehn im Stande ist, wird man durch irgend ein gemeines und mittelmäßiges Talent in sich höchlich befriedigt. Mißtrauen ist stets klug und überdies auch nützlich, entweder um dem übeln Ausgang der Sachen vorzubeugen, oder um sich, wenn er da ist, zu trösten; da ein Unglück den nicht überrascht, der es schon fürchtete. Auch Homer schläft zu Zeiten, und Alexander fiel von seiner Höhe und aus seiner Täuschung. Die Dinge hängen von gar vielerlei Umständen ab, und was an Einer Stelle und bei Einer Gelegenheit einen Triumph feierte, wurde bei einer andern zu Schande. Inzwischen besteht die unheilbare Dummheit darin, daß die leerste Selbstzufriedenheit zu voller Blüthe aufgegangen ist und mit ihrem Saamen immer weiter wuchert.
Ihre Weltsicht, Freund, ist trostlos. Blicken Sie auf andere, gehen Sie, zunächst, von einer ewigen Ödnis aus. Jede Plflanze im Nachbargarten ist entweder überdüngt oder am Verdursten. Wie gut, dass bei Ihnen alles in bester Ordnung ist! Ja, Sie verstehen es, mit der scharfen Sichel das "Unkraut" umzumähen, danach stutzen Sie den frechen Rest, der sich zwischen den Steinen und am Teich versteckt, mit einer spitzen Schere. Natürlich wissen Sie, worauf ich hinaus will. Der Text, so klug und richtig er auch ist, dient als Widerspruch in sich, denn die Selbstzufriedenheit, den Finger in die Wunde legen zu können, tropft aus jeder Silbe. Mag sein, dass Sie nun, um sich zu verteidigen, darauf hinweisen, dass ich mich, mit dieser Antwort, gleichsam der Contradictio in Adjecto schuldig mache. Nun ja, mag wohl sein. Aber ich glaube eben nicht, dass es keine Selbstzufriedenheit geben darf, die mit einem Mangel behaftet ist. Ich glaube eben nicht, dass es irgendeine Art von unanzweifelbarer Vollkommenheit gibt. Was ich glaube? Ich glaube an, sagen wir, das Glück der Unvollkommenheit. Ich glaube an die kleinen Schritte, an Abzweigungen, Umwege, Abkürzungen, an, ja, die Langsamkeit. Ich glaube an die Möglichkeit, mit wenig viel zu erreichen. Und ich glaube, dass Fehler normal sind. Arroganz? Ich muss Sie enttäuschen, Freund, an die glaube ich dagegen nicht.
Rezepte halten selten, was sie versprechen. Die Umstände entscheiden, was funktioniert, was wann wie wächst und gedeiht.
Die Beschimpfung der Selbstzufriedenen, Freund, will mir also nicht so einfach über die Lippen. Eher packt mich, ganz ehrlich, worauf ich nicht stolz nicht, der abgespeckte Neid. Voll kann die Eifersucht halt nicht sein, da Sie wohl Recht haben, dass im kurzsichtig Blasierten ein geharnischtes Stück Idiotie Unterschlupf gefunden hat. Anders schaut's mit dem weitsichtigen Selbstbewusstsein aus, das sich Ziele gesteckt hat, die erreichbar scheinen, dessen Zufriedenheit ob der echten Lage möglicherweise naiv anmutet, aber uns doch um einiges besser als die unaufhörliche Eigenverachtung tut.
Wer sich selbst beleidigt, bittet das Leid, welches eh, so ist das Sein, kräftig an der Tür kratzt, ohne Not viel zu früh herein.
Der Eigenwert beginnt in uns selbst. Auf Anerkennung von außen zu hoffen, sich aber selbst zu verachten, geht selten lange gut.
Dass Sie eine Rangordnung der Talente erwähnen, finde ich absurd. Talent lässt sich nicht skalieren. Ähnlich bizarr scheint mir die Idee, dass ein Unglück, welches wir voraussähen, uns nicht mehr überraschte, sobald es einträte. Die Gefühle und der leibliche Schmerz können nur höchst ungenau projiziert werden. Selbst die Fantasiebegabtesten wissen nicht, wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn die Liebe ihres Lebens kalt und steif auf dem Totenbett liegt.
29. Juli 2020 und 18. April 2019
106.
Nicht mit seinem Glücke prahlen. Es ist beleidigender, mit Stand und Würde zu prunken, als mit persönlichen Eigenschaften. Das Sich breit machen ist verhaßt; man sollte am Neide genug haben. Hochachtung erlangt man desto weniger, je mehr man darauf ausgeht: denn sie hängt von der Meinung Andrer ab, weshalb man sie sich nicht nehmen kann, sondern sie von den Andern verdienen und abwarten muß. Hohe Aemter erfordern ein ihrer Ausübung angemessenes Ansehn, ohne welches sie nicht würdig verwaltet werden können: daher erhalte man ihnen die Ehre, die nöthig ist, um seiner Pflicht nachkommen zu können: man dringe nicht auf Ehrerbietung, wohl aber befördere man sie. Wer mit seinem Amte viel Aufhebens macht, verräth, daß er es nicht verdient hat und die Würde für seine Schultern zu viel ist. Wenn man ja sich geltend machen will, so sei es eher durch das Ausgezeichnete seiner Talente, als durch zufällige Aeußerlichkeiten. Selbst einen König soll man mehr wegen seiner persönlichen Eigenschaften ehren als wegen seiner äußerlichen Herrschaft.
Es ist schön, Freund, sich ab und an im Unisono zu treffen. Ich schätze, das (Geheim)Wissen um eine Sache hält Revolutionärinnen und Verschwörer auf Trab, schweißt sie zusammen, wenigstens für eine gewisse Zeit - die Zeit des Abstands, der Entfernung von den Futtertrögen und Grundbuchstempeln. Im Kreislauf der Aufstände zeigt sich, dass wenige, ich sage mal: moralisch durchalten. Das Durchhaltevermögen des Guten schleift sich gewissermaßen in den Amtsstuben ab, wenn diese Räumlichkeiten nur kurz aufgesperrt, dann aber wieder, oft genug: einen Tag nach dem Umsturz, wieder zugesperrt werden, um eine neue Ordnung nach dem Gusto der Rebellinnen und Putschisten zu errichten.
Was im kleinen Kreis ausgedacht wird, bleibt, im Sinne einer sozialen Mengenlehre, elitär, wenn es nicht alsbald die (vermeintliche) Perfektion seiner geschlossenen Ring-Form - einer Ideologie - als Begrenzung versteht. Kein gesellschaftlicher Lehrsatz ist einwandfrei und funktioniert tadellos. Setzt sich nicht die wahrhaft revolutionäre Erkenntnis durch, dass allein Veränderung Bestand garantiert, regieren postwendend Gewalt und Eigeninteresse.
Der Anspruch, Freund, den wir an uns haben, kann und sollte nicht allein aus uns selbst kommen, sondern aus der Welt, in die wir geworfen sind.
Wer wirkt, wird. Wer nur ist, verwirkt.
Beachteten wir die elementare Erwartung des ewigen Außen an uns, akzeptierten wir das halbwegs deterministische Rollenspiel, welches durch eine Stellung entsteht, hätten wir solch eine mehr oder minder verbindliche Anforderung folglich auch zu berücksichtigen, wenn wir sie an anderen wahrnehmen würden.
Eine Richterin oder ein Richter atmen die Luft des Gesetzes, nicht die Abgase der Willkür oder der ideologisch begründeten Sitten.
Die Position, die wir erlangen, die wir uns aussuchen, die an uns herangetragen wird, die sich uns überstülpt, formt uns in der Mehrzahl der Fälle erst. Eine Stellung in der Welt, sei sie schwierig oder leicht, kreiert oft genug Denk- und Handlungsräume, denen sich zu entziehen weder angeraten noch erstrebenswert ist.
Wir wachsen, summa sumarum, in eine Position, wachsen, wie es so schön heißt, mit unseren Aufgaben. Die Zeit, die wir dafür benötigen, sei großzügig bemessen. Die Schnelligkeit der Reife hat schließlich wenig mit der Güte der Frucht zu tun. Das verfrühte Pflücken befriedigt die Gier des Besitzenwollens, aber, in aller Regel, niemals die Freude des nachhaltigen Genusses.
28. Juli 2020 und 18. April 2019
Nicht mit seinem Glücke prahlen. Es ist beleidigender, mit Stand und Würde zu prunken, als mit persönlichen Eigenschaften. Das Sich breit machen ist verhaßt; man sollte am Neide genug haben. Hochachtung erlangt man desto weniger, je mehr man darauf ausgeht: denn sie hängt von der Meinung Andrer ab, weshalb man sie sich nicht nehmen kann, sondern sie von den Andern verdienen und abwarten muß. Hohe Aemter erfordern ein ihrer Ausübung angemessenes Ansehn, ohne welches sie nicht würdig verwaltet werden können: daher erhalte man ihnen die Ehre, die nöthig ist, um seiner Pflicht nachkommen zu können: man dringe nicht auf Ehrerbietung, wohl aber befördere man sie. Wer mit seinem Amte viel Aufhebens macht, verräth, daß er es nicht verdient hat und die Würde für seine Schultern zu viel ist. Wenn man ja sich geltend machen will, so sei es eher durch das Ausgezeichnete seiner Talente, als durch zufällige Aeußerlichkeiten. Selbst einen König soll man mehr wegen seiner persönlichen Eigenschaften ehren als wegen seiner äußerlichen Herrschaft.
Es ist schön, Freund, sich ab und an im Unisono zu treffen. Ich schätze, das (Geheim)Wissen um eine Sache hält Revolutionärinnen und Verschwörer auf Trab, schweißt sie zusammen, wenigstens für eine gewisse Zeit - die Zeit des Abstands, der Entfernung von den Futtertrögen und Grundbuchstempeln. Im Kreislauf der Aufstände zeigt sich, dass wenige, ich sage mal: moralisch durchalten. Das Durchhaltevermögen des Guten schleift sich gewissermaßen in den Amtsstuben ab, wenn diese Räumlichkeiten nur kurz aufgesperrt, dann aber wieder, oft genug: einen Tag nach dem Umsturz, wieder zugesperrt werden, um eine neue Ordnung nach dem Gusto der Rebellinnen und Putschisten zu errichten.
Was im kleinen Kreis ausgedacht wird, bleibt, im Sinne einer sozialen Mengenlehre, elitär, wenn es nicht alsbald die (vermeintliche) Perfektion seiner geschlossenen Ring-Form - einer Ideologie - als Begrenzung versteht. Kein gesellschaftlicher Lehrsatz ist einwandfrei und funktioniert tadellos. Setzt sich nicht die wahrhaft revolutionäre Erkenntnis durch, dass allein Veränderung Bestand garantiert, regieren postwendend Gewalt und Eigeninteresse.
Der Anspruch, Freund, den wir an uns haben, kann und sollte nicht allein aus uns selbst kommen, sondern aus der Welt, in die wir geworfen sind.
Wer wirkt, wird. Wer nur ist, verwirkt.
Beachteten wir die elementare Erwartung des ewigen Außen an uns, akzeptierten wir das halbwegs deterministische Rollenspiel, welches durch eine Stellung entsteht, hätten wir solch eine mehr oder minder verbindliche Anforderung folglich auch zu berücksichtigen, wenn wir sie an anderen wahrnehmen würden.
Eine Richterin oder ein Richter atmen die Luft des Gesetzes, nicht die Abgase der Willkür oder der ideologisch begründeten Sitten.
Die Position, die wir erlangen, die wir uns aussuchen, die an uns herangetragen wird, die sich uns überstülpt, formt uns in der Mehrzahl der Fälle erst. Eine Stellung in der Welt, sei sie schwierig oder leicht, kreiert oft genug Denk- und Handlungsräume, denen sich zu entziehen weder angeraten noch erstrebenswert ist.
Wir wachsen, summa sumarum, in eine Position, wachsen, wie es so schön heißt, mit unseren Aufgaben. Die Zeit, die wir dafür benötigen, sei großzügig bemessen. Die Schnelligkeit der Reife hat schließlich wenig mit der Güte der Frucht zu tun. Das verfrühte Pflücken befriedigt die Gier des Besitzenwollens, aber, in aller Regel, niemals die Freude des nachhaltigen Genusses.
28. Juli 2020 und 18. April 2019
105.
Nicht lästig seyn. Der Mann von Einem Geschäft und Einer Rede pflegt sehr beschwerlich zu fallen. Die Kürze ist einnehmend und dem Geschäftsgang gemäßer. Sie ersetzt an Höflichkeit, was ihr an Ausdehnung abgeht. Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut; und selbst das Schlimme, wenn wenig, ist nicht so schlimm. Quintessenzen sind wirksamer als ein ganzer Wust. Auch ist es eine bekannte Wahrheit, daß weitläufige Leute selten von vielem Verstande sind; welches sich nicht sowohl im Materiellen der Anordnung, als im Formellen des Denkens zeigt. Es giebt Leute, welche mehr zum Hinderniß als zur Zierde der Welt dasind, unnütze Möbeln, die Jeder aus dem Wege rückt. Der Kluge hüte sich lästig zu sehn, und zumal den Großen, da diese ein sehr beschäftigtes Leben führen, und es schlimmer wäre, Einen von ihnen verdrießlich zu machen, als die ganze übrige Welt. Das gut Gesagte ist bald gesagt.
Es sei angemerkt, Freund, dass die Unhöflichkeit des Befehls, der doch, in aller Regel, kurz und knapp ist, zwar, in Ihrem Sinne, klare Verhältnisse schafft, die nicht weiter auf die Nerven gehen, besonders nicht denjenigen, die befehligen dürfen, es sei einschränkend angemerkt, dass die Unfreundlichkeit des Kommandos kläglich in etlichen Lebenssituationen versagt. Ein Lieb mich! dürfte selten zum gewünschten Resultat führen, wenn vorher nicht ausführlich gesprochen worden ist. Ja, gewiss, Sie reden von Geschäften, aber, ganz ehrlich, auch Herzensangelegenheiten sind, gewissermaßen, Geschäfte - Tätigkeiten des Glücks, der Seelenruhe.
Die richtigen Worte zu finden, was Dauer und Geschmack betrifft, widersetzt sich dem Formellen. Jede Unterhaltung, die gefällt, dauert auf immer - und gleicht damit der Liebe, die unermüdlich spricht, unbeirrt gehört werden will und soll.
Die dümmste Ruhe wohnt gleich neben dem Tod.
Was gut ist, kann nicht gemessen werden. Was schlecht ist, sofort.
So sei es, was Sie sagen. Und auch nicht.
27. Juli 2020 und 17. April 2019
Nicht lästig seyn. Der Mann von Einem Geschäft und Einer Rede pflegt sehr beschwerlich zu fallen. Die Kürze ist einnehmend und dem Geschäftsgang gemäßer. Sie ersetzt an Höflichkeit, was ihr an Ausdehnung abgeht. Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut; und selbst das Schlimme, wenn wenig, ist nicht so schlimm. Quintessenzen sind wirksamer als ein ganzer Wust. Auch ist es eine bekannte Wahrheit, daß weitläufige Leute selten von vielem Verstande sind; welches sich nicht sowohl im Materiellen der Anordnung, als im Formellen des Denkens zeigt. Es giebt Leute, welche mehr zum Hinderniß als zur Zierde der Welt dasind, unnütze Möbeln, die Jeder aus dem Wege rückt. Der Kluge hüte sich lästig zu sehn, und zumal den Großen, da diese ein sehr beschäftigtes Leben führen, und es schlimmer wäre, Einen von ihnen verdrießlich zu machen, als die ganze übrige Welt. Das gut Gesagte ist bald gesagt.
Es sei angemerkt, Freund, dass die Unhöflichkeit des Befehls, der doch, in aller Regel, kurz und knapp ist, zwar, in Ihrem Sinne, klare Verhältnisse schafft, die nicht weiter auf die Nerven gehen, besonders nicht denjenigen, die befehligen dürfen, es sei einschränkend angemerkt, dass die Unfreundlichkeit des Kommandos kläglich in etlichen Lebenssituationen versagt. Ein Lieb mich! dürfte selten zum gewünschten Resultat führen, wenn vorher nicht ausführlich gesprochen worden ist. Ja, gewiss, Sie reden von Geschäften, aber, ganz ehrlich, auch Herzensangelegenheiten sind, gewissermaßen, Geschäfte - Tätigkeiten des Glücks, der Seelenruhe.
Die richtigen Worte zu finden, was Dauer und Geschmack betrifft, widersetzt sich dem Formellen. Jede Unterhaltung, die gefällt, dauert auf immer - und gleicht damit der Liebe, die unermüdlich spricht, unbeirrt gehört werden will und soll.
Die dümmste Ruhe wohnt gleich neben dem Tod.
Was gut ist, kann nicht gemessen werden. Was schlecht ist, sofort.
So sei es, was Sie sagen. Und auch nicht.
27. Juli 2020 und 17. April 2019
104.
Den Aemtern den Puls gefühlt haben. Ihre mannigfaltige Verschiedenheit zu kennen, ist eine meisterliche Kunde, die Aufmerksamkeit verlangt. Einige erfordern Muth, andere scharfen Verstand. Leichter zu verwalten sind die, wobei es auf Rechtschaffenheit, und schwerer die, wobei es auf Geschicklichkeit ankommt. Zu jenen gehört nichts weiter als ein rechtlicher Karakter: für diese hingegen reicht alle Aufmerksamkeit und Eifer nicht aus. Es ist eine mühsame Beschäftigung, Menschen zu regieren, und vollends Narren oder Dummköpfe. Doppelten Verstand hat man nöthig bei denen, die keinen haben. Unerträglich aber sind die Aemter, welche den ganzen Menschen in Anspruch nehmen, zu gezählten Stunden und bei bestimmter Materie: besser sind die, welche keinen Ueberdruß verursachen, indem sie den Ernst mit Mannigfaltigkeit versetzen; denn die Abwechselung muntert auf. Des größten Ansehns genießen die, wobei die Abhängigkeit geringer, oder doch entfernter ist. Die schlimmsten aber sind die, wegen derer man in dieser und noch mehr in jener Welt schwitzen muß.
Was Sie nicht aussprechen, Freund, was aber viele von uns fühlen: dass der Beruf, den wir ergriffen, das Amt, welches wir uns aufgebürdet haben, die falschen sind, jedenfalls für uns, vielleicht, was bei bestimmten Beschäftigungen fraglos der Fall ist, sogar jedem sensiblen Menschen, über kurz oder lang, Verdruss bereiten würden. Was gilt's zu tun, in einer Einbahnstraße, ohne Umkehrmöglichkeit, ohne Raststätten am Wegesrand, wenn uns Müdigkeit und Frust überfallen, sich einnisten, uns das Leben zur Qual machen? Mir scheint, dass die radikale Zäsur, die anfangs unmöglich erscheint, das einzige vernünftige Hilfsmittel ist. Wen der gordische Knoten fesselt, darf nicht zimperlich sein. Wir leben nur ein einziges Mal. Jeder verlorene Tag verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Zeit kennt kein Lost & Found. Was sich verflüchtigt, bleibt verschollen. Um das Jetzt zu genießen, reicht nicht die Absicht auf ein besseres Morgen. Ist das Heute eine Quälerei, brechen wir ruhig aus! Was wenige wissen, aber im Kapitalismus gang und gäbe ist: wir werden trainiert, unsere eigene Kerkermeisterin, unser eigener Kerkermeister zu sein, in dem uns Wünsche vorgegaukelt werden, die uns nicht zufriedener machen, sondern unsere Abhängigkeit von einem unmenschlichen System erhöhen. Reicht die Kraft des oder der Einzelnen nicht aus, um die Fesseln abzulegen, helfen altruistische Bündnisse. Wenige Menschen sind wirklich schlecht; seltsamerweise schaffen es jedoch etliche von den Üblen an die Spitze. Entthronen wir die Verdorbenen!
Die Berufswahl, Freund, sei eines der laizistischen Grundrechte. Wohl ist mir klar, dass zwischen Ihrer Idee des Amtes, wobei Sie, stillschweigend, vom Berufenwerden und nicht der eigenen Berufung, die wir fühlen, da uns etwas interessiert, ausgehen, wohl ist mir also klar, dass zwischen Ihrer Idee des autokratischen Amtes, gerade des höchsten Staatsamtes und der Ministerämter eines Kabinetts, und der von mir erwähnten demokratischen Berufswahl beinahe unüberbrückbare Welten liegen. Das Seltsame ist allerdings, dass Ihre Vorstellung der Bestimmung, gerade wenn es sich um die Besetzung von Posten durch Frauen oder im Staatsgebiet lebende Minderheiten handelt, zur Ungleichbehandlung führt. Zwingt man Männer nicht per Quote dazu, fördern und befördern viele von ihnen konsequent andere Männer, die wie sie selbst aussehen und sprechen. Und dass Sie, als Sie die durchaus beachtenswerten Sätze über die Vielfalt und die Herausforderungen eines Amtes geschrieben haben, nur an Männer gedacht haben, darüber müssen wir kaum reden.
Sind alle freiwillig blind, fällt das Sehen den wenigsten ein.
Der von Ihnen ausgemachte Widerspruch zwischen Rechtschaffenheit und Geschicklichkeit, öffnet der Unredlichkeit, solange sie sich der Aufgabe gewachsen zeigt, Tür und Tor. Die Auffassung, dass es wichtiger sei, etwas wie auch immer zu stemmen, als dass es, dank fairer Deliberation, gar nicht erst in Angriff genommen wird, bleibt in Strong-Men-Gesellschaften der Weg des Vorgehens. Von Wahl kann nicht gesprochen werden. Diese Art des Handelns erweist sich, oft genug, als Weg ins Unglück. Denn die anfängliche Geschicklichkeit des einen entpuppt sich, früher oder später, als absolutistische Fehleinschätzung.
Entscheidungen, die sich dem Recht beugen, kennen per se die Möglichkeit der Umkehr und der Revision. Bei Entschlüssen, die der Laune der Autokratin oder des Autokraten folgen, ist das nicht der Fall. Die immense Gewalt, welche der ruchlosen Geschicklichkeit innewohnt, führt zu Leid und Elend.
Niemand steht über dem Gesetz, auch die oder der Begabteste nicht.
Ein abschließendes Wort zum monotonen Beruf, der uns keine Luft zum Atmen lässt, sei gestattet. Dass der Mensch ein denkendes Wesen ist, wird in Betrieben systematisch unterschätzt oder sogar unterdrückt. Wollen wir gerecht und glücklich sein, sollten wir die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich beschränken und eine weitere Stunde für die freiwillige Mitbestimmung und soziale Tätigkeit anbieten, die keinem Gewinnstreben folgt.
Im Gespräch findet sich der Mensch, als Ersatzmaschine sei er verloren.
26. Juli 2020 und 16. April 2019
Den Aemtern den Puls gefühlt haben. Ihre mannigfaltige Verschiedenheit zu kennen, ist eine meisterliche Kunde, die Aufmerksamkeit verlangt. Einige erfordern Muth, andere scharfen Verstand. Leichter zu verwalten sind die, wobei es auf Rechtschaffenheit, und schwerer die, wobei es auf Geschicklichkeit ankommt. Zu jenen gehört nichts weiter als ein rechtlicher Karakter: für diese hingegen reicht alle Aufmerksamkeit und Eifer nicht aus. Es ist eine mühsame Beschäftigung, Menschen zu regieren, und vollends Narren oder Dummköpfe. Doppelten Verstand hat man nöthig bei denen, die keinen haben. Unerträglich aber sind die Aemter, welche den ganzen Menschen in Anspruch nehmen, zu gezählten Stunden und bei bestimmter Materie: besser sind die, welche keinen Ueberdruß verursachen, indem sie den Ernst mit Mannigfaltigkeit versetzen; denn die Abwechselung muntert auf. Des größten Ansehns genießen die, wobei die Abhängigkeit geringer, oder doch entfernter ist. Die schlimmsten aber sind die, wegen derer man in dieser und noch mehr in jener Welt schwitzen muß.
Was Sie nicht aussprechen, Freund, was aber viele von uns fühlen: dass der Beruf, den wir ergriffen, das Amt, welches wir uns aufgebürdet haben, die falschen sind, jedenfalls für uns, vielleicht, was bei bestimmten Beschäftigungen fraglos der Fall ist, sogar jedem sensiblen Menschen, über kurz oder lang, Verdruss bereiten würden. Was gilt's zu tun, in einer Einbahnstraße, ohne Umkehrmöglichkeit, ohne Raststätten am Wegesrand, wenn uns Müdigkeit und Frust überfallen, sich einnisten, uns das Leben zur Qual machen? Mir scheint, dass die radikale Zäsur, die anfangs unmöglich erscheint, das einzige vernünftige Hilfsmittel ist. Wen der gordische Knoten fesselt, darf nicht zimperlich sein. Wir leben nur ein einziges Mal. Jeder verlorene Tag verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Zeit kennt kein Lost & Found. Was sich verflüchtigt, bleibt verschollen. Um das Jetzt zu genießen, reicht nicht die Absicht auf ein besseres Morgen. Ist das Heute eine Quälerei, brechen wir ruhig aus! Was wenige wissen, aber im Kapitalismus gang und gäbe ist: wir werden trainiert, unsere eigene Kerkermeisterin, unser eigener Kerkermeister zu sein, in dem uns Wünsche vorgegaukelt werden, die uns nicht zufriedener machen, sondern unsere Abhängigkeit von einem unmenschlichen System erhöhen. Reicht die Kraft des oder der Einzelnen nicht aus, um die Fesseln abzulegen, helfen altruistische Bündnisse. Wenige Menschen sind wirklich schlecht; seltsamerweise schaffen es jedoch etliche von den Üblen an die Spitze. Entthronen wir die Verdorbenen!
Die Berufswahl, Freund, sei eines der laizistischen Grundrechte. Wohl ist mir klar, dass zwischen Ihrer Idee des Amtes, wobei Sie, stillschweigend, vom Berufenwerden und nicht der eigenen Berufung, die wir fühlen, da uns etwas interessiert, ausgehen, wohl ist mir also klar, dass zwischen Ihrer Idee des autokratischen Amtes, gerade des höchsten Staatsamtes und der Ministerämter eines Kabinetts, und der von mir erwähnten demokratischen Berufswahl beinahe unüberbrückbare Welten liegen. Das Seltsame ist allerdings, dass Ihre Vorstellung der Bestimmung, gerade wenn es sich um die Besetzung von Posten durch Frauen oder im Staatsgebiet lebende Minderheiten handelt, zur Ungleichbehandlung führt. Zwingt man Männer nicht per Quote dazu, fördern und befördern viele von ihnen konsequent andere Männer, die wie sie selbst aussehen und sprechen. Und dass Sie, als Sie die durchaus beachtenswerten Sätze über die Vielfalt und die Herausforderungen eines Amtes geschrieben haben, nur an Männer gedacht haben, darüber müssen wir kaum reden.
Sind alle freiwillig blind, fällt das Sehen den wenigsten ein.
Der von Ihnen ausgemachte Widerspruch zwischen Rechtschaffenheit und Geschicklichkeit, öffnet der Unredlichkeit, solange sie sich der Aufgabe gewachsen zeigt, Tür und Tor. Die Auffassung, dass es wichtiger sei, etwas wie auch immer zu stemmen, als dass es, dank fairer Deliberation, gar nicht erst in Angriff genommen wird, bleibt in Strong-Men-Gesellschaften der Weg des Vorgehens. Von Wahl kann nicht gesprochen werden. Diese Art des Handelns erweist sich, oft genug, als Weg ins Unglück. Denn die anfängliche Geschicklichkeit des einen entpuppt sich, früher oder später, als absolutistische Fehleinschätzung.
Entscheidungen, die sich dem Recht beugen, kennen per se die Möglichkeit der Umkehr und der Revision. Bei Entschlüssen, die der Laune der Autokratin oder des Autokraten folgen, ist das nicht der Fall. Die immense Gewalt, welche der ruchlosen Geschicklichkeit innewohnt, führt zu Leid und Elend.
Niemand steht über dem Gesetz, auch die oder der Begabteste nicht.
Ein abschließendes Wort zum monotonen Beruf, der uns keine Luft zum Atmen lässt, sei gestattet. Dass der Mensch ein denkendes Wesen ist, wird in Betrieben systematisch unterschätzt oder sogar unterdrückt. Wollen wir gerecht und glücklich sein, sollten wir die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich beschränken und eine weitere Stunde für die freiwillige Mitbestimmung und soziale Tätigkeit anbieten, die keinem Gewinnstreben folgt.
Im Gespräch findet sich der Mensch, als Ersatzmaschine sei er verloren.
26. Juli 2020 und 16. April 2019
103.
Jeder sei, in seiner Art, majestätisch. Wenn er auch kein König ist, müssen doch alle seine Handlungen, nach seiner Sphäre, eines Königs würdig seyn und sein Thun, in den Grenzen seines Standes und Berufs, königlich. Erhaben seien seine Handlungen, von hohem Flug seine Gedanken und in allem seinem Treiben stelle er einen König an Verdienst, wenn auch nicht an Macht dar: denn das wahrhaft Königliche besteht in der Untadelhaftigkeit der Sitten: und so wird der die Größe nicht beneiden dürfen, der ihr zum Vorbild dienen könnte. Besonders aber sollte denen, welche dem Throne näher stehn, etwas von der wahren Überlegenheit ankleben und sie sollten lieber die wahrhaft Königlichen Eigenschaften als ein eitles Ceremoniell sich anzueignen suchen, nicht eine leere Aufgeblasenheit affektiren, sondern das wesentlich Erhabene annehmen.
Nun, Freund, dies lässt sich auf verschiedene Arten lesen, was Ihnen nur zu gut bekannt sein dürfte. Auch als Kritik an der Aufgeblasenheit der Hofgesellschaft - und damit, indirekt, an der großspurigen, hochgejazzten Überheblichkeit des eigennützigen Herrschers. Wahrscheinlich haben Sie mit diesen maskierten Sätzen einiges riskiert. Und doch fühlt sich das Lob des aufgeklärten Königs, den wir uns alle zum Vorbild nehmen sollen, grundfalsch an, klingt wie ein kakofones Märchen aus Tausend und eine Diktaturnacht. Das Problem liegt auf der Hand: Sie verzichten auf Checks & Balances, auf jedwede Gewaltenteilung. Eine freundliche, dabei autokratische Herrscherin oder ein freundlicher, dabei autokratischer Herrscher hat stets unfreundliche Absichten, die ihr oder ihm, da sie ihre oder er seine Position für normal hält, nicht einmal bewusst sein müssen. Jede Machtposition, die vererbt wird, ist per se korrupt. Wer lebenslänglich mit dem Adjektiv "unfehlbar" ausgestattet ist, ist niemals, unter gar keinen Umständen, eine lupenreine Demokratin, ein lupenreiner Demokrat.
Echte Meritokratie lebt von der Wahl; was stets ebenfalls heißt: der Abwahl.
In jedem Guten steckt das Böse. Die Frage ist, ob es überhand nimmt.
François Villons anarchische Lebensliebe - wir waren zu zweit, aber hatten nur ein Herz - geht den Alleinherrscherinnen und Alleinherrschern ab, sobald sie sich von einer Verfassung eingeengt fühlen. Dieser Anspruch, über dem Gesetz zu stehen, ist weiterhin überall auf der Welt zu finden, auch in vermeintlichen Demokratien.
Wir, das Volk, dürfen uns nicht blenden lassen. Weder von leeren Demokratieversprechen noch von Notstandgesetzen, die, einmal eingeführt, oft genug zum Dauerzustand werden.
Der Wert der Gerüste sei zeitlich begrenzt. Am Ende zählt das eigentliche Gebäude, zählt die freie Sicht, der freie Zugang.
Wer unentwegt Wert auf zu viel Ummantelung legt, friert alsbald sogar in Sommernächten.
Konflikte, demokratisch ausgefochten, helfen, sie schaden keiner offenen Gesellschaft.
25. Juli 2020 und 15. April 2019
Jeder sei, in seiner Art, majestätisch. Wenn er auch kein König ist, müssen doch alle seine Handlungen, nach seiner Sphäre, eines Königs würdig seyn und sein Thun, in den Grenzen seines Standes und Berufs, königlich. Erhaben seien seine Handlungen, von hohem Flug seine Gedanken und in allem seinem Treiben stelle er einen König an Verdienst, wenn auch nicht an Macht dar: denn das wahrhaft Königliche besteht in der Untadelhaftigkeit der Sitten: und so wird der die Größe nicht beneiden dürfen, der ihr zum Vorbild dienen könnte. Besonders aber sollte denen, welche dem Throne näher stehn, etwas von der wahren Überlegenheit ankleben und sie sollten lieber die wahrhaft Königlichen Eigenschaften als ein eitles Ceremoniell sich anzueignen suchen, nicht eine leere Aufgeblasenheit affektiren, sondern das wesentlich Erhabene annehmen.
Nun, Freund, dies lässt sich auf verschiedene Arten lesen, was Ihnen nur zu gut bekannt sein dürfte. Auch als Kritik an der Aufgeblasenheit der Hofgesellschaft - und damit, indirekt, an der großspurigen, hochgejazzten Überheblichkeit des eigennützigen Herrschers. Wahrscheinlich haben Sie mit diesen maskierten Sätzen einiges riskiert. Und doch fühlt sich das Lob des aufgeklärten Königs, den wir uns alle zum Vorbild nehmen sollen, grundfalsch an, klingt wie ein kakofones Märchen aus Tausend und eine Diktaturnacht. Das Problem liegt auf der Hand: Sie verzichten auf Checks & Balances, auf jedwede Gewaltenteilung. Eine freundliche, dabei autokratische Herrscherin oder ein freundlicher, dabei autokratischer Herrscher hat stets unfreundliche Absichten, die ihr oder ihm, da sie ihre oder er seine Position für normal hält, nicht einmal bewusst sein müssen. Jede Machtposition, die vererbt wird, ist per se korrupt. Wer lebenslänglich mit dem Adjektiv "unfehlbar" ausgestattet ist, ist niemals, unter gar keinen Umständen, eine lupenreine Demokratin, ein lupenreiner Demokrat.
Echte Meritokratie lebt von der Wahl; was stets ebenfalls heißt: der Abwahl.
In jedem Guten steckt das Böse. Die Frage ist, ob es überhand nimmt.
François Villons anarchische Lebensliebe - wir waren zu zweit, aber hatten nur ein Herz - geht den Alleinherrscherinnen und Alleinherrschern ab, sobald sie sich von einer Verfassung eingeengt fühlen. Dieser Anspruch, über dem Gesetz zu stehen, ist weiterhin überall auf der Welt zu finden, auch in vermeintlichen Demokratien.
Wir, das Volk, dürfen uns nicht blenden lassen. Weder von leeren Demokratieversprechen noch von Notstandgesetzen, die, einmal eingeführt, oft genug zum Dauerzustand werden.
Der Wert der Gerüste sei zeitlich begrenzt. Am Ende zählt das eigentliche Gebäude, zählt die freie Sicht, der freie Zugang.
Wer unentwegt Wert auf zu viel Ummantelung legt, friert alsbald sogar in Sommernächten.
Konflikte, demokratisch ausgefochten, helfen, sie schaden keiner offenen Gesellschaft.
25. Juli 2020 und 15. April 2019
102.
Für große Bissen des Glücks einen Magen haben. Am Leibe der Gescheutheit ist ein nicht unwichtiger Theil ein großer Magen: denn das Große besteht aus großen Theilen. Große Glücksfälle setzen den nicht in Verlegenheit, der noch größrer würdig ist. Was Manchem schon Ueberfüllung, ist dem Andern noch Hunger. Vielen giebt ein ansehnliches Gericht gleich Unverdaulichkeit, wegen der Kleinheit ihrer Natur, die zu hohen Aemtern weder geboren, noch erzogen ist: ihr Benehmen zeigt danach gleich eine gewisse Säure, die von der unverdienten Ehre aufsteigenden Dämpfe machen ihnen den Kopf schwindlig, wodurch sie an hohen Orten große Gefahr laufen, und sie möchten platzen, weil ihr Glück in ihnen keinen Raum findet. Dagegen zeige der große Mann, daß er noch viel Gelaß für größere Dinge hat und mit besondrer Sorgfalt meide er Alles, was Anzeichen eines kleinen Herzens geben könnte.
Nun gut, Freund, wir könnten diesen Abschnitt als Lob des unendlichen Glücks lesen, als Anerkennung einer Möglichkeit - der Aussicht auf unbeschränktes Vergnügen, was mir serviert wird, dem ich mich hingebe, das meiner gebührt, das ich mir - schließlich besitze ich die Fortune-Kapazität eines Öltankers - bereitwillig einverleibe, bis ich platze. Platze vor Stolz, wohlgemerkt, denn meine Gier, meine Habsucht, sie ist längst nicht gestillt. Ginge es nach mir - dem entfesselten, enthemmten Mir Ihrer Raffgier-Träume - käme noch mehr Glück des Wegs, das ich mir, selbstredend: von keinem Zweifel angekränkelt, also selbstzufrieden, reinpfeifen würde. Interessant, Freund, das Sie diese Sätze im Ego-Universum verweilen lassen. Wie es den anderen geht? Egal. Ob ich teilen sollte? Gleichfalls wurscht. Dass sich damit der von Ihnen propagierte "große Mann" in Wahrheit als kleiner Egomane entpuppt? Belanglos. Ihr Menschenbild gefällt, fraglos, den - und nun spreche ich nur von Männern, da sich Frauen, jedenfalls in meiner Zeit, so gut wie gar nicht in diesem illustren Misanthropenkreis aufhalten - Ihr Menschenbild gefällt den Narzissten und Me-myself- and-I-Psychopathen, die sich reihenweise an der Spitze multinationaler Unternehmen und autokratischer Staaten finden lassen.
Wer normal ist, teilt das Glück mit anderen. Geliebt wird, wer gibt; verachtet, wer, ohne Not, hortet, sich für etwas besseres hält.
Sich zu distinguieren, selbst wenn das Glück freiwillig des Wegs kommt, uns freundlich anspricht, sich unserer Eigenarten annimmt, das, Freund, bewegt Sie? Selbst in solch entzückenden Momenten möchten Sie sich noch unterscheiden? Sollen sich die großen Glückritterinnen und Glücksritter von den kleinen Messeldienerinnen und Messeldienern, die gar nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht vor Überschwang, die schlichtweg platzen könnten vor Duselstolz, hohngrinsend absetzen? Meinen Sie das alles im Ernst, was Sie dort aufgeblasen in die Weltenluft furzend pusten? Von oben herab? Als stünden Sie über den anderen, hielten eine Mahnpredigt und kanzelten uns gut gelaunt ab? Ja, Ihr Standesdünkel hat mit der Hierarchiefinsternis Ihrer Zeit zu tun - andererseits hat 100 Jahre vor Ihnen Erasmus von Rotterdam seine obrigkeitskritischen und aufklärerischen Menschen-werden-nicht-als-Menschen-geboren-sondern-als-solche-erzogen-Schriften veröffentlicht -, wir sprachen darüber, aber eben auch mit Enttäuschung und Kalkül hat Ihre snobistische Hofart zu tun, um nicht gleich zu vermuten: mit dem Charakter, den Sie sich selbst ausgebildet haben; denn dass Sie schon als Kind über das einfache Hochgefühl der anderen Kleinen herablassend gelacht haben, mag ich mir nicht vorstellen.
Wer viel Speichel lecken will, dem tritt man irgendwann auf die Zunge.
22. Juli 2020 und 15. April 2019
Für große Bissen des Glücks einen Magen haben. Am Leibe der Gescheutheit ist ein nicht unwichtiger Theil ein großer Magen: denn das Große besteht aus großen Theilen. Große Glücksfälle setzen den nicht in Verlegenheit, der noch größrer würdig ist. Was Manchem schon Ueberfüllung, ist dem Andern noch Hunger. Vielen giebt ein ansehnliches Gericht gleich Unverdaulichkeit, wegen der Kleinheit ihrer Natur, die zu hohen Aemtern weder geboren, noch erzogen ist: ihr Benehmen zeigt danach gleich eine gewisse Säure, die von der unverdienten Ehre aufsteigenden Dämpfe machen ihnen den Kopf schwindlig, wodurch sie an hohen Orten große Gefahr laufen, und sie möchten platzen, weil ihr Glück in ihnen keinen Raum findet. Dagegen zeige der große Mann, daß er noch viel Gelaß für größere Dinge hat und mit besondrer Sorgfalt meide er Alles, was Anzeichen eines kleinen Herzens geben könnte.
Nun gut, Freund, wir könnten diesen Abschnitt als Lob des unendlichen Glücks lesen, als Anerkennung einer Möglichkeit - der Aussicht auf unbeschränktes Vergnügen, was mir serviert wird, dem ich mich hingebe, das meiner gebührt, das ich mir - schließlich besitze ich die Fortune-Kapazität eines Öltankers - bereitwillig einverleibe, bis ich platze. Platze vor Stolz, wohlgemerkt, denn meine Gier, meine Habsucht, sie ist längst nicht gestillt. Ginge es nach mir - dem entfesselten, enthemmten Mir Ihrer Raffgier-Träume - käme noch mehr Glück des Wegs, das ich mir, selbstredend: von keinem Zweifel angekränkelt, also selbstzufrieden, reinpfeifen würde. Interessant, Freund, das Sie diese Sätze im Ego-Universum verweilen lassen. Wie es den anderen geht? Egal. Ob ich teilen sollte? Gleichfalls wurscht. Dass sich damit der von Ihnen propagierte "große Mann" in Wahrheit als kleiner Egomane entpuppt? Belanglos. Ihr Menschenbild gefällt, fraglos, den - und nun spreche ich nur von Männern, da sich Frauen, jedenfalls in meiner Zeit, so gut wie gar nicht in diesem illustren Misanthropenkreis aufhalten - Ihr Menschenbild gefällt den Narzissten und Me-myself- and-I-Psychopathen, die sich reihenweise an der Spitze multinationaler Unternehmen und autokratischer Staaten finden lassen.
Wer normal ist, teilt das Glück mit anderen. Geliebt wird, wer gibt; verachtet, wer, ohne Not, hortet, sich für etwas besseres hält.
Sich zu distinguieren, selbst wenn das Glück freiwillig des Wegs kommt, uns freundlich anspricht, sich unserer Eigenarten annimmt, das, Freund, bewegt Sie? Selbst in solch entzückenden Momenten möchten Sie sich noch unterscheiden? Sollen sich die großen Glückritterinnen und Glücksritter von den kleinen Messeldienerinnen und Messeldienern, die gar nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht vor Überschwang, die schlichtweg platzen könnten vor Duselstolz, hohngrinsend absetzen? Meinen Sie das alles im Ernst, was Sie dort aufgeblasen in die Weltenluft furzend pusten? Von oben herab? Als stünden Sie über den anderen, hielten eine Mahnpredigt und kanzelten uns gut gelaunt ab? Ja, Ihr Standesdünkel hat mit der Hierarchiefinsternis Ihrer Zeit zu tun - andererseits hat 100 Jahre vor Ihnen Erasmus von Rotterdam seine obrigkeitskritischen und aufklärerischen Menschen-werden-nicht-als-Menschen-geboren-sondern-als-solche-erzogen-Schriften veröffentlicht -, wir sprachen darüber, aber eben auch mit Enttäuschung und Kalkül hat Ihre snobistische Hofart zu tun, um nicht gleich zu vermuten: mit dem Charakter, den Sie sich selbst ausgebildet haben; denn dass Sie schon als Kind über das einfache Hochgefühl der anderen Kleinen herablassend gelacht haben, mag ich mir nicht vorstellen.
Wer viel Speichel lecken will, dem tritt man irgendwann auf die Zunge.
22. Juli 2020 und 15. April 2019
101.
Die eine Hälfte der Welt lacht über die andre, und Narren sind Alle. Jedes ist gut und Jedes ist schlecht; wie es die Stimmen wollen. Was Dieser wünscht, haßt Jener. Ein unerträglicher Narr ist, wer alles nach seinen Begriffen ordnen will. Nicht von Einem Beifall allein hängen die Vollkommenheiten ab. So viele Sinne als Köpfe, und so verschieden. Es giebt keinen Fehler, der nicht seinen Liebhaber fände: auch dürfen wir nicht den Muth verlieren, wenn unsre Sachen Einigen nicht gefallen: denn Andre werden nicht ausbleiben, die sie zu schätzen wissen: aber auch über den Beifall dieser darf man nicht eitel werden; denn wieder Andre werden sie verwerfen. Die Richtschnur der wahren Zufriedenheit ist der Beifall berühmter Männer und die in dieser Gattung eine Stimme haben. Man lebt nicht von Einer Stimme, noch von Einer Mode, noch von Einem Jahrhundert.
Zu den von Ihnen abgöttisch und unkritisch verehrten Männern von Ansehen, los varones de reputación, Freund, habe ich ja schon mehrmals einiges gesagt; mein Widerspruch sei dennoch wiederholt: Ihre Lust am apologetischen Beifall von Männern und nur von Männern finde ich hanebüchen.
Zunächst, blicken wir auf Ihren überaus interessanten Brief, sei vorausgeschickt: Wer es allen recht macht, macht es sich selbst unrecht. Was wiederum nicht heißt, dass es sinnlos ist, mit den Rechtschaffenden, auch wenn sie untereinander zerstritten sind, ein gemeinsames Ziel oder, was schwierig zu sein pflegt, mehrere Absichten zu verfolgen. Spaltet sich vor uns das Gute, sollten wir alles daran setzen, es wieder zu vereinigen. Spaltet sich allerdings das Böse, gibt es zwei Möglichkeiten, wie wir reagieren können. Oftmals lohnt es sich, die Aufteilung des Bösen in zwei sich gegenseitig verabscheuende Fraktionen zu vertiefen, indem wir fließig Öl in die Wunde gießen, um uns das nun geschwächte Böse anschließend nacheinander vorzunehmen und es auszutilgen. Teilt sich das Böse jedoch derart, dass es sich in schlagkräftige kleinere Truppen trennt, hilft, von unserer Seite aus, nur sofortiges Einschreiten, solange das Böse noch an einem Ort anzutreffen ist. Krebs, der streut, sei gefährlicher als ein genau lokalisierbarer Tumor.
Damit zu einer anderen Sache. Kennen Sie das, Freund, wenn Sie sich nicht richtig konzentrieren können, weil Sie, am Tag zuvor, nicht gesagt haben, was Sie sagen wollten? Was wir eigentlich wissen? Weil wir uns und die Wahrheiten - und ich sage bewusst nicht unsere Wahrheiten - zuerst sammeln mussten, obwohl jemand in unserer Anwesenheit vor anderen dreist gelogen hat?
Der Relativismus, vom dem Sie sprechen, die saloppe Idee, dass jede Sache gut und gleichzeitig schlecht sei, dass wir alle irgendwie Narren seien, stimmt ganz und gar nicht. Wahrheiten existieren - genau wie Lügen.
Mein Ich sei stets ein Wir und ein Teil des Du.
21.7.2020 und 14. April 2019
Die eine Hälfte der Welt lacht über die andre, und Narren sind Alle. Jedes ist gut und Jedes ist schlecht; wie es die Stimmen wollen. Was Dieser wünscht, haßt Jener. Ein unerträglicher Narr ist, wer alles nach seinen Begriffen ordnen will. Nicht von Einem Beifall allein hängen die Vollkommenheiten ab. So viele Sinne als Köpfe, und so verschieden. Es giebt keinen Fehler, der nicht seinen Liebhaber fände: auch dürfen wir nicht den Muth verlieren, wenn unsre Sachen Einigen nicht gefallen: denn Andre werden nicht ausbleiben, die sie zu schätzen wissen: aber auch über den Beifall dieser darf man nicht eitel werden; denn wieder Andre werden sie verwerfen. Die Richtschnur der wahren Zufriedenheit ist der Beifall berühmter Männer und die in dieser Gattung eine Stimme haben. Man lebt nicht von Einer Stimme, noch von Einer Mode, noch von Einem Jahrhundert.
Zu den von Ihnen abgöttisch und unkritisch verehrten Männern von Ansehen, los varones de reputación, Freund, habe ich ja schon mehrmals einiges gesagt; mein Widerspruch sei dennoch wiederholt: Ihre Lust am apologetischen Beifall von Männern und nur von Männern finde ich hanebüchen.
Zunächst, blicken wir auf Ihren überaus interessanten Brief, sei vorausgeschickt: Wer es allen recht macht, macht es sich selbst unrecht. Was wiederum nicht heißt, dass es sinnlos ist, mit den Rechtschaffenden, auch wenn sie untereinander zerstritten sind, ein gemeinsames Ziel oder, was schwierig zu sein pflegt, mehrere Absichten zu verfolgen. Spaltet sich vor uns das Gute, sollten wir alles daran setzen, es wieder zu vereinigen. Spaltet sich allerdings das Böse, gibt es zwei Möglichkeiten, wie wir reagieren können. Oftmals lohnt es sich, die Aufteilung des Bösen in zwei sich gegenseitig verabscheuende Fraktionen zu vertiefen, indem wir fließig Öl in die Wunde gießen, um uns das nun geschwächte Böse anschließend nacheinander vorzunehmen und es auszutilgen. Teilt sich das Böse jedoch derart, dass es sich in schlagkräftige kleinere Truppen trennt, hilft, von unserer Seite aus, nur sofortiges Einschreiten, solange das Böse noch an einem Ort anzutreffen ist. Krebs, der streut, sei gefährlicher als ein genau lokalisierbarer Tumor.
Damit zu einer anderen Sache. Kennen Sie das, Freund, wenn Sie sich nicht richtig konzentrieren können, weil Sie, am Tag zuvor, nicht gesagt haben, was Sie sagen wollten? Was wir eigentlich wissen? Weil wir uns und die Wahrheiten - und ich sage bewusst nicht unsere Wahrheiten - zuerst sammeln mussten, obwohl jemand in unserer Anwesenheit vor anderen dreist gelogen hat?
Der Relativismus, vom dem Sie sprechen, die saloppe Idee, dass jede Sache gut und gleichzeitig schlecht sei, dass wir alle irgendwie Narren seien, stimmt ganz und gar nicht. Wahrheiten existieren - genau wie Lügen.
Mein Ich sei stets ein Wir und ein Teil des Du.
21.7.2020 und 14. April 2019
100.
Ein vorurteilsfreier Mann, ein weiser Christ, ein philosophischer Hofmann – seyn, aber nicht scheinen, geschweige affektiren. Die Philosophie ist außer Ansehn gekommen: und doch war sie die höchste Beschäftigung der Weisen. Die Wissenschaft der Denker hat alle Achtung verloren. Seneka führte sie in Rom ein; eine Zeit lang fand sie Gunst bei Hofe: jetzt gilt sie für eine Ungebührlichkeit. Und doch war stets die Aufdeckung des Trugs die Nahrung des denkenden Geistes, die Freude der Rechtschaffenen.
"Die Philosophie", die es eh nicht an sich gibt, es existieren immer miteinander konkurrierende Denkweisen, "die Philosophie", Freund, und das sage ich, obwohl ich mir das Gegenteil wünschte, ist oft genug wenig mehr als ein Feigenblatt, mit dem sich Politikerinnen und Politiker schmücken, wenn's ihnen in den Kram passt. Der Grund? Meines Erachtens sehr einfach: so gut wie keine Partei versteht sich als Alma Mater, als Ort des Austauschs verschiedener Auffassungen, an dem es, trotz der Meinungsverschiedenheiten, freundschaftlich bleibt. Die allermeisten Parteien knüppeln in- wie extern auf alle ein, die sich gegen die Parteidoktrin stellen, die auf Veränderung drängen, da sich die Zeiten geändert haben. Hier steckt der große Unterschied zwischen Philosophie und Ideologie - bei der ersteren wird, ja muss gedacht werden, bei der zweiteren wird, ja darf nicht gedacht werden, jedenfalls nicht gegen den Strom. Wer in einer Partei zu selbstständig ist, wird ausgeschlossen und gründet, häufig, eine neue Partei, die gleichsam abermals zur ideologischen Muckibude wird. Nun lässt sich fragen, warum das so ist. Mir scheint, dass viele von uns eher starrköpfig sind, eher starrköpfigen System vertrauen als flexiblen, obwohl wir andauernd merken, dass eigentlich alles im Fluss ist.
Die Sehnsucht nach Sicherheit kreiert, im schlechtesten Falle, Sturheit, die sich zur Autokratie und Diktatur entwickelt, im Denken wie im Handeln.
Jedes offene System, ist auf Dauer, einem geschlossenen überlegen.
Der Vorteil geschlossener Grenzen sei ein temporärer.
Wer sich zu sicher ist, ist tatsächlich von tiefster Unsicherheit durchdrungen - der Unsicherheit vor dem notwendigen Wandel.
Nun, wie Sie sich denken können, schneiden Sie, erneut, eine Sache in diesem Brief an, die uns doch sehr unterscheidet: Ihre Obrigkeitshudelei; versteckt oder offen, spielt dabei keine Rolle. Anstatt mich, Freund, wozu ich neige, mit Ihrem unsäglichen Standesgehorsam, Ihrer kläglichen Hofgläubigkeit anzulegen, was, zumal in der Wiederholung, wenig bis gar nichts bringt, da ich nicht Ihr Leben leben muss, Sie nicht das meine, will ich - schließlich feiern wir mit dem 100. Austausch auch ein kleines Jubiläum - einen Stoßseufzer der Begeisterung ob des letzten Satzes äußern: Pero siempre el desengaño fue pasto de la prudencia, delicias de la entereza. (Aber Desillusionierung war immer das Ergebnis von Vorsicht, die Freude an der Integrität.) Was Ihr Translator zu Die Aufdeckung des Trugs sei die Nahrung des denkenden Geistes gemacht hat. Ich schwelge, bin, was ich doch will, warum ich mit Ihnen korrespondiere, entzückt und bewegt.
Wer den Betrug erträgt, schleppt sich eilfertig zu Tode.
Die Wahrheit sei die bekömmlichste Nahrung des Verstandes, die Lüge, zumindest zeitweise, die des Herzens.
19. Juli 2020 und 13. April 2019
Ein vorurteilsfreier Mann, ein weiser Christ, ein philosophischer Hofmann – seyn, aber nicht scheinen, geschweige affektiren. Die Philosophie ist außer Ansehn gekommen: und doch war sie die höchste Beschäftigung der Weisen. Die Wissenschaft der Denker hat alle Achtung verloren. Seneka führte sie in Rom ein; eine Zeit lang fand sie Gunst bei Hofe: jetzt gilt sie für eine Ungebührlichkeit. Und doch war stets die Aufdeckung des Trugs die Nahrung des denkenden Geistes, die Freude der Rechtschaffenen.
"Die Philosophie", die es eh nicht an sich gibt, es existieren immer miteinander konkurrierende Denkweisen, "die Philosophie", Freund, und das sage ich, obwohl ich mir das Gegenteil wünschte, ist oft genug wenig mehr als ein Feigenblatt, mit dem sich Politikerinnen und Politiker schmücken, wenn's ihnen in den Kram passt. Der Grund? Meines Erachtens sehr einfach: so gut wie keine Partei versteht sich als Alma Mater, als Ort des Austauschs verschiedener Auffassungen, an dem es, trotz der Meinungsverschiedenheiten, freundschaftlich bleibt. Die allermeisten Parteien knüppeln in- wie extern auf alle ein, die sich gegen die Parteidoktrin stellen, die auf Veränderung drängen, da sich die Zeiten geändert haben. Hier steckt der große Unterschied zwischen Philosophie und Ideologie - bei der ersteren wird, ja muss gedacht werden, bei der zweiteren wird, ja darf nicht gedacht werden, jedenfalls nicht gegen den Strom. Wer in einer Partei zu selbstständig ist, wird ausgeschlossen und gründet, häufig, eine neue Partei, die gleichsam abermals zur ideologischen Muckibude wird. Nun lässt sich fragen, warum das so ist. Mir scheint, dass viele von uns eher starrköpfig sind, eher starrköpfigen System vertrauen als flexiblen, obwohl wir andauernd merken, dass eigentlich alles im Fluss ist.
Die Sehnsucht nach Sicherheit kreiert, im schlechtesten Falle, Sturheit, die sich zur Autokratie und Diktatur entwickelt, im Denken wie im Handeln.
Jedes offene System, ist auf Dauer, einem geschlossenen überlegen.
Der Vorteil geschlossener Grenzen sei ein temporärer.
Wer sich zu sicher ist, ist tatsächlich von tiefster Unsicherheit durchdrungen - der Unsicherheit vor dem notwendigen Wandel.
Nun, wie Sie sich denken können, schneiden Sie, erneut, eine Sache in diesem Brief an, die uns doch sehr unterscheidet: Ihre Obrigkeitshudelei; versteckt oder offen, spielt dabei keine Rolle. Anstatt mich, Freund, wozu ich neige, mit Ihrem unsäglichen Standesgehorsam, Ihrer kläglichen Hofgläubigkeit anzulegen, was, zumal in der Wiederholung, wenig bis gar nichts bringt, da ich nicht Ihr Leben leben muss, Sie nicht das meine, will ich - schließlich feiern wir mit dem 100. Austausch auch ein kleines Jubiläum - einen Stoßseufzer der Begeisterung ob des letzten Satzes äußern: Pero siempre el desengaño fue pasto de la prudencia, delicias de la entereza. (Aber Desillusionierung war immer das Ergebnis von Vorsicht, die Freude an der Integrität.) Was Ihr Translator zu Die Aufdeckung des Trugs sei die Nahrung des denkenden Geistes gemacht hat. Ich schwelge, bin, was ich doch will, warum ich mit Ihnen korrespondiere, entzückt und bewegt.
Wer den Betrug erträgt, schleppt sich eilfertig zu Tode.
Die Wahrheit sei die bekömmlichste Nahrung des Verstandes, die Lüge, zumindest zeitweise, die des Herzens.
19. Juli 2020 und 13. April 2019
99.
Wirklichkeit und Schein. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind; sondern für das, was sie scheinen. Selten sind die, welche ins Innere schauen, und Viele die, welche sich an den Schein halten. Recht zu haben, reicht nicht aus; wenn mit dem Schein der Arglist.
Nun, Freund, dies ist ein interessanter Abschnitt, der bereits im Ton um einiges von den meisten Ihrer Punkte abweicht. Ihre Einsicht ist, wahrscheinlich, hart erkauft - und viele von uns, die Vergnügen am Denken haben, teilen Ihre Reserviertheit, um nicht gleich Abscheu zu sagen, sowohl vor der Menge, die sich bereitwillig blenden lässt, als auch vor denjenigen Männern und Frauen, die es verstehen, ein Gebäude zu errichten, das nur aus einer Fassade besteht, von dem sie allerdings behaupten, in ihm ließe sich wunderbar leben.
Doch es ist noch bemerkenswerter, wie Sie mit den Dingen an sich umgehen. Sie schreiben den Sachen, den Angelegenheiten wohl auch, einen echten Kern zu, was, zweifelsohne, bei einigen Dingen zutreffen mag, aber die Hermeneutik hat uns doch gelehrt, dass wir, die etwas beurteilen, zu einer maßgeblichen Verschiebung der Wahrnehmung dieser Dinge führen. Es ist unmöglich, neutral zu sein, wir können und wir müssen, was der Knackpunkt ist, wir müssen kritisch mit uns selbst, unserer Perspektive, und gleichzeitig kritisch mit den Dingen bleiben.
Wer allein urteilt, macht mehr Fehler als diejenigen, die mit anderen zusammen Urteile fällen.
Wandel sei, innen wie außen, die einzige Konstanz.
Sophistisch, Freund, ließe sich etwa ein Hin-und-Wider über das Wesen des Lampenscheins anfangen. Was ist Licht? Ein Anschein, der vergeht, wenn die Kerze abgebrannt oder die Lampe ausgeschaltet ist?
Ist das Anscheinende - folglich das Nicht-So oder das Noch-nicht-So, denn im Anscheinenden steckt, wenigstens für mich, stets die Möglichkeit des echten Lichts, sagen wir: in der sehr frühen Morgendämmerung, wenn sich der Himmel blaufärbt, die Sonne aber noch nicht in unseren Breiten ihr Haupt gehoben hat -, ist das Anscheinende nicht gelegentlich(t) die strahlendere Quelle, deren enorme Befähigung in der potentiellen Tauglichkeit, was andere Unwirklichkeit nennen könnten, liegt?
Gewiss, bei Ihnen dreht's sich, wieder mal, um die Arglist und das hausbackene Verkennen der - nun benutze ich ein wichtiges Beiwort, das Ihr Translator bislang vermieden hat - authentischen Dinge. Jenes Was-sie-sind, also die Authentizität der Dinge, macht mich seit jeher unruhig. Den Dingen, wie's so schön heißt, auf den Grund zu gehen, dabei ohne Geländer zu denken, wie es Hannah Arendt nennt, sei fraglos ein wagemutiges Unterfangen, dessen Kraft- und elendige Zeitrauberei wir nicht unterschätzen sollten. Zwar lockt einerseits Erkenntnisgewinn, der sehr wohl auch im Scheitern steckt, andererseits droht eben genauso der Verlust an Ist-Teilhabe.
Sie merken, ich schwanke, trotze der Kritik, die zwar vernünftig ist, aber mir nicht schmeckt. Immer schon schwanke ich, ob das Glück der großzügigen Oberflächlichkeit, welches viele zufrieden und auf Dauer heiter macht, vielleicht der unendlichen Untersuchung des Kleinteiligen vorzuziehen wäre.
Wäre es nicht besser, einfach zu leben, als schreibend dem Komplizierten fast auf den Grund zu gehen? Ist das Tun nicht erfüllender als, um den Schreibprozess, der doch stets ein Simulacrum ist, nicht zu überhöhen, um ihn mit einem wenig schmeichelhaften Term zu greifen, ist das Tun nicht häufig genug, erfüllender als das So-Tun-Als-Ob?
Ich habe, ehrlich, keine Ahnung und fühle doch - und ich sage das, um das etwas zu neblige Register zu wechseln - beim körperlichen Vergessen, in den Armen der anderen, eine unmittelbare Sinnhaftigkeit, die mich, wenigstens kurzfristig, zu einem frohen Menschen macht.
Was ist, sei nicht für uns, sondern sei für sich. Ist es nur für uns, sei es kein Ding, sondern Teil des Subjektiven.
Wer das Objektive sucht, findet sich, im besten Fall, selbst.
16. Juli 2020 und 13. April 2019
Wirklichkeit und Schein. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind; sondern für das, was sie scheinen. Selten sind die, welche ins Innere schauen, und Viele die, welche sich an den Schein halten. Recht zu haben, reicht nicht aus; wenn mit dem Schein der Arglist.
Nun, Freund, dies ist ein interessanter Abschnitt, der bereits im Ton um einiges von den meisten Ihrer Punkte abweicht. Ihre Einsicht ist, wahrscheinlich, hart erkauft - und viele von uns, die Vergnügen am Denken haben, teilen Ihre Reserviertheit, um nicht gleich Abscheu zu sagen, sowohl vor der Menge, die sich bereitwillig blenden lässt, als auch vor denjenigen Männern und Frauen, die es verstehen, ein Gebäude zu errichten, das nur aus einer Fassade besteht, von dem sie allerdings behaupten, in ihm ließe sich wunderbar leben.
Doch es ist noch bemerkenswerter, wie Sie mit den Dingen an sich umgehen. Sie schreiben den Sachen, den Angelegenheiten wohl auch, einen echten Kern zu, was, zweifelsohne, bei einigen Dingen zutreffen mag, aber die Hermeneutik hat uns doch gelehrt, dass wir, die etwas beurteilen, zu einer maßgeblichen Verschiebung der Wahrnehmung dieser Dinge führen. Es ist unmöglich, neutral zu sein, wir können und wir müssen, was der Knackpunkt ist, wir müssen kritisch mit uns selbst, unserer Perspektive, und gleichzeitig kritisch mit den Dingen bleiben.
Wer allein urteilt, macht mehr Fehler als diejenigen, die mit anderen zusammen Urteile fällen.
Wandel sei, innen wie außen, die einzige Konstanz.
Sophistisch, Freund, ließe sich etwa ein Hin-und-Wider über das Wesen des Lampenscheins anfangen. Was ist Licht? Ein Anschein, der vergeht, wenn die Kerze abgebrannt oder die Lampe ausgeschaltet ist?
Ist das Anscheinende - folglich das Nicht-So oder das Noch-nicht-So, denn im Anscheinenden steckt, wenigstens für mich, stets die Möglichkeit des echten Lichts, sagen wir: in der sehr frühen Morgendämmerung, wenn sich der Himmel blaufärbt, die Sonne aber noch nicht in unseren Breiten ihr Haupt gehoben hat -, ist das Anscheinende nicht gelegentlich(t) die strahlendere Quelle, deren enorme Befähigung in der potentiellen Tauglichkeit, was andere Unwirklichkeit nennen könnten, liegt?
Gewiss, bei Ihnen dreht's sich, wieder mal, um die Arglist und das hausbackene Verkennen der - nun benutze ich ein wichtiges Beiwort, das Ihr Translator bislang vermieden hat - authentischen Dinge. Jenes Was-sie-sind, also die Authentizität der Dinge, macht mich seit jeher unruhig. Den Dingen, wie's so schön heißt, auf den Grund zu gehen, dabei ohne Geländer zu denken, wie es Hannah Arendt nennt, sei fraglos ein wagemutiges Unterfangen, dessen Kraft- und elendige Zeitrauberei wir nicht unterschätzen sollten. Zwar lockt einerseits Erkenntnisgewinn, der sehr wohl auch im Scheitern steckt, andererseits droht eben genauso der Verlust an Ist-Teilhabe.
Sie merken, ich schwanke, trotze der Kritik, die zwar vernünftig ist, aber mir nicht schmeckt. Immer schon schwanke ich, ob das Glück der großzügigen Oberflächlichkeit, welches viele zufrieden und auf Dauer heiter macht, vielleicht der unendlichen Untersuchung des Kleinteiligen vorzuziehen wäre.
Wäre es nicht besser, einfach zu leben, als schreibend dem Komplizierten fast auf den Grund zu gehen? Ist das Tun nicht erfüllender als, um den Schreibprozess, der doch stets ein Simulacrum ist, nicht zu überhöhen, um ihn mit einem wenig schmeichelhaften Term zu greifen, ist das Tun nicht häufig genug, erfüllender als das So-Tun-Als-Ob?
Ich habe, ehrlich, keine Ahnung und fühle doch - und ich sage das, um das etwas zu neblige Register zu wechseln - beim körperlichen Vergessen, in den Armen der anderen, eine unmittelbare Sinnhaftigkeit, die mich, wenigstens kurzfristig, zu einem frohen Menschen macht.
Was ist, sei nicht für uns, sondern sei für sich. Ist es nur für uns, sei es kein Ding, sondern Teil des Subjektiven.
Wer das Objektive sucht, findet sich, im besten Fall, selbst.
16. Juli 2020 und 13. April 2019
98.
Sein Wollen nur in Ziffernschrift. Die Leidenschaften sind die Pforten der Seele. Das praktischeste Wissen besteht in der Verstellungskunst. Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr zu verlieren. Die Zurückhaltung des Vorsichtigen kämpfe gegen das Aufpassen des Forschenden: gegen Luchse an Spürgeist, Tintenfische an Verstecktheit. Selbst unsern Geschmack darf Keiner kennen: damit man ihm nicht begegne, entweder durch Widerspruch oder durch Schmeichelei.
Es kommt Ihnen, Freund, hier auf die Nicht-Begegnung an. Sie umhüllen Ihr Wesen mit falschen Angaben, um die Vorgabe des Lebens - mit anderen zu sein - bewältigen zu können. Gewiss, so könnten wir leben. Aber dürfen wir das Leben nennen? Die ewige Lüge macht die Wahrheit zur ewigen Fremde, ein Ziel, das uns, außen wie innen, verborgen bleibt, eine Zuflucht, die wir niemals kennen werden. Denn wer außen lügt, spricht auch in sich selbst nicht die Wahrheit. Die Lüge? Sie wird zum Gewohnheitstier, das wir nicht reiten, sondern das uns den Sattel der Verstellung auflegt und mit seinen unaufrichtigen Sporen unsere Gedanken, Träume und Hoffnungen bearbeitet. Lügen haben eine Allmacht, die wir nicht unterschätzen sollten. Fangen wir mit ihnen Geselligkeit an, fangen sie uns auf immer ein, meistern uns - um genau zu sein - auf Gedeih und Verderb.
Lügen scheinen zeitlos, bis sie sich als das entlarven, was sie tatsächlich sind: Zerstörer der eigentlichen Zeit, der wahren Stunde.
Wer mit verdeckten Karten spielt, läuft Gefahr, in einer Kreuzbubediktatur aufzuwachen. Freund, es dürfte Sie überraschen, aber in den letzten Jahrhunderten haben sich Menschen zu Parteien zusammengetan und Farbe bekannt. In einer Demokratie sind die Einzelnen gemeinsam stark. Allerdings: man muss sich engagieren, eine Meinung entwickeln, mit den Vorlieben hausieren gehen. Spätestens in der Wahlkabine. Was, meines Erachtens, nicht reicht, um eine Demokratie wachzuhalten; aber die Teilhabe an der würdigsten aller politischen Systeme, eines Systems, das selbstverständlcih Fehler kennt, ist ein anderes Thema, ein weites, ein schwer zu beackerndes Feld.
Disput sei die demokratische Währung, der Kompromiss das gemeinsam geschaffene Produkt, dessen Früchte zusammen geerntet und egalitär geteilt werden.
Den Raubtierkapitalistinnen und Raubtierkapitalisten, die eine Sache sagen, eine andere machen, die nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen, legt man in demokratischen Staaten Fesseln an. Steuergesetze zwingen sie, ihre Gewinne offenzulegen, Arbeiterrechte nehmen die Unternehmerinnen und Unternehmer in die verbindliche Pflicht, sich mit Gewerkschaften an einen Tisch zu setzen und fürderhin die Konditionen auszuhandeln. Gewiss, es gab, gibt und wird immer Schurkinnen und Schurken geben, die Vorschriften unterlaufen wollen.
Steuerhinterziehung ist ein Spiel, das den Verstellungskünstlerinnen und Verstellungskünstlern, die Sie so bewundern, gefallen hätte. Doch der Preis, den man zahlt, wird man beim Abzocken erwischt, ist hoch. Neben Geld- und Gefängnisstrafen haftet auch der Fäulnisgeruch des Asozialen an den Betrügerinnen und Betrügern, die sich in ehrenhafter Gesellschaft nicht mehr ungestört bewegen können. Dass es Biotope, wie Münchner Fußballvereine oder Hamburger Rockerclubs, gibt, wo das weiterhin möglich ist, sagt mehr über diese Organisationen als über eine Demokratie aus.
Wer nur an sich denkt, findet keine gütige Gegenliebe, sondern gleichgültige Raffgier.
Im Egoismus haust die schlimmste Einsamkeit.
Zu teilen, heißt, frei zu atmen. Zu horten, heißt, zu ersticken.
Allein in der Kunst sei das Geheimnis vonnöten. Wer hier alles sagt und alles gibt, ergibt sich dem Markt.
4. Juli 2020 und 12. April 2019
Sein Wollen nur in Ziffernschrift. Die Leidenschaften sind die Pforten der Seele. Das praktischeste Wissen besteht in der Verstellungskunst. Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr zu verlieren. Die Zurückhaltung des Vorsichtigen kämpfe gegen das Aufpassen des Forschenden: gegen Luchse an Spürgeist, Tintenfische an Verstecktheit. Selbst unsern Geschmack darf Keiner kennen: damit man ihm nicht begegne, entweder durch Widerspruch oder durch Schmeichelei.
Es kommt Ihnen, Freund, hier auf die Nicht-Begegnung an. Sie umhüllen Ihr Wesen mit falschen Angaben, um die Vorgabe des Lebens - mit anderen zu sein - bewältigen zu können. Gewiss, so könnten wir leben. Aber dürfen wir das Leben nennen? Die ewige Lüge macht die Wahrheit zur ewigen Fremde, ein Ziel, das uns, außen wie innen, verborgen bleibt, eine Zuflucht, die wir niemals kennen werden. Denn wer außen lügt, spricht auch in sich selbst nicht die Wahrheit. Die Lüge? Sie wird zum Gewohnheitstier, das wir nicht reiten, sondern das uns den Sattel der Verstellung auflegt und mit seinen unaufrichtigen Sporen unsere Gedanken, Träume und Hoffnungen bearbeitet. Lügen haben eine Allmacht, die wir nicht unterschätzen sollten. Fangen wir mit ihnen Geselligkeit an, fangen sie uns auf immer ein, meistern uns - um genau zu sein - auf Gedeih und Verderb.
Lügen scheinen zeitlos, bis sie sich als das entlarven, was sie tatsächlich sind: Zerstörer der eigentlichen Zeit, der wahren Stunde.
Wer mit verdeckten Karten spielt, läuft Gefahr, in einer Kreuzbubediktatur aufzuwachen. Freund, es dürfte Sie überraschen, aber in den letzten Jahrhunderten haben sich Menschen zu Parteien zusammengetan und Farbe bekannt. In einer Demokratie sind die Einzelnen gemeinsam stark. Allerdings: man muss sich engagieren, eine Meinung entwickeln, mit den Vorlieben hausieren gehen. Spätestens in der Wahlkabine. Was, meines Erachtens, nicht reicht, um eine Demokratie wachzuhalten; aber die Teilhabe an der würdigsten aller politischen Systeme, eines Systems, das selbstverständlcih Fehler kennt, ist ein anderes Thema, ein weites, ein schwer zu beackerndes Feld.
Disput sei die demokratische Währung, der Kompromiss das gemeinsam geschaffene Produkt, dessen Früchte zusammen geerntet und egalitär geteilt werden.
Den Raubtierkapitalistinnen und Raubtierkapitalisten, die eine Sache sagen, eine andere machen, die nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen, legt man in demokratischen Staaten Fesseln an. Steuergesetze zwingen sie, ihre Gewinne offenzulegen, Arbeiterrechte nehmen die Unternehmerinnen und Unternehmer in die verbindliche Pflicht, sich mit Gewerkschaften an einen Tisch zu setzen und fürderhin die Konditionen auszuhandeln. Gewiss, es gab, gibt und wird immer Schurkinnen und Schurken geben, die Vorschriften unterlaufen wollen.
Steuerhinterziehung ist ein Spiel, das den Verstellungskünstlerinnen und Verstellungskünstlern, die Sie so bewundern, gefallen hätte. Doch der Preis, den man zahlt, wird man beim Abzocken erwischt, ist hoch. Neben Geld- und Gefängnisstrafen haftet auch der Fäulnisgeruch des Asozialen an den Betrügerinnen und Betrügern, die sich in ehrenhafter Gesellschaft nicht mehr ungestört bewegen können. Dass es Biotope, wie Münchner Fußballvereine oder Hamburger Rockerclubs, gibt, wo das weiterhin möglich ist, sagt mehr über diese Organisationen als über eine Demokratie aus.
Wer nur an sich denkt, findet keine gütige Gegenliebe, sondern gleichgültige Raffgier.
Im Egoismus haust die schlimmste Einsamkeit.
Zu teilen, heißt, frei zu atmen. Zu horten, heißt, zu ersticken.
Allein in der Kunst sei das Geheimnis vonnöten. Wer hier alles sagt und alles gibt, ergibt sich dem Markt.
4. Juli 2020 und 12. April 2019
97.
Ruf erlangen und behaupten: es ist die Benutzung der Fama. Der Ruf ist schwer zu erlangen: denn er entsteht nur aus ausgezeichneten Eigenschaften: und diese sind so selten, als die mittelmäßigen häufig. Einmal erlangt aber, erhält er sich leicht. Er legt Verbindlichkeiten auf; aber er wirkt noch mehr. Geht er, wegen der Erhabenheit seiner Ursache und seiner Sphäre, bis zur Verehrung; so verleiht er uns eine Art Majestät. Jedoch ist nur der wirklich gegründete Ruf von unvergänglicher Dauer.
Nun gut, Freund, bevor ich mich vielleicht mit den unleidlichen Hoheitsgedanken beschäftige, obwohl mich Ihre "majestätitsche" Speichelleckerei langweilt, sei auf etwas hingewiesen, was uns, im ersten Angang, leicht entgleiten mag, wenn wir das Wort "Ruf" hören. Im "Ruf" liegt doch immer das Angesprochenwerden. Wir werden gerufen, im Falle des Falles sogar zum Ort eines Unglücks, um zu helfen. Den Ruf als Sonnenschein-Moment zu empfinden, der unsere Wirklichkeit übersteigt, uns vorauseilt, uns einen Namen verschafft, finde ich eine magere Interpretation. Dass Renomee, welches uns nur schmeichelt, aus dem wir keinerlei Verantwortung sowohl ableiten als auch ergreifen, ist ein stumpfes Schwert. Eitle Prestigehuldigungen sind eine Belastung für jeden wohlmeinenden Menschen. Wer Sachen unternimmt, um hofiert und umworben zu werden, interessiert sich, in Wahrheit, meistens nur für eine einzige Person: sich selbst.
Talent, das allein mit sich selbst beschäftigt ist, ist an sich arbeitslos.
Erst wer für andere da ist, existiert.
Manchmal, Freund, fällt es uns nicht nur schwer, einen Ruf zu erlangen, manchmal fällt es uns gar nicht auf, wenn wir ihn schier überhören. Sei er gut oder schlecht. Denn auch das, um auf letzteres zu kommen, was Sie diesmal nicht ansprechen, ist sowohl möglich als auch, im Allgemeinen, häufiger der Fall: dass uns ein übler Ruf vorauseilt, von dem wir nichts ahnen oder nichts wissen wollen. Die Verleumdung und der Ruf gehen gerne Hand in Hand. Sich gegen den argen Leumund zur Wehr zu setzen, kann zur Lebensaufgabe werden und so viel Kraft kosten, dass wir im Kampf gegen den Rufmord alle unsere Energie für die guten Taten einbüßen, um am Ende, verbittert und gallig, womöglich tatsächlich unserem Zerrbild zu entsprechen, das Übelwollende von uns in die Welt gesetzt haben.
Bleibt, tief in mir, das Wundern, warum wir, häufig, eher dem schlechten als dem guten Ruf vertrauen. Hat's mit dem Wissen um unsere Unzulänglichkeiten zu tun, die uns nur zu wohlbekannt sind? Heutzutage kommt noch erschwerend hinzu, dass sich alles, das Positive wie das Negative, im Netz verfängt und sich um uns als Ballast schlingt. Wir schleppen, für andere sofort prüfbar, einen unsichtbaren Nichtrettungsring mit uns herum, der entweder zeigt, wer wir sind, oder, was auch unangenehm ist, wer wir nicht sind. Unsere vermeintlichen Errungenschaften sind abrufbar. Wie verborgene Tätowierungen geben Wikipedia & Co. als eine Art Palimpsest über uns Auskunft oder, was beinahe noch mehr erschreckt, auch nicht.
Haben wir unseren Netzruf geschützt, haben wir keinen zu verlieren. Mithin - eine absurde Folge der Unauffindbarkeit - existieren wir nicht und werden für bestimmte Kreise augen-klicklich zur Persona non grata.
Und auch die unergründliche Reputation, deren Vergänglichkeit ehedem garantiert gewesen war, irgendwann hatte eben jede Schmierkampagne an Schwung verloren, ist derzeit hartnäckig auf Ewigkeit aus: einmal aus falschen oder richtigen Gründen geteert und gefedert zu werden, garantiert, dass der Schmutz und der Hass an uns kleben bleiben. Sich zu wehren, warum das niemand versucht?, höre ich Sie fragen. Es ist eine Sisyphusarbeit. Haben wir den Gipfel mit der klaren Luft halbwegs erreicht, reißt uns die nächste Schmutzlawine samt Steingepäck schon wieder ins Jauchen(digi)tal.
Ist die Dummheit Legion, steht die Vernunft auf verlorenem Posten - und hat nur die Wahl, sich zurückzuziehen oder stoisch unterzugehen. Beides schwierige Unterfangen.
3. Juli 2020 und 12. April 2019
Ruf erlangen und behaupten: es ist die Benutzung der Fama. Der Ruf ist schwer zu erlangen: denn er entsteht nur aus ausgezeichneten Eigenschaften: und diese sind so selten, als die mittelmäßigen häufig. Einmal erlangt aber, erhält er sich leicht. Er legt Verbindlichkeiten auf; aber er wirkt noch mehr. Geht er, wegen der Erhabenheit seiner Ursache und seiner Sphäre, bis zur Verehrung; so verleiht er uns eine Art Majestät. Jedoch ist nur der wirklich gegründete Ruf von unvergänglicher Dauer.
Nun gut, Freund, bevor ich mich vielleicht mit den unleidlichen Hoheitsgedanken beschäftige, obwohl mich Ihre "majestätitsche" Speichelleckerei langweilt, sei auf etwas hingewiesen, was uns, im ersten Angang, leicht entgleiten mag, wenn wir das Wort "Ruf" hören. Im "Ruf" liegt doch immer das Angesprochenwerden. Wir werden gerufen, im Falle des Falles sogar zum Ort eines Unglücks, um zu helfen. Den Ruf als Sonnenschein-Moment zu empfinden, der unsere Wirklichkeit übersteigt, uns vorauseilt, uns einen Namen verschafft, finde ich eine magere Interpretation. Dass Renomee, welches uns nur schmeichelt, aus dem wir keinerlei Verantwortung sowohl ableiten als auch ergreifen, ist ein stumpfes Schwert. Eitle Prestigehuldigungen sind eine Belastung für jeden wohlmeinenden Menschen. Wer Sachen unternimmt, um hofiert und umworben zu werden, interessiert sich, in Wahrheit, meistens nur für eine einzige Person: sich selbst.
Talent, das allein mit sich selbst beschäftigt ist, ist an sich arbeitslos.
Erst wer für andere da ist, existiert.
Manchmal, Freund, fällt es uns nicht nur schwer, einen Ruf zu erlangen, manchmal fällt es uns gar nicht auf, wenn wir ihn schier überhören. Sei er gut oder schlecht. Denn auch das, um auf letzteres zu kommen, was Sie diesmal nicht ansprechen, ist sowohl möglich als auch, im Allgemeinen, häufiger der Fall: dass uns ein übler Ruf vorauseilt, von dem wir nichts ahnen oder nichts wissen wollen. Die Verleumdung und der Ruf gehen gerne Hand in Hand. Sich gegen den argen Leumund zur Wehr zu setzen, kann zur Lebensaufgabe werden und so viel Kraft kosten, dass wir im Kampf gegen den Rufmord alle unsere Energie für die guten Taten einbüßen, um am Ende, verbittert und gallig, womöglich tatsächlich unserem Zerrbild zu entsprechen, das Übelwollende von uns in die Welt gesetzt haben.
Bleibt, tief in mir, das Wundern, warum wir, häufig, eher dem schlechten als dem guten Ruf vertrauen. Hat's mit dem Wissen um unsere Unzulänglichkeiten zu tun, die uns nur zu wohlbekannt sind? Heutzutage kommt noch erschwerend hinzu, dass sich alles, das Positive wie das Negative, im Netz verfängt und sich um uns als Ballast schlingt. Wir schleppen, für andere sofort prüfbar, einen unsichtbaren Nichtrettungsring mit uns herum, der entweder zeigt, wer wir sind, oder, was auch unangenehm ist, wer wir nicht sind. Unsere vermeintlichen Errungenschaften sind abrufbar. Wie verborgene Tätowierungen geben Wikipedia & Co. als eine Art Palimpsest über uns Auskunft oder, was beinahe noch mehr erschreckt, auch nicht.
Haben wir unseren Netzruf geschützt, haben wir keinen zu verlieren. Mithin - eine absurde Folge der Unauffindbarkeit - existieren wir nicht und werden für bestimmte Kreise augen-klicklich zur Persona non grata.
Und auch die unergründliche Reputation, deren Vergänglichkeit ehedem garantiert gewesen war, irgendwann hatte eben jede Schmierkampagne an Schwung verloren, ist derzeit hartnäckig auf Ewigkeit aus: einmal aus falschen oder richtigen Gründen geteert und gefedert zu werden, garantiert, dass der Schmutz und der Hass an uns kleben bleiben. Sich zu wehren, warum das niemand versucht?, höre ich Sie fragen. Es ist eine Sisyphusarbeit. Haben wir den Gipfel mit der klaren Luft halbwegs erreicht, reißt uns die nächste Schmutzlawine samt Steingepäck schon wieder ins Jauchen(digi)tal.
Ist die Dummheit Legion, steht die Vernunft auf verlorenem Posten - und hat nur die Wahl, sich zurückzuziehen oder stoisch unterzugehen. Beides schwierige Unterfangen.
3. Juli 2020 und 12. April 2019
96.
Die große Obhut seiner selbst. Sie ist der Thron der Vernunft, die Grundlage der Vorsicht und durch sie gelingt Alles leicht. Sie ist eine Gabe des Himmels, und als die erste und größte, die wünschenswerteste. Sie ist das Hauptstück der Rüstung und von so großer Wichtigkeit, daß die Abwesenheit keines andern den Mann unvollständig macht, sondern nur als ein Mehr oder Minder bemerkt wird. Alle Handlungen des Lebens hängen von ihrem Einfluß ab, und sie ist zu allen erfordert: denn Alles muß mit Verstand geschehn. Sie besteht in einem natürlichen Hange zu Allem, was der Vernunft am angemessensten ist, wodurch man bei allen Fällen das Richtigste ergreift.
Ja, Freund, die Gabe des Himmels - das ist die Obhut, es dürfte Sie kaum überraschen, für mich selbstverständlich nicht. Der Himmel stiftet Regen und Schnee, Hagel und Sonnenschein; das war's dann allerdings auch schon. Fürsorge hat er nicht im Angebot, einen Schutz und Schirm für die Vernunft auch nicht. Das Akzidens, welches den himmlischen Gaben eigen ist, sei den Resultaten der Vernunft fremd. Die Wahrheit der Vernunft - nun folge ich Leibniz - ist frei von Zufälligkeiten, ganz und gar nicht der Kontingenz eines wie auch immer gearteten Glaubens verpflichtet.
Wer sich einer Religion verschreibt, öffnet sich dem Diktat der Unvernunft.
Und dennoch, es sei gesagt, trotz der Kritik, mit der ich in die Tür falle: wie ich diesen Abschnitt tief in mein Fleisch schneiden fühle! Nur anzufangen, was wir vernünftig durchdacht haben, uns selbst, um Ihren Terminus technicus leicht abzuwandeln, Obdacht vor den Fährnissen des Daseins zu geben, wie erstrebens- und lobenswert das wäre! Allein, ich strauchele unablässig, ecke an, verfange mich in den Wirrnissen, den sattsam bekannten, manchmal unmöglichen Begehrlichkeiten, träume hier- und davon, wünsche mir, um ein Beispiel zu geben, die Jugend zurück, ohne doch auf den zusammengerafften Leseschatz verzichten zu wollen. Noch ein Bekenntnis gestatte ich mir, mit denen kennen Sie sich ja vermutlich aus, in Ihrer Zeit müssen Sie im Beichtstuhl allerlei Ungeheuerlichkeiten gehört haben, ich fühle mich, was ich selten an die Oberfläche lasse, Freund, was aber wie ein Geysir in mir brodelt, vom Betrieb, wie ich die Schriftwerkerei nennen möchte, unbekümmert abgestempelt. Der literarische Betrieb denkt zu Beginn, was ich verstehe, und, was ich weniger begreife, wiederum ebenfalls am Ende ausschließlich ans Erscheinungsbild. Der Mittelteil, wie der Inhalt auch genannt werden könnte, hat zwar seinen Platz, einen Ehrenplatz sogar, muss sich diesen aber zunächst, den Erscheinungsnebel entschlossen durchwatend, erobern. Das Manöver, was anderen anscheinend spielend gelingt, liegt außerhalb meiner nautischen Kunst. Ich reise, um's anders zu formulieren, stets dahin, wohin mich die Seh(n)sucht drängt, nicht in die mir wiederholt angebotenen sicheren Häfen. Ich schreibe, was ich lesen möchte. Meine Schuld, sagen Sie. Ja, das stimmt. Doch genug davon, ich will uns nicht langweilen. Jeremiaden sind angesichts des Vergnügens, denken zu dürfen, eh nicht meine Sache.
Wer sich selbst genügt, lebt, grundsätzlich, mit der Rüge, eine Eigenbrötlerin oder ein Eigenbrötler zu sein. Dass die Backwaren unverkäuflich sind, sagt andererseits wenig über ihre Eigenschaften aus.
Sich weit in die Kurve zu legen, schafft Raum für andere, die den geraden Pfad gehen wollen.
Geschrieben am 2. Juli 2020 und am 11. April 2019
Die große Obhut seiner selbst. Sie ist der Thron der Vernunft, die Grundlage der Vorsicht und durch sie gelingt Alles leicht. Sie ist eine Gabe des Himmels, und als die erste und größte, die wünschenswerteste. Sie ist das Hauptstück der Rüstung und von so großer Wichtigkeit, daß die Abwesenheit keines andern den Mann unvollständig macht, sondern nur als ein Mehr oder Minder bemerkt wird. Alle Handlungen des Lebens hängen von ihrem Einfluß ab, und sie ist zu allen erfordert: denn Alles muß mit Verstand geschehn. Sie besteht in einem natürlichen Hange zu Allem, was der Vernunft am angemessensten ist, wodurch man bei allen Fällen das Richtigste ergreift.
Ja, Freund, die Gabe des Himmels - das ist die Obhut, es dürfte Sie kaum überraschen, für mich selbstverständlich nicht. Der Himmel stiftet Regen und Schnee, Hagel und Sonnenschein; das war's dann allerdings auch schon. Fürsorge hat er nicht im Angebot, einen Schutz und Schirm für die Vernunft auch nicht. Das Akzidens, welches den himmlischen Gaben eigen ist, sei den Resultaten der Vernunft fremd. Die Wahrheit der Vernunft - nun folge ich Leibniz - ist frei von Zufälligkeiten, ganz und gar nicht der Kontingenz eines wie auch immer gearteten Glaubens verpflichtet.
Wer sich einer Religion verschreibt, öffnet sich dem Diktat der Unvernunft.
Und dennoch, es sei gesagt, trotz der Kritik, mit der ich in die Tür falle: wie ich diesen Abschnitt tief in mein Fleisch schneiden fühle! Nur anzufangen, was wir vernünftig durchdacht haben, uns selbst, um Ihren Terminus technicus leicht abzuwandeln, Obdacht vor den Fährnissen des Daseins zu geben, wie erstrebens- und lobenswert das wäre! Allein, ich strauchele unablässig, ecke an, verfange mich in den Wirrnissen, den sattsam bekannten, manchmal unmöglichen Begehrlichkeiten, träume hier- und davon, wünsche mir, um ein Beispiel zu geben, die Jugend zurück, ohne doch auf den zusammengerafften Leseschatz verzichten zu wollen. Noch ein Bekenntnis gestatte ich mir, mit denen kennen Sie sich ja vermutlich aus, in Ihrer Zeit müssen Sie im Beichtstuhl allerlei Ungeheuerlichkeiten gehört haben, ich fühle mich, was ich selten an die Oberfläche lasse, Freund, was aber wie ein Geysir in mir brodelt, vom Betrieb, wie ich die Schriftwerkerei nennen möchte, unbekümmert abgestempelt. Der literarische Betrieb denkt zu Beginn, was ich verstehe, und, was ich weniger begreife, wiederum ebenfalls am Ende ausschließlich ans Erscheinungsbild. Der Mittelteil, wie der Inhalt auch genannt werden könnte, hat zwar seinen Platz, einen Ehrenplatz sogar, muss sich diesen aber zunächst, den Erscheinungsnebel entschlossen durchwatend, erobern. Das Manöver, was anderen anscheinend spielend gelingt, liegt außerhalb meiner nautischen Kunst. Ich reise, um's anders zu formulieren, stets dahin, wohin mich die Seh(n)sucht drängt, nicht in die mir wiederholt angebotenen sicheren Häfen. Ich schreibe, was ich lesen möchte. Meine Schuld, sagen Sie. Ja, das stimmt. Doch genug davon, ich will uns nicht langweilen. Jeremiaden sind angesichts des Vergnügens, denken zu dürfen, eh nicht meine Sache.
Wer sich selbst genügt, lebt, grundsätzlich, mit der Rüge, eine Eigenbrötlerin oder ein Eigenbrötler zu sein. Dass die Backwaren unverkäuflich sind, sagt andererseits wenig über ihre Eigenschaften aus.
Sich weit in die Kurve zu legen, schafft Raum für andere, die den geraden Pfad gehen wollen.
Geschrieben am 2. Juli 2020 und am 11. April 2019
95.
Die Erwartung rege erhalten: man muß sie stets zu kirren wissen: das Viele verspreche noch mehr, die glänzendeste That kündige noch glänzendere an. Man muß nicht seinen ganzen Rest an den ersten Wurf setzen. Ein großer Kunstgriff ist, daß man sich zu mäßigen wisse, im Anwenden seiner Kräfte und seines Wissens, so daß man immer mehr und mehr die Erwartungen befriedigen könne.
Nun ja, Freund, die Befriedigung, auch wenn sie hier am Ende der Überlegungen steht, mir scheint sie als Ausgangsziel der meisen Unternehmungen nicht unwesentlich zu sein. Viele von uns denken irgendwann entweder, ohne die Befriedigung ihrer Lüste leben zu können, oder wenden sich, einigermaßen enttäuscht, im Laufe des Lebens von dem Vergnügen, der Beglückung, dem Pläsier ab. Dabei ist es doch die Genugtuung, sich selbst und anderen Befriedigung verschafft zu haben, die uns motiviert - trotz unabwindbarer Niederlagen, die nun mal so sicher sind wie das Amen in der Kirche. Befriedigung ist die Belohnung unserer Mühen. Mir scheint, dass wir uns stärker um das Gute kümmern, wenn wir dafür belohnt werden. Die Idee der Uneigennützigkeit finde ich zwar, als Konzept, lobenswert, realistisch ist sie allerdings nichts. Manchmal überfällt mich gar das Gefühl, dass die vermeintlich Uneigennützigsten den Eigennutz am geschicktesten verstecken oder am schlauesten verpackt haben.
Das Gute lacht lauter, wenn wir es kitzeln.
Sprechen wir über ein selteneres Wort, das Sie benutzen. Das Adjektiv kirre, Freund, hat sich, meiner Erfahrung nach, nur in nicht kirremachen gehalten. Alle anderen Bedeutungen, also auch die vom Translator in diesem Abschnitt gewählte, haben sich weitgehend verabschiedet. Während der Arbeit die Ruhe zu bewahren - nun verkürze ich bewusst -, um noch Neuigkeiten in der Hinterhand zu haben, bei Bedarf Überraschungen aus dem Hut zu ziehen, davon sprechen auch Sie, eher sogar vom Zähmen sprechen Sie, dem weitgehend verlorengegangen kirre-Sinn. Was, zugegeben, eine ansprechendes Konzept wäre, ganz prinzipiell. Denn das Mehr-und-Mehr liegt nun mal nicht in unserer eigenen Hand. Das Wirtschaftssystem zwingt uns, haben wir einen Vertrag unterschrieben, sind wir in einen regulierten Produktionsprozess eingetreten, jeden Tag an die Leistungsgrenze zu gehen. Etwas in petto zu haben, wie es Ihnen als Ideal vorschwebt, sei den Wenigsten weltweit vergönnt.
Der arbeitende Mensch hat sich selbst entmündigt; was keine persönliche Wahl darstellt, sondern systemisch begründet ist. Kapitalismus - in dem Begriff steckt schon die wesentliche Malaise - dient dem Kapital, und dem Kapital ist der Mensch per se zunächst egal. Bis auf wenige Ausnahmen, wie in der sozialen Marktwirtschaft, die mit dem Raubtierkapitalismus laufend ringt. Ich meine damit, wenn ich den Egalfaktor anführe, Sie ahnen es, die Alles-egal-Kapitalisten, die Anti-Egalitären, jene privilegierte Klasse, die verstanden hat, dass die irrsinnige Anhäufung von Geld ihr gigantische Macht und allen anderen aberwitzige Ohnmacht beschert. Und was für eine eigenartige Bescherung das ist! Die 42 reichsten Menschen der Erde haben derzeit so viel Vermögen gehortet wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen. Selbst in Deutschland - ich schreibe Ihnen von Berlin aus -, einem funktionierenden Sozialstaat, spiegelt sich diese Entwicklung: 45 Haushalte besitzen in der Bundesrepublik so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen.
Wer zwei-, drei-, viermal oder noch häufiger werfen will, sollte das Verrenken beim ersten Mal tunlichst vermeiden. Die Spielregeln - Gewicht des Gegenstands, Anzahl der Würfe, Pause zwischen den Würfen, Bezahlung - müssen fair verhandelt werden.
Wer seltener wirft, erhöht die Wertschätzung des Wurfs.
Die Schönheit der Bewegung hat so gut wie nie mit ihrer Frequenz zu tun, allerdings fast immer mit der Lust, die wir bei der Ausführung empfinden.
Leistungen, die uns im Akkord abgezwungen werden, höhlen uns aus. Wir leben nicht, um zu arbeiten. Wir sollten arbeiten, um zu leben. Disziplin sei eine Sekundärtugend. Freiheit sei des Glückes Unterpfand. Begeisterung und Intelligenz wachsen, wenn wir ihnen Raum geben.
Geschrieben am 24. Juni 2020 und am 10. April 2019
Die Erwartung rege erhalten: man muß sie stets zu kirren wissen: das Viele verspreche noch mehr, die glänzendeste That kündige noch glänzendere an. Man muß nicht seinen ganzen Rest an den ersten Wurf setzen. Ein großer Kunstgriff ist, daß man sich zu mäßigen wisse, im Anwenden seiner Kräfte und seines Wissens, so daß man immer mehr und mehr die Erwartungen befriedigen könne.
Nun ja, Freund, die Befriedigung, auch wenn sie hier am Ende der Überlegungen steht, mir scheint sie als Ausgangsziel der meisen Unternehmungen nicht unwesentlich zu sein. Viele von uns denken irgendwann entweder, ohne die Befriedigung ihrer Lüste leben zu können, oder wenden sich, einigermaßen enttäuscht, im Laufe des Lebens von dem Vergnügen, der Beglückung, dem Pläsier ab. Dabei ist es doch die Genugtuung, sich selbst und anderen Befriedigung verschafft zu haben, die uns motiviert - trotz unabwindbarer Niederlagen, die nun mal so sicher sind wie das Amen in der Kirche. Befriedigung ist die Belohnung unserer Mühen. Mir scheint, dass wir uns stärker um das Gute kümmern, wenn wir dafür belohnt werden. Die Idee der Uneigennützigkeit finde ich zwar, als Konzept, lobenswert, realistisch ist sie allerdings nichts. Manchmal überfällt mich gar das Gefühl, dass die vermeintlich Uneigennützigsten den Eigennutz am geschicktesten verstecken oder am schlauesten verpackt haben.
Das Gute lacht lauter, wenn wir es kitzeln.
Sprechen wir über ein selteneres Wort, das Sie benutzen. Das Adjektiv kirre, Freund, hat sich, meiner Erfahrung nach, nur in nicht kirremachen gehalten. Alle anderen Bedeutungen, also auch die vom Translator in diesem Abschnitt gewählte, haben sich weitgehend verabschiedet. Während der Arbeit die Ruhe zu bewahren - nun verkürze ich bewusst -, um noch Neuigkeiten in der Hinterhand zu haben, bei Bedarf Überraschungen aus dem Hut zu ziehen, davon sprechen auch Sie, eher sogar vom Zähmen sprechen Sie, dem weitgehend verlorengegangen kirre-Sinn. Was, zugegeben, eine ansprechendes Konzept wäre, ganz prinzipiell. Denn das Mehr-und-Mehr liegt nun mal nicht in unserer eigenen Hand. Das Wirtschaftssystem zwingt uns, haben wir einen Vertrag unterschrieben, sind wir in einen regulierten Produktionsprozess eingetreten, jeden Tag an die Leistungsgrenze zu gehen. Etwas in petto zu haben, wie es Ihnen als Ideal vorschwebt, sei den Wenigsten weltweit vergönnt.
Der arbeitende Mensch hat sich selbst entmündigt; was keine persönliche Wahl darstellt, sondern systemisch begründet ist. Kapitalismus - in dem Begriff steckt schon die wesentliche Malaise - dient dem Kapital, und dem Kapital ist der Mensch per se zunächst egal. Bis auf wenige Ausnahmen, wie in der sozialen Marktwirtschaft, die mit dem Raubtierkapitalismus laufend ringt. Ich meine damit, wenn ich den Egalfaktor anführe, Sie ahnen es, die Alles-egal-Kapitalisten, die Anti-Egalitären, jene privilegierte Klasse, die verstanden hat, dass die irrsinnige Anhäufung von Geld ihr gigantische Macht und allen anderen aberwitzige Ohnmacht beschert. Und was für eine eigenartige Bescherung das ist! Die 42 reichsten Menschen der Erde haben derzeit so viel Vermögen gehortet wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen. Selbst in Deutschland - ich schreibe Ihnen von Berlin aus -, einem funktionierenden Sozialstaat, spiegelt sich diese Entwicklung: 45 Haushalte besitzen in der Bundesrepublik so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen.
Wer zwei-, drei-, viermal oder noch häufiger werfen will, sollte das Verrenken beim ersten Mal tunlichst vermeiden. Die Spielregeln - Gewicht des Gegenstands, Anzahl der Würfe, Pause zwischen den Würfen, Bezahlung - müssen fair verhandelt werden.
Wer seltener wirft, erhöht die Wertschätzung des Wurfs.
Die Schönheit der Bewegung hat so gut wie nie mit ihrer Frequenz zu tun, allerdings fast immer mit der Lust, die wir bei der Ausführung empfinden.
Leistungen, die uns im Akkord abgezwungen werden, höhlen uns aus. Wir leben nicht, um zu arbeiten. Wir sollten arbeiten, um zu leben. Disziplin sei eine Sekundärtugend. Freiheit sei des Glückes Unterpfand. Begeisterung und Intelligenz wachsen, wenn wir ihnen Raum geben.
Geschrieben am 24. Juni 2020 und am 10. April 2019
94.
Unergründlichkeit der Fähigkeiten. Der Kluge verhüte, daß man sein Wissen und sein Können bis auf den Grund ermesse, wenn er von Allen verehrt sein will. Er lasse zu, daß man ihn kenne, aber nicht, daß man ihn ergründe. Keiner muß die Grenzen seiner Fähigkeiten auffinden können; wegen der augenscheinlichen Gefahr einer Enttäuschung. Nie gebe er Gelegenheit, daß Einer ihm ganz auf den Grund komme. Denn größre Verehrung erregt die Muthmaaßung und der Zweifel über die Ausdehnung der Talente eines Jeden, als die genaue Kundschaft davon, so groß sie auch immer seyn mögen.
Dieser Vorschlag, Freund, heißt doch auch, dass wir mit unseren Fähigkeiten zufrieden sein sollen, sie partout keiner neutralen Messlatte mehr aussetzen, sie - seien wir ehrlich - somit verkümmern lassen, da nur in der kritischen Auseinandersetzung Fortschritt möglich ist. Wer sich oder Teile von sich versteckt, verliert den Anschluss. Im schlimmsten Fall verlegen wir uns selbst, wir kommen uns selbst abhanden und werden so, obwohl wir denken, von aller Welt bewundert zu werden, werden so, ob unserer Geheimnistuerei, zum Gespött der Leute.
Das Gute gedeiht im Offenen, im Verschlossenen verkümmert es; für das Böse sei das weniger eindeutig, weil es, ab und an, über längere Zeit im Mantel des Gutseins herumstolziert und dadurch gefährlich an Macht gewinnt, wohlgemerkt: vor aller Augen.
Bewunderung zu planen, gelingt, wenn wir in Kauf nehmen, von den falschen Leuten bewundert zu werden.
Die Verehrung spielt, Freund, in Ihrem Weltverständnis eine weit größere Rolle als in meinem. Der Götzendienst an den Ausgezeichneten, sei's dank angeborener Macht, sei's dank wie auch immer gearteter Talente, dieser Götzendienst, auf den Sie alle naselang anspielen, der sicherlich auch mit Ihrem Gottglauben verbunden ist, bleibt mir ein Rätsel.
Fehler seien übrigens oftmals das Ausgezeichnetste, was wir besitzen, mit Abstand. In jeder Fähigkeit steckt ein Bruch, ein Hiatus, der Veränderung ermöglicht. Wer sich für perfekt hält, wird zum Gespött der Selbstkritischen. Wer uns auf den Grund kommt, unsere Argumenten auseinandernimmt, bereichert uns. Allein im Bekenntnis zum Fehler bleiben wir Mensch. Die Abgehobenen stürzen, früher oder später, wieder gen Boden und zerschellen.
Gerade zu gehen - symbolisch, versteht sich -, obwohl wir eine Last zu tragen haben, zeigt wahre Größe.
Geschrieben am 20. Juni 2020 und am 9. April 2019
Unergründlichkeit der Fähigkeiten. Der Kluge verhüte, daß man sein Wissen und sein Können bis auf den Grund ermesse, wenn er von Allen verehrt sein will. Er lasse zu, daß man ihn kenne, aber nicht, daß man ihn ergründe. Keiner muß die Grenzen seiner Fähigkeiten auffinden können; wegen der augenscheinlichen Gefahr einer Enttäuschung. Nie gebe er Gelegenheit, daß Einer ihm ganz auf den Grund komme. Denn größre Verehrung erregt die Muthmaaßung und der Zweifel über die Ausdehnung der Talente eines Jeden, als die genaue Kundschaft davon, so groß sie auch immer seyn mögen.
Dieser Vorschlag, Freund, heißt doch auch, dass wir mit unseren Fähigkeiten zufrieden sein sollen, sie partout keiner neutralen Messlatte mehr aussetzen, sie - seien wir ehrlich - somit verkümmern lassen, da nur in der kritischen Auseinandersetzung Fortschritt möglich ist. Wer sich oder Teile von sich versteckt, verliert den Anschluss. Im schlimmsten Fall verlegen wir uns selbst, wir kommen uns selbst abhanden und werden so, obwohl wir denken, von aller Welt bewundert zu werden, werden so, ob unserer Geheimnistuerei, zum Gespött der Leute.
Das Gute gedeiht im Offenen, im Verschlossenen verkümmert es; für das Böse sei das weniger eindeutig, weil es, ab und an, über längere Zeit im Mantel des Gutseins herumstolziert und dadurch gefährlich an Macht gewinnt, wohlgemerkt: vor aller Augen.
Bewunderung zu planen, gelingt, wenn wir in Kauf nehmen, von den falschen Leuten bewundert zu werden.
Die Verehrung spielt, Freund, in Ihrem Weltverständnis eine weit größere Rolle als in meinem. Der Götzendienst an den Ausgezeichneten, sei's dank angeborener Macht, sei's dank wie auch immer gearteter Talente, dieser Götzendienst, auf den Sie alle naselang anspielen, der sicherlich auch mit Ihrem Gottglauben verbunden ist, bleibt mir ein Rätsel.
Fehler seien übrigens oftmals das Ausgezeichnetste, was wir besitzen, mit Abstand. In jeder Fähigkeit steckt ein Bruch, ein Hiatus, der Veränderung ermöglicht. Wer sich für perfekt hält, wird zum Gespött der Selbstkritischen. Wer uns auf den Grund kommt, unsere Argumenten auseinandernimmt, bereichert uns. Allein im Bekenntnis zum Fehler bleiben wir Mensch. Die Abgehobenen stürzen, früher oder später, wieder gen Boden und zerschellen.
Gerade zu gehen - symbolisch, versteht sich -, obwohl wir eine Last zu tragen haben, zeigt wahre Größe.
Geschrieben am 20. Juni 2020 und am 9. April 2019
93.
Universalität. Ein Mann, der alle Vollkommenheiten vereint, gilt für Viele. Indem er den Genuß derselben seinem Umgange mittheilt, verschönert er das Leben. Abwechselung mit Vollkommenheit gewährt die beste Unterhaltung. Es ist eine große Kunst, sich alles Gute aneignen zu können. Und da die Natur aus dem Menschen, indem sie ihn so hoch stellte, einen Inbegriff ihrer ganzen Schöpfung gemacht hat; so mache ihn nun auch die Kunst zu einer kleinen Welt, durch Uebung und Bildung des Verstandes und des Geschmacks.
Ach, Freund, Ihre leidige Hervorhebung des perfekten Mannseins - Frauen existieren offenbar nicht in Ihrer Welt - ist schon arg genug. Noch schlimmer, aus meiner Sicht, ist jedoch die fundamentale Überhöhung des Menschen, der, Ihrer Meinung nach, am obersten Ende der Futterkette steht, was Sie, leutselig religiös, Inbegriff der Schöpfung nennen. Ich würde eher sagen: der Schröpfung. Denn ist's nicht so, dass wir Menschen alles kurz- und kleinschlagen, was uns im Wege steht? Uns alles egoistisch aneignen? Nichts gelten lassen? Obwohl wir's besser wissen müssten? Die Erde, auf der wir leben, ist winzig, was uns hungrigen, geifernden Großmäulern offenbar nicht ins Hirn will. Der Mensch scheint unfähig zu sein, über den eigenen Tellerrand zu gucken. Ihre ganze Kultur, von der Sie so schwärmen, erweist sich weitgehend als Ausbeutung des Planeten, auf Kosten der gesamten Flora und Fauna. Wir sägen rasant den Ast ab, auf dem wir sitzen.
Der Natur, die uns angeblich an die Spitze der Evolution katapultiert hat, wir zeigen ihr unsere besondere Dankbarkeit. Wir schlagen gerade auf sie ein, bis ihr Hören und Sehen vergeht, bis ihre Kapitulation bevorsteht. Unsere Universalität ist die primitivste Provinzialität, die man sich vorstellen kann. Und die kleine Welt, die wir, dank der Kunst der Verfeinerung, selbst geworden sind, isoliert sich schnurstracks von den Kalamitäten, die sie einengen. All die Warnungen, dass wir uns selbst zerstören, werden mit dem Label langweilig versehen und gähnend abgeheftet. Alles schon gehört. Was kann ich dafür? Man darf doch noch das Leben genießen. Miesmacherei rettet auch nicht den Regenwald.
Die wundersamsten Leistungen der Menschheit seien ihre verblüffende Vergesslichkeit und unerschütterliche Ignoranz. Der Kannibalismus, den wir an der Umwelt begehen, ist überall sichtbar, und dennoch stimmen unsere Nationen beinahe unisono das hohe Lied des Wachstums an. Verzichten wir, dann auf Verzicht.
Wie's mit meiner Bilanz steht, wollen Sie wissen, Freund. Schlecht. Gerade eben, Anfang April 2019, bin ich aus dem Flugzeug gestiegen. Über drei Stunden hat der Trip von Reykjavik nach Berlin gedauert. Die CO₂-Emission dafür beträgt, nur für mich, 975 Kilogramm. Ich werde den Flug klimaneutral kompensieren - also Geld zahlen, damit Bäume gepflanzt werden. Aber hilft das tatsächlich? Wäre es nicht besser gewesen, erst gar nicht zu fliegen? Theoretisch hätte ich Island mit dem Schiff erreichen können. Von Hirtshals in Dänemark nach Seydisfjördur im Osten Islands verkehrt eine Fähre: Abfahrt am Samstag um 15 Uhr, Ankunft am Dienstag um 9 Uhr. Alles eine Frage der Zeit. Und die Herrschaft über Zeit, Freund, ich denke, bei Ihnen wird's ähnlich gewesen sein, ist und bleibt die Frage aller Fragen. Da die Lebensspanne begrenzt ist, versuchen wir, so viel wie möglich mit der uns gegebenen Zeit zu machen. Das Bedauern über die eingeschränkte Dauer führt andauernd zu beklagenswerten Entscheidungen.
Entschleunigung würde zum Überleben führen. Wer umkehrte, kehrte eher ein. Vollkommenheit läge in der Statik, die Bewegung erlaubte. Haltung und Halt wären der Unterhaltung und dem Gehalt vorzuziehen.
Was ich schreibe, sei was ich sein möchte, aber nicht bin.
17. Mai 2020 und 8. April 2019
Universalität. Ein Mann, der alle Vollkommenheiten vereint, gilt für Viele. Indem er den Genuß derselben seinem Umgange mittheilt, verschönert er das Leben. Abwechselung mit Vollkommenheit gewährt die beste Unterhaltung. Es ist eine große Kunst, sich alles Gute aneignen zu können. Und da die Natur aus dem Menschen, indem sie ihn so hoch stellte, einen Inbegriff ihrer ganzen Schöpfung gemacht hat; so mache ihn nun auch die Kunst zu einer kleinen Welt, durch Uebung und Bildung des Verstandes und des Geschmacks.
Ach, Freund, Ihre leidige Hervorhebung des perfekten Mannseins - Frauen existieren offenbar nicht in Ihrer Welt - ist schon arg genug. Noch schlimmer, aus meiner Sicht, ist jedoch die fundamentale Überhöhung des Menschen, der, Ihrer Meinung nach, am obersten Ende der Futterkette steht, was Sie, leutselig religiös, Inbegriff der Schöpfung nennen. Ich würde eher sagen: der Schröpfung. Denn ist's nicht so, dass wir Menschen alles kurz- und kleinschlagen, was uns im Wege steht? Uns alles egoistisch aneignen? Nichts gelten lassen? Obwohl wir's besser wissen müssten? Die Erde, auf der wir leben, ist winzig, was uns hungrigen, geifernden Großmäulern offenbar nicht ins Hirn will. Der Mensch scheint unfähig zu sein, über den eigenen Tellerrand zu gucken. Ihre ganze Kultur, von der Sie so schwärmen, erweist sich weitgehend als Ausbeutung des Planeten, auf Kosten der gesamten Flora und Fauna. Wir sägen rasant den Ast ab, auf dem wir sitzen.
Der Natur, die uns angeblich an die Spitze der Evolution katapultiert hat, wir zeigen ihr unsere besondere Dankbarkeit. Wir schlagen gerade auf sie ein, bis ihr Hören und Sehen vergeht, bis ihre Kapitulation bevorsteht. Unsere Universalität ist die primitivste Provinzialität, die man sich vorstellen kann. Und die kleine Welt, die wir, dank der Kunst der Verfeinerung, selbst geworden sind, isoliert sich schnurstracks von den Kalamitäten, die sie einengen. All die Warnungen, dass wir uns selbst zerstören, werden mit dem Label langweilig versehen und gähnend abgeheftet. Alles schon gehört. Was kann ich dafür? Man darf doch noch das Leben genießen. Miesmacherei rettet auch nicht den Regenwald.
Die wundersamsten Leistungen der Menschheit seien ihre verblüffende Vergesslichkeit und unerschütterliche Ignoranz. Der Kannibalismus, den wir an der Umwelt begehen, ist überall sichtbar, und dennoch stimmen unsere Nationen beinahe unisono das hohe Lied des Wachstums an. Verzichten wir, dann auf Verzicht.
Wie's mit meiner Bilanz steht, wollen Sie wissen, Freund. Schlecht. Gerade eben, Anfang April 2019, bin ich aus dem Flugzeug gestiegen. Über drei Stunden hat der Trip von Reykjavik nach Berlin gedauert. Die CO₂-Emission dafür beträgt, nur für mich, 975 Kilogramm. Ich werde den Flug klimaneutral kompensieren - also Geld zahlen, damit Bäume gepflanzt werden. Aber hilft das tatsächlich? Wäre es nicht besser gewesen, erst gar nicht zu fliegen? Theoretisch hätte ich Island mit dem Schiff erreichen können. Von Hirtshals in Dänemark nach Seydisfjördur im Osten Islands verkehrt eine Fähre: Abfahrt am Samstag um 15 Uhr, Ankunft am Dienstag um 9 Uhr. Alles eine Frage der Zeit. Und die Herrschaft über Zeit, Freund, ich denke, bei Ihnen wird's ähnlich gewesen sein, ist und bleibt die Frage aller Fragen. Da die Lebensspanne begrenzt ist, versuchen wir, so viel wie möglich mit der uns gegebenen Zeit zu machen. Das Bedauern über die eingeschränkte Dauer führt andauernd zu beklagenswerten Entscheidungen.
Entschleunigung würde zum Überleben führen. Wer umkehrte, kehrte eher ein. Vollkommenheit läge in der Statik, die Bewegung erlaubte. Haltung und Halt wären der Unterhaltung und dem Gehalt vorzuziehen.
Was ich schreibe, sei was ich sein möchte, aber nicht bin.
17. Mai 2020 und 8. April 2019
92.
Überschwenglicher Verstand. Ich meine, in Allem. Die erste und höchste Regel zum Handeln und zum Reden, notwendiger je höher unsre Stellung ist, heißt: ein Gran Klugheit ist besser als Centner Spitzfindigkeiten. Dabei wandelt man sicher, wenn auch nicht mit so lautem Beifall; obwohl der Ruf der Klugheit der Triumph des Ruhmes ist. Es sei hinlänglich, den Gescheuten genügt zu haben, deren Urtheil der Probirstein gelungener Thaten ist.
Schwierig, Freund, in allen Dingen "überchwänglichen" Verstand zu zeigen. Ich habe schon ziemliche Probleme, in den Feldern, die ich halbwegs überblicke, vernünftig zu argumentieren. Stes bin ich auf die Hilfe anderer angwiesen, um mir ein aussagekräftiges Urteil zu bilden, über das sich zu sprechen lohnt. Ihre Idee, dass wir ob unserer individuellen Klugheit Triumphe einfahren können, kommt mir weltfremd vor. Erst im Diskurs ziehen die Wolken der Dummheit weiter, die mich umhüllen.
Sie, Freund, sehen mich außerdem lächeln. Der Vokal in Gescheuten ist, über die vielen Jahrzehnte, leicht verrutscht - und damit auch, dank dieser Verschiebung, die Bedeutung. In Wahrheit meint Schopenhauer, Ihr Translator ins Deutsche, natürlich, was Ihnen gescheit vorgeschwebt hat. Ich möchte mich dennoch ans aktuelle Scheusein halten. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel - und wir also an, dass das Urteil der Schüchternen das Mindestmaß darstellt.
Die Zaghaften sind nun mal, häufig, nicht zurückhaltend, weil sie keine Meinung haben, sondern weil sie wissen, wann's sich lohnt, in den Ring zu steigen. Packt Scheue der Ehrgeiz, haben Angeberinnen und Angeber wenig zu lachen. Die Energie, welche sich angestaut hat, fegt die Aufschneiderin und den Aufschneider, deren Kunst in der Maskerade besteht, die dementsprechend im Kern eher hohl sind, rasant vom Meinungshof.
Wer Geschrei und tumbes Spektakel schätzt, wird irgendwann - in der Regel: wenn's tatsächlich ans Eingemachte geht - zum Gespött der Ruhe und der Erkenntnis. Lautstärke sei, im Zweifelsfall, schließlich doch der schwächste Teil des Arguments. Ohne Zwischentöne kein Fortschritt, keine Erhohlung ohne Schlaf. Triumphgeheul stelle ein ephemerisches Vergnügen dar, dessen Wirksamkeit lokal begrenzt sei.
Nun sind wir wieder etwas vom Wege abgekommen, Freund, den Sie uns zugewiesen haben. Aber sind nicht, beinahe grundsätzlich, die fremden Früchte die süßesten?
16. Mai 2020 und 7. April 2019
Überschwenglicher Verstand. Ich meine, in Allem. Die erste und höchste Regel zum Handeln und zum Reden, notwendiger je höher unsre Stellung ist, heißt: ein Gran Klugheit ist besser als Centner Spitzfindigkeiten. Dabei wandelt man sicher, wenn auch nicht mit so lautem Beifall; obwohl der Ruf der Klugheit der Triumph des Ruhmes ist. Es sei hinlänglich, den Gescheuten genügt zu haben, deren Urtheil der Probirstein gelungener Thaten ist.
Schwierig, Freund, in allen Dingen "überchwänglichen" Verstand zu zeigen. Ich habe schon ziemliche Probleme, in den Feldern, die ich halbwegs überblicke, vernünftig zu argumentieren. Stes bin ich auf die Hilfe anderer angwiesen, um mir ein aussagekräftiges Urteil zu bilden, über das sich zu sprechen lohnt. Ihre Idee, dass wir ob unserer individuellen Klugheit Triumphe einfahren können, kommt mir weltfremd vor. Erst im Diskurs ziehen die Wolken der Dummheit weiter, die mich umhüllen.
Sie, Freund, sehen mich außerdem lächeln. Der Vokal in Gescheuten ist, über die vielen Jahrzehnte, leicht verrutscht - und damit auch, dank dieser Verschiebung, die Bedeutung. In Wahrheit meint Schopenhauer, Ihr Translator ins Deutsche, natürlich, was Ihnen gescheit vorgeschwebt hat. Ich möchte mich dennoch ans aktuelle Scheusein halten. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel - und wir also an, dass das Urteil der Schüchternen das Mindestmaß darstellt.
Die Zaghaften sind nun mal, häufig, nicht zurückhaltend, weil sie keine Meinung haben, sondern weil sie wissen, wann's sich lohnt, in den Ring zu steigen. Packt Scheue der Ehrgeiz, haben Angeberinnen und Angeber wenig zu lachen. Die Energie, welche sich angestaut hat, fegt die Aufschneiderin und den Aufschneider, deren Kunst in der Maskerade besteht, die dementsprechend im Kern eher hohl sind, rasant vom Meinungshof.
Wer Geschrei und tumbes Spektakel schätzt, wird irgendwann - in der Regel: wenn's tatsächlich ans Eingemachte geht - zum Gespött der Ruhe und der Erkenntnis. Lautstärke sei, im Zweifelsfall, schließlich doch der schwächste Teil des Arguments. Ohne Zwischentöne kein Fortschritt, keine Erhohlung ohne Schlaf. Triumphgeheul stelle ein ephemerisches Vergnügen dar, dessen Wirksamkeit lokal begrenzt sei.
Nun sind wir wieder etwas vom Wege abgekommen, Freund, den Sie uns zugewiesen haben. Aber sind nicht, beinahe grundsätzlich, die fremden Früchte die süßesten?
16. Mai 2020 und 7. April 2019
91.
Nie bei Skrupeln über Unvorsichtigkeit zum Werke schreiten. Die bloße Besorgniß des Mißlingens im Handelnden ist schon völlige Gewißheit im Zuschauer, zumal wenn er ein Nebenbuhler ist. Wenn schon in der ersten Hitze des Unternehmens die Urtheilskraft Skrupel hegte; so wird sie nachher, im leidenschaftslosen Zustand, das Verdammmgsurtheil offenbarer Thorheit aussprechen. Handlungen, an deren Vorsichtigkeit wir zweifeln, sind gefährlich, und sichrer wäre das Unterlassen. Die Klugheit läßt sich nicht auf Wahrscheinlichkeiten ein: sie wandelt stets am hellen Mittagslichte der Vernunft. Wie soll ein Unternehmen gut ablaufen, dessen Entwurf schon die Besorgniß verurtheilt? Und wenn die durchdachtesten, vom Nemine discrepante unsers Innern bestätigten Beschlüsse oft einen unglücklichen Ausgang nehmen; was haben solche zu erwarten, die bei schwankender Vernunft und Schlimmes augurirender Urtheilskraft gefaßt wurden?
Wohl gesprochen, Freund! Aber lassen Sie mich eine fundamentale Frage stellen: wann wissen wir, dass wir in Wahrheit schwanken? Oft genug, das ist jedenfalls mein Eindruck, glauben wir, festen Boden unter den Füßen zu haben, obwohl wir mitten am Versinken sind.
Sich zu kennen, heißt noch lange nicht, die Welt zu kennen.
Das Draußen nimmt auf unsere Verfasstheit keinerlei Rücksicht; wer das annimmt, da sie oder er eine Art von Ablasshandel mit der Welt eingegangen ist, lügt sich in die eigene Tasche.
Die Welt nimmt uns anders wahr, als wir die Welt wahrnehmen. Kommt es schließlich zur Überlappung, sind wir tot.
Egal, Freund, was ich bislang, in den vorherigen Briefen, gesagt habe, über die Vernunft und das Abwägen, die Vorsicht und den Übermut, tatsächlich, scheint mir, zweifeln wir, egal ob's sich um enge oder weite Träume und Pläne handelt, zweifeln wir selbst an den ultimativen Gewissheiten, die wir für ein Unternehmen hegen. Wer glaubt, dass die Welt gehorsam um unsere Drehbücher kreist, leidet an Hybris. Gerade die ausgeklügeltsten Vorhaben, besonders in der Kunst und der Liebe, der Familie und dem Gelderwerb, entpuppen sich oft genug als Delusionen.
Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden, sobald es sich lohnt. Wer annimmt, alles in der Hand zu haben, hat per se alles verloren. Berechtiger Zweifel sei der Vater, konstruktive Skepsis die Mutter des Überhaupt-Gelingens.
Vollkommenheit sei ein kategorischer Imperativ, der uns beim Sehen und Handeln, aber nicht beim Erreichen des Ziels leiten soll.
15. Mai 2020 und 7. April 2019
Nie bei Skrupeln über Unvorsichtigkeit zum Werke schreiten. Die bloße Besorgniß des Mißlingens im Handelnden ist schon völlige Gewißheit im Zuschauer, zumal wenn er ein Nebenbuhler ist. Wenn schon in der ersten Hitze des Unternehmens die Urtheilskraft Skrupel hegte; so wird sie nachher, im leidenschaftslosen Zustand, das Verdammmgsurtheil offenbarer Thorheit aussprechen. Handlungen, an deren Vorsichtigkeit wir zweifeln, sind gefährlich, und sichrer wäre das Unterlassen. Die Klugheit läßt sich nicht auf Wahrscheinlichkeiten ein: sie wandelt stets am hellen Mittagslichte der Vernunft. Wie soll ein Unternehmen gut ablaufen, dessen Entwurf schon die Besorgniß verurtheilt? Und wenn die durchdachtesten, vom Nemine discrepante unsers Innern bestätigten Beschlüsse oft einen unglücklichen Ausgang nehmen; was haben solche zu erwarten, die bei schwankender Vernunft und Schlimmes augurirender Urtheilskraft gefaßt wurden?
Wohl gesprochen, Freund! Aber lassen Sie mich eine fundamentale Frage stellen: wann wissen wir, dass wir in Wahrheit schwanken? Oft genug, das ist jedenfalls mein Eindruck, glauben wir, festen Boden unter den Füßen zu haben, obwohl wir mitten am Versinken sind.
Sich zu kennen, heißt noch lange nicht, die Welt zu kennen.
Das Draußen nimmt auf unsere Verfasstheit keinerlei Rücksicht; wer das annimmt, da sie oder er eine Art von Ablasshandel mit der Welt eingegangen ist, lügt sich in die eigene Tasche.
Die Welt nimmt uns anders wahr, als wir die Welt wahrnehmen. Kommt es schließlich zur Überlappung, sind wir tot.
Egal, Freund, was ich bislang, in den vorherigen Briefen, gesagt habe, über die Vernunft und das Abwägen, die Vorsicht und den Übermut, tatsächlich, scheint mir, zweifeln wir, egal ob's sich um enge oder weite Träume und Pläne handelt, zweifeln wir selbst an den ultimativen Gewissheiten, die wir für ein Unternehmen hegen. Wer glaubt, dass die Welt gehorsam um unsere Drehbücher kreist, leidet an Hybris. Gerade die ausgeklügeltsten Vorhaben, besonders in der Kunst und der Liebe, der Familie und dem Gelderwerb, entpuppen sich oft genug als Delusionen.
Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden, sobald es sich lohnt. Wer annimmt, alles in der Hand zu haben, hat per se alles verloren. Berechtiger Zweifel sei der Vater, konstruktive Skepsis die Mutter des Überhaupt-Gelingens.
Vollkommenheit sei ein kategorischer Imperativ, der uns beim Sehen und Handeln, aber nicht beim Erreichen des Ziels leiten soll.
15. Mai 2020 und 7. April 2019
90.
Kunst lange zu leben. Gut leben. Zwei Dinge werden schnell mit dem Leben fertig: Dummheit und Liederlichkeit. Die Einen verlieren es, weil sie es zu bewahren nicht den Verstand, die Andern, weil sie nicht den Willen haben. Wie Tugend ihr eigner Lohn, ist Laster seine eigne Strafe. Wer eifrig dem Laster lebt, endigt bald, im zwiefachen Sinn: wer eifrig der Tugend lebt, stirbt nie. Die Untadelhaftigkeit der Seele theilt sich dem Leibe mit: und ein gutgeführtes Leben wird nicht nur intensiv, sondern selbst extensiv ein langes seyn.
Ja, Freund, wenn's denn mal so wäre: auch die Verständigen und Modesten raffen Krankheiten hin. Es ist eine Seltsamkeit, dass jenes oft zitierte mens sana in corpore sano kompletter Humbug ist. Ein gesunder Geist sitzt oft genug in einem ungesundenen Körper gefangen und vice versa. Sowohl Dummheit als auch Liederlichkeit, das ist jedenfalls meine Beobachtung, halten immer und immer wieder länger durch als Zurechnungsfähigkeit und Verstand. Das dreiste und engstirnige Böse begeht zwar Fehler, aber ist dabei so ruchlos, dass es das Gute nicht zu selten aus dem Weg räumt.
Will die Tugend überleben, muss sie sich die Unarten vom Leibe halten. Begibt sich das Gute in Gefahr, stirbt es schneller als das Böse.
Und was das für eine Kunst wäre, Freund, die Kunst des langen, des guten, des erfüllten, des zufriedenen Lebens? Zärtelt das Sein am Anfang, hätschelt uns, und ich spreche nur vom Körperbau, innen wie außen, und hier auch nur vom günstigen Allgemeinbefinden, das doch in Jugendtagen glücklicherweise die Regel ist, so packt das Sein ab der Mitte der Reise die Samthandschuhe weg und verabreicht uns zumeist ab dem 50. Lebensjahr unermüdlich Lektionen, die uns einen üblen Vorgeschmack aufs Sterbebett geben. Einigen Glücklichen bleibt dieser Thanatosunterricht selbst im hohen Alter erspart, einige Unglückliche bekommen ihre exklusiven Einzelstunden im Leiden deutlich früher appliziert.
Unsere Medizin macht Fortschritte, mit denen die wenigsten Körper mithalten können; vom Verstand, der leben will, dem der Tod den letzten Nerv raubt, sei in diesem Moment noch nicht gesprochen. Das lange Leben - und ich verkürze es nun auf die nackte Zahl, die am Ende herausspringt - sei eine Sachfrage, die wir, buchstäblich, sportlich angehen oder eben rein medizinisch, sprich: pharmazeutisch, einstweilig lösen können. Ist der Wille vorhanden, das private Konto gefüllt oder das staatliche Gesundheitssystem in der Lage einzuspringen, durchbricht die Lebensdauer ohne große Probleme die 100-Jahre-Schallmauer.
Interessanter, Freund, sogar sehr viel, unendlich interessanter ist das extensive gute Leben, von dem Sie sprechen, das Sie, wie wir alle, als Daseinsideal im Sinn haben. Ein wuchtiges, mit sich selbst zufriedenes Strohfeuer kann, im richtigen Augenblick, mehr wert sein als ein dünnes Flämmchen, das vergeblich glimmt und schließlich stumm und griesgrämig erlöscht.
Entscheidend für ein gutes Leben ist, was wir von ihm erwarten und was wir aus ihm machen. Läuft es dir weg, obwohl du die Chance hattest, es zu halten, wirst du auf alle Tage die verpasste Gelegenheit bedauern. Wer zugreift und erzeugt, wenn die Gestaltung und das Anpacken vonnöten und möglich sind, lebt ein gutes Leben, ist wohl mit sich im Reinen.
Dass der Tod zuverlässig zur Unzeit kommt, da er nun mal die beispielhafte Unzeit ist, darf uns nicht entmutigen, am guten Leben festzuhalten. Den Tod als Erlöser, von dem gar manche schwärmen, den verachte ich.
10. Mai 2020 und 6. April 2019
Kunst lange zu leben. Gut leben. Zwei Dinge werden schnell mit dem Leben fertig: Dummheit und Liederlichkeit. Die Einen verlieren es, weil sie es zu bewahren nicht den Verstand, die Andern, weil sie nicht den Willen haben. Wie Tugend ihr eigner Lohn, ist Laster seine eigne Strafe. Wer eifrig dem Laster lebt, endigt bald, im zwiefachen Sinn: wer eifrig der Tugend lebt, stirbt nie. Die Untadelhaftigkeit der Seele theilt sich dem Leibe mit: und ein gutgeführtes Leben wird nicht nur intensiv, sondern selbst extensiv ein langes seyn.
Ja, Freund, wenn's denn mal so wäre: auch die Verständigen und Modesten raffen Krankheiten hin. Es ist eine Seltsamkeit, dass jenes oft zitierte mens sana in corpore sano kompletter Humbug ist. Ein gesunder Geist sitzt oft genug in einem ungesundenen Körper gefangen und vice versa. Sowohl Dummheit als auch Liederlichkeit, das ist jedenfalls meine Beobachtung, halten immer und immer wieder länger durch als Zurechnungsfähigkeit und Verstand. Das dreiste und engstirnige Böse begeht zwar Fehler, aber ist dabei so ruchlos, dass es das Gute nicht zu selten aus dem Weg räumt.
Will die Tugend überleben, muss sie sich die Unarten vom Leibe halten. Begibt sich das Gute in Gefahr, stirbt es schneller als das Böse.
Und was das für eine Kunst wäre, Freund, die Kunst des langen, des guten, des erfüllten, des zufriedenen Lebens? Zärtelt das Sein am Anfang, hätschelt uns, und ich spreche nur vom Körperbau, innen wie außen, und hier auch nur vom günstigen Allgemeinbefinden, das doch in Jugendtagen glücklicherweise die Regel ist, so packt das Sein ab der Mitte der Reise die Samthandschuhe weg und verabreicht uns zumeist ab dem 50. Lebensjahr unermüdlich Lektionen, die uns einen üblen Vorgeschmack aufs Sterbebett geben. Einigen Glücklichen bleibt dieser Thanatosunterricht selbst im hohen Alter erspart, einige Unglückliche bekommen ihre exklusiven Einzelstunden im Leiden deutlich früher appliziert.
Unsere Medizin macht Fortschritte, mit denen die wenigsten Körper mithalten können; vom Verstand, der leben will, dem der Tod den letzten Nerv raubt, sei in diesem Moment noch nicht gesprochen. Das lange Leben - und ich verkürze es nun auf die nackte Zahl, die am Ende herausspringt - sei eine Sachfrage, die wir, buchstäblich, sportlich angehen oder eben rein medizinisch, sprich: pharmazeutisch, einstweilig lösen können. Ist der Wille vorhanden, das private Konto gefüllt oder das staatliche Gesundheitssystem in der Lage einzuspringen, durchbricht die Lebensdauer ohne große Probleme die 100-Jahre-Schallmauer.
Interessanter, Freund, sogar sehr viel, unendlich interessanter ist das extensive gute Leben, von dem Sie sprechen, das Sie, wie wir alle, als Daseinsideal im Sinn haben. Ein wuchtiges, mit sich selbst zufriedenes Strohfeuer kann, im richtigen Augenblick, mehr wert sein als ein dünnes Flämmchen, das vergeblich glimmt und schließlich stumm und griesgrämig erlöscht.
Entscheidend für ein gutes Leben ist, was wir von ihm erwarten und was wir aus ihm machen. Läuft es dir weg, obwohl du die Chance hattest, es zu halten, wirst du auf alle Tage die verpasste Gelegenheit bedauern. Wer zugreift und erzeugt, wenn die Gestaltung und das Anpacken vonnöten und möglich sind, lebt ein gutes Leben, ist wohl mit sich im Reinen.
Dass der Tod zuverlässig zur Unzeit kommt, da er nun mal die beispielhafte Unzeit ist, darf uns nicht entmutigen, am guten Leben festzuhalten. Den Tod als Erlöser, von dem gar manche schwärmen, den verachte ich.
10. Mai 2020 und 6. April 2019
89.
Kenntniß seiner selbst, an Sinnesart, an Geist, an Urtheil, an Neigungen. Keiner kann Herr über sich seyn, wenn er sich nicht zuvor begriffen hat. Spiegel giebt es für das Antlitz, aber keine für die Seele: daher sei ein solcher das verständige Nachdenken über sich: allenfalls vergesse man sein äußeres Bild, aber erhalte sich das innere gegenwärtig, um es zu verbessern, zu vervollkommnen: man lerne die Kräfte seines Verstandes und seine Feinheit zu Unternehmungen kennen: man untersuche seine Tapferkeit, zum Einlassen in Händel: man ergründe seine ganze Tiefe und wäge seine sämmtlichen Fähigkeiten, zu Allem.
Ich bin mir sicher, Freund, und lassen Sie mich das gleich erwähnen: ich bin mir über so gut wie nichts sicher, hier aber mache ich eine Ausnahme, ich bin mir sicher, Freund, dass es unmöglich ist, sich selbst ganz und gar zu ergründen. Ist der Mensch Mensch, wohlgemerkt: ein verständiger Mensch, ist er nicht allein, sondern mit anderen, wird sich also, wie es so ist, in jener oder dieser Lage jeweils nach seiner Begleitung und den gesellschaftlichen Umständen richten. Was wiederum heißt, dass wir, ändern sich unsere Lebensumstände, haben wir etwa auf einmal Kinder, für die es zu sorgen gilt, dass wir anders auf uns blicken, dass wir anders in uns hineinblicken, dass wir uns andere Freund- und Bekanntschaften suchen. Besonders krass ist dieses Wanken und Schwanken, So- oder Anderssein, wenn wir uns im Konflikt mit der Welt befinden - oder sich die Welt im Konflikt mit uns. Was der Überlebensinstinkt mit Menschen macht, steht weder auf einem Blatt Papier, auch wenn's genug Aufzeichnungen über ungewöhnliche Taten gibt, noch taugt irgendeine Lupe, die man uns als Seelenerkundungsinstrument empfohlen hat.
Die Gipfel und Abgründe in uns sind erst gegenwärtig, wenn wir steigen oder fallen.
Wer sich nur in der Ebene kennt, kennt sich kaum.
Fraglos ist das Unbeherrschtsein, ergo: die Begriffsstutzigkeit, die Unkenntnis über uns selbst, Freund, in etlichen Situationen unangebracht, gar für alle Beteiligten eine Bürde. Und doch blitzen Schreck- oder Lustsekunden auf, in denen wir, wie's so treffend heißt, über uns hinauswachsen. Wir übertrumpfen die Erwartungen, die sowohl andere als auch, was wichtiger ist, wir an uns selbst gehegt haben. Trauten wir allein dem verständigen Nachdenken, das jenes Bild in uns geformt hat, von dem Sie lobend sprechen, wären wir in solchen unergründlichen, nicht planbaren Situationen weniger beweglich, verließen uns auf ein begrenztes, oft gehörtes, manierlich eingeübtes Reportoire, anstatt den Neutönern Luft und Spielraum und innovative Regelverstöße zu gewähren.
Zwar existieren Menschenbilder, aber der Mensch ist und sei kein Bild. Den Rahmen zu sprengen, der uns umfängt, gelingt bloß, wenn wir uns selbst die Freiheit dafür einräumen. Wird die Einfassung von außen zerstört, suchen sich die meisten von uns sofort freiwillig ein neues Gerüst, das dem alten ähnelt.
Jedes System hat ein maßgebliches Problem: es handelt sich bei ihm um ein System. Nicht um die Wirklichkeit.
8. Mai 2020 und 5. April 2019
Kenntniß seiner selbst, an Sinnesart, an Geist, an Urtheil, an Neigungen. Keiner kann Herr über sich seyn, wenn er sich nicht zuvor begriffen hat. Spiegel giebt es für das Antlitz, aber keine für die Seele: daher sei ein solcher das verständige Nachdenken über sich: allenfalls vergesse man sein äußeres Bild, aber erhalte sich das innere gegenwärtig, um es zu verbessern, zu vervollkommnen: man lerne die Kräfte seines Verstandes und seine Feinheit zu Unternehmungen kennen: man untersuche seine Tapferkeit, zum Einlassen in Händel: man ergründe seine ganze Tiefe und wäge seine sämmtlichen Fähigkeiten, zu Allem.
Ich bin mir sicher, Freund, und lassen Sie mich das gleich erwähnen: ich bin mir über so gut wie nichts sicher, hier aber mache ich eine Ausnahme, ich bin mir sicher, Freund, dass es unmöglich ist, sich selbst ganz und gar zu ergründen. Ist der Mensch Mensch, wohlgemerkt: ein verständiger Mensch, ist er nicht allein, sondern mit anderen, wird sich also, wie es so ist, in jener oder dieser Lage jeweils nach seiner Begleitung und den gesellschaftlichen Umständen richten. Was wiederum heißt, dass wir, ändern sich unsere Lebensumstände, haben wir etwa auf einmal Kinder, für die es zu sorgen gilt, dass wir anders auf uns blicken, dass wir anders in uns hineinblicken, dass wir uns andere Freund- und Bekanntschaften suchen. Besonders krass ist dieses Wanken und Schwanken, So- oder Anderssein, wenn wir uns im Konflikt mit der Welt befinden - oder sich die Welt im Konflikt mit uns. Was der Überlebensinstinkt mit Menschen macht, steht weder auf einem Blatt Papier, auch wenn's genug Aufzeichnungen über ungewöhnliche Taten gibt, noch taugt irgendeine Lupe, die man uns als Seelenerkundungsinstrument empfohlen hat.
Die Gipfel und Abgründe in uns sind erst gegenwärtig, wenn wir steigen oder fallen.
Wer sich nur in der Ebene kennt, kennt sich kaum.
Fraglos ist das Unbeherrschtsein, ergo: die Begriffsstutzigkeit, die Unkenntnis über uns selbst, Freund, in etlichen Situationen unangebracht, gar für alle Beteiligten eine Bürde. Und doch blitzen Schreck- oder Lustsekunden auf, in denen wir, wie's so treffend heißt, über uns hinauswachsen. Wir übertrumpfen die Erwartungen, die sowohl andere als auch, was wichtiger ist, wir an uns selbst gehegt haben. Trauten wir allein dem verständigen Nachdenken, das jenes Bild in uns geformt hat, von dem Sie lobend sprechen, wären wir in solchen unergründlichen, nicht planbaren Situationen weniger beweglich, verließen uns auf ein begrenztes, oft gehörtes, manierlich eingeübtes Reportoire, anstatt den Neutönern Luft und Spielraum und innovative Regelverstöße zu gewähren.
Zwar existieren Menschenbilder, aber der Mensch ist und sei kein Bild. Den Rahmen zu sprengen, der uns umfängt, gelingt bloß, wenn wir uns selbst die Freiheit dafür einräumen. Wird die Einfassung von außen zerstört, suchen sich die meisten von uns sofort freiwillig ein neues Gerüst, das dem alten ähnelt.
Jedes System hat ein maßgebliches Problem: es handelt sich bei ihm um ein System. Nicht um die Wirklichkeit.
8. Mai 2020 und 5. April 2019
88.
Das Betragen sei großartig, Erhabenheit anstrebend. Der große Mann darf nicht kleinlich in seinem Verfahren seyn. Nie muß man in den Angelegenheiten zu sehr ins Einzelne gehn, am wenigsten wenn sie verdrießlicher Art sind: denn obschon es ein Vortheil ist, Alles gelegentlich zu bemerken, so ist es doch keiner, Alles absichtlich untersuchen zu wollen. Gewöhnlich gehe man mit einer edlen Allgemeinheit zu Werke, die zum vornehmen Anstand gehört. Bei der Lenkung Andrer ist eine Hauptsache das Nicht-sehn-wollen. Die meisten Dinge muß man unbeachtet hingehn lassen, zwischen Verwandten, Freunden und zumal zwischen Feinden. Alles Uebermaaß ist widerlich, und am meisten bei verdrießlichen Dingen. Das abermals und immer wieder auf einen Verdruß Zurückkommen ist eine Art Verrücktheit. Das Betragen eines Jeden wird gemeiniglich ausfallen, nachdem sein Herz und sein Verstand ist.
Ein maßgeblicher Rat, Freund, den Sie uns da geben, einfach einzusehen - und ein schwieriger zugleich, da wohl jede und jeder von uns um die Verlockung weiß, im Schmutz zu wühlen, mit dem wir beschmissen worden sind. Mich wenigstens reizt die Gesamtschau über die üblen Machenschaften sehr. Ja, es interessiert mich regelrecht, welche Lügen wie und warum, lauwarm oder kalt aufgetischt werden. Ich habe den Eindruck, dass wir einiges von Unwahrheiten lernen können; zumal wenn wir selbst Geschichten erfinden, was wohl jeder Mensch tut. Aber, und hier treffen wir uns, übertreiben sollten wir's dann doch eher nicht mit der Intrigenanalyse.
Das Dasein verdient das Glück und die Wahrheit.
Wer sich dem Bösen verschreibt, hält es irgendwann für normal.
Während des Verfassens der letzten Korrespondenzen, Freund, habe ich oft über meinen Elan nachgedacht, mit dem ich, hin und wieder, in die intellektuelle Muckibude einfalle, um mich auf Prämisse komm raus zu prügeln. Zwar habe ich während der Schlägerei das Glück und die Weisheit im Sinn, aber dreschen bleibt dreschen. Auch wenn man Argumente als linke Haken benutzt. Wär's nicht, so ging's mir erneut durch den Kopf, wär's nicht vielleicht mal ganz schön, tatsächlich Fünfe gerade sein zu lassen? Nicht jedes Wort verlangt Widerspruch. Nicht jeder Satz, den Sie auf die Rennbahn schicken, soll durchs Ziel kommen. Nicht jede Suade ist ernst gemeint - oder wenigstens nicht so bitterböse, dass ich sie stirnrunzelnd vivisezieren müsste.
Also: ich stimme Ihnen, es sei hiermit unterstrichen, vollherzig zu, dass es sich nicht lohnt, das Spießiggehässige auf immer und ewig im Gedächtnis zu behalten.
Großzügig mit den eigenen Fehlern umzugehen, sei bereits ein Fortschritt. Besser sei's noch, die Nichtigkeiten der anderen geschwind ad acta zu legen. Wer viel Gift schluckt, darf sich nicht wundern, wenn alsbald eine heftige Kontamination festgestellt wird.
Die üble Nachrede bedarf seltenst der Antwort, und müssen wir ihr trotzdem öffentlich entgegnen, weil der Druck zu arg wird, Dreck und Gestank an uns kleben bleiben, wirkt lebendige Ironie zumeist besser als fossile Sturheit.
7. Mai 2020 und 5. April 2019
Das Betragen sei großartig, Erhabenheit anstrebend. Der große Mann darf nicht kleinlich in seinem Verfahren seyn. Nie muß man in den Angelegenheiten zu sehr ins Einzelne gehn, am wenigsten wenn sie verdrießlicher Art sind: denn obschon es ein Vortheil ist, Alles gelegentlich zu bemerken, so ist es doch keiner, Alles absichtlich untersuchen zu wollen. Gewöhnlich gehe man mit einer edlen Allgemeinheit zu Werke, die zum vornehmen Anstand gehört. Bei der Lenkung Andrer ist eine Hauptsache das Nicht-sehn-wollen. Die meisten Dinge muß man unbeachtet hingehn lassen, zwischen Verwandten, Freunden und zumal zwischen Feinden. Alles Uebermaaß ist widerlich, und am meisten bei verdrießlichen Dingen. Das abermals und immer wieder auf einen Verdruß Zurückkommen ist eine Art Verrücktheit. Das Betragen eines Jeden wird gemeiniglich ausfallen, nachdem sein Herz und sein Verstand ist.
Ein maßgeblicher Rat, Freund, den Sie uns da geben, einfach einzusehen - und ein schwieriger zugleich, da wohl jede und jeder von uns um die Verlockung weiß, im Schmutz zu wühlen, mit dem wir beschmissen worden sind. Mich wenigstens reizt die Gesamtschau über die üblen Machenschaften sehr. Ja, es interessiert mich regelrecht, welche Lügen wie und warum, lauwarm oder kalt aufgetischt werden. Ich habe den Eindruck, dass wir einiges von Unwahrheiten lernen können; zumal wenn wir selbst Geschichten erfinden, was wohl jeder Mensch tut. Aber, und hier treffen wir uns, übertreiben sollten wir's dann doch eher nicht mit der Intrigenanalyse.
Das Dasein verdient das Glück und die Wahrheit.
Wer sich dem Bösen verschreibt, hält es irgendwann für normal.
Während des Verfassens der letzten Korrespondenzen, Freund, habe ich oft über meinen Elan nachgedacht, mit dem ich, hin und wieder, in die intellektuelle Muckibude einfalle, um mich auf Prämisse komm raus zu prügeln. Zwar habe ich während der Schlägerei das Glück und die Weisheit im Sinn, aber dreschen bleibt dreschen. Auch wenn man Argumente als linke Haken benutzt. Wär's nicht, so ging's mir erneut durch den Kopf, wär's nicht vielleicht mal ganz schön, tatsächlich Fünfe gerade sein zu lassen? Nicht jedes Wort verlangt Widerspruch. Nicht jeder Satz, den Sie auf die Rennbahn schicken, soll durchs Ziel kommen. Nicht jede Suade ist ernst gemeint - oder wenigstens nicht so bitterböse, dass ich sie stirnrunzelnd vivisezieren müsste.
Also: ich stimme Ihnen, es sei hiermit unterstrichen, vollherzig zu, dass es sich nicht lohnt, das Spießiggehässige auf immer und ewig im Gedächtnis zu behalten.
Großzügig mit den eigenen Fehlern umzugehen, sei bereits ein Fortschritt. Besser sei's noch, die Nichtigkeiten der anderen geschwind ad acta zu legen. Wer viel Gift schluckt, darf sich nicht wundern, wenn alsbald eine heftige Kontamination festgestellt wird.
Die üble Nachrede bedarf seltenst der Antwort, und müssen wir ihr trotzdem öffentlich entgegnen, weil der Druck zu arg wird, Dreck und Gestank an uns kleben bleiben, wirkt lebendige Ironie zumeist besser als fossile Sturheit.
7. Mai 2020 und 5. April 2019
87.
Bildung und Eleganz. Der Mensch wird als ein Barbar geboren und nur die Bildung befreit ihn von der Bestialität. Die Bildung macht den Mann, und um so mehr, je höher sie ist. Kraft derselben durfte Griechenland die ganze übrige Welt Barbaren heißen. Die Unwissenheit ist sehr roh: nichts bildet mehr als Wissen. Jedoch das Wissen selbst ist ungeschlacht, wenn es ohne Eleganz ist. Nicht allein unsre Kenntnisse müssen elegant seyn, sondern auch unser Wollen und zumal unser Reden. Es giebt Leute von natürlicher Eleganz, von innerer und äußerer Zierlichkeit, im Denken, im Reden, im Putz des Leibes, welcher der Rinde zu vergleichen ist, wie die Talente des Geistes der Frucht. Andre dagegen sind so ungehobelt, daß Alles was ihr ist, ja zuweilen ausgezeichnete Trefflichkeiten, eine unerträgliche, barbarische Ungeschlachtheit verunstaltet.
Nun, Freund, um das vorab zu sagen: mir scheint, dass wir eben gar nicht als Barbarinnen oder Barbaren geboren werden, sondern dass in uns, per se, Güte und Verstand schlummern, die nur aufgeweckt werden müssen. Es ist demgemäß stets die Art der Gesellschaft, in der wir leben, die aus uns gute, weniger gute, schlechte oder sehr schlechte Menschen macht. Wer in einer schlechten Gesellschaft gut ist, braucht mehr Charakterstärke als die- oder derjenige, der oder die mit dem stinkenden Strom schwimmt und plündert. Wie es nun mit den Schlechten in einer guten Gesellschaft aussieht? Eine durchaus interessante Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Wenn wir uns des moralischen Urteils enthalten, ließe sich vielleicht sagen, dass auch die Bösen einiges an Charakterstärke brauchen, um in einer freundlichen Gesellschaft ihre unfreundlichen Taten zu begehen. Die Schurkinnen und Schurken sind also besondere Menschen, wenn auch solche, die sich in der Richtung geirrt haben oder in eine Himmelsrichtung abgedrängt worden sind, aus der sie nicht zurückfinden. Erreicht man das Herz der Bösen, wird man nicht zu selten feststellen, dass ihre Träume und Wünsche den Hoffnungen der Guten zum Verwechseln ähnlich sind.
Der ehernen Dichotomien, Freund, bedienen sich die manischen Einordnerinnen und Einordner, welche ich Schubladendenkerinnen und Schubladendenker nennen will, stets und zuverlässig: Alles ist entweder schwarz oder weiß. Dazwischen gibt's, auch wenn die aufgeklärteren unter den Einordnerinnen und Einordnern explizit das Gegenteil behaupten, das Farbenspektrum lauthals und scheinbar tolerant und großzügig grinsend bei jeder Benefizveranstaltung im Munde führen, sich seiner Vielschichtigkeit als Lebensideal rühmen, gar ärgerlich und wütend werden, sobald man sie auf ihre ideologische Blindheit aufmerksam macht, dazwischen gibt's für die Ladenhüterinnen und Ladenhüter an sich nichts.
Das Barbarische und die Bildung ist solch eine kraftvolle, das Sein in eine Rangordnung pressende Polarität. In der Mengenlehre der kategorischen Denkerinnen und Denker ist die Bildung kein vielschichtiger und offener Wert, sondern ein geschlossener Raum, dessen Schlüssel man in der eigenen Tasche hat oder nicht aus der Hand gibt, ein Raum, den man Besuch zwar öffnet, der den Fremden aber, da sie nicht an diesem Ort geboren worden sind, auf alle Zeiten als Geste des guten Geistes, des heiligen Geistes, auch das, als Geste des per se überlegenen Wissens gezeigt und höchstens kurzfristig, unter Aufsicht, als anbetungswürdige Kultstätte überlassen wird. Eleganz heißt hier Dominanz.
Für Sie, Freund, und Ihresgleichen haben die sogenannten Barbarinnen und Barbaren schlichtweg keine nennenswerte Kultur. Ihre vorgebliche Primitivität - oftmals eine Kultur der Nachhaltigkeit, wobei ich nicht in den naiven Fehler verfallen will, indigine Kulturen zu verherrlichen; es gibt der Irrtümer und Vorurteile überall viele; sobald Menschen sich Regeln setzen, setzt die Machtgier ein -, die vorgebliche Primitivität der sogenannten Barbarinnen und Barbaren hat mit unserer eindimensionalen und kolonialen Betrachtungsweise zu tun.
Als Beispiel sei nur angefügt, dass es sich beim antiken Griechenland, das Sie berechtigterweise als Hochkultur bewundern, eben auch um eine brutale Sklavenhaltergesellschaft gehandelt hat.
Das Denken ist uns allen als Sinn gegeben, wie das Riechen oder Schmecken. Das Denken, schreibt der Bonner Philosoph Markus Gabriel, sei etwas Wirkliches, es finde wirklich statt. Es ist keine fakultative Eigenschaft. Das Denken sei eine Konstante, die uns verbindet. Alle Tiere, möchte ich anfügen, besitzen diesen Sinn - wie er ausgeprägt ist, sei dabei eine andere Frage. Dagegen hat das Wissen transitorischen Charakter. Es bleibt sich allein in der Untreue treu. Echtes Wissen erklärt regelmäßig seine Satisfaktionsunfähigkeit. Da sich die Erkenntnisse ändern, ändert sich auch das Wissen.
Bildung sei ein Wunsch, eine stete Wunde, kein Kanon, keine exakt dosierte Medizin.
6. Mai 2020, mit einem Sentiment vom 4. April 2019
Bildung und Eleganz. Der Mensch wird als ein Barbar geboren und nur die Bildung befreit ihn von der Bestialität. Die Bildung macht den Mann, und um so mehr, je höher sie ist. Kraft derselben durfte Griechenland die ganze übrige Welt Barbaren heißen. Die Unwissenheit ist sehr roh: nichts bildet mehr als Wissen. Jedoch das Wissen selbst ist ungeschlacht, wenn es ohne Eleganz ist. Nicht allein unsre Kenntnisse müssen elegant seyn, sondern auch unser Wollen und zumal unser Reden. Es giebt Leute von natürlicher Eleganz, von innerer und äußerer Zierlichkeit, im Denken, im Reden, im Putz des Leibes, welcher der Rinde zu vergleichen ist, wie die Talente des Geistes der Frucht. Andre dagegen sind so ungehobelt, daß Alles was ihr ist, ja zuweilen ausgezeichnete Trefflichkeiten, eine unerträgliche, barbarische Ungeschlachtheit verunstaltet.
Nun, Freund, um das vorab zu sagen: mir scheint, dass wir eben gar nicht als Barbarinnen oder Barbaren geboren werden, sondern dass in uns, per se, Güte und Verstand schlummern, die nur aufgeweckt werden müssen. Es ist demgemäß stets die Art der Gesellschaft, in der wir leben, die aus uns gute, weniger gute, schlechte oder sehr schlechte Menschen macht. Wer in einer schlechten Gesellschaft gut ist, braucht mehr Charakterstärke als die- oder derjenige, der oder die mit dem stinkenden Strom schwimmt und plündert. Wie es nun mit den Schlechten in einer guten Gesellschaft aussieht? Eine durchaus interessante Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Wenn wir uns des moralischen Urteils enthalten, ließe sich vielleicht sagen, dass auch die Bösen einiges an Charakterstärke brauchen, um in einer freundlichen Gesellschaft ihre unfreundlichen Taten zu begehen. Die Schurkinnen und Schurken sind also besondere Menschen, wenn auch solche, die sich in der Richtung geirrt haben oder in eine Himmelsrichtung abgedrängt worden sind, aus der sie nicht zurückfinden. Erreicht man das Herz der Bösen, wird man nicht zu selten feststellen, dass ihre Träume und Wünsche den Hoffnungen der Guten zum Verwechseln ähnlich sind.
Der ehernen Dichotomien, Freund, bedienen sich die manischen Einordnerinnen und Einordner, welche ich Schubladendenkerinnen und Schubladendenker nennen will, stets und zuverlässig: Alles ist entweder schwarz oder weiß. Dazwischen gibt's, auch wenn die aufgeklärteren unter den Einordnerinnen und Einordnern explizit das Gegenteil behaupten, das Farbenspektrum lauthals und scheinbar tolerant und großzügig grinsend bei jeder Benefizveranstaltung im Munde führen, sich seiner Vielschichtigkeit als Lebensideal rühmen, gar ärgerlich und wütend werden, sobald man sie auf ihre ideologische Blindheit aufmerksam macht, dazwischen gibt's für die Ladenhüterinnen und Ladenhüter an sich nichts.
Das Barbarische und die Bildung ist solch eine kraftvolle, das Sein in eine Rangordnung pressende Polarität. In der Mengenlehre der kategorischen Denkerinnen und Denker ist die Bildung kein vielschichtiger und offener Wert, sondern ein geschlossener Raum, dessen Schlüssel man in der eigenen Tasche hat oder nicht aus der Hand gibt, ein Raum, den man Besuch zwar öffnet, der den Fremden aber, da sie nicht an diesem Ort geboren worden sind, auf alle Zeiten als Geste des guten Geistes, des heiligen Geistes, auch das, als Geste des per se überlegenen Wissens gezeigt und höchstens kurzfristig, unter Aufsicht, als anbetungswürdige Kultstätte überlassen wird. Eleganz heißt hier Dominanz.
Für Sie, Freund, und Ihresgleichen haben die sogenannten Barbarinnen und Barbaren schlichtweg keine nennenswerte Kultur. Ihre vorgebliche Primitivität - oftmals eine Kultur der Nachhaltigkeit, wobei ich nicht in den naiven Fehler verfallen will, indigine Kulturen zu verherrlichen; es gibt der Irrtümer und Vorurteile überall viele; sobald Menschen sich Regeln setzen, setzt die Machtgier ein -, die vorgebliche Primitivität der sogenannten Barbarinnen und Barbaren hat mit unserer eindimensionalen und kolonialen Betrachtungsweise zu tun.
Als Beispiel sei nur angefügt, dass es sich beim antiken Griechenland, das Sie berechtigterweise als Hochkultur bewundern, eben auch um eine brutale Sklavenhaltergesellschaft gehandelt hat.
Das Denken ist uns allen als Sinn gegeben, wie das Riechen oder Schmecken. Das Denken, schreibt der Bonner Philosoph Markus Gabriel, sei etwas Wirkliches, es finde wirklich statt. Es ist keine fakultative Eigenschaft. Das Denken sei eine Konstante, die uns verbindet. Alle Tiere, möchte ich anfügen, besitzen diesen Sinn - wie er ausgeprägt ist, sei dabei eine andere Frage. Dagegen hat das Wissen transitorischen Charakter. Es bleibt sich allein in der Untreue treu. Echtes Wissen erklärt regelmäßig seine Satisfaktionsunfähigkeit. Da sich die Erkenntnisse ändern, ändert sich auch das Wissen.
Bildung sei ein Wunsch, eine stete Wunde, kein Kanon, keine exakt dosierte Medizin.
6. Mai 2020, mit einem Sentiment vom 4. April 2019
86.
Uebler Nachrede vorbeugen. Der große Haufen hat viele Köpfe, und folglich viele Augen zur Mißgunst und viele Zungen zur Verunglimpfung. Geschieht es, daß unter ihm irgend eine üble Nachrede in Umlauf kommt; so kann das größte Ansehn darunter leiden: wird solche gar zu einem gemeinen Spitznamen; so kann sie die Ehre untergraben. Den Anlaß giebt meistens irgend ein hervorstechender Uebelstand, ein lächerlicher Fehler, wie denn dergleichen der passendeste Stoff zum Geschwätz ist. Oft aber auch ist es die Tücke Einzelner, welche der allgemeinen Bosheit Verunglimpfungen zuführt. Denn es giebt Lästermäuler, und diese richten einen großen Ruf schneller durch ein Witzwort, als durch einen offen hingeworfenen, frechen Vorwurf zu Grunde. Man kommt gar leicht in schlechten Ruf, weil das Schlechte sehr glaublich ist; sich rein zu waschen, hält aber schwer. Der kluge Mann vermeide also solche Unfälle und stelle der Unverschämtheit des gemeinen Haufens seine Wachsamkeit entgegen: denn leichter ist das Verhüten als die Abhülfe.
Warum, Freund, neigen viele von uns dazu, das Niederträchtigste als die Wahrheit anzunehmen? Ist es die Missgunst? Oder, was mir gleichfalls möglich erscheint, kennen wir unsere eigenen Fehler so gut, wissen um unsere Unzulänglichkeiten, dass wir uns nicht vorstellen können, dass die anderen frei von Fehlern sind? Die geäußerten Verleumdungen sind dementsprechend oft genug Zustandsbeschreibungen derjenigen, die diskreditieren.
Unbegründete Kritik fällt immer auf die Kritikerinnen und Kritiker zurück.
Wer nicht ganz genau weiß, wovon sie oder er spricht, tut gut daran, zu schweigen.
Ein loses Mundwerk weckt keine Festtagsstimmung.
In den Fehlern der anderen, erkennen wir regelmäßig unsere eigenen.
Ums salopp zu sagen: das Verhüten sei eine Kunst, die wenige auf elegante, die Zufriedenheit mehrende Art beherrschen. Die Lust am, buchstäblichen, Fortpflanzen übler Geschichten liegt in uns, drängt jedwede Nettigkeit in die luftdicht verschlossene Morgue. Wir horchen auf, wenn der Postbote den Hund beißt - oder gebissen haben soll. Denn auch das schwelt in uns: der Zweifel am Gesagten, das Misstrauen am Hörensagen. Nur Deppinnen und Deppen nehmen alles für bare Münze, was ihnen von anderen über jene oder diesen zugetragen wird. Warum sollten wir also annehmen, dass alles Schlechte an uns haftenbleibt? Dass jeder Schmarrn für möglich gehalten wird? Sagt die Naivität des Angst-vor-Unfug-Habens nicht etwas Unangenehmes, etwas wenig Schmeichelhaftes über uns aus?
Wer sich zu sehr um den eigenen Ruf schert, begibt sich in die Hände der Meineid-Heuchlerinnen und Falschaussage-Fetischisten. Freiheit liegt in der Handlung, nicht in der Behandlung, die aus ihr, möglicherweise, erwächst.
Wer nach Gemeinheiten sucht, macht sich gemein und wird, über kurz oder lang, tatsächlich fündig. Jede gute Tat gabelt eine Rechtsverdreherin und einen Winkeladvokaten auf, die so oft an ihr rütteln, bis sie vernehmlich knurrt.
Sind wir unermüdlich gut, schläft die Bösheit der anderen irgendwann ein.
5. Mai 2020, mit einem Sentiment vom 3. April 2019
Uebler Nachrede vorbeugen. Der große Haufen hat viele Köpfe, und folglich viele Augen zur Mißgunst und viele Zungen zur Verunglimpfung. Geschieht es, daß unter ihm irgend eine üble Nachrede in Umlauf kommt; so kann das größte Ansehn darunter leiden: wird solche gar zu einem gemeinen Spitznamen; so kann sie die Ehre untergraben. Den Anlaß giebt meistens irgend ein hervorstechender Uebelstand, ein lächerlicher Fehler, wie denn dergleichen der passendeste Stoff zum Geschwätz ist. Oft aber auch ist es die Tücke Einzelner, welche der allgemeinen Bosheit Verunglimpfungen zuführt. Denn es giebt Lästermäuler, und diese richten einen großen Ruf schneller durch ein Witzwort, als durch einen offen hingeworfenen, frechen Vorwurf zu Grunde. Man kommt gar leicht in schlechten Ruf, weil das Schlechte sehr glaublich ist; sich rein zu waschen, hält aber schwer. Der kluge Mann vermeide also solche Unfälle und stelle der Unverschämtheit des gemeinen Haufens seine Wachsamkeit entgegen: denn leichter ist das Verhüten als die Abhülfe.
Warum, Freund, neigen viele von uns dazu, das Niederträchtigste als die Wahrheit anzunehmen? Ist es die Missgunst? Oder, was mir gleichfalls möglich erscheint, kennen wir unsere eigenen Fehler so gut, wissen um unsere Unzulänglichkeiten, dass wir uns nicht vorstellen können, dass die anderen frei von Fehlern sind? Die geäußerten Verleumdungen sind dementsprechend oft genug Zustandsbeschreibungen derjenigen, die diskreditieren.
Unbegründete Kritik fällt immer auf die Kritikerinnen und Kritiker zurück.
Wer nicht ganz genau weiß, wovon sie oder er spricht, tut gut daran, zu schweigen.
Ein loses Mundwerk weckt keine Festtagsstimmung.
In den Fehlern der anderen, erkennen wir regelmäßig unsere eigenen.
Ums salopp zu sagen: das Verhüten sei eine Kunst, die wenige auf elegante, die Zufriedenheit mehrende Art beherrschen. Die Lust am, buchstäblichen, Fortpflanzen übler Geschichten liegt in uns, drängt jedwede Nettigkeit in die luftdicht verschlossene Morgue. Wir horchen auf, wenn der Postbote den Hund beißt - oder gebissen haben soll. Denn auch das schwelt in uns: der Zweifel am Gesagten, das Misstrauen am Hörensagen. Nur Deppinnen und Deppen nehmen alles für bare Münze, was ihnen von anderen über jene oder diesen zugetragen wird. Warum sollten wir also annehmen, dass alles Schlechte an uns haftenbleibt? Dass jeder Schmarrn für möglich gehalten wird? Sagt die Naivität des Angst-vor-Unfug-Habens nicht etwas Unangenehmes, etwas wenig Schmeichelhaftes über uns aus?
Wer sich zu sehr um den eigenen Ruf schert, begibt sich in die Hände der Meineid-Heuchlerinnen und Falschaussage-Fetischisten. Freiheit liegt in der Handlung, nicht in der Behandlung, die aus ihr, möglicherweise, erwächst.
Wer nach Gemeinheiten sucht, macht sich gemein und wird, über kurz oder lang, tatsächlich fündig. Jede gute Tat gabelt eine Rechtsverdreherin und einen Winkeladvokaten auf, die so oft an ihr rütteln, bis sie vernehmlich knurrt.
Sind wir unermüdlich gut, schläft die Bösheit der anderen irgendwann ein.
5. Mai 2020, mit einem Sentiment vom 3. April 2019
85.
Nicht die Manille sehn. Es ist ein Gebrechen alles Vortrefflichen, daß sein vieler Gebrauch zum Mißbrauch wird. Grade das Streben Aller danach führt zuletzt dahin, daß es Allen zum Ekel wird. Zu nichts zu taugen, ist ein großes Unglück; ein noch größres aber zu Allem taugen zu wollen: solche Leute verlieren durch zu vieles Gewinnen, und werden zuletzt Allen so sehr zum Abscheu, als sie anfangs begehrt waren. Diese Manillen nutzen die Vollkommenheiten jeder Art an sich ab: und nachdem sie aufgehört haben als selten geschätzt zu werden, werden sie als gemein verachtet. Das einzige Mittel gegen ein solches Extrem ist, daß man im Glänzen ein Maaß beobachte: das Uebermäßige sei in der Vollkommenheit selbst; im Zeigen derselben aber sei Mäßigung. Je mehr eine Fackel leuchtet, desto mehr verzehrt sie sich und verkürzt ihre Dauer. Kargheit im Sichzeigen erhält erhöhte Wertschätzung zum Lohn.
Warum das Vortreffliche der moralischen Konjunktur unterworfen ist, Freund, das frage ich mich, wenn ich diesen Abschnitt lese. Die Antwort liegt wohl daran, dass es eine Unterscheidung zwischen dem vermeinlich und dem tatsächlich Vortrefflichen gibt. Wer nun wiederum den wahrhaftig ausgezeichneten Ideen Respekt zollt, dürfte von den Verstimmungen des Moral-Marktes verschont bleiben.
Wertvorstellungen ändern sich, echte Werte nicht.
Unterliegt das Gute einer Mode, verkehrt es sich problemlos ins Böse.
Zunächst, Freund, sei jeoch angemerkt, dass es sich bei Manille um ein Kartenspiel handelt, bei dem, gemeinhin, jedenfalls in Ihrem Landstrich, die Neun als oberste Trumpfkarte galt. Ein Stichspiel, das Ihnen als Hauptvergleich fürs Vortreffliche dient, ist stets eine Form von Kampf, ein, wenn Sie so wollen, Hauen und Stechen am Grünen Tisch. Und wie bei jedem Kartenspiel entscheidet das Glück, welche Karten wir als Spielerin oder Spieler in der Hand haben, um in die simulierte Schlacht zu ziehen. Bleibt die Frage der Strategie: wann und wie soll man seine Manille, die alle anderen Werte absticht, einsetzen? Gleich? Später? Am Ende? Und, wohl eine Frage des Charakters, lässt man durchblicken, dass man die Trumpfkarte hält? Müssen wir, eine Frage der Regeln, es möglicherweise gleich verlauten lassen? Oder dürfen die Zufallsfrohen die Manille in der HInterhand behalten, um, bei einer günstigen Gelegenheit, eine ordentliche Zahl an Karten überfallartig und heiter glucksend zu erbeuten?
Ich frage mich, worauf sich die von Ihnen hauptsächlich als Abscheulichkeit dargestellte Vortrefflchkeit bezieht: Auf die Repräsentation geerbter Macht? Auf die Zurschaustellung intellektueller Überlegenheit, die alles vermeintlich Andersgedachte besserwisserisch abkanzelt? Oder nimmt sie auf eine arbiträre theologische Gewissheit Bezug, die den Nicht-Eingeweihten oder den in der Kirchenhierarchie unten Angesiedelten um die Glaubensohren gehauen wird, dass ihnen schnell und auf alle Zeiten klar wird, wie klein, wie dumm, wie nichtig sie im Vergleich mit den erleuchteten Wahrheitseinsackern doch sind?
Um das Mitgefühl als Basis der Vortrefflichkeit dürfte es wohl eher nicht gegangen sein. Oder um Großzügigkeit. Oder um Liebe. Die Vortrefflichkeit, von der im Abschnitt gesprochen wird, ist eher eine materialistische, eine, wie wir heutzutage sagten, neoliberale.
Das Austeilen hat sui generis wenig mit dem Teilen zu tun, auch wenn die Zumesserinnen und Zumesser etwas anderes behaupten. Echte Vortrefflichkeit, schimpfen Sie mich ruhig einen Idealisten, liegt in der gleichmäßigen Teilhabe am Lebenskuchen. Kinder, die durchaus gierig sind, wissen das, müssen sie ein Tortenstück aufteilen. Jenes Kind, das mit einem Messer das Stück in zwei Hälften zu zerschneiden hat, wird, wenn es nicht zuerst auswählen darf, tunlichst darauf achten, gleich große Stücke zu schaffen. Ausnahmefälle, die sich um die Hingabe oder das Nichthabenwollen drehen, lassen wir bei diesem Experiment in Sachen Vortrefflichkeit außen vor.
Die Gier ist ein Dämon, der in uns wohnt, in allen, auf immer und ewig, zumindest als Überlebensinstinkt. Welche Art von WG wir mit ihr gründen, entscheidet über den Raum, den uns die Welt gewährt.
Das Brillante wird zum Tugendhaften, sobald es, gesellschaftlich, die richtigen Anreize gibt. Ohne Regeln regiert die Anarchie. Das Recht der Stärkeren sei das Unrecht, welches Blutvergießen provoziert.
Vortrefflichkeit hat nichts dagen, ins Hintertreffen zu gelangen, wenn es dem Glücke Aller dient.
1. Mai 2020, mit einem langen Sentiment vom 2. April 2019
Nicht die Manille sehn. Es ist ein Gebrechen alles Vortrefflichen, daß sein vieler Gebrauch zum Mißbrauch wird. Grade das Streben Aller danach führt zuletzt dahin, daß es Allen zum Ekel wird. Zu nichts zu taugen, ist ein großes Unglück; ein noch größres aber zu Allem taugen zu wollen: solche Leute verlieren durch zu vieles Gewinnen, und werden zuletzt Allen so sehr zum Abscheu, als sie anfangs begehrt waren. Diese Manillen nutzen die Vollkommenheiten jeder Art an sich ab: und nachdem sie aufgehört haben als selten geschätzt zu werden, werden sie als gemein verachtet. Das einzige Mittel gegen ein solches Extrem ist, daß man im Glänzen ein Maaß beobachte: das Uebermäßige sei in der Vollkommenheit selbst; im Zeigen derselben aber sei Mäßigung. Je mehr eine Fackel leuchtet, desto mehr verzehrt sie sich und verkürzt ihre Dauer. Kargheit im Sichzeigen erhält erhöhte Wertschätzung zum Lohn.
Warum das Vortreffliche der moralischen Konjunktur unterworfen ist, Freund, das frage ich mich, wenn ich diesen Abschnitt lese. Die Antwort liegt wohl daran, dass es eine Unterscheidung zwischen dem vermeinlich und dem tatsächlich Vortrefflichen gibt. Wer nun wiederum den wahrhaftig ausgezeichneten Ideen Respekt zollt, dürfte von den Verstimmungen des Moral-Marktes verschont bleiben.
Wertvorstellungen ändern sich, echte Werte nicht.
Unterliegt das Gute einer Mode, verkehrt es sich problemlos ins Böse.
Zunächst, Freund, sei jeoch angemerkt, dass es sich bei Manille um ein Kartenspiel handelt, bei dem, gemeinhin, jedenfalls in Ihrem Landstrich, die Neun als oberste Trumpfkarte galt. Ein Stichspiel, das Ihnen als Hauptvergleich fürs Vortreffliche dient, ist stets eine Form von Kampf, ein, wenn Sie so wollen, Hauen und Stechen am Grünen Tisch. Und wie bei jedem Kartenspiel entscheidet das Glück, welche Karten wir als Spielerin oder Spieler in der Hand haben, um in die simulierte Schlacht zu ziehen. Bleibt die Frage der Strategie: wann und wie soll man seine Manille, die alle anderen Werte absticht, einsetzen? Gleich? Später? Am Ende? Und, wohl eine Frage des Charakters, lässt man durchblicken, dass man die Trumpfkarte hält? Müssen wir, eine Frage der Regeln, es möglicherweise gleich verlauten lassen? Oder dürfen die Zufallsfrohen die Manille in der HInterhand behalten, um, bei einer günstigen Gelegenheit, eine ordentliche Zahl an Karten überfallartig und heiter glucksend zu erbeuten?
Ich frage mich, worauf sich die von Ihnen hauptsächlich als Abscheulichkeit dargestellte Vortrefflchkeit bezieht: Auf die Repräsentation geerbter Macht? Auf die Zurschaustellung intellektueller Überlegenheit, die alles vermeintlich Andersgedachte besserwisserisch abkanzelt? Oder nimmt sie auf eine arbiträre theologische Gewissheit Bezug, die den Nicht-Eingeweihten oder den in der Kirchenhierarchie unten Angesiedelten um die Glaubensohren gehauen wird, dass ihnen schnell und auf alle Zeiten klar wird, wie klein, wie dumm, wie nichtig sie im Vergleich mit den erleuchteten Wahrheitseinsackern doch sind?
Um das Mitgefühl als Basis der Vortrefflichkeit dürfte es wohl eher nicht gegangen sein. Oder um Großzügigkeit. Oder um Liebe. Die Vortrefflichkeit, von der im Abschnitt gesprochen wird, ist eher eine materialistische, eine, wie wir heutzutage sagten, neoliberale.
Das Austeilen hat sui generis wenig mit dem Teilen zu tun, auch wenn die Zumesserinnen und Zumesser etwas anderes behaupten. Echte Vortrefflichkeit, schimpfen Sie mich ruhig einen Idealisten, liegt in der gleichmäßigen Teilhabe am Lebenskuchen. Kinder, die durchaus gierig sind, wissen das, müssen sie ein Tortenstück aufteilen. Jenes Kind, das mit einem Messer das Stück in zwei Hälften zu zerschneiden hat, wird, wenn es nicht zuerst auswählen darf, tunlichst darauf achten, gleich große Stücke zu schaffen. Ausnahmefälle, die sich um die Hingabe oder das Nichthabenwollen drehen, lassen wir bei diesem Experiment in Sachen Vortrefflichkeit außen vor.
Die Gier ist ein Dämon, der in uns wohnt, in allen, auf immer und ewig, zumindest als Überlebensinstinkt. Welche Art von WG wir mit ihr gründen, entscheidet über den Raum, den uns die Welt gewährt.
Das Brillante wird zum Tugendhaften, sobald es, gesellschaftlich, die richtigen Anreize gibt. Ohne Regeln regiert die Anarchie. Das Recht der Stärkeren sei das Unrecht, welches Blutvergießen provoziert.
Vortrefflichkeit hat nichts dagen, ins Hintertreffen zu gelangen, wenn es dem Glücke Aller dient.
1. Mai 2020, mit einem langen Sentiment vom 2. April 2019
84.
Von den Feinden Nutzen ziehn. Man muß alle Sachen anzufassen verstehn, nicht bei der Schneide, wo sie verletzen, sondern beim Griff, wo sie beschützen; am meisten aber das Treiben der Widersacher. Dem Klugen nützen seine Feinde mehr, als dem Dummen seine Freunde. Das Mißwollen ebnet oft Berge von Schwierigkeiten, mit welchen es aufzunehmen die Gunst sich nicht getraute. Vielen haben ihre Größe ihre Feinde auferbaut. Gefährlicher als der Haß ist die Schmeichelei, weil diese die Flecken verhehlt, die jener auszulöschen arbeitet. Der Kluge macht aus dem Groll einen Spiegel, welcher treuer ist als der der Zuneigung, und beugt dann der Nachrede seiner Fehler vor, oder bessert sie. Denn die Behutsamkeit wird groß, wenn Nebenbuhlerei und Mißwollen die Grenznachbarn sind.
Nun, Freund, aus Kritik zu lernen, ist, selbstverständlich, eine gute Sache, häufig notwendig und macht uns, im Idealfall, zu besseren Menschen. Mir klappern jedoch die Zähne, sobald ich mir vorstelle, dass ich mein Verhalten an den Urteilen meiner Feindinnen und Feinde ausrichte. Es stellt sich die berechtigte Frage, warum sie und ich Antagonisten sind. Selten liegt's allein an persönlichen Animositäten, meistens kommen Sachverhalte hinzu, die sich nicht überbrücken lassen. Ist die Kritik also einfach eine Verneinung meiner Position, lässt sich daraus wenig Gewinn ziehen, aber viel Verdruss. Echte Freundinnen und echte Freunde, das nur am Rande, sind eh kritisch, ohne dabei nur an sich selbst zu denken oder mich verletzen zu wollen. Mir scheint, dass sich Pauschalurteile in dieser Sache verbieten.
___________
Mir ist gar seltsam, Freund, dass ich ausgerechnet heute, am All Fool's Day 2019, auf den Teil des Orakels antworte, der den vorläufigen Namen für mein Projekt liefert: Über den Nutzen Deiner Feinde. Denn natürlich bin ich mir, von Zeit zu Zeit, wie ein Narr vorgekommen, dass ich, Ihnen antwortend, ungezwungen ins dunkle Nichts der Zukunft schreibe, die Vergangenheit locker im Blick. Will sagen: ich habe mich, schnell von außen geurteilt, mit den Korrespondenzen aus der Verankerung des Nachvollziehbaren gerissen, aber fühle mich, innen, in mir selbst, Ihnen, Pardon, wenn ich Sie so nenne, aber ich wähle die Anrede als Anerkennung, fühle mich Ihnen, Feind, ganz nahe. Seit meiner Kindheit bestehe ich darauf, viele Freundinnen und Freunde zu haben - nämlich Bücher, Schriften von Autorinnen und Autoren, die, in aller Regel, bereits tot sind, und verstehen Sie mich bitte richtig: ich bezeichne die Bücher als meine Freundinnen und Freunde, nicht die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich, versteht sich, weder kenne noch kennenlernen werde und, um ehrlich zu sein, an sich auch nicht unbedingt treffen möchte; was uns aber vom Pfad der ergiebigen Feindschaft führt, auf dem's heute zu wandeln gilt.
Eine fruchtbare Feindin oder ein fruchtbarer Feind - und allein von denen ist in dieser Korrespondenz die Rede, die ertragsarmen Widersacherinnen und Widersacher, die der Mehrheit angehören, interessieren mich deutlich weniger als die förderlichen -, eine fruchtbare Feindin oder ein fruchtbarer Feind sei eine verkappte Freundin oder ein verkappter Freund, der oder die mich aufmerksam und fintenreich aus der falschen Deckung lockt.
Nun, als Antwort, auf Ihre herrlichen Sottissen, möchte ich mich an einen knappen Dekalog zur produktiven Abneigung wagen, einer Art von Zehn Gebote der Feindschaft:
1. Wer keine Feindinnen und Feinde hat, hat keine Positionen, die das Leben lohnen.
2. Eine wertvolle Feindschaft ist Freundschaft auf allerhöchstem Niveau.
3. Wer von weichen Jasagern umgeben ist, vergisst die Fruchtbarkeit des scharfen Neins.
4. Echte Feindinnen und Feinde halten uns wach, falsche Freundinnen und Freunde ermüden uns.
5. Grundlegende Animositäten erregen die Gier, tiefer und ausführlicher zu denken.
6. Die besten Feindinnen und Feinde sind gute Freundinnen und Freunde, die man sich selbst als Sparringspartnerin oder Sparringspartner wählt.
7. Das eigentliche Wesen, wenn man so will: die Wurzel der Feindschaft sei enttäuschte Liebe.
8. Hass gehöre nicht zur Feindschaft, sondern zur Dummheit.
9. Im Leben sei nichts einfacher, als keine vernünftigen Feindinnen und Feinde zu haben.
10. Mit den ultimativen Feindinnen und Feinden lohnte es sich am ehesten, Tisch oder Herd oder Bett zu teilen.
23. April 2020 und 1. April 2019
Von den Feinden Nutzen ziehn. Man muß alle Sachen anzufassen verstehn, nicht bei der Schneide, wo sie verletzen, sondern beim Griff, wo sie beschützen; am meisten aber das Treiben der Widersacher. Dem Klugen nützen seine Feinde mehr, als dem Dummen seine Freunde. Das Mißwollen ebnet oft Berge von Schwierigkeiten, mit welchen es aufzunehmen die Gunst sich nicht getraute. Vielen haben ihre Größe ihre Feinde auferbaut. Gefährlicher als der Haß ist die Schmeichelei, weil diese die Flecken verhehlt, die jener auszulöschen arbeitet. Der Kluge macht aus dem Groll einen Spiegel, welcher treuer ist als der der Zuneigung, und beugt dann der Nachrede seiner Fehler vor, oder bessert sie. Denn die Behutsamkeit wird groß, wenn Nebenbuhlerei und Mißwollen die Grenznachbarn sind.
Nun, Freund, aus Kritik zu lernen, ist, selbstverständlich, eine gute Sache, häufig notwendig und macht uns, im Idealfall, zu besseren Menschen. Mir klappern jedoch die Zähne, sobald ich mir vorstelle, dass ich mein Verhalten an den Urteilen meiner Feindinnen und Feinde ausrichte. Es stellt sich die berechtigte Frage, warum sie und ich Antagonisten sind. Selten liegt's allein an persönlichen Animositäten, meistens kommen Sachverhalte hinzu, die sich nicht überbrücken lassen. Ist die Kritik also einfach eine Verneinung meiner Position, lässt sich daraus wenig Gewinn ziehen, aber viel Verdruss. Echte Freundinnen und echte Freunde, das nur am Rande, sind eh kritisch, ohne dabei nur an sich selbst zu denken oder mich verletzen zu wollen. Mir scheint, dass sich Pauschalurteile in dieser Sache verbieten.
___________
Mir ist gar seltsam, Freund, dass ich ausgerechnet heute, am All Fool's Day 2019, auf den Teil des Orakels antworte, der den vorläufigen Namen für mein Projekt liefert: Über den Nutzen Deiner Feinde. Denn natürlich bin ich mir, von Zeit zu Zeit, wie ein Narr vorgekommen, dass ich, Ihnen antwortend, ungezwungen ins dunkle Nichts der Zukunft schreibe, die Vergangenheit locker im Blick. Will sagen: ich habe mich, schnell von außen geurteilt, mit den Korrespondenzen aus der Verankerung des Nachvollziehbaren gerissen, aber fühle mich, innen, in mir selbst, Ihnen, Pardon, wenn ich Sie so nenne, aber ich wähle die Anrede als Anerkennung, fühle mich Ihnen, Feind, ganz nahe. Seit meiner Kindheit bestehe ich darauf, viele Freundinnen und Freunde zu haben - nämlich Bücher, Schriften von Autorinnen und Autoren, die, in aller Regel, bereits tot sind, und verstehen Sie mich bitte richtig: ich bezeichne die Bücher als meine Freundinnen und Freunde, nicht die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich, versteht sich, weder kenne noch kennenlernen werde und, um ehrlich zu sein, an sich auch nicht unbedingt treffen möchte; was uns aber vom Pfad der ergiebigen Feindschaft führt, auf dem's heute zu wandeln gilt.
Eine fruchtbare Feindin oder ein fruchtbarer Feind - und allein von denen ist in dieser Korrespondenz die Rede, die ertragsarmen Widersacherinnen und Widersacher, die der Mehrheit angehören, interessieren mich deutlich weniger als die förderlichen -, eine fruchtbare Feindin oder ein fruchtbarer Feind sei eine verkappte Freundin oder ein verkappter Freund, der oder die mich aufmerksam und fintenreich aus der falschen Deckung lockt.
Nun, als Antwort, auf Ihre herrlichen Sottissen, möchte ich mich an einen knappen Dekalog zur produktiven Abneigung wagen, einer Art von Zehn Gebote der Feindschaft:
1. Wer keine Feindinnen und Feinde hat, hat keine Positionen, die das Leben lohnen.
2. Eine wertvolle Feindschaft ist Freundschaft auf allerhöchstem Niveau.
3. Wer von weichen Jasagern umgeben ist, vergisst die Fruchtbarkeit des scharfen Neins.
4. Echte Feindinnen und Feinde halten uns wach, falsche Freundinnen und Freunde ermüden uns.
5. Grundlegende Animositäten erregen die Gier, tiefer und ausführlicher zu denken.
6. Die besten Feindinnen und Feinde sind gute Freundinnen und Freunde, die man sich selbst als Sparringspartnerin oder Sparringspartner wählt.
7. Das eigentliche Wesen, wenn man so will: die Wurzel der Feindschaft sei enttäuschte Liebe.
8. Hass gehöre nicht zur Feindschaft, sondern zur Dummheit.
9. Im Leben sei nichts einfacher, als keine vernünftigen Feindinnen und Feinde zu haben.
10. Mit den ultimativen Feindinnen und Feinden lohnte es sich am ehesten, Tisch oder Herd oder Bett zu teilen.
23. April 2020 und 1. April 2019
83.
Sich verzeihliche Fehler erlauben: denn eine Nachlässigkeit ist zu Zeiten die größte Empfehlung der Talente. Der Neid übt einen niederträchtigen, frevelhaften Ostracismus aus. Dem ganz Vollkommnen wird er es zum Fehler anrechnen, daß es keine Fehler hat, und wird es als ganz vollkommen ganz verurtheilen. Er wird zum Argus, um am Vortrefflichen Makel zu suchen, wenn auch nur zum Trost. Der Tadel trifft, wie der Blitz, grade die höchsten Leistungen. Daher schlafe Homer bisweilen, und man affektire einige Nachlässigkeiten, sei es im Genie, sei es in der Tapferkeit, – jedoch nie in der Klugheit, – um das Mißwollen zu besänftigen, daß es nicht berste vor Gift. Man werfe gleichsam dem Stier des Neides den Mantel zu, die Unsterblichkeit zu retten.
Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, Freund, was ich von Ihrer Vorspielung falscher Fehler halten soll. Einerseits, neidlos zugegeben, ein genialer Schachzug, um sich aus der Zu-perfekt-Schusslinie zu begeben, andererseits bleiben Mängel haften, auch wenn wir sie nur vorspielen. Und Defekte haben, das ist jedenfalls meine Erfahrung, eine maßgebliche Eigenschaft: sie verselbständigen und vermehren sich. Reist uns erst der Ruf voraus, jene Fehler zu haben, sehen Leute diese Versehen, selbst wenn sie gar nicht vorhanden sind. Wer sich selbst beschmutzt - und sei's theoretisch -, beginnt für andere, praktisch zu stinken.
Fehler kommen von allein.
Wer Mängel sucht, bei sich und bei anderen, stößt auf welche, die er gar nicht finden wollte.
Außerdem, Freund, klingt Ihr Ratschlag so, als sollten wir unsere Fehler planen, zumindest die verzeihlichen. Wer wo und wann verzeihen soll, lassen Sie dabei, weitgehend, bis auf die nicht-üble Beleumdung durch die notorischen Neidhammel, aus. Dass Ihre angeblich Perfekten einige Nachlässigkeiten affektieren, um den Argusaugen was zum Glotzen zu bieten, tönt wie eine frappante Anleitung zur schmucken Charakterschwäche: Sei ein kleiner Dummkopf, damit dich große Dummköpfe mittelmäßig finden.
Problematisch ist solch eine hanebüchnene Idee, da wir uns, erstens, ratze fatze an die dilettantische Trottligkeit gewöhnen und da, zweitens, das Verzeihliche - was die Vorspielung schlechter Tatsachen so unentschuldbar macht -, da also das Verzeihliche durchaus als etwas Unverzeihliches aufgefasst werden könnte. Es gibt nicht umsonst den schönen Spruch: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.
Nichts gegen das Ungenierte, natürlich nicht. Ich bin, Sie wissen's schon, kein Anhänger des Gekünstelten. Das ehrliche Geraderaus dient mir als lauterer Weg, um fröhlich und nachdenklich aneckend durchs herrliche Leben zu stolpern. Aber in dem ruinierten Ruf liegt eben auch die ernsthafte Gefahr, dass uns über kurz oder lang der vernünftige Kompass komplett abhandenkommt.
Haben wir nichts mehr zu verlieren, geben wir, häufig genug, die Hoffnung auf ein tugendhaftes Leben auf. Bist du Strandgut, treiben dich eben die Wellen umher, wie's ihnen passt.
Wer absichtlich Fehler plant, der Sittsamkeit bewusst abscnwört, um falschen Beifall von der falschen Stelle zu erhaschen, macht sich der moralischen Obsoleszenz schuldig.
16. April 2020, mit einem Sentiment vom 31. März 2019
Sich verzeihliche Fehler erlauben: denn eine Nachlässigkeit ist zu Zeiten die größte Empfehlung der Talente. Der Neid übt einen niederträchtigen, frevelhaften Ostracismus aus. Dem ganz Vollkommnen wird er es zum Fehler anrechnen, daß es keine Fehler hat, und wird es als ganz vollkommen ganz verurtheilen. Er wird zum Argus, um am Vortrefflichen Makel zu suchen, wenn auch nur zum Trost. Der Tadel trifft, wie der Blitz, grade die höchsten Leistungen. Daher schlafe Homer bisweilen, und man affektire einige Nachlässigkeiten, sei es im Genie, sei es in der Tapferkeit, – jedoch nie in der Klugheit, – um das Mißwollen zu besänftigen, daß es nicht berste vor Gift. Man werfe gleichsam dem Stier des Neides den Mantel zu, die Unsterblichkeit zu retten.
Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, Freund, was ich von Ihrer Vorspielung falscher Fehler halten soll. Einerseits, neidlos zugegeben, ein genialer Schachzug, um sich aus der Zu-perfekt-Schusslinie zu begeben, andererseits bleiben Mängel haften, auch wenn wir sie nur vorspielen. Und Defekte haben, das ist jedenfalls meine Erfahrung, eine maßgebliche Eigenschaft: sie verselbständigen und vermehren sich. Reist uns erst der Ruf voraus, jene Fehler zu haben, sehen Leute diese Versehen, selbst wenn sie gar nicht vorhanden sind. Wer sich selbst beschmutzt - und sei's theoretisch -, beginnt für andere, praktisch zu stinken.
Fehler kommen von allein.
Wer Mängel sucht, bei sich und bei anderen, stößt auf welche, die er gar nicht finden wollte.
Außerdem, Freund, klingt Ihr Ratschlag so, als sollten wir unsere Fehler planen, zumindest die verzeihlichen. Wer wo und wann verzeihen soll, lassen Sie dabei, weitgehend, bis auf die nicht-üble Beleumdung durch die notorischen Neidhammel, aus. Dass Ihre angeblich Perfekten einige Nachlässigkeiten affektieren, um den Argusaugen was zum Glotzen zu bieten, tönt wie eine frappante Anleitung zur schmucken Charakterschwäche: Sei ein kleiner Dummkopf, damit dich große Dummköpfe mittelmäßig finden.
Problematisch ist solch eine hanebüchnene Idee, da wir uns, erstens, ratze fatze an die dilettantische Trottligkeit gewöhnen und da, zweitens, das Verzeihliche - was die Vorspielung schlechter Tatsachen so unentschuldbar macht -, da also das Verzeihliche durchaus als etwas Unverzeihliches aufgefasst werden könnte. Es gibt nicht umsonst den schönen Spruch: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.
Nichts gegen das Ungenierte, natürlich nicht. Ich bin, Sie wissen's schon, kein Anhänger des Gekünstelten. Das ehrliche Geraderaus dient mir als lauterer Weg, um fröhlich und nachdenklich aneckend durchs herrliche Leben zu stolpern. Aber in dem ruinierten Ruf liegt eben auch die ernsthafte Gefahr, dass uns über kurz oder lang der vernünftige Kompass komplett abhandenkommt.
Haben wir nichts mehr zu verlieren, geben wir, häufig genug, die Hoffnung auf ein tugendhaftes Leben auf. Bist du Strandgut, treiben dich eben die Wellen umher, wie's ihnen passt.
Wer absichtlich Fehler plant, der Sittsamkeit bewusst abscnwört, um falschen Beifall von der falschen Stelle zu erhaschen, macht sich der moralischen Obsoleszenz schuldig.
16. April 2020, mit einem Sentiment vom 31. März 2019
82.
Nichts bis auf die Hefen leeren, weder das Schlimme, noch das Gute. Ein Weiser führte auf Mäßigung die ganze Weisheit zurück. Das größte Recht wird zum Unrecht; und drückt man die Apfelsine zu sehr, so giebt sie zuletzt das Bittre. Auch im Genuß gehe man nie aufs Aeußerste. Sogar der Geist wird stumpf, wenn man ihn bis aufs Letzte anstrengt: und Blut statt Milch erhält, wer auf eine grausame Weise abzapft.
Ob es uns jemals gelingen wird, vernünftig Maß zu halten, Freund? Ich habe da meine Bedenken - und bin mir auch ganz und gar nicht sicher, ob das Über-die-Stränge-Schlagen nicht erst das Dasein lebenswert macht. Wer sich niemals erlaubt, den obersten Knopf zu lockern, leidet halt an heißen Tagen an Atemnot und schwitzt sich zu Tode. Mir scheint, dass wir recht gut wissen, wann wir das Visier herunterlassen müssen, wann es oben zu sein hat. Das Halbe, heißt es nicht so schön?, ist halt nichts Ganzes, und die verordnete Mäßigung gehört nun mal zum Halbherzigen, auch wenn sie uns die Anerkennung der Behörden verschafft.
Nachschlagen, Freund, musste ich übrigens gerade, was es heißt: bis auf die Hefen leeren. Als Braurückstand sammelten sich einst im Bier, am Boden des Glases, Gärungsreste, die, für die meisten Trinkerinnen und Trinker, weniger schmackhaft waren als der obere Teil. Interessant ist, dass Bier seit mindestens 9000 Jahren gebraut wird, wir aber erst seit den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wissen, dass maßgeblich die Hefe für die Gärung verantwortlich ist, die zuvor als Abfallprodukt angesehen worden war. Eine Erkenntnis, die der damaligen Wissenschaft so gar nicht schmeckte. Die Forscher, allesamt Männer, und ihre Einsichten wurden von anderen Wissenschaftlern, gleichfalls nur Männer, verunglimpft. Man(n) war, buchstäblich, nicht bereit, das Glas der Erkenntnis bis auf die Hefen zu leeren. Ein Fehler, der auch Ihrem Bild die Durchschlagskraft nimmt. Gerade das Aufdengrundgehen zeichnet die Weisen aus, das Nichtlockerlassen, das wissenschaftliche und philosophische Insistieren.
Wer von der Wahrheit ablässt, sei den Lügen näher, als er oder sie gelten lassen will.
Das Halbe wird nichts Ganzes, auch wenn wir es doppelt anhäufen.
Eine Anmerkung noch zur Grausamkeit des kapitalistischen Bis-aufs-Blut-Pressens. Hier treffen wir uns, versteht sich. Die Güte weiß um und beachtet die Grenzen der Leistungsfähigkeit - und wenn ich Grenze sage, meine ich, dass es einer enormen Pufferzone zwischen dem Leistungslimit und der tatsächlichen Arbeit bedarf. Der Mensch sei nur frei, wenn er genug Freizeit zum Denken und für die Liebe, zum Faulenzen und für den Sport, zum Spiel und den Schlaf hat. Und die Unfreiheit anderer, von der wir stillschweigend profitieren, ist und bleibt, was wir niemals vergessen sollten, stets unsere eigene.
31. März 2020, mit einem Sentiment vom 30. März 2019
Nichts bis auf die Hefen leeren, weder das Schlimme, noch das Gute. Ein Weiser führte auf Mäßigung die ganze Weisheit zurück. Das größte Recht wird zum Unrecht; und drückt man die Apfelsine zu sehr, so giebt sie zuletzt das Bittre. Auch im Genuß gehe man nie aufs Aeußerste. Sogar der Geist wird stumpf, wenn man ihn bis aufs Letzte anstrengt: und Blut statt Milch erhält, wer auf eine grausame Weise abzapft.
Ob es uns jemals gelingen wird, vernünftig Maß zu halten, Freund? Ich habe da meine Bedenken - und bin mir auch ganz und gar nicht sicher, ob das Über-die-Stränge-Schlagen nicht erst das Dasein lebenswert macht. Wer sich niemals erlaubt, den obersten Knopf zu lockern, leidet halt an heißen Tagen an Atemnot und schwitzt sich zu Tode. Mir scheint, dass wir recht gut wissen, wann wir das Visier herunterlassen müssen, wann es oben zu sein hat. Das Halbe, heißt es nicht so schön?, ist halt nichts Ganzes, und die verordnete Mäßigung gehört nun mal zum Halbherzigen, auch wenn sie uns die Anerkennung der Behörden verschafft.
Nachschlagen, Freund, musste ich übrigens gerade, was es heißt: bis auf die Hefen leeren. Als Braurückstand sammelten sich einst im Bier, am Boden des Glases, Gärungsreste, die, für die meisten Trinkerinnen und Trinker, weniger schmackhaft waren als der obere Teil. Interessant ist, dass Bier seit mindestens 9000 Jahren gebraut wird, wir aber erst seit den Dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wissen, dass maßgeblich die Hefe für die Gärung verantwortlich ist, die zuvor als Abfallprodukt angesehen worden war. Eine Erkenntnis, die der damaligen Wissenschaft so gar nicht schmeckte. Die Forscher, allesamt Männer, und ihre Einsichten wurden von anderen Wissenschaftlern, gleichfalls nur Männer, verunglimpft. Man(n) war, buchstäblich, nicht bereit, das Glas der Erkenntnis bis auf die Hefen zu leeren. Ein Fehler, der auch Ihrem Bild die Durchschlagskraft nimmt. Gerade das Aufdengrundgehen zeichnet die Weisen aus, das Nichtlockerlassen, das wissenschaftliche und philosophische Insistieren.
Wer von der Wahrheit ablässt, sei den Lügen näher, als er oder sie gelten lassen will.
Das Halbe wird nichts Ganzes, auch wenn wir es doppelt anhäufen.
Eine Anmerkung noch zur Grausamkeit des kapitalistischen Bis-aufs-Blut-Pressens. Hier treffen wir uns, versteht sich. Die Güte weiß um und beachtet die Grenzen der Leistungsfähigkeit - und wenn ich Grenze sage, meine ich, dass es einer enormen Pufferzone zwischen dem Leistungslimit und der tatsächlichen Arbeit bedarf. Der Mensch sei nur frei, wenn er genug Freizeit zum Denken und für die Liebe, zum Faulenzen und für den Sport, zum Spiel und den Schlaf hat. Und die Unfreiheit anderer, von der wir stillschweigend profitieren, ist und bleibt, was wir niemals vergessen sollten, stets unsere eigene.
31. März 2020, mit einem Sentiment vom 30. März 2019
81.
Seinen Glanz erneuern. Es ist das Vorrecht des Phönix. Die Trefflichkeiten werden alt, und mit ihnen der Ruhm: ein mittelmäßiges Neues sticht oft das Ausgezeichneteste, wenn es alt geworden ist, aus. Man bewirke also seine Wiedergeburt, in der Tapferkeit, im Genie, im Glück, in Allem. Man trete mit neuen, glänzenden Sachen hervor und gehe, wie die Sonne, wiederholt auf. Auch wechsele man den Schauplatz seines Glanzes, damit hier das Entbehren Verlangen, dort die Neuheit Beifall erwecke.
Wohl gesprochen, Freund, und doch - ein Doch, das mir selbst tief im Nacken sitzt -, und doch schimmert die neoliberale Marotte durch, die, beinahe vollkommen, jedenfalls in meiner internetten Zeit, das Dasein bestimmt, nämlich die Angewohnheit des Wir-tragen-unsere-Haut-zu-Markte. Die Qualitäten, die wir verkörpern, verkommen, scheint mir, durch das Lechzen nach öffentlicher Anerkennung zur Ware. Andererseits, was gleichsam auch stimmt, bringt es dem Gemeinwohl nichts, wenn Vorräte für schlechte Zeiten, die eine Stadt angelegt hat, in eben solchen üblen Tagen nicht ausgeteilt werden, da es schließlich noch schlimmer kommen könnte. Wir leben im Jetzt, und das Heute sei der Rahmen, der uns Kraft geben muss. Wenn ich's mir recht überlege, mögen Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben: nur wer sich zeigt, wird wahrgenommen.
Der Jugendwahn, von dem Sie, Freund, gleichzeitig auch Zeugnis ablegen, den Sie, indirekt, verdammen, hat tatsächlich allerdings durchaus Vorteile. Gäbe es allein die sture Festlegung auf die manchmal weise Greisinnen- und Greisenerfahrung und die zuverlässig klapprigen Von-vorvorgestern-Vorurteile, bliebe der Fortschritt auf der Strecke. Das Heißdampfmachen und Scharfanbraten seien, hoffentlich, der neuen Generation eigen, das Langsamausgaren und Lauwarmköcheln, wahrscheinlich, oft genug der alten, die sowohl mit dem Verdauungstrakt als auch dem Besteck kämpft. Beide Zubereitungsarten führen zur Mahlzeit, die auf ihre Weise sättigt, wohl wahr. Und beide haben, zweifelsfrei, ihre Berechtigung und ihren Platz. Ich muss Ihnen aber dennoch sagen, dass mich der Anspruch, den gerade alte Männer, deren Mittelmäßigkeit und Brutalität allein trefflich sind, an und auf die Macht erheben, dass mich diese unendliche, diese verbohrte Hybris anwidert.
Der Phönix aus der Asche ist, wenigstens in der politischen Arena, oft genug ein feiger Geier, der zurückkommt, um alte Rechnungen zu begleichen, sich weiter am siechenden Volkskörper zu laben.
In der Kunst dagegen, und nun sprechen wir gar nicht mehr vom Alter, sondern von der Methode, in der Kunst dagegen sei die Umorientierung das schöpferische A&O. Fühlen wir uns zu sicher und geborgen in unseren Errungenschaften, regiert das Mittelmaß, wird die Kunst zum bloßen Handwerk - was ganz und gar nicht schlecht ist, gewiss nicht, auch Freude und Geld bringen kann, was aber eben keine Kunst mehr ist, keinen Fortschritt im eigenen Denken und Schaffen bringt.
Sich von sich selbst zu entfernen, um anschließend ganz bei sich zu sein, sei die große Herausforderung des Seins, das doch aus steten Bewegungen besteht.
Der absolute Stillstand sei der Tod, der halbe Abschied das beständige Noch-Gelingen.
Im neuen Scheitern liegt, demnächst, Entwicklung.
Wer einen Käfig sucht, sei schon längst in einem gefangen.
30. März 2020, mit einem Sentiment vom 29. März 2019
Seinen Glanz erneuern. Es ist das Vorrecht des Phönix. Die Trefflichkeiten werden alt, und mit ihnen der Ruhm: ein mittelmäßiges Neues sticht oft das Ausgezeichneteste, wenn es alt geworden ist, aus. Man bewirke also seine Wiedergeburt, in der Tapferkeit, im Genie, im Glück, in Allem. Man trete mit neuen, glänzenden Sachen hervor und gehe, wie die Sonne, wiederholt auf. Auch wechsele man den Schauplatz seines Glanzes, damit hier das Entbehren Verlangen, dort die Neuheit Beifall erwecke.
Wohl gesprochen, Freund, und doch - ein Doch, das mir selbst tief im Nacken sitzt -, und doch schimmert die neoliberale Marotte durch, die, beinahe vollkommen, jedenfalls in meiner internetten Zeit, das Dasein bestimmt, nämlich die Angewohnheit des Wir-tragen-unsere-Haut-zu-Markte. Die Qualitäten, die wir verkörpern, verkommen, scheint mir, durch das Lechzen nach öffentlicher Anerkennung zur Ware. Andererseits, was gleichsam auch stimmt, bringt es dem Gemeinwohl nichts, wenn Vorräte für schlechte Zeiten, die eine Stadt angelegt hat, in eben solchen üblen Tagen nicht ausgeteilt werden, da es schließlich noch schlimmer kommen könnte. Wir leben im Jetzt, und das Heute sei der Rahmen, der uns Kraft geben muss. Wenn ich's mir recht überlege, mögen Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben: nur wer sich zeigt, wird wahrgenommen.
Der Jugendwahn, von dem Sie, Freund, gleichzeitig auch Zeugnis ablegen, den Sie, indirekt, verdammen, hat tatsächlich allerdings durchaus Vorteile. Gäbe es allein die sture Festlegung auf die manchmal weise Greisinnen- und Greisenerfahrung und die zuverlässig klapprigen Von-vorvorgestern-Vorurteile, bliebe der Fortschritt auf der Strecke. Das Heißdampfmachen und Scharfanbraten seien, hoffentlich, der neuen Generation eigen, das Langsamausgaren und Lauwarmköcheln, wahrscheinlich, oft genug der alten, die sowohl mit dem Verdauungstrakt als auch dem Besteck kämpft. Beide Zubereitungsarten führen zur Mahlzeit, die auf ihre Weise sättigt, wohl wahr. Und beide haben, zweifelsfrei, ihre Berechtigung und ihren Platz. Ich muss Ihnen aber dennoch sagen, dass mich der Anspruch, den gerade alte Männer, deren Mittelmäßigkeit und Brutalität allein trefflich sind, an und auf die Macht erheben, dass mich diese unendliche, diese verbohrte Hybris anwidert.
Der Phönix aus der Asche ist, wenigstens in der politischen Arena, oft genug ein feiger Geier, der zurückkommt, um alte Rechnungen zu begleichen, sich weiter am siechenden Volkskörper zu laben.
In der Kunst dagegen, und nun sprechen wir gar nicht mehr vom Alter, sondern von der Methode, in der Kunst dagegen sei die Umorientierung das schöpferische A&O. Fühlen wir uns zu sicher und geborgen in unseren Errungenschaften, regiert das Mittelmaß, wird die Kunst zum bloßen Handwerk - was ganz und gar nicht schlecht ist, gewiss nicht, auch Freude und Geld bringen kann, was aber eben keine Kunst mehr ist, keinen Fortschritt im eigenen Denken und Schaffen bringt.
Sich von sich selbst zu entfernen, um anschließend ganz bei sich zu sein, sei die große Herausforderung des Seins, das doch aus steten Bewegungen besteht.
Der absolute Stillstand sei der Tod, der halbe Abschied das beständige Noch-Gelingen.
Im neuen Scheitern liegt, demnächst, Entwicklung.
Wer einen Käfig sucht, sei schon längst in einem gefangen.
30. März 2020, mit einem Sentiment vom 29. März 2019
80.
Bedacht im Erkundigen. Man lebt hauptsächlich auf Erkundigung. Das Wenigste ist, was wir sehn: wir leben auf Treu und Glauben. Nun ist aber das Ohr die Nebenthüre der Wahrheit, die Hauptthüre der Lüge. Die Wahrheit wird meistens gesehn, nur ausnahmsweise gehört. Selten gelangt sie rein und unverfälscht zu uns, am wenigsten, wann sie von Weitem kommt: da hat sie immer eine Beimischung von den Affekten, durch die sie gieng. Die Leidenschaft färbt Alles, was sie berührt, mit ihren Farben, bald günstig, bald ungünstig. Sie bezweckt immer irgend einen Eindruck: daher leihe man nur mit großer Behutsamkeit sein Ohr dem Lober, mit noch größerer dem Tadler. In diesem Punkt ist unsre ganze Aufmerksamkeit vonnöthen, damit wir die Absicht des Vermittelnden herausfinden und schon zum voraus sehn, mit welchem Fuß er vortritt. Die schlaue Ueberlegung sei der Wardein des Übertriebenen und des Falschen.
Nun, Freund, als leidenschaftlicher Hörer von Musik kann ich Ihnen sagen: es gibt sie, es gibt die Wahrheit des Hörens. Natürlich, mir ist klar, dass Sie nicht von den Klangkünsten sprechen, aber ich führe die Musik an, um die Lörichkeit Ihres Urteils und, auch das, meine Voreingenommenheit zu zeigen. Denn selbstverständlich höre ich nur, was ich hören möchte - und hören kann. Selbst nach vielen Jahren des intensiven Musikhörens, bin ich davon überrascht, wie wenig ich verstehe und wie sehr sich meine Eindrücke von Mal zu Mal ändern. Es gibt Musik, die mich niemals langweilt, weil sie unberechenbar ist. Sie kennt weder Lob noch Tadel. Ich bin ihr an sich egal, und diese Art großartiger Autonomie begeistert mich, der ich nur zu gern selbstbewusst und frei handelte und dächte.
Nichts als der Moment sei wahr, auch wenn er uns belügt.
Noch gilt es, ein Danke an den Translator für den Münzprüfer auszusprechen, jenen Wardein, dessen Gegenwart mir nicht mehr geläufig war, dessen edle Tätigkeit, das Wardieren, mir gleichsam entglitten schien. Die Begriffe, welche in uns stumm ausharren, im Winterschlaf, die Silben kaltgestellt, die Begriffe frohlocken, wecken wir sie wieder auf und laden sie zum Plaudern ein. Ob sie danach, erschöpft, erneut entgleiten, tut wenig zur Sache. Dass sie der Stille des abseitigen Wortschatzes entkommen konnten, lässt uns und sie jubilieren.
Wer sich wenig zeigt, erregt, oft genug, am meisten Aufsehen. Steht man immer und ewig im Lampenlicht, wird man unser - dem Abbild, das wir anbieten - nicht umsonst überdrüssig; auch wenn wir's nicht wahrhaben wollen, und wohl sogar meistens gerade dann. Ablehnung und Auswechselung kommen selten im richtigen Augenblick, und ist's doch der Fall, wollen wir, zunächst, eher nichts von ihnen wissen.
Damit zum Hörensagen, dem Spießrutenlaufen der Wahrheit, die auf dem Weg in die Freiheit nicht selten einiges an Substanz verliert. Die Erkundigung, die fremdbestimmte, die man uns auftischt, wird schal, je mehr Münder sie von innen gesehen hat. Der Stuss legt sich eben mit Vorliebe aufs Tradierte, dessen ursprüngliche Echtheit - als eine Glaubwürdigkeit unter vielen - geraume Zeit einem falschen Brauchtum gewichen ist, nunmehr als Mittel zum Machterhalt missbraucht wird. Die wahre Erdkunde findet in uns durch uns und durch andere statt, die mit uns klar und aufrichtig sprechen, als hätten sie keine Angst vor der Wahrhaftigkeit, als wäre ihnen nur daran gelegen, mit der konstruktiven Kritik ins Haus zu fallen und selbst, in aller Freundschaft, mit Verstand gescholten und umgetopft zu werden.
Wer denkt, braucht und fordert den Widerspruch. Wer henkt, entledigt sich seiner.
9. März 2020, mit einem Sentiment vom 28. März 2019
Bedacht im Erkundigen. Man lebt hauptsächlich auf Erkundigung. Das Wenigste ist, was wir sehn: wir leben auf Treu und Glauben. Nun ist aber das Ohr die Nebenthüre der Wahrheit, die Hauptthüre der Lüge. Die Wahrheit wird meistens gesehn, nur ausnahmsweise gehört. Selten gelangt sie rein und unverfälscht zu uns, am wenigsten, wann sie von Weitem kommt: da hat sie immer eine Beimischung von den Affekten, durch die sie gieng. Die Leidenschaft färbt Alles, was sie berührt, mit ihren Farben, bald günstig, bald ungünstig. Sie bezweckt immer irgend einen Eindruck: daher leihe man nur mit großer Behutsamkeit sein Ohr dem Lober, mit noch größerer dem Tadler. In diesem Punkt ist unsre ganze Aufmerksamkeit vonnöthen, damit wir die Absicht des Vermittelnden herausfinden und schon zum voraus sehn, mit welchem Fuß er vortritt. Die schlaue Ueberlegung sei der Wardein des Übertriebenen und des Falschen.
Nun, Freund, als leidenschaftlicher Hörer von Musik kann ich Ihnen sagen: es gibt sie, es gibt die Wahrheit des Hörens. Natürlich, mir ist klar, dass Sie nicht von den Klangkünsten sprechen, aber ich führe die Musik an, um die Lörichkeit Ihres Urteils und, auch das, meine Voreingenommenheit zu zeigen. Denn selbstverständlich höre ich nur, was ich hören möchte - und hören kann. Selbst nach vielen Jahren des intensiven Musikhörens, bin ich davon überrascht, wie wenig ich verstehe und wie sehr sich meine Eindrücke von Mal zu Mal ändern. Es gibt Musik, die mich niemals langweilt, weil sie unberechenbar ist. Sie kennt weder Lob noch Tadel. Ich bin ihr an sich egal, und diese Art großartiger Autonomie begeistert mich, der ich nur zu gern selbstbewusst und frei handelte und dächte.
Nichts als der Moment sei wahr, auch wenn er uns belügt.
Noch gilt es, ein Danke an den Translator für den Münzprüfer auszusprechen, jenen Wardein, dessen Gegenwart mir nicht mehr geläufig war, dessen edle Tätigkeit, das Wardieren, mir gleichsam entglitten schien. Die Begriffe, welche in uns stumm ausharren, im Winterschlaf, die Silben kaltgestellt, die Begriffe frohlocken, wecken wir sie wieder auf und laden sie zum Plaudern ein. Ob sie danach, erschöpft, erneut entgleiten, tut wenig zur Sache. Dass sie der Stille des abseitigen Wortschatzes entkommen konnten, lässt uns und sie jubilieren.
Wer sich wenig zeigt, erregt, oft genug, am meisten Aufsehen. Steht man immer und ewig im Lampenlicht, wird man unser - dem Abbild, das wir anbieten - nicht umsonst überdrüssig; auch wenn wir's nicht wahrhaben wollen, und wohl sogar meistens gerade dann. Ablehnung und Auswechselung kommen selten im richtigen Augenblick, und ist's doch der Fall, wollen wir, zunächst, eher nichts von ihnen wissen.
Damit zum Hörensagen, dem Spießrutenlaufen der Wahrheit, die auf dem Weg in die Freiheit nicht selten einiges an Substanz verliert. Die Erkundigung, die fremdbestimmte, die man uns auftischt, wird schal, je mehr Münder sie von innen gesehen hat. Der Stuss legt sich eben mit Vorliebe aufs Tradierte, dessen ursprüngliche Echtheit - als eine Glaubwürdigkeit unter vielen - geraume Zeit einem falschen Brauchtum gewichen ist, nunmehr als Mittel zum Machterhalt missbraucht wird. Die wahre Erdkunde findet in uns durch uns und durch andere statt, die mit uns klar und aufrichtig sprechen, als hätten sie keine Angst vor der Wahrhaftigkeit, als wäre ihnen nur daran gelegen, mit der konstruktiven Kritik ins Haus zu fallen und selbst, in aller Freundschaft, mit Verstand gescholten und umgetopft zu werden.
Wer denkt, braucht und fordert den Widerspruch. Wer henkt, entledigt sich seiner.
9. März 2020, mit einem Sentiment vom 28. März 2019
79.
Joviales Gemüth. Wenn mit Mäßigung, ist es eine Gabe, kein Fehler. Ein Gran Munterkeit würzt Alles. Die größten Männer treiben auch bisweilen Possen, und es macht sie bei Allen beliebt; jedoch verlieren sie dabei nie die Rücksichten der Klugheit, noch die Achtung vor dem Anstand aus den Augen. Andere wiederum helfen sich durch einen Scherz auf dem kürzesten Wege aus Verwickelungen: denn es giebt Dinge, die man als Scherz nehmen muß, und bisweilen sind es grade die, welche der Andre am ernstlichsten gemeint hat. Man legt dadurch Friedfertigkeit an den Tag, die ein Magnet der Herzen ist.
Ein schöner Text, Freund, weise und, ja, jovial. Manchmal stelle ich mir die Frage, ob unser Thema auch unsere Denk- und Ausdrucksweise bestimmt? Neutralität ist schwer zu erreichen, scheint mir. Besonders wenn wir etwas sehr verabscheuen oder sehr lieben. Andererseits schärfen Positionen das Bewusstsein.
Wer zu nichts eine echte Meinung hat, stirbt ungehört.
Das Joviale ist, in meinen Tagen, zu einer Großelterntugend herabgewürdigt worden, zu einem linguistischen Überbleibsel einer gemütlich-falschherzigen Zeit. Ja, es gilt beinahe als Schimpfwort. Leutseligkeit und Gönnerhaftigkeit kleben am Jovialen mit einer Fetischkraft, der man einiges an Zauber entgegensetzen müsste, um die negativen Flecken auch nur halbwegs abzureiben.
Mir gefällt die Idee der Großzügigkeit, die doch auch in Ihrer Beschreibung der jovialen Gemütsverfassung anschwingt. Sowohl die Generösität der Jovialen als auch der Großmut derjenigen, die der Jovialität unvermutet begegnen, wohlgemerkt: in Lagen, die sich als verzwickt-seriös herausstellen und unversehens im schlimmsten Eklat enden könnten, sagen mir zu.
Der weiche Scherz hat dem harten Urteil einiges an Lebensklugheit voraus, besonders aber seine unmittelbare Vergänglichkeit. Ist das Scherzwort längst vergessen, wirkt die schneidende Aburteilung auf alle Zeiten nach, speziell wenn es sich um ein unhaltbares Verdikt handelt.
Das unabhängige, dem Augenblick entzogene Abwägen sei die größte Qualität der Urteilskraft, eine Eigenschaft, die sich viele wünschen, allein wenige besitzen.
5. März 2020, mit einem langen Sentiment vom 28. März 2019
Joviales Gemüth. Wenn mit Mäßigung, ist es eine Gabe, kein Fehler. Ein Gran Munterkeit würzt Alles. Die größten Männer treiben auch bisweilen Possen, und es macht sie bei Allen beliebt; jedoch verlieren sie dabei nie die Rücksichten der Klugheit, noch die Achtung vor dem Anstand aus den Augen. Andere wiederum helfen sich durch einen Scherz auf dem kürzesten Wege aus Verwickelungen: denn es giebt Dinge, die man als Scherz nehmen muß, und bisweilen sind es grade die, welche der Andre am ernstlichsten gemeint hat. Man legt dadurch Friedfertigkeit an den Tag, die ein Magnet der Herzen ist.
Ein schöner Text, Freund, weise und, ja, jovial. Manchmal stelle ich mir die Frage, ob unser Thema auch unsere Denk- und Ausdrucksweise bestimmt? Neutralität ist schwer zu erreichen, scheint mir. Besonders wenn wir etwas sehr verabscheuen oder sehr lieben. Andererseits schärfen Positionen das Bewusstsein.
Wer zu nichts eine echte Meinung hat, stirbt ungehört.
Das Joviale ist, in meinen Tagen, zu einer Großelterntugend herabgewürdigt worden, zu einem linguistischen Überbleibsel einer gemütlich-falschherzigen Zeit. Ja, es gilt beinahe als Schimpfwort. Leutseligkeit und Gönnerhaftigkeit kleben am Jovialen mit einer Fetischkraft, der man einiges an Zauber entgegensetzen müsste, um die negativen Flecken auch nur halbwegs abzureiben.
Mir gefällt die Idee der Großzügigkeit, die doch auch in Ihrer Beschreibung der jovialen Gemütsverfassung anschwingt. Sowohl die Generösität der Jovialen als auch der Großmut derjenigen, die der Jovialität unvermutet begegnen, wohlgemerkt: in Lagen, die sich als verzwickt-seriös herausstellen und unversehens im schlimmsten Eklat enden könnten, sagen mir zu.
Der weiche Scherz hat dem harten Urteil einiges an Lebensklugheit voraus, besonders aber seine unmittelbare Vergänglichkeit. Ist das Scherzwort längst vergessen, wirkt die schneidende Aburteilung auf alle Zeiten nach, speziell wenn es sich um ein unhaltbares Verdikt handelt.
Das unabhängige, dem Augenblick entzogene Abwägen sei die größte Qualität der Urteilskraft, eine Eigenschaft, die sich viele wünschen, allein wenige besitzen.
5. März 2020, mit einem langen Sentiment vom 28. März 2019
78.
Kunst im Unternehmen. Die Dummheit fällt allemal mit der Thüre ins Haus: denn alle Dummen sind verwegen. Dieselbe Einfalt, welche ihnen die Aufmerksamkeit Vorkehrungen zu treffen benimmt, macht sie nachher gefühllos gegen den Schimpf des Mißlingens. Hingegen gehen die Klugen mit großer Vorsicht zu Werke. Ihre Kundschafter sind Aufpassen und Behutsamkeit: diese gehen forschend voran, damit man ohne Gefahr auftreten könne. Jede Verwegenheit ist von der Klugheit zum Untergang verurtheilt; wenn auch bisweilen das Glück sie begnadigt. Mit Zurückhaltung muß man vorschreiten, wo tiefer Grund zu fürchten ist. Die Schlauheit gehe spürend voran, bis die Vorsicht allmälig Grund und Boden gewinnt. Heut zu Tage sind im menschlichen Umgang große Untiefen: man muß bei jedem Schritt das Senkblei gebrauchen.
Es kommt mir eigenartig vor, Freund, dass der Vorsicht nicht per se der Sieg sicher ist. Häufig, was Ihrer Beschreibung widerspricht, setzen sich sogar die Gordischen-Knoten-Zerhauerinnen und Porzellanzerschlager durch. Und nicht etwa, da sie die besseren Argumente auf ihrer Seite hätten, sondern da die Klugen Zeit mit zu viel Vorbereitung verplempert haben. Will sagen: Vernunft, die nicht beizeiten handelt, ist irrational.
Anschauliche Bilder, Freund, haben Sie, hat Ihr Tanslator, für diesen Abschnitt gewählt. Und Ihr heut zu Tage darf als stets und immer gelesen werden. Was mich zum Gedanken verleitet, bevor ich zur Kunst komme, anders zur Kunst komme, als Sie's sich ausgemalt haben, was mich also zum Gedanken verleitet, dass die Dringlichkeit der Zeitgenossenschaft und das Meine-Stunde-sei-das-Nonplusultra - viele von uns werten sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft naserümpfend als reine Abstraktion ab -, dass jene Verknappung auf den eigenen Atem und das Nunvorhandene der ewigen Einigkeit des Lebens mit dem Eben und dem Bald nicht gerecht werden. Gerade und dank des Alterns, das, viele wissen und fühlen's, keine wahre Freude ist, bin ich, sind wir doch eng mit dem Gewesenen und dem Kommenden verbunden.
Niemand ist mir fremd, wenn ich mir selbst nicht fremd bin. Aus der Nähe zu uns selbst, machen die Vernunft und die Liebe eine Nähe zur Welt. Wie wir uns aufmerksam um uns selbst kümmern, so fürsorglich sollten wir mit der Zukunft, so achtsam mit der Vergangenheit umgehen. Das Jetzt sei nur, weil es das doppelte Einst gibt.
Wie angesprochen, noch eine flüchtige Idee zur Kunst im Unternehmen. Wenden wir das Wort Unternehmen, neigen wir's leicht, wird daraus, in meinen Tagen, die Firma. Was mich zur, lachen Sie ruhig, Freund, zur Kunst am Bau führt, an der Wand, in den Gängen, in den Büros. Mir scheint, als würden solche Werke, für die's, in staatlichen Unternehmen, sogar ein vorgeschriebenes Budget gibt, zu wenig ernst- und wahrgenommen. Wendeten wir uns häufiger der Kunst zu, träfen wir weisere Entscheidungen, verließen den engen Rahmen, den man uns, den wir uns umgespannt haben.
Zu sehen, heißt nicht, unbedingt selbst ununterbrochen gesehen zu werden, sondern andere auf Dauer sehen und sichtbar werden zu lassen.
2. März 2020, mit einem längeren Sentiment vom 27. März 2019
Kunst im Unternehmen. Die Dummheit fällt allemal mit der Thüre ins Haus: denn alle Dummen sind verwegen. Dieselbe Einfalt, welche ihnen die Aufmerksamkeit Vorkehrungen zu treffen benimmt, macht sie nachher gefühllos gegen den Schimpf des Mißlingens. Hingegen gehen die Klugen mit großer Vorsicht zu Werke. Ihre Kundschafter sind Aufpassen und Behutsamkeit: diese gehen forschend voran, damit man ohne Gefahr auftreten könne. Jede Verwegenheit ist von der Klugheit zum Untergang verurtheilt; wenn auch bisweilen das Glück sie begnadigt. Mit Zurückhaltung muß man vorschreiten, wo tiefer Grund zu fürchten ist. Die Schlauheit gehe spürend voran, bis die Vorsicht allmälig Grund und Boden gewinnt. Heut zu Tage sind im menschlichen Umgang große Untiefen: man muß bei jedem Schritt das Senkblei gebrauchen.
Es kommt mir eigenartig vor, Freund, dass der Vorsicht nicht per se der Sieg sicher ist. Häufig, was Ihrer Beschreibung widerspricht, setzen sich sogar die Gordischen-Knoten-Zerhauerinnen und Porzellanzerschlager durch. Und nicht etwa, da sie die besseren Argumente auf ihrer Seite hätten, sondern da die Klugen Zeit mit zu viel Vorbereitung verplempert haben. Will sagen: Vernunft, die nicht beizeiten handelt, ist irrational.
Anschauliche Bilder, Freund, haben Sie, hat Ihr Tanslator, für diesen Abschnitt gewählt. Und Ihr heut zu Tage darf als stets und immer gelesen werden. Was mich zum Gedanken verleitet, bevor ich zur Kunst komme, anders zur Kunst komme, als Sie's sich ausgemalt haben, was mich also zum Gedanken verleitet, dass die Dringlichkeit der Zeitgenossenschaft und das Meine-Stunde-sei-das-Nonplusultra - viele von uns werten sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft naserümpfend als reine Abstraktion ab -, dass jene Verknappung auf den eigenen Atem und das Nunvorhandene der ewigen Einigkeit des Lebens mit dem Eben und dem Bald nicht gerecht werden. Gerade und dank des Alterns, das, viele wissen und fühlen's, keine wahre Freude ist, bin ich, sind wir doch eng mit dem Gewesenen und dem Kommenden verbunden.
Niemand ist mir fremd, wenn ich mir selbst nicht fremd bin. Aus der Nähe zu uns selbst, machen die Vernunft und die Liebe eine Nähe zur Welt. Wie wir uns aufmerksam um uns selbst kümmern, so fürsorglich sollten wir mit der Zukunft, so achtsam mit der Vergangenheit umgehen. Das Jetzt sei nur, weil es das doppelte Einst gibt.
Wie angesprochen, noch eine flüchtige Idee zur Kunst im Unternehmen. Wenden wir das Wort Unternehmen, neigen wir's leicht, wird daraus, in meinen Tagen, die Firma. Was mich zur, lachen Sie ruhig, Freund, zur Kunst am Bau führt, an der Wand, in den Gängen, in den Büros. Mir scheint, als würden solche Werke, für die's, in staatlichen Unternehmen, sogar ein vorgeschriebenes Budget gibt, zu wenig ernst- und wahrgenommen. Wendeten wir uns häufiger der Kunst zu, träfen wir weisere Entscheidungen, verließen den engen Rahmen, den man uns, den wir uns umgespannt haben.
Zu sehen, heißt nicht, unbedingt selbst ununterbrochen gesehen zu werden, sondern andere auf Dauer sehen und sichtbar werden zu lassen.
2. März 2020, mit einem längeren Sentiment vom 27. März 2019
77.
Sich Allen zu fügen wissen: ein kluger Proteus: gelehrt mit dem Gelehrten, heilig mit dem Heiligen. Eine große Kunst, um Alle zu gewinnen: denn die Uebereinstimmung erwirbt Wohlwollen. Man beobachte die Gemüther und stimme sich nach dem eines Jeden. Man lasse sich vom Ernsten und vom Jovialen mit fortreißen, indem man eine politische Verwandlung mit sich vornimmt. Abhängigen Personen ist diese Kunst dringend nöthig. Aber als eine große Feinheit erfordert sie viel Talent: weniger schwer wird sie dem Manne, dessen Kopf in Kenntnissen und dessen Geschmack in Neigungen vielseitig ist.
Sie raten uns, Freund, das Leben eines Chamäleons zu führen. Mir scheint, das muss man kaum empfehlen. Eher handelt es sich beim ewigen Versteckspiel sowieso um die verbreiteste Strategie des Durchwurschtelns. Beobachte ich allerdings die Meisterinnen und Meister der substanzlosen Mimikry, fällt mir schnell auf, wie verhuscht und hohl sie sind. An ihnen klebt kein Stück Fleisch, sie bestehen nur aus einem überaus elastischen Skelett, das in jede fiese Lücke passt, das sich für jeden Murks und jede Schandtat hergibt.
Obwohl meine Sehnsucht nach Harmonie groß ist - auch wenn Sie, Freund, vielleicht, nach einigen, in der Sache harten Korrespondenzen anderer Meinung sein könnten -, bin ich dennoch nicht zur erstaunlichen Metamorphose fähig, die Sie hier als Allheilmittel der, und darauf kommt's an, Unterwerfung in einer nachgeordneten Position betrachten, geradezu hagiographisch huldigen.
Im Englischen existiert die schöne Redewendung Lions led by donkeys. Also: Löwen unter der Führung von Eseln. Ein Ausdruck, der im Volksmund verwendet wird, um die britische Infanterie des Ersten Weltkriegs zu beschreiben und, was das Bild so erschütternd macht, die Generäle zu beschuldigen, die sie aufs buchstäbliche Schlachtfeld führten. Die Behauptung lautet, dass die tapferen Soldaten von inkompetenten und gleichgültigen Führern in den Tod geschickt wurden. Abgesehen von der Verunglimpfung der störrischen, hochintelligenten Esel, die, kennt man sie, alles andere als stupid sind, als Symbol des tumben Führers demgemäß nur sehr bedingt taugen, abgesehen davon, hat die Redewendung den Vorteil, die fraglose Übereinstimmung mit dem Verhalten und den Meinungen anderer als ungemäßen Humbug zu entlarven.
Wer stets zur Verfügung steht, steht alsbald seiner Menschlichkeit im Wege. Das Ziel, welches andere für uns aussuchen, darf nur das unsere sein, wenn's mit unseren Zielvorstellungen übereinstimmt. Und diese Setzungen seien nicht beliebig, ganz im Gegenteil, sondern sie seien gerade gegen die brutale Willkür gerichtet.
Lenkt uns das Böse am Anfang, kommt am Ende nichts Gutes heraus.
28. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 26. März 2019
Sich Allen zu fügen wissen: ein kluger Proteus: gelehrt mit dem Gelehrten, heilig mit dem Heiligen. Eine große Kunst, um Alle zu gewinnen: denn die Uebereinstimmung erwirbt Wohlwollen. Man beobachte die Gemüther und stimme sich nach dem eines Jeden. Man lasse sich vom Ernsten und vom Jovialen mit fortreißen, indem man eine politische Verwandlung mit sich vornimmt. Abhängigen Personen ist diese Kunst dringend nöthig. Aber als eine große Feinheit erfordert sie viel Talent: weniger schwer wird sie dem Manne, dessen Kopf in Kenntnissen und dessen Geschmack in Neigungen vielseitig ist.
Sie raten uns, Freund, das Leben eines Chamäleons zu führen. Mir scheint, das muss man kaum empfehlen. Eher handelt es sich beim ewigen Versteckspiel sowieso um die verbreiteste Strategie des Durchwurschtelns. Beobachte ich allerdings die Meisterinnen und Meister der substanzlosen Mimikry, fällt mir schnell auf, wie verhuscht und hohl sie sind. An ihnen klebt kein Stück Fleisch, sie bestehen nur aus einem überaus elastischen Skelett, das in jede fiese Lücke passt, das sich für jeden Murks und jede Schandtat hergibt.
Obwohl meine Sehnsucht nach Harmonie groß ist - auch wenn Sie, Freund, vielleicht, nach einigen, in der Sache harten Korrespondenzen anderer Meinung sein könnten -, bin ich dennoch nicht zur erstaunlichen Metamorphose fähig, die Sie hier als Allheilmittel der, und darauf kommt's an, Unterwerfung in einer nachgeordneten Position betrachten, geradezu hagiographisch huldigen.
Im Englischen existiert die schöne Redewendung Lions led by donkeys. Also: Löwen unter der Führung von Eseln. Ein Ausdruck, der im Volksmund verwendet wird, um die britische Infanterie des Ersten Weltkriegs zu beschreiben und, was das Bild so erschütternd macht, die Generäle zu beschuldigen, die sie aufs buchstäbliche Schlachtfeld führten. Die Behauptung lautet, dass die tapferen Soldaten von inkompetenten und gleichgültigen Führern in den Tod geschickt wurden. Abgesehen von der Verunglimpfung der störrischen, hochintelligenten Esel, die, kennt man sie, alles andere als stupid sind, als Symbol des tumben Führers demgemäß nur sehr bedingt taugen, abgesehen davon, hat die Redewendung den Vorteil, die fraglose Übereinstimmung mit dem Verhalten und den Meinungen anderer als ungemäßen Humbug zu entlarven.
Wer stets zur Verfügung steht, steht alsbald seiner Menschlichkeit im Wege. Das Ziel, welches andere für uns aussuchen, darf nur das unsere sein, wenn's mit unseren Zielvorstellungen übereinstimmt. Und diese Setzungen seien nicht beliebig, ganz im Gegenteil, sondern sie seien gerade gegen die brutale Willkür gerichtet.
Lenkt uns das Böse am Anfang, kommt am Ende nichts Gutes heraus.
28. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 26. März 2019
76.
Nicht immer Scherz treiben. Der Verstand eines Mannes zeigt sich im Ernsthaften, welches daher mehr Ehre bringt, als das Witzige. Wer immer scherzt, ist nie der Mann für ernste Dinge. Man stellt ihn dem Lügner gleich, sofern man beiden nicht glaubt, indem man beim Einen Lügen, beim Andern Possen besorgt. Nie weiß man, ob er bei Vernunft spricht, welches so viel ist, als hätte er keine. Nichts geziemt sich weniger, als das beständige Schäkern. Manche erwerben sich den Ruf, witzige Köpfe zu seyn, auf Kosten des Kredits für gescheute Leute zu gelten. Sein Weilchen mag der Scherz haben, aber alle übrige Zeit gehöre dem Ernst.
Wer niemals scherzt, Freund, ist die oder der damit automatisch qualifiziert, um sich um ernsthafte Dinge zu kümmern? Der Lebensmut, welcher durchs Lachen hervorgerufen wird, lässt viele von uns Herausforderungen bestehen, die uns, bliesen wir nur Trübsal, in den Selbstmord trieben. Und verstehen Sie mich bitte richtig: natürlich spreche ich nicht vom Alles-Weglachen, der Immerzu-Verneinung der Seriösität. Doch mir scheint, es hängt, wie so häufig, von der Mischung ab.
Es gäbe der Beispiele etliche, Freund, von Frauen und Männern, die beides sind, amüsant und ernsthaft zugleich. Und mit amüsant meine ich: bis an die Schmerzgrenze des Hirnrissigen. Herrliche Menschen, Emmy Hennings und ihr Mann Hugo Ball waren solche, Ernst Jandl ein anderer.
Der hartgeklopften Seriösität der Postenjüngerinnen und der vom Ehrgeiz zerfressenen Männlichkeit geht eine emotionale Leichenstarre voraus, die alles Witzige massakriert hat. Viele kämpfen so wütend gegen den Humor, auch ihren eigenen, bis nur noch Empörung und Wut vorhanden sind. Mit der vermeintlichen Unterscheidung zwischen E- und U-Kunst haben wir in meinen Landen allerlei Erfahrungen gesammelt. Ungute, wie angefügt werden muss. Und die daraus entstandenen Ausstellungen, Konzerte, Bücher, Bilder haben Generationen gelangweilt.
Der kritische Verstand liebt den Humor, auch wenn er ihn nicht immer besitzt.
Wer die Ernsthaftigkeit auf Teufel komm raus züchten will, macht die Welt zu einem unglücklichen Ort.
Ein Witz hat manch schwere Lage leichter gemacht, eine Ermahnung manch leichte Lage schwer.
27. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 25. März 2019
Nicht immer Scherz treiben. Der Verstand eines Mannes zeigt sich im Ernsthaften, welches daher mehr Ehre bringt, als das Witzige. Wer immer scherzt, ist nie der Mann für ernste Dinge. Man stellt ihn dem Lügner gleich, sofern man beiden nicht glaubt, indem man beim Einen Lügen, beim Andern Possen besorgt. Nie weiß man, ob er bei Vernunft spricht, welches so viel ist, als hätte er keine. Nichts geziemt sich weniger, als das beständige Schäkern. Manche erwerben sich den Ruf, witzige Köpfe zu seyn, auf Kosten des Kredits für gescheute Leute zu gelten. Sein Weilchen mag der Scherz haben, aber alle übrige Zeit gehöre dem Ernst.
Wer niemals scherzt, Freund, ist die oder der damit automatisch qualifiziert, um sich um ernsthafte Dinge zu kümmern? Der Lebensmut, welcher durchs Lachen hervorgerufen wird, lässt viele von uns Herausforderungen bestehen, die uns, bliesen wir nur Trübsal, in den Selbstmord trieben. Und verstehen Sie mich bitte richtig: natürlich spreche ich nicht vom Alles-Weglachen, der Immerzu-Verneinung der Seriösität. Doch mir scheint, es hängt, wie so häufig, von der Mischung ab.
Es gäbe der Beispiele etliche, Freund, von Frauen und Männern, die beides sind, amüsant und ernsthaft zugleich. Und mit amüsant meine ich: bis an die Schmerzgrenze des Hirnrissigen. Herrliche Menschen, Emmy Hennings und ihr Mann Hugo Ball waren solche, Ernst Jandl ein anderer.
Der hartgeklopften Seriösität der Postenjüngerinnen und der vom Ehrgeiz zerfressenen Männlichkeit geht eine emotionale Leichenstarre voraus, die alles Witzige massakriert hat. Viele kämpfen so wütend gegen den Humor, auch ihren eigenen, bis nur noch Empörung und Wut vorhanden sind. Mit der vermeintlichen Unterscheidung zwischen E- und U-Kunst haben wir in meinen Landen allerlei Erfahrungen gesammelt. Ungute, wie angefügt werden muss. Und die daraus entstandenen Ausstellungen, Konzerte, Bücher, Bilder haben Generationen gelangweilt.
Der kritische Verstand liebt den Humor, auch wenn er ihn nicht immer besitzt.
Wer die Ernsthaftigkeit auf Teufel komm raus züchten will, macht die Welt zu einem unglücklichen Ort.
Ein Witz hat manch schwere Lage leichter gemacht, eine Ermahnung manch leichte Lage schwer.
27. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 25. März 2019
75.
Sich ein heroisches Vorbild wählen: mehr zum Wetteifer, als zur Nachahmung. Es giebt Muster der Größe, lebendige Bücher der Ehre. Jeder stelle sich die Größten in seinem Berufe vor, nicht sowohl um ihnen nachzuahmen, als zur Anspornung. Alexander weinte nicht über den begrabenen Achilles, sondern über sich, dessen Ruhm noch nicht recht auf die Welt gekommen war. Nichts erweckt so sehr den Ehrgeiz im Herzen, als die Posaune des fremden Ruhms. Eben das, was den Neid zu Boden wirft, ermuthigt ein edles Gemüth.
Nun ja, Freund, heroisch riecht doch sehr nach auftrumpfenden Blenderinnen und dummdreisten Angebern, die viel erzählen, was niemas stattgefunden hat, und wird in allerlei Sagen und Märchen gern martialisch verwendet: heroisch in die Schlacht geworfen. Was dennoch stimmt, ist die Tatsache, dass wir alle Vorbilder brauchen - die müssen allerdings keine Heldinnen und Helden sein, sondern Menschen, die entweder einen kühlen Kopf bewahren, wenn's brenzlig wird und sich und andere in Sicherheit bringen, oder die die Größe haben, Emotionen zu zeigen, Mitgefühl zu haben, keinen zugezogenen Reißverschluss ums Herz zu tragen.
Die Ehrlichen sind tapfer, auch wenn's wenig zu gewinnen gibt. Den Feigen klemmt der Kiefer, müssten sie reden, und sitzt die Zunge locker, wenn's nicht mehr zählt.
Ist das Heroische in der Verneinung, Freund, eigentlich das Humane? Will sagen: wenden wir uns gegen das Heroische, indem wir uns zunächst ihm zu-, um uns dann von ihm abzuwenden, wenden wir uns in diesem speziellen Fall dem Humanen ex negativo zu? Und ist dieses ex negativo nicht die Garantie für das Positive, ja sein Garant? Hat mich auch der Zufall zu Ihnen und Ihrem Orakel geführt, ist's doch eine Art von Bestimmung, wie Sie mich beeinflussen, welche Richtungen meine Gedanken nehmen, sich an Ihren Wegmarken die Frage nach dem Wohin und dem Warum stellen. Die Posaune, sie ist, gar oft, ein arger Krachmacher, ein listiger Quertreiber, verwunderlicher Aufmischer - und doch: ich mag sie leiden, da sie als Instrument weit schallt, uns zur Versammlung und, ab und an, zur Vernunft ruft.
Die guten Dinge warten selten auf uns, wir müssen uns um sie bemühen, und weichen sie, sollten nicht wir weichen, sondern ihnen nacheifern, als hätten sie sich für unsere Freundschaft entschieden, nicht wir uns für ihre.
Das Gute reicht sich, oft genug, lebt spärlich möbliert.
Stets mehr und mehr will das Böse, bis es ganz alleine im gefüllten Raume steht, uns anstarrt.
26. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 24. März 2019
Sich ein heroisches Vorbild wählen: mehr zum Wetteifer, als zur Nachahmung. Es giebt Muster der Größe, lebendige Bücher der Ehre. Jeder stelle sich die Größten in seinem Berufe vor, nicht sowohl um ihnen nachzuahmen, als zur Anspornung. Alexander weinte nicht über den begrabenen Achilles, sondern über sich, dessen Ruhm noch nicht recht auf die Welt gekommen war. Nichts erweckt so sehr den Ehrgeiz im Herzen, als die Posaune des fremden Ruhms. Eben das, was den Neid zu Boden wirft, ermuthigt ein edles Gemüth.
Nun ja, Freund, heroisch riecht doch sehr nach auftrumpfenden Blenderinnen und dummdreisten Angebern, die viel erzählen, was niemas stattgefunden hat, und wird in allerlei Sagen und Märchen gern martialisch verwendet: heroisch in die Schlacht geworfen. Was dennoch stimmt, ist die Tatsache, dass wir alle Vorbilder brauchen - die müssen allerdings keine Heldinnen und Helden sein, sondern Menschen, die entweder einen kühlen Kopf bewahren, wenn's brenzlig wird und sich und andere in Sicherheit bringen, oder die die Größe haben, Emotionen zu zeigen, Mitgefühl zu haben, keinen zugezogenen Reißverschluss ums Herz zu tragen.
Die Ehrlichen sind tapfer, auch wenn's wenig zu gewinnen gibt. Den Feigen klemmt der Kiefer, müssten sie reden, und sitzt die Zunge locker, wenn's nicht mehr zählt.
Ist das Heroische in der Verneinung, Freund, eigentlich das Humane? Will sagen: wenden wir uns gegen das Heroische, indem wir uns zunächst ihm zu-, um uns dann von ihm abzuwenden, wenden wir uns in diesem speziellen Fall dem Humanen ex negativo zu? Und ist dieses ex negativo nicht die Garantie für das Positive, ja sein Garant? Hat mich auch der Zufall zu Ihnen und Ihrem Orakel geführt, ist's doch eine Art von Bestimmung, wie Sie mich beeinflussen, welche Richtungen meine Gedanken nehmen, sich an Ihren Wegmarken die Frage nach dem Wohin und dem Warum stellen. Die Posaune, sie ist, gar oft, ein arger Krachmacher, ein listiger Quertreiber, verwunderlicher Aufmischer - und doch: ich mag sie leiden, da sie als Instrument weit schallt, uns zur Versammlung und, ab und an, zur Vernunft ruft.
Die guten Dinge warten selten auf uns, wir müssen uns um sie bemühen, und weichen sie, sollten nicht wir weichen, sondern ihnen nacheifern, als hätten sie sich für unsere Freundschaft entschieden, nicht wir uns für ihre.
Das Gute reicht sich, oft genug, lebt spärlich möbliert.
Stets mehr und mehr will das Böse, bis es ganz alleine im gefüllten Raume steht, uns anstarrt.
26. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 24. März 2019
74.
Nicht von Stein seyn. In den bevölkertsten Orten hausen die rechten wilden Thiere. Die Unzugänglichkeit ist ein Fehler, der aus dem Verkennen seiner selbst entspringt: da verändert man mit dem Stande den Karakter; wiewohl es kein passender Weg zur allgemeinen Hochachtung ist, daß man damit anfängt, Allen ärgerlich zu seyn. Ein sehenswerthes Schauspiel ist ein so unzugängliches Ungeheuer, stets von seiner trotzenden Inhumanität besessen: die Abhängigen, deren hartes Schicksal will, daß sie mit ihm zu reden haben, treten ein, wie zum Kampf mit einem Tiger, gerüstet mit Behutsamkeit und voll Furcht. Solche Leute wußten, um zu ihren Stellungen zu gelangen, sich bei Allen beliebt zu machen: und jetzt, da sie solche inne haben, suchen sie sich dadurch zu entschädigen, daß sie sich Allen verhaßt machen. Vermöge ihres Amtes sollen sie für Viele daseyn; sind aber, aus Trotz oder Stolz, für Keinen da. Eine feine Züchtigung für sie ist, daß man sie stehn lasse, indem man ihnen den Umgang und mit diesem die Klugheit entzieht.
Ich hoffe, Freund, Sie hören den Beifall, den ich Ihnen zolle. Ja, wenig ist widerwärtiger als der arrogante Amtsmissbrauch, als die Herablassung, welche auf einer Stellung beruht. Das Linksliegenlassen solcher Personen, welches Sie als Strategie vorschlagen, ist ein erster Schritt. Viel besser wäre allerdings die entschlossene Entferung aus dem einflussreichen Amt. Hier halte ich's mit einem Lied von Ton Steine Scherben aus dem Jahr 1969, dessen Titel programmatisch zu verstehen ist: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!"
Allein an das Gute zu glauben, aber nicht zu handeln, zementiert das Böse.
Ohne Widerstand keine Freiheit.
Zusammen sind die vielen Guten stärken als die wenigen Bösen.
Bosheit ist dem Menschen auf ewig eigen. Wer das verkennt, wird überrannt.
Endlich, Freund, sagen Sie klipp und klar, was Ihnen am Hochmut und an der Unmenschlichkeit missfällt. Die Sätze haben Brecht'sche Vitalität, sind weder fein noch ziseliert. Als kleingeistig-schmeichlerischer Toreut, der den Mächtigen untertänigste Augen und wohlfeile Vorschläge zum Machtmissbrauch macht, kommen Sie, glücklicherweise, diesmal mitnichten daher. Gerne hätte ich Sie in solcher Aufgebrachtheit und Wut abonniert. Nicht immer, aber alle sechs, sieben Tage wäre mir das Schnauben eine rechte Lesefreude. Häufiger auf keinen Fall. Ansonsten, fürchte ich, leierte der Ton aus, büßte an elastischer Brutalität und Ehrlichkeit ein.
Jedes Brüllen, schallt's allzeit, verliert an Durchschlagskraft. Nicht bessser steht's mit dem Flüstern. Wir stumpfen ab, behandelt man uns fortwährend mit dem höchsten oder dem niedrigsten Register.
Wer Maß hält, dem bleibt die Macht gewogen, was sich nur sehr bedingt für Liebe und Leidenschaft behaupten lässt.
25. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 23. März 2019
Nicht von Stein seyn. In den bevölkertsten Orten hausen die rechten wilden Thiere. Die Unzugänglichkeit ist ein Fehler, der aus dem Verkennen seiner selbst entspringt: da verändert man mit dem Stande den Karakter; wiewohl es kein passender Weg zur allgemeinen Hochachtung ist, daß man damit anfängt, Allen ärgerlich zu seyn. Ein sehenswerthes Schauspiel ist ein so unzugängliches Ungeheuer, stets von seiner trotzenden Inhumanität besessen: die Abhängigen, deren hartes Schicksal will, daß sie mit ihm zu reden haben, treten ein, wie zum Kampf mit einem Tiger, gerüstet mit Behutsamkeit und voll Furcht. Solche Leute wußten, um zu ihren Stellungen zu gelangen, sich bei Allen beliebt zu machen: und jetzt, da sie solche inne haben, suchen sie sich dadurch zu entschädigen, daß sie sich Allen verhaßt machen. Vermöge ihres Amtes sollen sie für Viele daseyn; sind aber, aus Trotz oder Stolz, für Keinen da. Eine feine Züchtigung für sie ist, daß man sie stehn lasse, indem man ihnen den Umgang und mit diesem die Klugheit entzieht.
Ich hoffe, Freund, Sie hören den Beifall, den ich Ihnen zolle. Ja, wenig ist widerwärtiger als der arrogante Amtsmissbrauch, als die Herablassung, welche auf einer Stellung beruht. Das Linksliegenlassen solcher Personen, welches Sie als Strategie vorschlagen, ist ein erster Schritt. Viel besser wäre allerdings die entschlossene Entferung aus dem einflussreichen Amt. Hier halte ich's mit einem Lied von Ton Steine Scherben aus dem Jahr 1969, dessen Titel programmatisch zu verstehen ist: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!"
Allein an das Gute zu glauben, aber nicht zu handeln, zementiert das Böse.
Ohne Widerstand keine Freiheit.
Zusammen sind die vielen Guten stärken als die wenigen Bösen.
Bosheit ist dem Menschen auf ewig eigen. Wer das verkennt, wird überrannt.
Endlich, Freund, sagen Sie klipp und klar, was Ihnen am Hochmut und an der Unmenschlichkeit missfällt. Die Sätze haben Brecht'sche Vitalität, sind weder fein noch ziseliert. Als kleingeistig-schmeichlerischer Toreut, der den Mächtigen untertänigste Augen und wohlfeile Vorschläge zum Machtmissbrauch macht, kommen Sie, glücklicherweise, diesmal mitnichten daher. Gerne hätte ich Sie in solcher Aufgebrachtheit und Wut abonniert. Nicht immer, aber alle sechs, sieben Tage wäre mir das Schnauben eine rechte Lesefreude. Häufiger auf keinen Fall. Ansonsten, fürchte ich, leierte der Ton aus, büßte an elastischer Brutalität und Ehrlichkeit ein.
Jedes Brüllen, schallt's allzeit, verliert an Durchschlagskraft. Nicht bessser steht's mit dem Flüstern. Wir stumpfen ab, behandelt man uns fortwährend mit dem höchsten oder dem niedrigsten Register.
Wer Maß hält, dem bleibt die Macht gewogen, was sich nur sehr bedingt für Liebe und Leidenschaft behaupten lässt.
25. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 23. März 2019
73.
Vom Versehn Gebrauch zu machen wissen. Dadurch helfen kluge Leute sich aus Verwickelungen. Mit dem leichten Anstande einer witzigen Wendung kommen sie oft aus dem verworrensten Labyrinth. Aus dem schwierigsten Streite entschlüpfen sie artig und mit Lächeln. Der größte aller Feldherren setzte darin seinen Werth. Wo man etwas abzuschlagen hat, ist es eine höfliche List, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken: und keine größre Feinheit giebt es, als nicht zu verstehn.
Es ist schon seltsam, Freund, wie der Bergriff "Versehn", den Ihr deutscher Translator benutzt, seine Bedeutung verschoben hat. Nun gut, blicken wir auf den Kern Ihres Vorschlags, einen Schlag duckend, gar lächelnd mit einigen amüsanten Worten zu parieren. Die hohe Kunst der Diplomatie, scheint mir, pflegt genau solche Finten: wir sagen das eine, meinen das andere - und alle wissen's, aber tun so, als wüssten sie's nicht. Im Grunde herrschte also die Unwahrheit, die vornehme Schwester der Lüge.
Wird Menschenleben geschont, sei jede Schutzbehauptung erlaubt; geht's jedoch allein um Sachen, hilft die Wahrheit, auf Dauer, weiter als die Falschaussage, die sich ins Bewusstsein fräst und Verbitterung hervorruft.
Ein Witz, der nicht verletzt, kommt selten auf die Welt.
Das frisch geprägte Wort Versehnsucht, Freund, fällt mir bei der Lektüre dieses Paragraphen auf die Füße, und ich bücke mich, hebe es auf. Ich stecke Versehnsucht in ein Notizbuch, als handelte es sich um ein Ahornblatt, das man zwischen zwei Seiten trocknet, es für blattlose Wintertage konserviert.
Gerne hätte ich übrigens die Fähigkeit, die Sie beschreiben: den toughen Streit abzuschütteln, Ungemach wie einen Staubballen fortzupusten. Doch die Dinge liegen in meinen Zeiten anders, weil nun mal, eine Binsenwahrheit, die Dinge anders liegen; was modest klingt, es aber nicht ist, da um den Kern, nicht die Peripherie der Demokratie gestritten wird.
In der argsten Finsternis ein heiteres Witzwort über den Sonnenschein zu finden, bringt keine Helligkeit, sondern nur den Ruf der Leichtfertigkeit, die dem Leichtsinn oftmals so nahe steht, dass wir beide kaum auseinanderhalten können.
Abzuhauen, wird's schwierig, ist egoistisch, die Teilhabe am aufwendigen Lösungsprozess dagegen pluralistisch.
Das Unartigste sei den Tyrannen und Diktatorinnen gegenüber das Artigste. Widerstand sei der Feigheit des Nicht-Verstehenwollens vorzuziehen. Denn am Ende macht die gelangweilte Tyrannin, macht der psychopathische Diktator, hoppla, das tut mir aber leid, auch die artigste Hofschranzin und den folgsamsten Hofschranzen einen entscheidenden Kopf kürzer.
24. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 22. März 2019
Vom Versehn Gebrauch zu machen wissen. Dadurch helfen kluge Leute sich aus Verwickelungen. Mit dem leichten Anstande einer witzigen Wendung kommen sie oft aus dem verworrensten Labyrinth. Aus dem schwierigsten Streite entschlüpfen sie artig und mit Lächeln. Der größte aller Feldherren setzte darin seinen Werth. Wo man etwas abzuschlagen hat, ist es eine höfliche List, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken: und keine größre Feinheit giebt es, als nicht zu verstehn.
Es ist schon seltsam, Freund, wie der Bergriff "Versehn", den Ihr deutscher Translator benutzt, seine Bedeutung verschoben hat. Nun gut, blicken wir auf den Kern Ihres Vorschlags, einen Schlag duckend, gar lächelnd mit einigen amüsanten Worten zu parieren. Die hohe Kunst der Diplomatie, scheint mir, pflegt genau solche Finten: wir sagen das eine, meinen das andere - und alle wissen's, aber tun so, als wüssten sie's nicht. Im Grunde herrschte also die Unwahrheit, die vornehme Schwester der Lüge.
Wird Menschenleben geschont, sei jede Schutzbehauptung erlaubt; geht's jedoch allein um Sachen, hilft die Wahrheit, auf Dauer, weiter als die Falschaussage, die sich ins Bewusstsein fräst und Verbitterung hervorruft.
Ein Witz, der nicht verletzt, kommt selten auf die Welt.
Das frisch geprägte Wort Versehnsucht, Freund, fällt mir bei der Lektüre dieses Paragraphen auf die Füße, und ich bücke mich, hebe es auf. Ich stecke Versehnsucht in ein Notizbuch, als handelte es sich um ein Ahornblatt, das man zwischen zwei Seiten trocknet, es für blattlose Wintertage konserviert.
Gerne hätte ich übrigens die Fähigkeit, die Sie beschreiben: den toughen Streit abzuschütteln, Ungemach wie einen Staubballen fortzupusten. Doch die Dinge liegen in meinen Zeiten anders, weil nun mal, eine Binsenwahrheit, die Dinge anders liegen; was modest klingt, es aber nicht ist, da um den Kern, nicht die Peripherie der Demokratie gestritten wird.
In der argsten Finsternis ein heiteres Witzwort über den Sonnenschein zu finden, bringt keine Helligkeit, sondern nur den Ruf der Leichtfertigkeit, die dem Leichtsinn oftmals so nahe steht, dass wir beide kaum auseinanderhalten können.
Abzuhauen, wird's schwierig, ist egoistisch, die Teilhabe am aufwendigen Lösungsprozess dagegen pluralistisch.
Das Unartigste sei den Tyrannen und Diktatorinnen gegenüber das Artigste. Widerstand sei der Feigheit des Nicht-Verstehenwollens vorzuziehen. Denn am Ende macht die gelangweilte Tyrannin, macht der psychopathische Diktator, hoppla, das tut mir aber leid, auch die artigste Hofschranzin und den folgsamsten Hofschranzen einen entscheidenden Kopf kürzer.
24. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 22. März 2019
72.
Ein Mann von Entschlossenheit. Nicht so verderblich ist die schlechte Ausführung, als die Unentschlossenheit. Flüssigkeiten verderben weniger solange sie fließen, als wann sie stocken. Es giebt zum Entschluß ganz unfähige Leute, die stets des fremden Antriebes bedürfen: und bisweilen entspringt dies nicht sowohl aus Verworrenheit der Urtheilskraft, die bei ihnen vielmehr sehr hell ist, als aus Mangel an Thatkraft. Schwierigkeiten auffinden, beweist Scharfsinn; jedoch noch größern das Auffinden der Auswege aus ihnen. – Andre hingegen giebt es, die nichts in Verlegenheit setzt: von umfassendem Verstande und entschlossenem Karakter, sind sie für die höchsten Stellen geboren: denn ihr aufgeweckter Kopf befördert den Geschäftsgang und erleichtert das Gelingen. Sie sind gleich mit Allem fertig: und haben sie Einer Welt Rede gestanden; so bleibt ihnen noch Zeit für eine zweite übrig. Haben sie nur erst vom Glück Handgeld erhalten, so greifen sie mit größrer Sicherheit in die Geschäfte.
Zunächst, Freund, bevor wir ans Eingemachte gehen, die Frage der Verengung auf den Mann: was ist mit Eine Frau von Entschlossenheit? Das passt Ihnen, scheint mir, einfach nicht ins Tatkraftkonzept. Sie haben's, seien wir ehrlich miteinander, nicht mal auf der Rechnung gehabt. Selbstverständlich spricht aus meiner Frage meine ganz spezifische Zeit, in der die Geschlechtergerechtigkeit eine wesentliche Angelegenheit geworden ist, jedenfalls in aufgeklärten Kreisen, die übrigens gerade von allen populistischen Seiten mit Unsinn überhäuft werden und kaum dazu kommen, den ganzen Digitaldreck wegzuräumen.
Mit einem Wort, Freund: Sie reden den "Übermensch" herbei - ein Begriff, der, wie mir scheint, keinen Kasus braucht, über der Grammatik, der in Form gegossenen Wirklichkeit, steht. Kein Wunder, dass, neben dem wortgewaltigen Translator, der in diesem Abschnitt einiges an Schönheit aus seiner Mutter-, oh, nein!, natürlich: Vatersprache herauskitzelt, kein Wunder, dass sich auch der Übermenschschöpfer Nietzsche an solchen Passagen in Ihrem Über-Orakel erbaute, Ihnen misanthropischen Respekt zollte.
Nun, was, wahrscheinlich, nicht wieder vorkommen soll, nun wollen wir kurz in Also sprach Zarathustra hineinhören. Sie müssen wissen, dass jener Nietzsche zwar durchaus viel erwähnt, aber am Ende wenig gelesen wird. Eine Geschmacksprobe kann demgemäß nicht schaden. Weder für jene, die ihren Nietzsche in frühen Jahren studierten, als sie noch adoleszenzfiebrig aus dem Geileraltersaft soffen, sich kaum bewusst waren, was ihnen da an eloquenter, interpretationswürdiger Brache als Absturzbach die Kehle herunterlief, mystische Brühe, die nicht nur im Magen, sondern, was ein unterschätzter Aufenthaltsort im Körper ist, sondern, recht zuverlässig, ich spreche dabei aus Erfahrung, in der Galle landete und sich dort ungemütlich ansiedelte, bei allerlei unpassenden Gelegenheiten mit Jauchekraft zurück in den Kopf stieg und steigt. Weder also nur für jene, die den Nietzsche als Halbwissen in sich rumoren haben, auch für Sie und diejenigen, die zwar den Begriff des "Übermensch" oft und gern im Munde führen, aber die eigentliche Passage niemals betrachtet haben, sei folgendes aus dem Zarathustra zitiert:
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!
Es sei, quasi als Fußnote, noch zweierlei erwähnt. Erstens, im Text geht's danach gegen das Metaphysische, gegen das vermeintlich Göttliche, dem sich der Mensch fatalerweise anvertraut, dem er sich aber, laut Zarathustra, nicht anvertrauen sollte, da Gott eben tot sei. Und zweitens, da das naive Lesen uns nicht ansteht, sei außerdem angemerkt: hier spricht der Protagonist eines Textes, den sich ein Schriftsteller ausgedacht hat. Hier spricht, selbstverständlich, nicht der Autor. Und doch, sophistische Hermeneutik und frisch gebügelte Komparatistik hin oder her, ist die An- und Zueignung, die Nietzsche mit dem Zarathustra erreicht hat, eine gewaltige, eine fast maßstabsgetreue Approbation. Der Übermensch-Anzug wird ihm übergestülpt, und er zieht ihn erstens an, hängt ihn zweitens niemals wieder zurück in den Schrank, auch wenn ihm das Gewand nicht immer gepasst hat. Die Menschenverachtung - denn was ist das Kleinreden des Anderen und Tier- und Pflanzenfabulieren ansonsten? - hat ihm gemundet. Der Übermensch sei, als Pars pro toto, das größte Problem der Machogattung Mensch. Wir stellen uns über alles, was ansonsten kreucht und fleucht, machen uns, wie von kurzsichtigen Kolonialistinnen und Kolonialisten befohlen, die Erde untertan, halten uns, allen Ernstes, für den Sinn der Erde, das ulitmative Ziel. Wir sind so blindwütig, so bitterböse, so wutschnaubend, dass wir alles kaputtwalzen, was uns in den Weg kommt.
Der Übermensch in uns - oder, um Ihren Begriff aufzunehmen: der Mann und die Frau von Entschlossenheit in uns - sei das Problem, nicht die Lösung.
Nur mit der Erde, nicht gegen sie werden wir als Gattung überleben.
Der Speziesismus bricht uns gerade, jetzt, am Anfang des neuen Jahrtausends, das Genick, und wir glauben, es handelte sich um einfache Nackenschmerzen. Die Querschnittslähmung ist absehbar und, ändern wir nicht radikal unser Verhalten, wohl auch unser verdientes Schicksal.
23. Februar 2020, mit einem langen Sentiment vom 21. März 2019
Ein Mann von Entschlossenheit. Nicht so verderblich ist die schlechte Ausführung, als die Unentschlossenheit. Flüssigkeiten verderben weniger solange sie fließen, als wann sie stocken. Es giebt zum Entschluß ganz unfähige Leute, die stets des fremden Antriebes bedürfen: und bisweilen entspringt dies nicht sowohl aus Verworrenheit der Urtheilskraft, die bei ihnen vielmehr sehr hell ist, als aus Mangel an Thatkraft. Schwierigkeiten auffinden, beweist Scharfsinn; jedoch noch größern das Auffinden der Auswege aus ihnen. – Andre hingegen giebt es, die nichts in Verlegenheit setzt: von umfassendem Verstande und entschlossenem Karakter, sind sie für die höchsten Stellen geboren: denn ihr aufgeweckter Kopf befördert den Geschäftsgang und erleichtert das Gelingen. Sie sind gleich mit Allem fertig: und haben sie Einer Welt Rede gestanden; so bleibt ihnen noch Zeit für eine zweite übrig. Haben sie nur erst vom Glück Handgeld erhalten, so greifen sie mit größrer Sicherheit in die Geschäfte.
Zunächst, Freund, bevor wir ans Eingemachte gehen, die Frage der Verengung auf den Mann: was ist mit Eine Frau von Entschlossenheit? Das passt Ihnen, scheint mir, einfach nicht ins Tatkraftkonzept. Sie haben's, seien wir ehrlich miteinander, nicht mal auf der Rechnung gehabt. Selbstverständlich spricht aus meiner Frage meine ganz spezifische Zeit, in der die Geschlechtergerechtigkeit eine wesentliche Angelegenheit geworden ist, jedenfalls in aufgeklärten Kreisen, die übrigens gerade von allen populistischen Seiten mit Unsinn überhäuft werden und kaum dazu kommen, den ganzen Digitaldreck wegzuräumen.
Mit einem Wort, Freund: Sie reden den "Übermensch" herbei - ein Begriff, der, wie mir scheint, keinen Kasus braucht, über der Grammatik, der in Form gegossenen Wirklichkeit, steht. Kein Wunder, dass, neben dem wortgewaltigen Translator, der in diesem Abschnitt einiges an Schönheit aus seiner Mutter-, oh, nein!, natürlich: Vatersprache herauskitzelt, kein Wunder, dass sich auch der Übermenschschöpfer Nietzsche an solchen Passagen in Ihrem Über-Orakel erbaute, Ihnen misanthropischen Respekt zollte.
Nun, was, wahrscheinlich, nicht wieder vorkommen soll, nun wollen wir kurz in Also sprach Zarathustra hineinhören. Sie müssen wissen, dass jener Nietzsche zwar durchaus viel erwähnt, aber am Ende wenig gelesen wird. Eine Geschmacksprobe kann demgemäß nicht schaden. Weder für jene, die ihren Nietzsche in frühen Jahren studierten, als sie noch adoleszenzfiebrig aus dem Geileraltersaft soffen, sich kaum bewusst waren, was ihnen da an eloquenter, interpretationswürdiger Brache als Absturzbach die Kehle herunterlief, mystische Brühe, die nicht nur im Magen, sondern, was ein unterschätzter Aufenthaltsort im Körper ist, sondern, recht zuverlässig, ich spreche dabei aus Erfahrung, in der Galle landete und sich dort ungemütlich ansiedelte, bei allerlei unpassenden Gelegenheiten mit Jauchekraft zurück in den Kopf stieg und steigt. Weder also nur für jene, die den Nietzsche als Halbwissen in sich rumoren haben, auch für Sie und diejenigen, die zwar den Begriff des "Übermensch" oft und gern im Munde führen, aber die eigentliche Passage niemals betrachtet haben, sei folgendes aus dem Zarathustra zitiert:
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als irgendein Affe.
Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen!
Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!
Es sei, quasi als Fußnote, noch zweierlei erwähnt. Erstens, im Text geht's danach gegen das Metaphysische, gegen das vermeintlich Göttliche, dem sich der Mensch fatalerweise anvertraut, dem er sich aber, laut Zarathustra, nicht anvertrauen sollte, da Gott eben tot sei. Und zweitens, da das naive Lesen uns nicht ansteht, sei außerdem angemerkt: hier spricht der Protagonist eines Textes, den sich ein Schriftsteller ausgedacht hat. Hier spricht, selbstverständlich, nicht der Autor. Und doch, sophistische Hermeneutik und frisch gebügelte Komparatistik hin oder her, ist die An- und Zueignung, die Nietzsche mit dem Zarathustra erreicht hat, eine gewaltige, eine fast maßstabsgetreue Approbation. Der Übermensch-Anzug wird ihm übergestülpt, und er zieht ihn erstens an, hängt ihn zweitens niemals wieder zurück in den Schrank, auch wenn ihm das Gewand nicht immer gepasst hat. Die Menschenverachtung - denn was ist das Kleinreden des Anderen und Tier- und Pflanzenfabulieren ansonsten? - hat ihm gemundet. Der Übermensch sei, als Pars pro toto, das größte Problem der Machogattung Mensch. Wir stellen uns über alles, was ansonsten kreucht und fleucht, machen uns, wie von kurzsichtigen Kolonialistinnen und Kolonialisten befohlen, die Erde untertan, halten uns, allen Ernstes, für den Sinn der Erde, das ulitmative Ziel. Wir sind so blindwütig, so bitterböse, so wutschnaubend, dass wir alles kaputtwalzen, was uns in den Weg kommt.
Der Übermensch in uns - oder, um Ihren Begriff aufzunehmen: der Mann und die Frau von Entschlossenheit in uns - sei das Problem, nicht die Lösung.
Nur mit der Erde, nicht gegen sie werden wir als Gattung überleben.
Der Speziesismus bricht uns gerade, jetzt, am Anfang des neuen Jahrtausends, das Genick, und wir glauben, es handelte sich um einfache Nackenschmerzen. Die Querschnittslähmung ist absehbar und, ändern wir nicht radikal unser Verhalten, wohl auch unser verdientes Schicksal.
23. Februar 2020, mit einem langen Sentiment vom 21. März 2019
71.
Nicht ungleich seyn: nicht widersprechend in seinem Benehmen, weder von Natur noch aus Affektation. Ein verständiger Mann ist stets derselbe, in allen seinen Vollkommenheiten, und erhält sich dadurch den Ruf der Gescheutheit: Veränderungen können bei ihm nur aus äußern Ursachen oder fremden Verdiensten entstehn. In Sachen der Klugheit ist die Abwechselung eine Häßlichkeit. Es giebt Leute, die alle Tage Andre sind: sogar ihr Verstand ist ungleich, noch mehr ihr Wille und bis auf ihr Glück. Was gestern das Weiße ihres Ja war, ist heute das Schwarze ihres Nein. So arbeiten sie beständig ihrem eigenen Kredit und Ansehn entgegen und verwirren die Begriffe der Andern.
Wohl gesprochen, Freund - und zugleich gänzlich falsch. Sie schaffen es immer wieder, mich sowohl zu begeistern als auch ungläubig den Kopf schütteln zu lassen. Wohl eine Frage der Zeit- und Gemütsverfassung, denke ich. Mir gefällt die Idee, dass wir uns nur treu bleiben, wenn wir uns ändern. Die Halsstarrigkeit sei zwar durchaus ab und zu vonnöten, sagen wir, um die Demokratie zu verteidigen, aber in den meisten Fällen eine Last für alle Beteiligten.
Wer sich guten Argumenten verschließt, beschädigt schließlich ihre oder seine noch so gute Sache.
Die Fraglosigkeit langweilt, die Suche nach Fortschritt bereichert.
Nun, Freund, mischt sich also, erneut, Ablehnung in meine spontane Zustimmung. Das Flache, auf dem Sie stehen, mitten im See, sagen wir: auf einer Sandbank, auf der Sie, aus welchen Gründen auch immer, gelandet sind, erlaubt Ihnen, zu atmen und sich auszuruhen. Allein die echte Tiefe ist's dann doch nicht. Die Tiefe, sie harrt Ihrer, von ihr sind Sie umgeben, und niemand, so lautet das Experiment, wird kommen, um Sie von Ihrer Sandbank zu pflücken und ans sichere Ufer zu bringen. Bewegen Sie sich nicht, werden Sie also, über kurz oder lang, sterben. Die Sicherheit, in der Sie sich wiegen, ist dementsprechend eine falsche. Die Tiefe, selbst wenn Sie sie verneinen, bleibt Ihr eigentliches Revier, die Sandbank nur die vorgegaukelte Untiefe. Die imaginierte Sicherheit, eben jene die Sandbank, sei die falsche Konstante.
Das authentische, für das Sein offene Sich kennt keinen ursprünglichen Zustand, der unverbrüchlich ist. Mensch zu sein, heißt, dem Wechsel ausgesetzt zu sein. Und wer darauf beharrt, stets ein- und dieselbe oder derselbe zu sein, macht sich und anderen etwas vor. Wir müssen uns den Eremiten und die Eremitin als verbohrte und verlorene Eigenbrötler und Eigenbrötlerinnen vorstellen. Nur wer schwimmt, versteht das Wasser. Vom Vergnügen der Bewegung, dem de facto An-Sich- und Von-Sich-Fortsein, demzufolge: der wahren Lebenskunst, ganz zu schweigen.
Beharrung und Steifheit entfremden, Änderungsbereitschaft und Bewegung verbinden.
21. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 20. März 2019
Nicht ungleich seyn: nicht widersprechend in seinem Benehmen, weder von Natur noch aus Affektation. Ein verständiger Mann ist stets derselbe, in allen seinen Vollkommenheiten, und erhält sich dadurch den Ruf der Gescheutheit: Veränderungen können bei ihm nur aus äußern Ursachen oder fremden Verdiensten entstehn. In Sachen der Klugheit ist die Abwechselung eine Häßlichkeit. Es giebt Leute, die alle Tage Andre sind: sogar ihr Verstand ist ungleich, noch mehr ihr Wille und bis auf ihr Glück. Was gestern das Weiße ihres Ja war, ist heute das Schwarze ihres Nein. So arbeiten sie beständig ihrem eigenen Kredit und Ansehn entgegen und verwirren die Begriffe der Andern.
Wohl gesprochen, Freund - und zugleich gänzlich falsch. Sie schaffen es immer wieder, mich sowohl zu begeistern als auch ungläubig den Kopf schütteln zu lassen. Wohl eine Frage der Zeit- und Gemütsverfassung, denke ich. Mir gefällt die Idee, dass wir uns nur treu bleiben, wenn wir uns ändern. Die Halsstarrigkeit sei zwar durchaus ab und zu vonnöten, sagen wir, um die Demokratie zu verteidigen, aber in den meisten Fällen eine Last für alle Beteiligten.
Wer sich guten Argumenten verschließt, beschädigt schließlich ihre oder seine noch so gute Sache.
Die Fraglosigkeit langweilt, die Suche nach Fortschritt bereichert.
Nun, Freund, mischt sich also, erneut, Ablehnung in meine spontane Zustimmung. Das Flache, auf dem Sie stehen, mitten im See, sagen wir: auf einer Sandbank, auf der Sie, aus welchen Gründen auch immer, gelandet sind, erlaubt Ihnen, zu atmen und sich auszuruhen. Allein die echte Tiefe ist's dann doch nicht. Die Tiefe, sie harrt Ihrer, von ihr sind Sie umgeben, und niemand, so lautet das Experiment, wird kommen, um Sie von Ihrer Sandbank zu pflücken und ans sichere Ufer zu bringen. Bewegen Sie sich nicht, werden Sie also, über kurz oder lang, sterben. Die Sicherheit, in der Sie sich wiegen, ist dementsprechend eine falsche. Die Tiefe, selbst wenn Sie sie verneinen, bleibt Ihr eigentliches Revier, die Sandbank nur die vorgegaukelte Untiefe. Die imaginierte Sicherheit, eben jene die Sandbank, sei die falsche Konstante.
Das authentische, für das Sein offene Sich kennt keinen ursprünglichen Zustand, der unverbrüchlich ist. Mensch zu sein, heißt, dem Wechsel ausgesetzt zu sein. Und wer darauf beharrt, stets ein- und dieselbe oder derselbe zu sein, macht sich und anderen etwas vor. Wir müssen uns den Eremiten und die Eremitin als verbohrte und verlorene Eigenbrötler und Eigenbrötlerinnen vorstellen. Nur wer schwimmt, versteht das Wasser. Vom Vergnügen der Bewegung, dem de facto An-Sich- und Von-Sich-Fortsein, demzufolge: der wahren Lebenskunst, ganz zu schweigen.
Beharrung und Steifheit entfremden, Änderungsbereitschaft und Bewegung verbinden.
21. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 20. März 2019
70.
Abzuschlagen verstehn. Nicht Allen und nicht Alles darf man zugestehn. Jenes ist also ebenso wichtig, als daß man zu bewilligen wisse. Besonders ist den Mächtigen Aufmerksamkeit darauf dringend nöthig: hier kommt viel auf die Art an. Das Nein des Einen wird höher geschätzt als das Ja mancher Andern: denn ein vergoldetes Nein befriedigt mehr, als ein trockenes Ja. Viele giebt es, die immer das Nein im Munde haben, wodurch sie den Leuten Alles verleiden. Das Nein ist bei ihnen immer das Erste: und wenn sie auch nachher Alles bewilligen, so schätzt man es nicht, weil es durch jenes schon verleidet ist. Man soll nichts gleich rund abschlagen, vielmehr lasse man die Bittsteller Zug vor Zug von ihrer Selbsttäuschung zurückkommen. Auch soll man nie etwas ganz und gar verweigern: denn das hieße jenen die Abhängigkeit aufkündigen: man lasse immer noch ein wenig Hoffnung übrig, die Bitterkeit der Weigerung zu versüßen. Endlich fülle man durch Höflichkeit die Lücke aus, welche die Gunst hier läßt, und setze schöne Worte an die Stelle der Werke. Ja und Nein sind schnell gesagt, erfordern aber langes Nachdenken.
Sie sind, Freund, ein echter Teufelskerl, mit allen Wassern der Hinhaltung gewaschen. Zuckerbrot und Peitsche stehen ihnen genauso zur Verfügung wie das harte Wort und das Süßholzraspeln. Wie Sie wohl mit Ihren Liebsten umgegangen sind? Haben Sie das Zepter nach Schlecht- oder Gutdünken geschwungen? Jene damit verprügelt, andere verteidigt? Ich kann mir vorstellen, dass Sie ein wunderbarer Freund gewesen sind - und ein furchtbarer Feind, der nichts vergisst, auf jede Schwäche lauert und dann zur Rache schreitet.
Wer nichts vergisst, verdient es, vergessen zu werden.
Hoffnung zu wecken, aber den Lohn schlafen zu lassen, führt am Ende zu Aufständen.
Lieber Täuschen als Enttäuschen.
Man solle, schreibt Niccolò Machiavelli, Ihr älterer Bruder im Geiste, man solle den Menschen entweder schmeicheln, oder sie sich unterwerfen. Dies war Ihnen selbstverständlich bewusst, als Sie diese kurze Anleitung zum Totalitarismus verfasst haben.
Raubtiermentalität und Machtgier sind des Übels Kern, nicht des Glücks Unterpfand.
20. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 19. März 2019
Abzuschlagen verstehn. Nicht Allen und nicht Alles darf man zugestehn. Jenes ist also ebenso wichtig, als daß man zu bewilligen wisse. Besonders ist den Mächtigen Aufmerksamkeit darauf dringend nöthig: hier kommt viel auf die Art an. Das Nein des Einen wird höher geschätzt als das Ja mancher Andern: denn ein vergoldetes Nein befriedigt mehr, als ein trockenes Ja. Viele giebt es, die immer das Nein im Munde haben, wodurch sie den Leuten Alles verleiden. Das Nein ist bei ihnen immer das Erste: und wenn sie auch nachher Alles bewilligen, so schätzt man es nicht, weil es durch jenes schon verleidet ist. Man soll nichts gleich rund abschlagen, vielmehr lasse man die Bittsteller Zug vor Zug von ihrer Selbsttäuschung zurückkommen. Auch soll man nie etwas ganz und gar verweigern: denn das hieße jenen die Abhängigkeit aufkündigen: man lasse immer noch ein wenig Hoffnung übrig, die Bitterkeit der Weigerung zu versüßen. Endlich fülle man durch Höflichkeit die Lücke aus, welche die Gunst hier läßt, und setze schöne Worte an die Stelle der Werke. Ja und Nein sind schnell gesagt, erfordern aber langes Nachdenken.
Sie sind, Freund, ein echter Teufelskerl, mit allen Wassern der Hinhaltung gewaschen. Zuckerbrot und Peitsche stehen ihnen genauso zur Verfügung wie das harte Wort und das Süßholzraspeln. Wie Sie wohl mit Ihren Liebsten umgegangen sind? Haben Sie das Zepter nach Schlecht- oder Gutdünken geschwungen? Jene damit verprügelt, andere verteidigt? Ich kann mir vorstellen, dass Sie ein wunderbarer Freund gewesen sind - und ein furchtbarer Feind, der nichts vergisst, auf jede Schwäche lauert und dann zur Rache schreitet.
Wer nichts vergisst, verdient es, vergessen zu werden.
Hoffnung zu wecken, aber den Lohn schlafen zu lassen, führt am Ende zu Aufständen.
Lieber Täuschen als Enttäuschen.
Man solle, schreibt Niccolò Machiavelli, Ihr älterer Bruder im Geiste, man solle den Menschen entweder schmeicheln, oder sie sich unterwerfen. Dies war Ihnen selbstverständlich bewusst, als Sie diese kurze Anleitung zum Totalitarismus verfasst haben.
Raubtiermentalität und Machtgier sind des Übels Kern, nicht des Glücks Unterpfand.
20. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 19. März 2019
69.
Sich nicht gemeiner Launenhaftigkeit hingeben. Der ist ein großer Mann, welcher nie von fremdartigen Eindrücken bestimmt wird. Beobachtung seiner selbst ist eine Schule der Weisheit. Man kenne seine gegenwärtige Stimmung und baue ihr vor: ja, man werfe sich aufs entgegengesetzte Extrem, um zwischen dem Natürlichen und Künstlichen den Punkt zu treffen, wo auf der Waage der Vernunft die Zunge einsteht. Der Anfang der Selbstbesserung ist die Selbsterkenntniß. Es giebt Ungeheuer von Verstimmtheit: immer sind sie bei irgend einer Laune, und mit dieser wechseln sie die Neigungen: so immerwährend von einer niederträchtigen Verstimmung am Seile geschleppt, lassen sie sich auf grade entgegengesetzten Seiten ein. Und nicht bloß den Willen verdirbt dieser ausschweifende Hang; auch an den Verstand wagt er sich: Wollen und Erkennen wird durch ihn verschroben.
Sie singen, Freund, im Kern, das hohe Lied des Gleichmuts. Gewiss eine lobenswerte Gemütsverfassung. Aber eben nicht in jeder Lage angebracht. Sagen wir, wir wohnten einer Heirat bei - und sowohl das Brautpaar als auch die Gäste wären ein Vorbild der Mäßigung, unterdrückten die überschäumende Freude, die in ihnen brodelte, würden keine Mine verziehen, sondern die unvergessliche Gelegenheit auf der, Pardon, halben Arschbacke gelangweilt absitzen. Das ginge nicht an. Liebe braucht tiefe Emotionen, Momente des verrückten Glücks, des haltlosen Feierns.
Die Vernunft des Artigseins hat ihren Ort, die Unvernunft des Ausgelassenseins einen anderen. Beide grenzen, im Idealfall, aneinander, ja besitzen eine gemeinsame Schwingtür.
Ein launischer Mensch sei erst freundlich ermahnt, hilft das nichts: unfreundlich gemieden.
Nichts hindert die Sicht mehr als ein trübes Fernrohr. Ist ein Austausch des Geräts nicht möglich, sollten wir das Instrument aus der Hand legen und uns auf die unmittelbare Umgebung konzentrieren.
Die Hermeneutik, die Kunst der selbstkritischen Auslegung, Freund, beleuchtet, wie das Außen auf das Innen wirkt und, an und für sich, auch, wie das Innen das Außen beeinflusst. Zu glauben, wir wären nur wir, ich wäre nur ich, du wärst nur du, ist, spätestens seit Freud, ein Privileg der Religiösen.
Erst gestern, am späten Abend, habe ich mich vor mir selbst geschämt. Die Unflätigkeiten, die ich über die Brexit-Politikergeneration, sowohl Torries als auch Labour-Abgeordnete, geäußert habe, damit das klar ist: leider vor anderen geäußert habe, vor anderen, die nicht zu meinem engsten Kreis gehören, die Unflätigkeiten treiben mir noch jetzt die Schamesröte ins Gesicht. Andererseits, scheint mir, sind vom Verstand (un)bestimmte Gefühlsausbrüche bisweilen notwendig, um die Luft zu reinigen, um der Welt zu zeigen, dass uns nicht alles und jeder egal ist, dass es Werte gibt, für die wir uns einsetzen - leidenschaftlich und manchmal, zugegeben, wutentbrannt. Wer alles gleichmäßig temperiert haben will, vergeudet entweder Energie oder spart sich zu Tode.
Außerdem benötige ich, dringend benötige ich sie, die Korrektur von außen. Halte ich mich für das Maß aller Dinge, mache ich mich der eitlen Maßlosigkeit schuldig. Die Klugen wissen, dass sie irren. Und diese Einsicht, die Erkenntnis des Lernens aus Fehlern, sei die einzige Garantie für Fortschritt. Immerwährende Stagnation und zählebige Beweihräucherung, selbst die auf hohem Niveau, zerstören unsere Zivilisation.
Die Kraft der Zunichtemachung, die im Menschen wohnt, lässt sich, so paradox es auch klingen mag, allein durch die Widerlegung des Herkömmlichen, durch die wissenschaftliche, künstlerische und politische Falsifikation, bekämpfen. Die Fehler des Heute sind, in einer mutigen und aufgeklärten Gesellschaft, der Fortschritt von morgen.
18. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 18. März 2019
Sich nicht gemeiner Launenhaftigkeit hingeben. Der ist ein großer Mann, welcher nie von fremdartigen Eindrücken bestimmt wird. Beobachtung seiner selbst ist eine Schule der Weisheit. Man kenne seine gegenwärtige Stimmung und baue ihr vor: ja, man werfe sich aufs entgegengesetzte Extrem, um zwischen dem Natürlichen und Künstlichen den Punkt zu treffen, wo auf der Waage der Vernunft die Zunge einsteht. Der Anfang der Selbstbesserung ist die Selbsterkenntniß. Es giebt Ungeheuer von Verstimmtheit: immer sind sie bei irgend einer Laune, und mit dieser wechseln sie die Neigungen: so immerwährend von einer niederträchtigen Verstimmung am Seile geschleppt, lassen sie sich auf grade entgegengesetzten Seiten ein. Und nicht bloß den Willen verdirbt dieser ausschweifende Hang; auch an den Verstand wagt er sich: Wollen und Erkennen wird durch ihn verschroben.
Sie singen, Freund, im Kern, das hohe Lied des Gleichmuts. Gewiss eine lobenswerte Gemütsverfassung. Aber eben nicht in jeder Lage angebracht. Sagen wir, wir wohnten einer Heirat bei - und sowohl das Brautpaar als auch die Gäste wären ein Vorbild der Mäßigung, unterdrückten die überschäumende Freude, die in ihnen brodelte, würden keine Mine verziehen, sondern die unvergessliche Gelegenheit auf der, Pardon, halben Arschbacke gelangweilt absitzen. Das ginge nicht an. Liebe braucht tiefe Emotionen, Momente des verrückten Glücks, des haltlosen Feierns.
Die Vernunft des Artigseins hat ihren Ort, die Unvernunft des Ausgelassenseins einen anderen. Beide grenzen, im Idealfall, aneinander, ja besitzen eine gemeinsame Schwingtür.
Ein launischer Mensch sei erst freundlich ermahnt, hilft das nichts: unfreundlich gemieden.
Nichts hindert die Sicht mehr als ein trübes Fernrohr. Ist ein Austausch des Geräts nicht möglich, sollten wir das Instrument aus der Hand legen und uns auf die unmittelbare Umgebung konzentrieren.
Die Hermeneutik, die Kunst der selbstkritischen Auslegung, Freund, beleuchtet, wie das Außen auf das Innen wirkt und, an und für sich, auch, wie das Innen das Außen beeinflusst. Zu glauben, wir wären nur wir, ich wäre nur ich, du wärst nur du, ist, spätestens seit Freud, ein Privileg der Religiösen.
Erst gestern, am späten Abend, habe ich mich vor mir selbst geschämt. Die Unflätigkeiten, die ich über die Brexit-Politikergeneration, sowohl Torries als auch Labour-Abgeordnete, geäußert habe, damit das klar ist: leider vor anderen geäußert habe, vor anderen, die nicht zu meinem engsten Kreis gehören, die Unflätigkeiten treiben mir noch jetzt die Schamesröte ins Gesicht. Andererseits, scheint mir, sind vom Verstand (un)bestimmte Gefühlsausbrüche bisweilen notwendig, um die Luft zu reinigen, um der Welt zu zeigen, dass uns nicht alles und jeder egal ist, dass es Werte gibt, für die wir uns einsetzen - leidenschaftlich und manchmal, zugegeben, wutentbrannt. Wer alles gleichmäßig temperiert haben will, vergeudet entweder Energie oder spart sich zu Tode.
Außerdem benötige ich, dringend benötige ich sie, die Korrektur von außen. Halte ich mich für das Maß aller Dinge, mache ich mich der eitlen Maßlosigkeit schuldig. Die Klugen wissen, dass sie irren. Und diese Einsicht, die Erkenntnis des Lernens aus Fehlern, sei die einzige Garantie für Fortschritt. Immerwährende Stagnation und zählebige Beweihräucherung, selbst die auf hohem Niveau, zerstören unsere Zivilisation.
Die Kraft der Zunichtemachung, die im Menschen wohnt, lässt sich, so paradox es auch klingen mag, allein durch die Widerlegung des Herkömmlichen, durch die wissenschaftliche, künstlerische und politische Falsifikation, bekämpfen. Die Fehler des Heute sind, in einer mutigen und aufgeklärten Gesellschaft, der Fortschritt von morgen.
18. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 18. März 2019
68.
Es ist von höherm Werth, Verstand als Gedächtniß zu leihen: um so viel, als man bei diesem nur zu erinnern, bei jenem aufzufassen hat. Manche unterlassen Dinge, die grade an der Zeit wären, weil solche sich ihnen nicht darbieten: dann helfe eines Freundes Umsicht auf die Spur des Passenden. Eine der größten Geistesgaben ist die, daß Einem sich darbiete, was Noth thut: weil es daran fehlt, unterbleiben manche Dinge, die gelungen wären. Theile sein Licht mit, wer es hat, und bewerbe sich darum, wer dessen bedarf; jener mit Zurückhaltung, dieser mit Aufmerksamkeit. Man gebe nicht mehr, als ein Stichwort: diese Feinheit ist nöthig, wenn der Nutzen des Erweckenden irgend mit im Spiel ist: man zeige seine Bereitwilligkeit und gehe weiter, wenn mehr verlangt wird: hat man nun das Nein; so suche man das Ja zu finden, mit Geschick: denn das Meiste wird nicht erlangt, weil es nicht unternommen wird.
Herrlich, Freund, wie Sie mich schwindelig reden! Ich bemühe mich, meine sieben Vernunftsachen beieinander zu halten, und merke doch, dass mir, ob Ihrer Überredungskünste, die Felle wegschwimmen. Damit beweisen Sie, im eingeschränkten Maße, Ihre Theorie: die Erinnerung unterwirft sich dem Augenblick. Was gestern war, eben noch von uns gewusst, verliert, rüttelt das Tagesgeschäft an der Tür, seinen Wert. Wir springen auf und rennen ins Weltgetümmel, als sei alles neu, als gäb's kein Halten mehr.
Nichts vom Gestern zu wissen, hilft der eitlen Verführung im Jetzt, nicht der Vernunft, die sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft Respekt zollt.
Wissen, das sich selbst genügt, betrügt das Gewissen.
Selbst der schärfste Verstand irrt, und der stumpfeste kennt einen markanten Moment, den wenige für möglich gehalten hätten. Wer denkt, immer Recht zu haben, hat, am Ende, im Bewusstsein der Geschichte, de facto niemals Recht. Philosophinnen und Philosophen, die unverdrossen auftrumpfen, sich ihrer Weltsicht absolut sicher sind, ernten schließlich Verdrossenheit, verlieren früher oder später das Spiel und werden - um nicht zu sagen: verwesen -, nolens volens, zur obskuren Randnotiz.
17. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 18. März 2019
Es ist von höherm Werth, Verstand als Gedächtniß zu leihen: um so viel, als man bei diesem nur zu erinnern, bei jenem aufzufassen hat. Manche unterlassen Dinge, die grade an der Zeit wären, weil solche sich ihnen nicht darbieten: dann helfe eines Freundes Umsicht auf die Spur des Passenden. Eine der größten Geistesgaben ist die, daß Einem sich darbiete, was Noth thut: weil es daran fehlt, unterbleiben manche Dinge, die gelungen wären. Theile sein Licht mit, wer es hat, und bewerbe sich darum, wer dessen bedarf; jener mit Zurückhaltung, dieser mit Aufmerksamkeit. Man gebe nicht mehr, als ein Stichwort: diese Feinheit ist nöthig, wenn der Nutzen des Erweckenden irgend mit im Spiel ist: man zeige seine Bereitwilligkeit und gehe weiter, wenn mehr verlangt wird: hat man nun das Nein; so suche man das Ja zu finden, mit Geschick: denn das Meiste wird nicht erlangt, weil es nicht unternommen wird.
Herrlich, Freund, wie Sie mich schwindelig reden! Ich bemühe mich, meine sieben Vernunftsachen beieinander zu halten, und merke doch, dass mir, ob Ihrer Überredungskünste, die Felle wegschwimmen. Damit beweisen Sie, im eingeschränkten Maße, Ihre Theorie: die Erinnerung unterwirft sich dem Augenblick. Was gestern war, eben noch von uns gewusst, verliert, rüttelt das Tagesgeschäft an der Tür, seinen Wert. Wir springen auf und rennen ins Weltgetümmel, als sei alles neu, als gäb's kein Halten mehr.
Nichts vom Gestern zu wissen, hilft der eitlen Verführung im Jetzt, nicht der Vernunft, die sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft Respekt zollt.
Wissen, das sich selbst genügt, betrügt das Gewissen.
Selbst der schärfste Verstand irrt, und der stumpfeste kennt einen markanten Moment, den wenige für möglich gehalten hätten. Wer denkt, immer Recht zu haben, hat, am Ende, im Bewusstsein der Geschichte, de facto niemals Recht. Philosophinnen und Philosophen, die unverdrossen auftrumpfen, sich ihrer Weltsicht absolut sicher sind, ernten schließlich Verdrossenheit, verlieren früher oder später das Spiel und werden - um nicht zu sagen: verwesen -, nolens volens, zur obskuren Randnotiz.
17. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 18. März 2019
67.
Beifällige Aemter vorziehen. Die meisten Dinge hängen von fremder Gunst ab. Die Wertschätzung ist für die Talente, was der West für die Blumen: Athem und Leben. Es giebt Aemter und Beschäftigungen, die dem allgemeinen Beifallsrufe offen stehen, und andre, die zwar wichtiger sind, jedoch sich keines Ansehns erfreuen. Jene erlangen die allgemeine Gunst, weil sie vor den Augen Aller ausgeübt werden: diese, wenn sie gleich mehr vom Seltenen und Werthvollen an sich haben, bleiben in ihrer Zurückgezogenheit unbeachtet, zwar geehrt, aber ohne Beifall. Unter den Fürsten sind die siegreichen die berühmten: deshalb standen die Könige von Arragon in so hohen Ehren, als Krieger, Erobrer, große Männer. Der begabte Mann ziehe die gepriesenen Aemter vor, die Allen sichtbar sind und deren Einfluß sich auf Alle erstreckt: dann wird die allgemeine Stimme ihm unvergänglichen Ruhm verleihen.
Ein von mir geschätzter Schriftsteller, Freund, der Schweizer Robert Walser, war ein Meister der kleinen Form, im Leben wie beim Schreiben. Er war sich, gewissermaßen, selbst genug - und wirkte gerade dadurch. Sich selbst treu zu bleiben, ist wichtiger, als auf den Leistungsdruck der Gesellschaft zu hören und sich die Lebensfreude nehmen zu lassen. Wer kann, sollte das Sein genießen; wie das vonstatten geht, bleibt dabei uns selbst überlassen. Patentrezepte fürs Glück führen geradewegs in die Misere. Und überhaupt hab ich nicht zu selten das Gefühl, dass sich in langen Büchern weniger finden lässt als in einer Sammlung nachdenklicher Aphorismen.
Jede Form hat ihren genuinen Wert und findet ihren beifälligen Ort, wenn wir sie nur wirken lassen.
Ruhm gleicht dem Mittagslicht: er hat eine enge begrenzte Zeit. Wer auf längere Sicht gesehen werden möchte, muss sich weitere Quellen erschließen.
Nun, das sei noch erwähnt, in dieser rasanten Beschäftigungsfeldkunde reiten Sie, sehenden Auges, vor und für uns und für sich selbst Ihr eigenes Pferd zugrunde. Und mir scheint, als wüsste ich möglicherweise, warum Sie sich gedanklich derart vergaloppieren, da ich mich selbst in vergleichbare Widersprüche verstrickt und verwickelt habe, aus denen sich zu lösen, Freund, schwerfällt. Dass es Berufswege im Halbdunklen gibt, die, wie Sie sagen, wichtiger sind als jene glänzenden Scheinwerferkarrieren, stellen Sie zuächst selbst ganz richtig fest, um dann doch, in einem gewagten Manöver, die Ruhmesreißleine zu ziehen. Die Talentierten sollten, raten Sie mit Verve, raten Sie ohne Einschränkung, raten Sie gegen Ihre eigene Empfehlung, die Talentierten sollten auf jeden Fall die gepriesenen Ämter anstreben, ja sogar vorziehen, um nicht im Schatten zu verdorren.
Wenige wissen ad hoc, was mit dem Leben überhaupt anzufangen ist. Wenige ahnen, was recht und billig sein könnte. Und misslingt der Start, drohen Ungemach und Unglück, warten die ewige Langeweile und bereits abgeschlossene falsche Kredite auf uns, wagen wenige, sogleich auszuscheren und sich couragiert umzuorientieren. Die Dressurreiterei legt sowohl Ross als auch Reiterin und Reiter Scheuklappen an. Wir halten den Parcours, in den uns Vorbestimmung oder eigene Begrenztheit gelotst hat, häufig genug für unser Schicksal. Und damit meine ich, ganz bewusst, auch die Idee, ins Flutlicht zu drängen, um bloß angestrahlt und vielleicht beklatscht zu werden.
Falscher Applaus, sei er laut oder leise, sei er gegeben oder erhalten, verbiegt den Charakter. Pseudoziele entbehren der Sinnhaftigkeit; kommen wir an, empfängt uns nichts als gähnende Leere.
Der richtige Weg folgt der Wahrheit, ist er auch steinig und mühsam. Was uns in den Schoß fällt, ist selten sinnvoll und macht noch viel seltener glücklich.
Ihrem beifallhaschenden Halbsatz auf die Krone von Aragonien wohnt die falsche Sehnsucht nach Anerkennung bei. Allein: das Lob der Abgelehnten stimmt die einflussreichen Verneinerinnen und Verneiner nie und nimmer um. Im Gegenteil: sie sehen sich in ihrer Position bestärkt. Mächtige verstehen nur eine Sprache: die des mächtigen Widerstands.
16. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 17. März 2019
Beifällige Aemter vorziehen. Die meisten Dinge hängen von fremder Gunst ab. Die Wertschätzung ist für die Talente, was der West für die Blumen: Athem und Leben. Es giebt Aemter und Beschäftigungen, die dem allgemeinen Beifallsrufe offen stehen, und andre, die zwar wichtiger sind, jedoch sich keines Ansehns erfreuen. Jene erlangen die allgemeine Gunst, weil sie vor den Augen Aller ausgeübt werden: diese, wenn sie gleich mehr vom Seltenen und Werthvollen an sich haben, bleiben in ihrer Zurückgezogenheit unbeachtet, zwar geehrt, aber ohne Beifall. Unter den Fürsten sind die siegreichen die berühmten: deshalb standen die Könige von Arragon in so hohen Ehren, als Krieger, Erobrer, große Männer. Der begabte Mann ziehe die gepriesenen Aemter vor, die Allen sichtbar sind und deren Einfluß sich auf Alle erstreckt: dann wird die allgemeine Stimme ihm unvergänglichen Ruhm verleihen.
Ein von mir geschätzter Schriftsteller, Freund, der Schweizer Robert Walser, war ein Meister der kleinen Form, im Leben wie beim Schreiben. Er war sich, gewissermaßen, selbst genug - und wirkte gerade dadurch. Sich selbst treu zu bleiben, ist wichtiger, als auf den Leistungsdruck der Gesellschaft zu hören und sich die Lebensfreude nehmen zu lassen. Wer kann, sollte das Sein genießen; wie das vonstatten geht, bleibt dabei uns selbst überlassen. Patentrezepte fürs Glück führen geradewegs in die Misere. Und überhaupt hab ich nicht zu selten das Gefühl, dass sich in langen Büchern weniger finden lässt als in einer Sammlung nachdenklicher Aphorismen.
Jede Form hat ihren genuinen Wert und findet ihren beifälligen Ort, wenn wir sie nur wirken lassen.
Ruhm gleicht dem Mittagslicht: er hat eine enge begrenzte Zeit. Wer auf längere Sicht gesehen werden möchte, muss sich weitere Quellen erschließen.
Nun, das sei noch erwähnt, in dieser rasanten Beschäftigungsfeldkunde reiten Sie, sehenden Auges, vor und für uns und für sich selbst Ihr eigenes Pferd zugrunde. Und mir scheint, als wüsste ich möglicherweise, warum Sie sich gedanklich derart vergaloppieren, da ich mich selbst in vergleichbare Widersprüche verstrickt und verwickelt habe, aus denen sich zu lösen, Freund, schwerfällt. Dass es Berufswege im Halbdunklen gibt, die, wie Sie sagen, wichtiger sind als jene glänzenden Scheinwerferkarrieren, stellen Sie zuächst selbst ganz richtig fest, um dann doch, in einem gewagten Manöver, die Ruhmesreißleine zu ziehen. Die Talentierten sollten, raten Sie mit Verve, raten Sie ohne Einschränkung, raten Sie gegen Ihre eigene Empfehlung, die Talentierten sollten auf jeden Fall die gepriesenen Ämter anstreben, ja sogar vorziehen, um nicht im Schatten zu verdorren.
Wenige wissen ad hoc, was mit dem Leben überhaupt anzufangen ist. Wenige ahnen, was recht und billig sein könnte. Und misslingt der Start, drohen Ungemach und Unglück, warten die ewige Langeweile und bereits abgeschlossene falsche Kredite auf uns, wagen wenige, sogleich auszuscheren und sich couragiert umzuorientieren. Die Dressurreiterei legt sowohl Ross als auch Reiterin und Reiter Scheuklappen an. Wir halten den Parcours, in den uns Vorbestimmung oder eigene Begrenztheit gelotst hat, häufig genug für unser Schicksal. Und damit meine ich, ganz bewusst, auch die Idee, ins Flutlicht zu drängen, um bloß angestrahlt und vielleicht beklatscht zu werden.
Falscher Applaus, sei er laut oder leise, sei er gegeben oder erhalten, verbiegt den Charakter. Pseudoziele entbehren der Sinnhaftigkeit; kommen wir an, empfängt uns nichts als gähnende Leere.
Der richtige Weg folgt der Wahrheit, ist er auch steinig und mühsam. Was uns in den Schoß fällt, ist selten sinnvoll und macht noch viel seltener glücklich.
Ihrem beifallhaschenden Halbsatz auf die Krone von Aragonien wohnt die falsche Sehnsucht nach Anerkennung bei. Allein: das Lob der Abgelehnten stimmt die einflussreichen Verneinerinnen und Verneiner nie und nimmer um. Im Gegenteil: sie sehen sich in ihrer Position bestärkt. Mächtige verstehen nur eine Sprache: die des mächtigen Widerstands.
16. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 17. März 2019
66.
Den glücklichen Ausgang im Auge behalten. Manche setzen sich mehr die strenge Richtigkeit der Maaßregeln zum Ziel, als das glückliche Erreichen des Zwecks: allein stets wird, in der öffentlichen Meinung, die Schmach des Mißlingens die Anerkennung ihrer sorgfältigen Mühe überwiegen. Wer gesiegt hat, braucht keine Rechenschaft abzulegen. Die genaue Beschaffenheit der Umstände können die Meisten nicht sehn, sondern bloß den guten oder schlechten Erfolg: daher wird man nie in der Meinung verlieren, wenn man seinen Zweck erreicht. Ein gutes Ende übergoldet Alles, wie sehr auch immer das Unpassende der Mittel dagegen sprechen mag. Denn zu Zeiten besteht die Kunst darin, daß man gegen die Regeln der Kunst verfährt, wann ein glücklicher Ausgang anders nicht zu erreichen steht.
Die Frage, Freund, die sich zwangsläufig stellt, lautet: um was für eine Unternehmung handelt es sich? Dreht es sich darum, anderen Gutes zu tun? Oder wollen wir, egal wie, reich werden und ziehen die Gesellschaft dabei gnadenlos über den Tisch?
Wer Mechnanismen außer Kraft setzt, um zu helfen, besitzt das Recht zur Zwischendurch-Disruption. Wer dagegen Regeln bricht, um sich zu bereichern, gehört eingebuchtet.
Erfolg heiligt nicht alle Mittel. Und wer reichen Verbrecherinnen und vermögenden Gangstern applaudiert, sollte besser verstehen, dass sie oder er sich wie ein Beutetier verhält, das der Jagdgesellschaft beim Nachladen zujubelt.
Jenes Denn zu Zeiten, Freund, dessen Sie sich am Ende bemüßigen, ist der Kern dieser Einsicht - und wiederum auch nicht. Seien wir ehrlich: der Zweck, was nicht mit dem Erfolg gleichzusetzen sei, heiligt quer durch die Menschheitsgeschichte die Mittel, und dass meine Zeit davon frei wäre, kann ich nicht behaupten. Um auf der Gewinnerseite zu stehen, wird in allen Ländern und in allen Systemen gelogen und betrogen, ausgeleiert und verschleiert, gehortet und gemordet. Und doch, nun kommt mein eigenes Denn zu Zeiten, die Rechtmäßigkeit hat im Hier und Jetzt mächtige Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Sowohl das Volk als auch seine demokratischen Organe, die Legislative, Judikative und Exekutive, setzen auf Vertrauen und Kontrolle. Wir haben uns, in der Europäischen Union, Verfassungen gegeben, die stärker sind als der kriminelle Durchsetzungswille der Einzelnen, die an ihrem eigenen macht- und geldgierigen Fortkommen, nicht an der positiven Entwicklung der Allgemeinheit Interesse haben. Wie wir mit multinationalen Firmen umgehen, ist eine andere Frage. Bislang ist nicht alles verloren, indessen auch wenig gewonnen. Die neoliberale Spielart des digitalen und anlogen Kapitalismus geht uns erbarmungslos an die Gurgel. Allein: wir atmen noch, besorgen uns, gegen die IT-Mischpoke, Respiratoren und üben sowohl Gedankenfreiheit als auch Tatkraft.
Ein ungerechtes Ziel wird weder durch gute Mittel noch einen rauschenden Erfolg legitimiert.
Krieg sei niemals erbaulich. Selbst wenn wir uns verteidigen, sollten wir auf unsere Maßnahmen und unser Moral achten.
Die Nachwehen des Bösen bleiben als Sturm in unserem Herzen, der uns, sind wir ehrliche Naturen, niemals wieder ruhig schlafen lässt.
Moral verliert man nur einmal - und zwar für immer. Die Sittlichkeit zurückzugewinnen, sei eine Kunst, die nur wenige glücklich beherrschen.
15. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 16. März 2019
Den glücklichen Ausgang im Auge behalten. Manche setzen sich mehr die strenge Richtigkeit der Maaßregeln zum Ziel, als das glückliche Erreichen des Zwecks: allein stets wird, in der öffentlichen Meinung, die Schmach des Mißlingens die Anerkennung ihrer sorgfältigen Mühe überwiegen. Wer gesiegt hat, braucht keine Rechenschaft abzulegen. Die genaue Beschaffenheit der Umstände können die Meisten nicht sehn, sondern bloß den guten oder schlechten Erfolg: daher wird man nie in der Meinung verlieren, wenn man seinen Zweck erreicht. Ein gutes Ende übergoldet Alles, wie sehr auch immer das Unpassende der Mittel dagegen sprechen mag. Denn zu Zeiten besteht die Kunst darin, daß man gegen die Regeln der Kunst verfährt, wann ein glücklicher Ausgang anders nicht zu erreichen steht.
Die Frage, Freund, die sich zwangsläufig stellt, lautet: um was für eine Unternehmung handelt es sich? Dreht es sich darum, anderen Gutes zu tun? Oder wollen wir, egal wie, reich werden und ziehen die Gesellschaft dabei gnadenlos über den Tisch?
Wer Mechnanismen außer Kraft setzt, um zu helfen, besitzt das Recht zur Zwischendurch-Disruption. Wer dagegen Regeln bricht, um sich zu bereichern, gehört eingebuchtet.
Erfolg heiligt nicht alle Mittel. Und wer reichen Verbrecherinnen und vermögenden Gangstern applaudiert, sollte besser verstehen, dass sie oder er sich wie ein Beutetier verhält, das der Jagdgesellschaft beim Nachladen zujubelt.
Jenes Denn zu Zeiten, Freund, dessen Sie sich am Ende bemüßigen, ist der Kern dieser Einsicht - und wiederum auch nicht. Seien wir ehrlich: der Zweck, was nicht mit dem Erfolg gleichzusetzen sei, heiligt quer durch die Menschheitsgeschichte die Mittel, und dass meine Zeit davon frei wäre, kann ich nicht behaupten. Um auf der Gewinnerseite zu stehen, wird in allen Ländern und in allen Systemen gelogen und betrogen, ausgeleiert und verschleiert, gehortet und gemordet. Und doch, nun kommt mein eigenes Denn zu Zeiten, die Rechtmäßigkeit hat im Hier und Jetzt mächtige Fürsprecherinnen und Fürsprecher. Sowohl das Volk als auch seine demokratischen Organe, die Legislative, Judikative und Exekutive, setzen auf Vertrauen und Kontrolle. Wir haben uns, in der Europäischen Union, Verfassungen gegeben, die stärker sind als der kriminelle Durchsetzungswille der Einzelnen, die an ihrem eigenen macht- und geldgierigen Fortkommen, nicht an der positiven Entwicklung der Allgemeinheit Interesse haben. Wie wir mit multinationalen Firmen umgehen, ist eine andere Frage. Bislang ist nicht alles verloren, indessen auch wenig gewonnen. Die neoliberale Spielart des digitalen und anlogen Kapitalismus geht uns erbarmungslos an die Gurgel. Allein: wir atmen noch, besorgen uns, gegen die IT-Mischpoke, Respiratoren und üben sowohl Gedankenfreiheit als auch Tatkraft.
Ein ungerechtes Ziel wird weder durch gute Mittel noch einen rauschenden Erfolg legitimiert.
Krieg sei niemals erbaulich. Selbst wenn wir uns verteidigen, sollten wir auf unsere Maßnahmen und unser Moral achten.
Die Nachwehen des Bösen bleiben als Sturm in unserem Herzen, der uns, sind wir ehrliche Naturen, niemals wieder ruhig schlafen lässt.
Moral verliert man nur einmal - und zwar für immer. Die Sittlichkeit zurückzugewinnen, sei eine Kunst, die nur wenige glücklich beherrschen.
15. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 16. März 2019
65.
Erhabener Geschmack. Er ist der Bildung fähig, wie der Verstand. Je mehr Einsicht, desto größere Anforderungen, und, werden sie erfüllt, desto mehr Genuß. Einen hohen Geist erkennt man an der Erhabenheit seiner Neigung: ein großer Gegenstand muß es seyn, der eine große Fähigkeit befriedigt. Wie große Bissen für einen großen Mund, sind erhabene Dinge für erhabene Geister. Die trefflichsten Gegenstände scheuen ihr Urtheil und die sichersten Vollkommenheiten verläßt das Zutrauen. Der Dinge erster Trefflichkeit sind wenige; daher sei die unbedingte Hochschätzung selten. Durch fortgesetzten Umgang theilt sich der Geschmack allmälig mit, weshalb es ein besonderes Glück ist, mit Leuten von richtigem Geschmack umzugehen. Andrerseits soll man nicht ein Gewerbe daraus machen, mit Allem unzufrieden zu seyn, welches ein höchst albernes Extrem ist, und noch abscheulicher, wann es aus Affektation, als wann es aus Verstimmung entspringt. Einige möchten, daß Gott eine andre Welt, mit ganz andern Vollkommenheiten schüfe, um ihrer ausschweifenden Phantasie eine Genüge zu thun.
Wenig, Freund, teilen wir hier, außer Luft, die wir beide zum Atmen brauchen. Manchmal frage ich mich, ob ich Sie nicht besser ignorieren sollte, anstatt auf Ihre Vorlage einzugehen. Aber das widerspräche dem Geist der Briefe, die einen Austausch ermöglichen und sogar verlangen.
Erhabenheit sei, in aller Regel, ein Dünkel, der das Leben nicht schmückt, sondern es verunziert.
Richtiger Geschmack existiert sowenig wie falscher Geschmack. Ein Ausdruck der Zeit, das sei Geschmack.
Selbst zu denken, stellt die wesentliche Unabhängigkeitserklärung dar.
Ihre gedanklichen Hüpfburgen, Freund, lassen mich zugleich lächeln und knurren. Sie bescheren mir Achterbahnfahrten, auf die ich's nicht abgesehen habe, und manchmal überkommt mich das unheimliche Gefühl, ich hätte Ihnen wesentlich früher oder wesentlich später in meinem Leben antworten sollen. Wäre ich jünger, ich würde mich, das ist der glühende Kern der Jugend - nicht dass ich keine Leidenschaft mehr hätte, aber ich versuche mich heutzutage, auch in der Verneinung, ins Abgelehnte zu versetzen, quasi als eigener Advocatus Diaboli, um, beim Richten, ein furchtbares Wort, um beim Abwägen, schon angenehmer, meinen Vorurteilen auf den Grund zu gehen und, falls möglich, den Befangenheitskaries halbwegs herauszubohren -, wäre ich also jünger, ich würde mich mit Ihnen aufs unangenehmste fetzen, und zwar so sehr, dass ich schließlich als ungestümer Idiot und überheblicher Knallfrosch in der Meinungsgosse landete. Wäre ich jedoch wesentlich älter, sagen wir in meinen Siebzigern - nicht dass ich irgendwelche Lust verspürte, die beiden schönen Jahrzehnte an Lebens- und hoffentlich Schaffenskraft einfach so hinzugeben, aber an das Kommende zu denken, an den Abstieg vom Gipfel, zeichnet die zurechnungsfähige Bergsteigerin und den Bergsteiger, der bei Sinnen ist, aus -, wäre ich jedoch wesentlich älter, ich wunderte mich, ob Sie und ich vielleicht weitere Schnittmengen besäßen, ob das Knurren leiser wäre, ob ich mich einfach in Ihre Hüpfburg legte und beobachtete, wie hervorragend die Federn zum Abspringen funktionierten, wie weich man fallen könnte. So ist's aber halt nicht.
Stets nimmt man das jeweilige Ich auf die jeweilige Expedition mit. Dass Reisende in der Fremde permanent vom Daheim erzählen, entspringt der typischen Angst vorm Augenaufmachen und hofiert tief in uns dem Bewusstsein des Un-Wissens. Andererseits, eine Frage der Taxonomie, kann's von unschätzbarem Vorteil sein, das Neue mit dem Alten zu vergleichen. Voraussetzung dafür sei allerdings die Bereitschaft, die geteerte Einbahnstraße an der Schranke zu verlassen und einigermaßen offen für die Terra incognita zu sein.
Wer glaubt, schon alles gesehen zu haben, sieht nichts, noch weniger weitet sich die Erkenntnis.
Vorm Sinnbild des großen Bissens im großen Mund schrecke ich angeekelt zurück. Das kapitalistische Mehr der Ubiquisten, die alles plündern, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, in jedes Biotop eindringen, alles abgrasen, sich und ihrem Riesenbissen die nächsten sind, findet sich heutzutage als Mentalität zuhauf. Wir sind bald acht Milliarden Menschen auf der Erde, und wir kennen, weiterhin, kein Erbarmen mit unserem Planeten. Der große Bissen? Er steht uns nicht zu. Wir werden uns, sollten wir nicht schleunigst die Portionen verkleinern und endlich abgeben, endlich die Flora und Fauna existieren lassen und einen radikalen Weg aus unserem Arteneigennutz finden, wir werden uns an diesem gigantischen Bissen derart verschlucken, dass wir als Menschheit untergehen.
Die Seins-Ampel steht bereits auf Tiefrot. Aber wir leiden als Gattung an Protanopie. Wir erkennen die Alarmsignale nicht mehr. Wir sehen einfach nicht, dass alles um uns herum rot blinkt. Wir sind wutentbrannte Protanopistinnen und fuchsteufelswilde Rotblinde, die darauf verzichten, auf die Wissenschaft zu hören. Wir gehen nicht zum Arzt, weil wir im Unterbewusstsein Angst vor der Diagnose haben. Dass wir dadurch alle demnächst elendig abkratzen, hält uns weder von der Fortpflanzung noch vom Dauerkonsum ab.
In der Kleinheit sei der Mensch, ganz generell, am größten.
Genug. Ich möchte mich nicht der Doomsterei schuldig machen, die Sie zu Recht angeprangert haben. Wer alles mutlos schlechtmacht, schließt sich den Mutigen viel zu selten an. Jede Zeit kennt ihre berechtigten Revolutionsgründe. Der wichtigste Ansporn zum Aufstand ist jetzt gerade die Holozäne Auslöschung. Das Sechste Massensterben an Tieren und Pflanzen in der Geschichte unseres Planeten. Ausgelöst durch uns, die Menschen. Weswegen es eigentlich die Anthropozäne Auslöschung genannt werden müsste.
Ändern wir uns nicht, verenden wir.
14. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 15. März 2019
Erhabener Geschmack. Er ist der Bildung fähig, wie der Verstand. Je mehr Einsicht, desto größere Anforderungen, und, werden sie erfüllt, desto mehr Genuß. Einen hohen Geist erkennt man an der Erhabenheit seiner Neigung: ein großer Gegenstand muß es seyn, der eine große Fähigkeit befriedigt. Wie große Bissen für einen großen Mund, sind erhabene Dinge für erhabene Geister. Die trefflichsten Gegenstände scheuen ihr Urtheil und die sichersten Vollkommenheiten verläßt das Zutrauen. Der Dinge erster Trefflichkeit sind wenige; daher sei die unbedingte Hochschätzung selten. Durch fortgesetzten Umgang theilt sich der Geschmack allmälig mit, weshalb es ein besonderes Glück ist, mit Leuten von richtigem Geschmack umzugehen. Andrerseits soll man nicht ein Gewerbe daraus machen, mit Allem unzufrieden zu seyn, welches ein höchst albernes Extrem ist, und noch abscheulicher, wann es aus Affektation, als wann es aus Verstimmung entspringt. Einige möchten, daß Gott eine andre Welt, mit ganz andern Vollkommenheiten schüfe, um ihrer ausschweifenden Phantasie eine Genüge zu thun.
Wenig, Freund, teilen wir hier, außer Luft, die wir beide zum Atmen brauchen. Manchmal frage ich mich, ob ich Sie nicht besser ignorieren sollte, anstatt auf Ihre Vorlage einzugehen. Aber das widerspräche dem Geist der Briefe, die einen Austausch ermöglichen und sogar verlangen.
Erhabenheit sei, in aller Regel, ein Dünkel, der das Leben nicht schmückt, sondern es verunziert.
Richtiger Geschmack existiert sowenig wie falscher Geschmack. Ein Ausdruck der Zeit, das sei Geschmack.
Selbst zu denken, stellt die wesentliche Unabhängigkeitserklärung dar.
Ihre gedanklichen Hüpfburgen, Freund, lassen mich zugleich lächeln und knurren. Sie bescheren mir Achterbahnfahrten, auf die ich's nicht abgesehen habe, und manchmal überkommt mich das unheimliche Gefühl, ich hätte Ihnen wesentlich früher oder wesentlich später in meinem Leben antworten sollen. Wäre ich jünger, ich würde mich, das ist der glühende Kern der Jugend - nicht dass ich keine Leidenschaft mehr hätte, aber ich versuche mich heutzutage, auch in der Verneinung, ins Abgelehnte zu versetzen, quasi als eigener Advocatus Diaboli, um, beim Richten, ein furchtbares Wort, um beim Abwägen, schon angenehmer, meinen Vorurteilen auf den Grund zu gehen und, falls möglich, den Befangenheitskaries halbwegs herauszubohren -, wäre ich also jünger, ich würde mich mit Ihnen aufs unangenehmste fetzen, und zwar so sehr, dass ich schließlich als ungestümer Idiot und überheblicher Knallfrosch in der Meinungsgosse landete. Wäre ich jedoch wesentlich älter, sagen wir in meinen Siebzigern - nicht dass ich irgendwelche Lust verspürte, die beiden schönen Jahrzehnte an Lebens- und hoffentlich Schaffenskraft einfach so hinzugeben, aber an das Kommende zu denken, an den Abstieg vom Gipfel, zeichnet die zurechnungsfähige Bergsteigerin und den Bergsteiger, der bei Sinnen ist, aus -, wäre ich jedoch wesentlich älter, ich wunderte mich, ob Sie und ich vielleicht weitere Schnittmengen besäßen, ob das Knurren leiser wäre, ob ich mich einfach in Ihre Hüpfburg legte und beobachtete, wie hervorragend die Federn zum Abspringen funktionierten, wie weich man fallen könnte. So ist's aber halt nicht.
Stets nimmt man das jeweilige Ich auf die jeweilige Expedition mit. Dass Reisende in der Fremde permanent vom Daheim erzählen, entspringt der typischen Angst vorm Augenaufmachen und hofiert tief in uns dem Bewusstsein des Un-Wissens. Andererseits, eine Frage der Taxonomie, kann's von unschätzbarem Vorteil sein, das Neue mit dem Alten zu vergleichen. Voraussetzung dafür sei allerdings die Bereitschaft, die geteerte Einbahnstraße an der Schranke zu verlassen und einigermaßen offen für die Terra incognita zu sein.
Wer glaubt, schon alles gesehen zu haben, sieht nichts, noch weniger weitet sich die Erkenntnis.
Vorm Sinnbild des großen Bissens im großen Mund schrecke ich angeekelt zurück. Das kapitalistische Mehr der Ubiquisten, die alles plündern, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, in jedes Biotop eindringen, alles abgrasen, sich und ihrem Riesenbissen die nächsten sind, findet sich heutzutage als Mentalität zuhauf. Wir sind bald acht Milliarden Menschen auf der Erde, und wir kennen, weiterhin, kein Erbarmen mit unserem Planeten. Der große Bissen? Er steht uns nicht zu. Wir werden uns, sollten wir nicht schleunigst die Portionen verkleinern und endlich abgeben, endlich die Flora und Fauna existieren lassen und einen radikalen Weg aus unserem Arteneigennutz finden, wir werden uns an diesem gigantischen Bissen derart verschlucken, dass wir als Menschheit untergehen.
Die Seins-Ampel steht bereits auf Tiefrot. Aber wir leiden als Gattung an Protanopie. Wir erkennen die Alarmsignale nicht mehr. Wir sehen einfach nicht, dass alles um uns herum rot blinkt. Wir sind wutentbrannte Protanopistinnen und fuchsteufelswilde Rotblinde, die darauf verzichten, auf die Wissenschaft zu hören. Wir gehen nicht zum Arzt, weil wir im Unterbewusstsein Angst vor der Diagnose haben. Dass wir dadurch alle demnächst elendig abkratzen, hält uns weder von der Fortpflanzung noch vom Dauerkonsum ab.
In der Kleinheit sei der Mensch, ganz generell, am größten.
Genug. Ich möchte mich nicht der Doomsterei schuldig machen, die Sie zu Recht angeprangert haben. Wer alles mutlos schlechtmacht, schließt sich den Mutigen viel zu selten an. Jede Zeit kennt ihre berechtigten Revolutionsgründe. Der wichtigste Ansporn zum Aufstand ist jetzt gerade die Holozäne Auslöschung. Das Sechste Massensterben an Tieren und Pflanzen in der Geschichte unseres Planeten. Ausgelöst durch uns, die Menschen. Weswegen es eigentlich die Anthropozäne Auslöschung genannt werden müsste.
Ändern wir uns nicht, verenden wir.
14. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 15. März 2019
64.
Uebel vermeiden und sich Verdrießlichleiten ersparen, ist eine belohnende Klugheit. Vielen weiß die Vorsicht aus dem Wege zu gehen: sie ist die Lucina des Glücks und dadurch der Zufriedenheit. Schlimme Nachrichten soll man nicht überbringen, noch weniger empfangen: den Eingang soll man ihnen untersagen, wenn es nicht der der Hülfe ist. Einige haben nur für die Süßigkeit der Schmeicheleien Ohren; Andere nur für die Bitterkeit der übeln Nachrede: und Manche können nicht ohne einen täglichen Aerger leben, wie Mithridat nicht ohne Gift. Ebenfalls ist es keine Regel der Selbsterhaltung, daß man sich eine Betrübniß auf Zeit Lebens bereite, um einem Andern, und stände er uns noch so nahe, ein Mal einen Gefallen zu thun. Nie soll man gegen seine eigene Wohlfahrt sündigen, um dem zu gefallen, der seinen Rath ertheilt und aus dem Handel herausbleibt. Und bei jeder Begebenheit, wo dem Andern eine Freude, sich selber einen Schmerz bereiten hieße, ist die passende Regel, es sei besser, daß er jetzt betrübt werde, als du nachher und ohne Nachhülfe.
Egal, Freund, wie ich mich auch drehe und wende: was Sie schreiben, hinterlässt einen schalen Geschmack in meinem Mund. Kann ich den anderen die Cholera an den Hals wünschen, Hauptsache, sie verschont mich? Der bemerkenswert kluge Eogismus, den Sie hier an den Tag legen, dürfte vielen zusagen. Dumm ist's halt nur, wenn wir diejenigen sind, die aus der fahrenden Kutsche gefallen sind - und niemand hält das Gefährt an.
Echte Solidarität zeigt sich in schweren, nicht leichten Stunden.
Nur an sich zu denken, sei keine vornehme Kunst, sondern brutales Handwerk, wie es die Metzger im Schlachthaus pflegen.
Wer anderen hilft, der oder dem wird geholfen.
Letztens, bei einer Lesung zu einem Buch über den hoch interessanten Prozess, der um Kafkas und Brods Jerusalemer Nachlass stattgefunden hat, einer Lesung vor Buchhändlerinnen und Buchhändlern im Hause eines gastfreundlichen Verlegers, lag Ihr Text, als einziges Buch, im Gäste-Waschraum als Zwischendurchlektüre bereit. Die kleine, bibliophile Insel-Ausgabe, die Ihnen gefallen hätte. Und ich habe, obwohl's sich, selbstverständlich, um einen absurden Zufall gehandelt hat, ich habe diesen unerwarteten Fund im stillen Kämmerchen doch als eine Art von Wink mit dem schöngeistigen Zaunpfahl empfunden, dass mein Unterfangen, dem ich mich ein ganzes Jahr treu widmen möchte, sinnvoll sei. An sich ist das Orakel, trotz seiner Kraft, aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Mir scheint, es gibt Zeitwellen, die Ihren Text entweder an die Oberfläche befördern oder wieder herabdrücken. Jetzt, in diesen Monaten, in denen Rat und Weisheit händeringend gesucht werden, in denen die Unvernunft impertinente Siege feiert, primitiver Nationalismus und narzistischer Populismus nicht nur hohnlachend an die Tür rumpeln, sondern mit der Frechheit des ahistorischen Vergessens dreiste Machtansprüche auf den Straßen und Plätzen und in den Parlamenten anmelden, in diesen schweren Monaten kommen Sie der Gegenwart wieder sehr zu pass.
Sie hatten, trotz meiner Einwände, wahrlich einige gute Schreibstunden, als Ihnen dieser Vorsichtskatalog gelang, in dem's zwar springt und knarrt, Richtungswechsel vorgenommen werden, dass man, bleibt man nah bei Ihnen, manch Schleudertrauma ob der Kursänderung erfährt, aber doch immer etwas Nachdenken als Proviant gerreicht bekommt. Ein, Pardon, Pater, höllisch guter Text.
Sind wir zufrieden, herrsche Stille oder werde im Glücksrausch getanzt und gefeiert.
Nicht sogleich zu genießen, was gefällt, ist eine Dummheit, welche die Fortüne uns übelnimmt. Der Moment kommt grundsätzlich nur als Bedauern über das Verpasste zurück.
Noch ein abschließendes Wort zur Korinthenkackerei. Fehler lassen sich einfach finden, das Entdecken der Vollkommenheit fällt zumeist viel schwerer.
13. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 14. März 2019
Uebel vermeiden und sich Verdrießlichleiten ersparen, ist eine belohnende Klugheit. Vielen weiß die Vorsicht aus dem Wege zu gehen: sie ist die Lucina des Glücks und dadurch der Zufriedenheit. Schlimme Nachrichten soll man nicht überbringen, noch weniger empfangen: den Eingang soll man ihnen untersagen, wenn es nicht der der Hülfe ist. Einige haben nur für die Süßigkeit der Schmeicheleien Ohren; Andere nur für die Bitterkeit der übeln Nachrede: und Manche können nicht ohne einen täglichen Aerger leben, wie Mithridat nicht ohne Gift. Ebenfalls ist es keine Regel der Selbsterhaltung, daß man sich eine Betrübniß auf Zeit Lebens bereite, um einem Andern, und stände er uns noch so nahe, ein Mal einen Gefallen zu thun. Nie soll man gegen seine eigene Wohlfahrt sündigen, um dem zu gefallen, der seinen Rath ertheilt und aus dem Handel herausbleibt. Und bei jeder Begebenheit, wo dem Andern eine Freude, sich selber einen Schmerz bereiten hieße, ist die passende Regel, es sei besser, daß er jetzt betrübt werde, als du nachher und ohne Nachhülfe.
Egal, Freund, wie ich mich auch drehe und wende: was Sie schreiben, hinterlässt einen schalen Geschmack in meinem Mund. Kann ich den anderen die Cholera an den Hals wünschen, Hauptsache, sie verschont mich? Der bemerkenswert kluge Eogismus, den Sie hier an den Tag legen, dürfte vielen zusagen. Dumm ist's halt nur, wenn wir diejenigen sind, die aus der fahrenden Kutsche gefallen sind - und niemand hält das Gefährt an.
Echte Solidarität zeigt sich in schweren, nicht leichten Stunden.
Nur an sich zu denken, sei keine vornehme Kunst, sondern brutales Handwerk, wie es die Metzger im Schlachthaus pflegen.
Wer anderen hilft, der oder dem wird geholfen.
Letztens, bei einer Lesung zu einem Buch über den hoch interessanten Prozess, der um Kafkas und Brods Jerusalemer Nachlass stattgefunden hat, einer Lesung vor Buchhändlerinnen und Buchhändlern im Hause eines gastfreundlichen Verlegers, lag Ihr Text, als einziges Buch, im Gäste-Waschraum als Zwischendurchlektüre bereit. Die kleine, bibliophile Insel-Ausgabe, die Ihnen gefallen hätte. Und ich habe, obwohl's sich, selbstverständlich, um einen absurden Zufall gehandelt hat, ich habe diesen unerwarteten Fund im stillen Kämmerchen doch als eine Art von Wink mit dem schöngeistigen Zaunpfahl empfunden, dass mein Unterfangen, dem ich mich ein ganzes Jahr treu widmen möchte, sinnvoll sei. An sich ist das Orakel, trotz seiner Kraft, aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden. Mir scheint, es gibt Zeitwellen, die Ihren Text entweder an die Oberfläche befördern oder wieder herabdrücken. Jetzt, in diesen Monaten, in denen Rat und Weisheit händeringend gesucht werden, in denen die Unvernunft impertinente Siege feiert, primitiver Nationalismus und narzistischer Populismus nicht nur hohnlachend an die Tür rumpeln, sondern mit der Frechheit des ahistorischen Vergessens dreiste Machtansprüche auf den Straßen und Plätzen und in den Parlamenten anmelden, in diesen schweren Monaten kommen Sie der Gegenwart wieder sehr zu pass.
Sie hatten, trotz meiner Einwände, wahrlich einige gute Schreibstunden, als Ihnen dieser Vorsichtskatalog gelang, in dem's zwar springt und knarrt, Richtungswechsel vorgenommen werden, dass man, bleibt man nah bei Ihnen, manch Schleudertrauma ob der Kursänderung erfährt, aber doch immer etwas Nachdenken als Proviant gerreicht bekommt. Ein, Pardon, Pater, höllisch guter Text.
Sind wir zufrieden, herrsche Stille oder werde im Glücksrausch getanzt und gefeiert.
Nicht sogleich zu genießen, was gefällt, ist eine Dummheit, welche die Fortüne uns übelnimmt. Der Moment kommt grundsätzlich nur als Bedauern über das Verpasste zurück.
Noch ein abschließendes Wort zur Korinthenkackerei. Fehler lassen sich einfach finden, das Entdecken der Vollkommenheit fällt zumeist viel schwerer.
13. Februar 2020, mit einem Sentiment vom 14. März 2019
63.
Es ist ein großer Ruhm, der erste in der Art zu seyn, und zwiefach, wenn Vortrefflichkeit dazu kommt. Großen Vortheil hat der Banquier, der mit den Karten in der Hand spielt: er gewinnt, wenn die Partie gleich ist. Mancher wäre ein Phönix in seinem Beruf gewesen; hätte er keine Vorgänger gehabt. Die Ersten jeder Art gehn mit dem Majorat des Ruhms davon: den Uebrigen bleiben eingeklagte Alimente: was sie auch immer thun mögen, so können sie den gemeinen Flecken, Nachahmer zu seyn, nicht abwaschen. Nur der Scharfsinn außerordentlicher Geister bricht neue Bahnen zur Auszeichnung, und zwar so, daß für die dabei zu laufende Gefahr die Klugheit gutsagt. Durch die Neuheit ihres Unternehmens haben Weise einen Platz in der Matrikel der großen Männer erworben. Manche mögen lieber die Ersten in der zweiten Klasse als die Zweiten in der ersten seyn.
Nun ja, Freund, als Primus inter Pares - und das meine ich als Kompliment - haben Sie die Zeitläufte quicklebendig überstanden und sprechen weiterhin zu uns. Eine unbestreitbare Tatsache, die einerseits an ihrer Arete liegt, also der tüchtigen Vorzüglichkeit, die Siege einfährt und Menschen fängt, und andererseits, was Sie überraschen mag, am Umstrittig-Sein. Für mich hat Ihr Orakel deswegen so viel zu bieten, weil ich ihm eben nicht sogleich zustimme, aber merke, dass die Kontroverse, die Sie mit Ihren Texten wachrufen, mich zum Denken zwingt. Nicht Ihre milde Vortrefflichkeit, sondern Ihre scharfe Trefflichkeit hat's mir angetan. Und, was Ihnen selbstverständlich bekannt ist, jede und jeder von uns besitzt Leitsterne, die sie oder ihn lotsen. Niemand, der ist, kommt aus dem Nichts, auch wenn ab und an Wolken am Himmel aufziehen und den Sternenschimmer bedecken. Die - lesen Sie bitte genau, es handelt sich um keinen Flüchtigkeitsfehler - die absolute Ersthaftigkeit kann ernsthaft wohl keine und keiner für sich behaupten. Wer das tut, hat meistens unehrenhafte Gründe, deren profaner Kern nicht zu selten das schnöde Geld ist.
Sich selbst ununterbrochen zu feiern, gelingt nur Eigensüchtigen auf überzeugende Art und Weise - und die sind, in Wahrheit, einsam.
Ruhm taugt allein, wenn wir ihn teilen. Und zwar solange, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Niemand hält auf immer die richtigen Karten in der Hand.
Kommen wir damit, Freund, zur Kunst des Schreibens, die, in aller Regel, mit dem Noch-Nicht der leeren Seite zu ringen hat.
Der Erfindungen gibt's ja bekanntlich zwei, die sich entweder sehr wohl oder, je nach Gemütsverfassung, rein gar nicht vergleichen lassen. Zuerst, was Ihnen entsprochen hat, sei die metaphysische Sprachschöpfung an-, ja bisweilen, im Falle des Theaters, aufgeführt. Hier sind die kreativen Blufferinnen und fantastischen Aufschneider, die begnadeten Dichterinnen und einfallsreichen Schriftsteller als auch die feinsinnigen Scholarinnen und die hartnäckigen Exegeten am Werk. Um nur einige wenige Exemplare dieser jeweils ersten Art zu nennen. Denn, so scheint's mir, in jedem Schriftstück steckt eben, wie gesagt, zunächt ein Zuerst, und jeder splendid gefüllten Seite bleibt die Frische der Neuheit eigen, die mir, die Jahrhunderte mühelos überbrückend, aus Ihrem Orakel die Nacht erhellt, den Tag, auch das, mit Schmackes verdunkelt, mir nicht zuletzt ab und an die eitlen Hosenbeine langzieht. Wohlgemerkt: wir sprechen von den ausgezeichneten Texten, was ganz und gar nicht unbedingt heißt: beliebt und hochgelobt.
In der Zeit, in der man lebt, so zu glänzen, wie's den exzeptionellen Werken anstünde, sei nur wenigen vergönnt. Dass der Nachruhm irgendwo und irgendwann kommen mag, sei dabei nicht jedermanns Geschmack. In der Gegenwart eine Rolle zu spielen, mit, wie Ihr Translator es schreibt, den stichfesten Karten am Spieltisch zu sitzen, machte nun mal Wege frei, eröffnete Freundschaften, die den in der Heimlichkeit Glänzenden verborgen bleiben. Ob, auf der anderen Seite, zu viel Aufmerksamkeit der Schaffenskraft nutzt, darf ebenfalls bezweifelt werden, ist allerdings auch eine Charakterfrage.
Den ungekünstelten Echten schadet die Beachtung wenig, da sie fürs Werk existieren und in ihm tiefe Befriedigung finden, also sehr wohl einen Schlussstrich zwischen sich und der Glanz-und-Gloria-Verehrung ziehen, die ihnen, auf Dauer, mehr Augenblicke raubt, als unvergessliche Glücksmomente schenkt.
Die Monotonie des Vergnügens sei der Grund mancher Schaffenskrise.
Nun zu der zweiten, der physischen Gattung der Erfindungsreichen. Wer tatsächlich einen Geist besitzt, der kraftvoll genug ist, um neue und nutzvolle Gegenstände zu erdenken, ist, aus meiner unpraktischen Sicht, wahrlich zu beneiden. Wobei auch hier eine extrem hohe Schwelle vor den Ingeniösen liegt, die's mutig zu überschreiten gilt.
Dem wohltuenden, gemeinschaftlich herbeigesehnten Neuen stellt sich, ganz allgemein, oft genug das gemeine Alte mit einer angestammten Schlag- und ruchlosen Bollkraft entgegen. Das gewinnbringende Angestammte besitzt zumeist eine durchtriebene Verharrungskunst, die manche Kreative am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Ist viel Geld im Spiel, das dem Alten fest angenäht ist, hat's das Neue besonders schwer, die Nähte erfolgreich aufzutrennen.
12. Februar 2020, mit einem artigen Sentiment vom 13. März 2019
Es ist ein großer Ruhm, der erste in der Art zu seyn, und zwiefach, wenn Vortrefflichkeit dazu kommt. Großen Vortheil hat der Banquier, der mit den Karten in der Hand spielt: er gewinnt, wenn die Partie gleich ist. Mancher wäre ein Phönix in seinem Beruf gewesen; hätte er keine Vorgänger gehabt. Die Ersten jeder Art gehn mit dem Majorat des Ruhms davon: den Uebrigen bleiben eingeklagte Alimente: was sie auch immer thun mögen, so können sie den gemeinen Flecken, Nachahmer zu seyn, nicht abwaschen. Nur der Scharfsinn außerordentlicher Geister bricht neue Bahnen zur Auszeichnung, und zwar so, daß für die dabei zu laufende Gefahr die Klugheit gutsagt. Durch die Neuheit ihres Unternehmens haben Weise einen Platz in der Matrikel der großen Männer erworben. Manche mögen lieber die Ersten in der zweiten Klasse als die Zweiten in der ersten seyn.
Nun ja, Freund, als Primus inter Pares - und das meine ich als Kompliment - haben Sie die Zeitläufte quicklebendig überstanden und sprechen weiterhin zu uns. Eine unbestreitbare Tatsache, die einerseits an ihrer Arete liegt, also der tüchtigen Vorzüglichkeit, die Siege einfährt und Menschen fängt, und andererseits, was Sie überraschen mag, am Umstrittig-Sein. Für mich hat Ihr Orakel deswegen so viel zu bieten, weil ich ihm eben nicht sogleich zustimme, aber merke, dass die Kontroverse, die Sie mit Ihren Texten wachrufen, mich zum Denken zwingt. Nicht Ihre milde Vortrefflichkeit, sondern Ihre scharfe Trefflichkeit hat's mir angetan. Und, was Ihnen selbstverständlich bekannt ist, jede und jeder von uns besitzt Leitsterne, die sie oder ihn lotsen. Niemand, der ist, kommt aus dem Nichts, auch wenn ab und an Wolken am Himmel aufziehen und den Sternenschimmer bedecken. Die - lesen Sie bitte genau, es handelt sich um keinen Flüchtigkeitsfehler - die absolute Ersthaftigkeit kann ernsthaft wohl keine und keiner für sich behaupten. Wer das tut, hat meistens unehrenhafte Gründe, deren profaner Kern nicht zu selten das schnöde Geld ist.
Sich selbst ununterbrochen zu feiern, gelingt nur Eigensüchtigen auf überzeugende Art und Weise - und die sind, in Wahrheit, einsam.
Ruhm taugt allein, wenn wir ihn teilen. Und zwar solange, bis nichts mehr von ihm übrig ist.
Niemand hält auf immer die richtigen Karten in der Hand.
Kommen wir damit, Freund, zur Kunst des Schreibens, die, in aller Regel, mit dem Noch-Nicht der leeren Seite zu ringen hat.
Der Erfindungen gibt's ja bekanntlich zwei, die sich entweder sehr wohl oder, je nach Gemütsverfassung, rein gar nicht vergleichen lassen. Zuerst, was Ihnen entsprochen hat, sei die metaphysische Sprachschöpfung an-, ja bisweilen, im Falle des Theaters, aufgeführt. Hier sind die kreativen Blufferinnen und fantastischen Aufschneider, die begnadeten Dichterinnen und einfallsreichen Schriftsteller als auch die feinsinnigen Scholarinnen und die hartnäckigen Exegeten am Werk. Um nur einige wenige Exemplare dieser jeweils ersten Art zu nennen. Denn, so scheint's mir, in jedem Schriftstück steckt eben, wie gesagt, zunächt ein Zuerst, und jeder splendid gefüllten Seite bleibt die Frische der Neuheit eigen, die mir, die Jahrhunderte mühelos überbrückend, aus Ihrem Orakel die Nacht erhellt, den Tag, auch das, mit Schmackes verdunkelt, mir nicht zuletzt ab und an die eitlen Hosenbeine langzieht. Wohlgemerkt: wir sprechen von den ausgezeichneten Texten, was ganz und gar nicht unbedingt heißt: beliebt und hochgelobt.
In der Zeit, in der man lebt, so zu glänzen, wie's den exzeptionellen Werken anstünde, sei nur wenigen vergönnt. Dass der Nachruhm irgendwo und irgendwann kommen mag, sei dabei nicht jedermanns Geschmack. In der Gegenwart eine Rolle zu spielen, mit, wie Ihr Translator es schreibt, den stichfesten Karten am Spieltisch zu sitzen, machte nun mal Wege frei, eröffnete Freundschaften, die den in der Heimlichkeit Glänzenden verborgen bleiben. Ob, auf der anderen Seite, zu viel Aufmerksamkeit der Schaffenskraft nutzt, darf ebenfalls bezweifelt werden, ist allerdings auch eine Charakterfrage.
Den ungekünstelten Echten schadet die Beachtung wenig, da sie fürs Werk existieren und in ihm tiefe Befriedigung finden, also sehr wohl einen Schlussstrich zwischen sich und der Glanz-und-Gloria-Verehrung ziehen, die ihnen, auf Dauer, mehr Augenblicke raubt, als unvergessliche Glücksmomente schenkt.
Die Monotonie des Vergnügens sei der Grund mancher Schaffenskrise.
Nun zu der zweiten, der physischen Gattung der Erfindungsreichen. Wer tatsächlich einen Geist besitzt, der kraftvoll genug ist, um neue und nutzvolle Gegenstände zu erdenken, ist, aus meiner unpraktischen Sicht, wahrlich zu beneiden. Wobei auch hier eine extrem hohe Schwelle vor den Ingeniösen liegt, die's mutig zu überschreiten gilt.
Dem wohltuenden, gemeinschaftlich herbeigesehnten Neuen stellt sich, ganz allgemein, oft genug das gemeine Alte mit einer angestammten Schlag- und ruchlosen Bollkraft entgegen. Das gewinnbringende Angestammte besitzt zumeist eine durchtriebene Verharrungskunst, die manche Kreative am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Ist viel Geld im Spiel, das dem Alten fest angenäht ist, hat's das Neue besonders schwer, die Nähte erfolgreich aufzutrennen.
12. Februar 2020, mit einem artigen Sentiment vom 13. März 2019
62.
Sich guter Werkzeuge bedienen. Einige wollen, daß die Nichtswürdigkeit ihrer Werkzeuge ihren eigenen Scharfsinn zu verherrlichen diene: eine gefährliche Genugthuung, welche vom Schicksal eine Züchtigung verdient. Nie hat die Trefflichkeit des Ministers die Größe seines Herrn verringert: vielmehr fällt der Ruhm des Gelungenen stets auf die Hauptursache zurück, wie auch, beim Gegentheil, der Tadel. Die Fama hält sich immer an die Hauptpersonen: sie sagt nie: der hatte gute, dieser schlechte Diener; – sondern: der war ein guter, dieser ein schlechter Künstler. Also wähle man sie, prüfe man sie: denn einen unvergänglichen Ruhm hat man in ihre Hände zu legen.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Freund, wie oft ich angesichts meiner ungenügenden Werkzeuge beim Reparieren von Fahrrädern geflucht habe. Und nicht allein der Werkzeuge wegen, die an sich gar nicht so schlecht gewesen sind. Ich bin wohl weit eher verzweifelt gewesen, da ich niemals die rechten Räumlichkeiten besessen habe, um in Ruhe und mit Übersicht arbeiten zu können. Gingen Sie heutzutage in einen Fahrradladen - übrigens ein Gefährt, dass Ihnen gefallen hätte, eine wirklich geniale Erfindung aus dem Jahr 1817 -, sähen Sie, dass es besondere Hebe-Vorrichtungen gibt, in die das Fahrrad eingespannt wird, damit es leichter repariert werden kann. Solche Gerätschaften, mechanische wie geistige, sind beim Arbeiten das A&O. Viel hängt also bereits an der Vorbereitung.
Wer gut plant, führt, zumeist, eine Aufgabe besser aus.
Arbeiten zu lassen, sei eine Sache, die gerechte Teilhabe am Ruhm aber eine andere. Zu verschweigen, auf welchen Schultern wir stehen, gehört sich nicht. Zumal wir sicher sein können, dass es irgendwann eh aufs Tableau kommt. Und stellt sich dann heraus, dass wir abgeschrieben haben, nützt das schönste Resultat nichts mehr.
Bevor wir, Freund, zu den Menschen kommen, wobei, das sei bereits erwähnt, der herrschaftliche Devotiionalienhandel im absolutistischen Hofbräuhaus Ihrer Zeit, sprich: Ihre ewige Hörigkeit gen Fürstin und Fürst, mich, wie stets, komplett kirre macht, bevor wir zu den Menschen als Machtinstrument kommen, möchte ich mich doch noch etwas intensiver, als eben bereits dank der Fahrradreparatur getan, einer trivialen Wahrheit zuwenden, die aus dem ersten Satz des Paragraphen scheint.
So oft habe ich's, fluchend, auf der geborgten Leiter stehend, unter der schwierig verschraubten Lampe, oder auf dem Kachelboden des Bads sitzend, das erneut verstopfte Waschbecken über mir, so oft habe ich's festgestellt: meine Werkzeuge taugen rein gar nichts. Ich besitze ein verstreutes Sammelsurium an mir zugelaufenen Tools, Erb- und Fundstücke, schlechte Zangen, brüchige Kreuzschlüssel. Und jedes Mal denke ich, sobald ich mich wieder verletzt habe, nun sei's aber wirklich genug, nun werde ich stracks in den Baumarkt gehen, mich flugs mit den richtigen Werkzeugen eindecken. Was ich anschließend, ist die Verstopfung aufgehoben, leuchtet das Licht wieder, hält das Pflaster, doch nicht mache. Was nicht allein an meiner Unlust liegt, wertvolle Zeit mit einer solchen Beschaffungstour zu vergeuden. Der eigentliche Grund ist wohl weniger auf mich selbst gerichtet, mehr grundlegender Natur: ich weiß einfach nicht, was gute Werkzeuge sind. Über die notwendigen Kenntnisse, eine vernünftige Gerätewahl zu treffen, verfüge ich platterdings nicht.
Um mit den Bergleuten zu sprechen: Tiefe schafft Bescheidenheit. Was ich dadurch immerhin begriffen habe, ist, dass ich Wissen bräuchte, welches ich wohl niemals erlangen werde, da ich mich nicht genug für diesen Bereich begeistere. Ich also in einem epistemologischen Traumzustand verharre, aus dem ich, aus eigenen Kräften, einfach nicht aufwachen kann, da ich nicht bereit bin, den Wecker zu stellen.
Dass die teuren Dinge per se besser sind, davon bin ich als Vademecum-Empfehlung längst geheilt. Die Obsoleszenz wohnt gerade auch im Kostenträchtigen, das still und heimlich hohe Nachfolgeausgaben gebiert. Ebenso sieht's mit vermeintlichen Schnäppchen aus. Nahezu ausnahmslos weisen Sonderangebote gleichfalls eingebaute, sonderbare Schwachstellen auf.
Das großmäulige Angebot sei zuverlässig unbotmäßig. Und dreist Teures, das, dank der künstlichen Verknappung oder einer Modesaison wegen, ein gewaltiges Loch ins Budget reißt, besitzt so gut wie nie einen adäquaten Dauerwert. Die guten Dinge dagegen überraschen uns und halten sogar mehr, als wir uns von ihnen versprechen - und sind damit den anständigen Menschen, was wenigstens diese Eigenschaft betrifft, womöglich erstaunlich ähnlich.
Damit, ganz kurz noch, zu den unanständigen Ratgeberinnen und ordinären Mentoren, deren Charakter den Ruhm der Herrscherin oder des Herrschers beschmutzen kann. Zunächst, das erwähnen Sie sehr wohl, wenn auch indirekt, sind die Menschen, mit denen wir uns umgeben, eine Art von Echoraum. Sie rufen etwas, was uns erreicht, dann zurückgeworfen wird; wir rufen etwas, was sie erreicht, und dann zurückgeworfen wird - und beides wird, ihre und unsere Stimmen werden im Konzert des Lebens, der demokratische Echoraum hat etliche Aus- und Eingänge, wahrgenommen. Sich aus der Verantwortung zu stehlen, geht, wenigstens in meiner Zeit, nicht mehr, jedenfalls nicht in einer aufgeklärten Gesellschaft, in der Presse- und Meinungsfreiheit herrschen. Um es so zu formulieren: Ihre Grundannahme hat sich einerseits überholt; die Tatsache, dass gute Werkzeuge die Arbeit erleichtern, andererseits ganz und gar nicht.
Hält das Zahnrad der Zeit an, retten die richtigen Instrumente in den richtigen Händen Leben. In der Vorbereitung auf das Noch-nicht-Anwesende stecke echte Weisheit.
Der Klugheit sei an sich fast alles fremd, der Dummheit beinahe alles zu vertraut.
4. Februar 2019, mit einem reichen Sentiment vom 12. März 2019
Sich guter Werkzeuge bedienen. Einige wollen, daß die Nichtswürdigkeit ihrer Werkzeuge ihren eigenen Scharfsinn zu verherrlichen diene: eine gefährliche Genugthuung, welche vom Schicksal eine Züchtigung verdient. Nie hat die Trefflichkeit des Ministers die Größe seines Herrn verringert: vielmehr fällt der Ruhm des Gelungenen stets auf die Hauptursache zurück, wie auch, beim Gegentheil, der Tadel. Die Fama hält sich immer an die Hauptpersonen: sie sagt nie: der hatte gute, dieser schlechte Diener; – sondern: der war ein guter, dieser ein schlechter Künstler. Also wähle man sie, prüfe man sie: denn einen unvergänglichen Ruhm hat man in ihre Hände zu legen.
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, Freund, wie oft ich angesichts meiner ungenügenden Werkzeuge beim Reparieren von Fahrrädern geflucht habe. Und nicht allein der Werkzeuge wegen, die an sich gar nicht so schlecht gewesen sind. Ich bin wohl weit eher verzweifelt gewesen, da ich niemals die rechten Räumlichkeiten besessen habe, um in Ruhe und mit Übersicht arbeiten zu können. Gingen Sie heutzutage in einen Fahrradladen - übrigens ein Gefährt, dass Ihnen gefallen hätte, eine wirklich geniale Erfindung aus dem Jahr 1817 -, sähen Sie, dass es besondere Hebe-Vorrichtungen gibt, in die das Fahrrad eingespannt wird, damit es leichter repariert werden kann. Solche Gerätschaften, mechanische wie geistige, sind beim Arbeiten das A&O. Viel hängt also bereits an der Vorbereitung.
Wer gut plant, führt, zumeist, eine Aufgabe besser aus.
Arbeiten zu lassen, sei eine Sache, die gerechte Teilhabe am Ruhm aber eine andere. Zu verschweigen, auf welchen Schultern wir stehen, gehört sich nicht. Zumal wir sicher sein können, dass es irgendwann eh aufs Tableau kommt. Und stellt sich dann heraus, dass wir abgeschrieben haben, nützt das schönste Resultat nichts mehr.
Bevor wir, Freund, zu den Menschen kommen, wobei, das sei bereits erwähnt, der herrschaftliche Devotiionalienhandel im absolutistischen Hofbräuhaus Ihrer Zeit, sprich: Ihre ewige Hörigkeit gen Fürstin und Fürst, mich, wie stets, komplett kirre macht, bevor wir zu den Menschen als Machtinstrument kommen, möchte ich mich doch noch etwas intensiver, als eben bereits dank der Fahrradreparatur getan, einer trivialen Wahrheit zuwenden, die aus dem ersten Satz des Paragraphen scheint.
So oft habe ich's, fluchend, auf der geborgten Leiter stehend, unter der schwierig verschraubten Lampe, oder auf dem Kachelboden des Bads sitzend, das erneut verstopfte Waschbecken über mir, so oft habe ich's festgestellt: meine Werkzeuge taugen rein gar nichts. Ich besitze ein verstreutes Sammelsurium an mir zugelaufenen Tools, Erb- und Fundstücke, schlechte Zangen, brüchige Kreuzschlüssel. Und jedes Mal denke ich, sobald ich mich wieder verletzt habe, nun sei's aber wirklich genug, nun werde ich stracks in den Baumarkt gehen, mich flugs mit den richtigen Werkzeugen eindecken. Was ich anschließend, ist die Verstopfung aufgehoben, leuchtet das Licht wieder, hält das Pflaster, doch nicht mache. Was nicht allein an meiner Unlust liegt, wertvolle Zeit mit einer solchen Beschaffungstour zu vergeuden. Der eigentliche Grund ist wohl weniger auf mich selbst gerichtet, mehr grundlegender Natur: ich weiß einfach nicht, was gute Werkzeuge sind. Über die notwendigen Kenntnisse, eine vernünftige Gerätewahl zu treffen, verfüge ich platterdings nicht.
Um mit den Bergleuten zu sprechen: Tiefe schafft Bescheidenheit. Was ich dadurch immerhin begriffen habe, ist, dass ich Wissen bräuchte, welches ich wohl niemals erlangen werde, da ich mich nicht genug für diesen Bereich begeistere. Ich also in einem epistemologischen Traumzustand verharre, aus dem ich, aus eigenen Kräften, einfach nicht aufwachen kann, da ich nicht bereit bin, den Wecker zu stellen.
Dass die teuren Dinge per se besser sind, davon bin ich als Vademecum-Empfehlung längst geheilt. Die Obsoleszenz wohnt gerade auch im Kostenträchtigen, das still und heimlich hohe Nachfolgeausgaben gebiert. Ebenso sieht's mit vermeintlichen Schnäppchen aus. Nahezu ausnahmslos weisen Sonderangebote gleichfalls eingebaute, sonderbare Schwachstellen auf.
Das großmäulige Angebot sei zuverlässig unbotmäßig. Und dreist Teures, das, dank der künstlichen Verknappung oder einer Modesaison wegen, ein gewaltiges Loch ins Budget reißt, besitzt so gut wie nie einen adäquaten Dauerwert. Die guten Dinge dagegen überraschen uns und halten sogar mehr, als wir uns von ihnen versprechen - und sind damit den anständigen Menschen, was wenigstens diese Eigenschaft betrifft, womöglich erstaunlich ähnlich.
Damit, ganz kurz noch, zu den unanständigen Ratgeberinnen und ordinären Mentoren, deren Charakter den Ruhm der Herrscherin oder des Herrschers beschmutzen kann. Zunächst, das erwähnen Sie sehr wohl, wenn auch indirekt, sind die Menschen, mit denen wir uns umgeben, eine Art von Echoraum. Sie rufen etwas, was uns erreicht, dann zurückgeworfen wird; wir rufen etwas, was sie erreicht, und dann zurückgeworfen wird - und beides wird, ihre und unsere Stimmen werden im Konzert des Lebens, der demokratische Echoraum hat etliche Aus- und Eingänge, wahrgenommen. Sich aus der Verantwortung zu stehlen, geht, wenigstens in meiner Zeit, nicht mehr, jedenfalls nicht in einer aufgeklärten Gesellschaft, in der Presse- und Meinungsfreiheit herrschen. Um es so zu formulieren: Ihre Grundannahme hat sich einerseits überholt; die Tatsache, dass gute Werkzeuge die Arbeit erleichtern, andererseits ganz und gar nicht.
Hält das Zahnrad der Zeit an, retten die richtigen Instrumente in den richtigen Händen Leben. In der Vorbereitung auf das Noch-nicht-Anwesende stecke echte Weisheit.
Der Klugheit sei an sich fast alles fremd, der Dummheit beinahe alles zu vertraut.
4. Februar 2019, mit einem reichen Sentiment vom 12. März 2019
61.
Das Höchste, in der höchsten Gattung: ein gar einziger Vorzug, bei der Menge und Verschiedenheit der Vollkommenheiten. Es kann keinen großen Mann geben, der nicht in irgend etwas alle Andern überträfe. Mittelmäßigkeiten sind kein Gegenstand der Bewundrung. Die höchste Trefflichkeit in einem hervorstechenden Berufe kann allein uns aus der Menge der Gewöhnlichen herausheben und unter die Zahl der Seltenen versetzen. Ausgezeichnet seyn in einem geringen Berufe, heißt Etwas seyn, in dem, was wenig ist: was es am Angenehmen voraus haben mag, büßt es am Rühmlichen ein. Das Höchste leisten, und in der vorzüglichsten Gattung, drückt uns gleichsam einen Souveränitätskarakter auf, gebietet Bewunderung und gewinnt die Herzen.
Nun, Freund, Sie klingen hier wie ein Groupie, der einen Popstar anhimmelt, der zwar einigermaßen singen kann, aber ansonsten nicht viel moralisch Gutes auf der Pfanne hat. Diese Singularitätsevidenz, die Sie für Größe halten, halte ich für ein Armutszeugnis. Sicher ist's lobenswert, wenn wir etwas hervorragend beherrschen, gerade im Handwerk und der Kunst. Die Größten unter uns sind allerdings in sich und gleichzeitig mit anderen vollkommen - und zwar aus allen Himmelsrichtungen betrachtet.
Wer allein das Seltene schätzt und sucht, das häufig rein gar nichts von ihr oder ihm will, sondern mit dem eigenen Platz an der Sonne mehr als zufrieden ist, übersieht die guten Dingen, die in unmittelbarer Nachbarschaft anzutreffen sind.
Nach jeder Reise stellen wir fest, dass das Hochgelobte der Ferne mit dem Mindergeachteten der Nähe verwandt ist.
Sich von irgendeiner Macht überwältigen zu lassen und in die Schockstarre der Bewunderung zu verfallen, tötet den kritischen Geist und macht uns zum Spielball irrlichtender Mächte.
Ist wer am lautesten mit den Säbeln rasselt, die oder der schlechthin zu bewundernde, am meisten geachtete, über allen anderen Säbelrasslerinnen und Säbelrasslern auf immer thronende Säbelrasslerin oder Säbelrassler? Gehen wir in die Untiefen des Hier und Jetzt, begegnet uns, an der Spitze des weiterhin mächtigsten Landes der Erde, ein Präsident, der in den vergangenen zwölf Monaten im Durschnitt 15-mal pro Tag die Unwahrheit gerasselt hat. Damit handelt es sich bei ihm um den Höchsten in der höchsten Gattung der Mannskerle-die-ihren-Daumen-sowohl-auf-einem-dicken-Atomknopf-haben-als-auch-notorische-Lügner-sind. Übrigens allesamt Typen, die, buchstäblich, Heerscharen von Anbetern, Nachmachern und schmeichlerischen Hagiographen anziehen.
Widmen wir uns kurz der Moral des Erstunken-und-erlogen-Beispiels - falls ich das noch etwas einreiben darf. Wie anständig und schicklich sind die Qualitäten tatsächlich, für die wir angehimmelt werden oder Lobeshymnen erwarten? Und sagen wir, die wir uns am besten kennen sollten, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wenn wir, in unserem direkten Umfeld, selbst am Drücker der Familien- und Büromacht sitzen? Wollen wir für das Falsche Anerkennung gezollt bekommen, um - koste es, was es wolle - in den Olymp aufzusteigen oder oben partout auf dem Tempelberg sitzen zu bleiben?
In meinen Zeiten ist Vertrauen zwar eine schöne Sache, Kontrolle bei angeblichen Höchstleistungen jedoch zwangsläufig angebracht. Neben denen, die mit ihren Körpern punkten, sich aber mit Doping fitmachen, betrügen und lügen auch oftmals die Einfluss- unnd Superreichen. Nehmen Sie die CEOs der derzeit noch mächtigsten Firmen, die sich allesamt leidenschaftlich der Datenausbeute und energisch der Zerstörung der Privatsphäre ihrer Kundschaft widmen; ihre eigene kleine Gated-Community-Welt schützen sie natürlich mit allen juristischen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Hier wird nur so gelogen, bis sich die Balken biegen - und dennoch werden diese Männer, ja, typischerweise ist keine Frau dabei, und dennoch werden diese Männer, Freund, Ihren Kriterien des Übertreffens mehr als gerecht.
Die Guten, sie sind selten reich, und die Reichen, sie sind selten gut. Echte Größe zeigt sich allein in der Tat, nicht im Status.
Achten wir die Verächterinnen und Verächter, geht die Achtung nun mal per se verloren, ächteten wir sie, wüchse die Achtung grundsätzlich vor den Achtsamen. Und hat die Liebe Konjunktur, sind die Aktien der Hierarchie&Panzer Inc. im verdienten Keller.
3. Februar 2020, mit einem langen Sentiment vom 11. März 2019
Das Höchste, in der höchsten Gattung: ein gar einziger Vorzug, bei der Menge und Verschiedenheit der Vollkommenheiten. Es kann keinen großen Mann geben, der nicht in irgend etwas alle Andern überträfe. Mittelmäßigkeiten sind kein Gegenstand der Bewundrung. Die höchste Trefflichkeit in einem hervorstechenden Berufe kann allein uns aus der Menge der Gewöhnlichen herausheben und unter die Zahl der Seltenen versetzen. Ausgezeichnet seyn in einem geringen Berufe, heißt Etwas seyn, in dem, was wenig ist: was es am Angenehmen voraus haben mag, büßt es am Rühmlichen ein. Das Höchste leisten, und in der vorzüglichsten Gattung, drückt uns gleichsam einen Souveränitätskarakter auf, gebietet Bewunderung und gewinnt die Herzen.
Nun, Freund, Sie klingen hier wie ein Groupie, der einen Popstar anhimmelt, der zwar einigermaßen singen kann, aber ansonsten nicht viel moralisch Gutes auf der Pfanne hat. Diese Singularitätsevidenz, die Sie für Größe halten, halte ich für ein Armutszeugnis. Sicher ist's lobenswert, wenn wir etwas hervorragend beherrschen, gerade im Handwerk und der Kunst. Die Größten unter uns sind allerdings in sich und gleichzeitig mit anderen vollkommen - und zwar aus allen Himmelsrichtungen betrachtet.
Wer allein das Seltene schätzt und sucht, das häufig rein gar nichts von ihr oder ihm will, sondern mit dem eigenen Platz an der Sonne mehr als zufrieden ist, übersieht die guten Dingen, die in unmittelbarer Nachbarschaft anzutreffen sind.
Nach jeder Reise stellen wir fest, dass das Hochgelobte der Ferne mit dem Mindergeachteten der Nähe verwandt ist.
Sich von irgendeiner Macht überwältigen zu lassen und in die Schockstarre der Bewunderung zu verfallen, tötet den kritischen Geist und macht uns zum Spielball irrlichtender Mächte.
Ist wer am lautesten mit den Säbeln rasselt, die oder der schlechthin zu bewundernde, am meisten geachtete, über allen anderen Säbelrasslerinnen und Säbelrasslern auf immer thronende Säbelrasslerin oder Säbelrassler? Gehen wir in die Untiefen des Hier und Jetzt, begegnet uns, an der Spitze des weiterhin mächtigsten Landes der Erde, ein Präsident, der in den vergangenen zwölf Monaten im Durschnitt 15-mal pro Tag die Unwahrheit gerasselt hat. Damit handelt es sich bei ihm um den Höchsten in der höchsten Gattung der Mannskerle-die-ihren-Daumen-sowohl-auf-einem-dicken-Atomknopf-haben-als-auch-notorische-Lügner-sind. Übrigens allesamt Typen, die, buchstäblich, Heerscharen von Anbetern, Nachmachern und schmeichlerischen Hagiographen anziehen.
Widmen wir uns kurz der Moral des Erstunken-und-erlogen-Beispiels - falls ich das noch etwas einreiben darf. Wie anständig und schicklich sind die Qualitäten tatsächlich, für die wir angehimmelt werden oder Lobeshymnen erwarten? Und sagen wir, die wir uns am besten kennen sollten, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, wenn wir, in unserem direkten Umfeld, selbst am Drücker der Familien- und Büromacht sitzen? Wollen wir für das Falsche Anerkennung gezollt bekommen, um - koste es, was es wolle - in den Olymp aufzusteigen oder oben partout auf dem Tempelberg sitzen zu bleiben?
In meinen Zeiten ist Vertrauen zwar eine schöne Sache, Kontrolle bei angeblichen Höchstleistungen jedoch zwangsläufig angebracht. Neben denen, die mit ihren Körpern punkten, sich aber mit Doping fitmachen, betrügen und lügen auch oftmals die Einfluss- unnd Superreichen. Nehmen Sie die CEOs der derzeit noch mächtigsten Firmen, die sich allesamt leidenschaftlich der Datenausbeute und energisch der Zerstörung der Privatsphäre ihrer Kundschaft widmen; ihre eigene kleine Gated-Community-Welt schützen sie natürlich mit allen juristischen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Hier wird nur so gelogen, bis sich die Balken biegen - und dennoch werden diese Männer, ja, typischerweise ist keine Frau dabei, und dennoch werden diese Männer, Freund, Ihren Kriterien des Übertreffens mehr als gerecht.
Die Guten, sie sind selten reich, und die Reichen, sie sind selten gut. Echte Größe zeigt sich allein in der Tat, nicht im Status.
Achten wir die Verächterinnen und Verächter, geht die Achtung nun mal per se verloren, ächteten wir sie, wüchse die Achtung grundsätzlich vor den Achtsamen. Und hat die Liebe Konjunktur, sind die Aktien der Hierarchie&Panzer Inc. im verdienten Keller.
3. Februar 2020, mit einem langen Sentiment vom 11. März 2019
60.
Gesundes Urtheil. Einige werden klug geboren: mit diesem Vortheil der angeborenen großen Obhut ihrer selbst treten sie an die Studien, und so ist ihnen die Hälfte des Weges zum Gelingen vorausgegeben: wann nun Alter und Erfahrung ihre Vernunft völlig zur Reife gebracht haben; so gelangen sie zu einem vollgültigen und richtigen Urtheil. Sie verabscheuen eigensinnige Grillen jeder Art, als Verführerinnen der Klugheit, zumal in Staatsangelegenheiten, welche, wegen ihrer hohen Wichtigkeit, vollkommne Sicherheit erfordern. Solche Leute verdienen am Staatsruder zu stehn, sei es zur Lenkung oder zum Rath.
Nun, Freund, gehen wir gleich in medias res: was heißt "gesund"? Einige würden sagen: keine Schmerzen. Andere: leistungsbereit. Die Nächsten vielleicht, das Geistige aufnehmend: vernünftig und logisch. Oder, auch das könnten wir hören: für mich, für uns, für alle gut. Die Konzepte, welche hier aufleuchten, unterscheiden sich sehr. Das Gesund-Sein stellt also keine mustergültige Kategorie für die Urteilskraft dar. Um die Wahrheit zu sagen: ich denke, dass jemand, der gelitten hat, der ganz genau weiß, was es heißt, schwach zu sein, ich denke, dass solche Personen bessere Richterinnen und Staatsanwälte, Doktorinnen und Abgeordnete sind.
Niemand wird dumm geboren, aber viele werden dumm gehalten.
Klugheit weiß sehr wohl auch um die eigenen Fehler, Schlichtheit allein um die eigenen Stärken.
Völlige Reife sei der Zustand, wenn das Verrotten beginnt.
Die Frage des Determinismus, Freund, vor der ich, aus mehreren Gründen zurückschrecke, auch dem der Eitel- und Überheblichkeit - sich halbwegs zu kennen, ist selten ein Genuss -, die Frage des Determinismus hat, falsch beantwortet, für viel, sehr viel Unglück gesorgt.
In meiner Generation, selbst heute ist das noch häufig der Fall, wurden Kinder mit zehn Jahren auf, wie es so euphemistisch heißt, weiterführende Schulen geschickt - oder eben nicht. Das Gymnasium verstand und versteht sich als Hort der zukünftigen Bildungselite, die studieren und lenken darf, während die Kinder, welche auf der Hauptschule landeten und landen, ein schnöder Widerspruch in sich, angeblich eben gerade kein Haupt, das altmodische Wort für Kopf oder Verstand, haben, sondern als Arbeiterinnen und Arbeiter, als Handwerkerinnen und Handwerker den gebildeten Schichten - und nun sage ich etwas, was ganz und gar nicht meine Meinung ist, aber den Snobs als Einstellung eigen ist - gefälligst zuarbeiten sollen.
Eine kranke Idee sei es, zu glauben, dass eine Zehnjährige, die nicht aus einer bürgerlichen Familie stammt, in der die Muttersprache Deutsch ist, sondern, vielleicht, aus einer syrischen Flüchtlingsfamilie, in der Deutsch kaum oder gar nicht gesprochen wird, die selben Chancen hat. Ähnlich sei es mit dem Zehnjährigen, dessen Elternhaus zerrüttet ist, der vorm Schulbesuch kein Frühstück bekommmt, dessen Hausaufgaben niemand kontrolliert. Wir versagen als Gesellschaft, gerade für Kinder aus Familien mit - machen Sie sich auf ein Monsterwort gefasst - Migrationshintergrund. Dieser technokratische Begriff zeigt, wie wenig menschlich der Umgang mit den sprachlich benachteiligten Kindern ist, wie wenig wir, als Gesellschaft, verstanden haben, dass wir längst ein multikulturelles Einwanderungsland geworden sind, das allen, die zu uns kommen, die selben Chancen ermöglichen müsste, die den bereits hier Lebenden offenstehen.
Vorurteile werden durch geschlossene Türen bestätigt. Optionen basieren auf der Erkenntis, dass Menschen klug geboren werden. Häufig genug ist es das kapitalistische System, das uns dumm halten will, damit wir ihm und den wenigen Privilegierten dienen.
Nichts sei vorab besiegelt, außer der Chancengleichheit. Das Recht auf Teilhabe zeichnet offene Gesellschaften aus, die Idee des Wohlgeborenseins geschlossene.
Bliebe die Frage des Verkennens oder, wovor wenige gefeit sind, des Ablehnens der Aufmüpfigen. Sowohl das Rebellische als auch das Andere haben per se wenige Fürsprecher, Talent und Intelligenz hin oder her.
Hannah Arendt hat mal gesagt, dass kein Mensch das Recht habe, zu gehorchen. Wer sich daran erinnert, wird den Eigensinnigen hoffentlich geneigter gegenübertreten.
2. Februar 2020, mit einem langen Sentiemnt vom 10. März 2019
Gesundes Urtheil. Einige werden klug geboren: mit diesem Vortheil der angeborenen großen Obhut ihrer selbst treten sie an die Studien, und so ist ihnen die Hälfte des Weges zum Gelingen vorausgegeben: wann nun Alter und Erfahrung ihre Vernunft völlig zur Reife gebracht haben; so gelangen sie zu einem vollgültigen und richtigen Urtheil. Sie verabscheuen eigensinnige Grillen jeder Art, als Verführerinnen der Klugheit, zumal in Staatsangelegenheiten, welche, wegen ihrer hohen Wichtigkeit, vollkommne Sicherheit erfordern. Solche Leute verdienen am Staatsruder zu stehn, sei es zur Lenkung oder zum Rath.
Nun, Freund, gehen wir gleich in medias res: was heißt "gesund"? Einige würden sagen: keine Schmerzen. Andere: leistungsbereit. Die Nächsten vielleicht, das Geistige aufnehmend: vernünftig und logisch. Oder, auch das könnten wir hören: für mich, für uns, für alle gut. Die Konzepte, welche hier aufleuchten, unterscheiden sich sehr. Das Gesund-Sein stellt also keine mustergültige Kategorie für die Urteilskraft dar. Um die Wahrheit zu sagen: ich denke, dass jemand, der gelitten hat, der ganz genau weiß, was es heißt, schwach zu sein, ich denke, dass solche Personen bessere Richterinnen und Staatsanwälte, Doktorinnen und Abgeordnete sind.
Niemand wird dumm geboren, aber viele werden dumm gehalten.
Klugheit weiß sehr wohl auch um die eigenen Fehler, Schlichtheit allein um die eigenen Stärken.
Völlige Reife sei der Zustand, wenn das Verrotten beginnt.
Die Frage des Determinismus, Freund, vor der ich, aus mehreren Gründen zurückschrecke, auch dem der Eitel- und Überheblichkeit - sich halbwegs zu kennen, ist selten ein Genuss -, die Frage des Determinismus hat, falsch beantwortet, für viel, sehr viel Unglück gesorgt.
In meiner Generation, selbst heute ist das noch häufig der Fall, wurden Kinder mit zehn Jahren auf, wie es so euphemistisch heißt, weiterführende Schulen geschickt - oder eben nicht. Das Gymnasium verstand und versteht sich als Hort der zukünftigen Bildungselite, die studieren und lenken darf, während die Kinder, welche auf der Hauptschule landeten und landen, ein schnöder Widerspruch in sich, angeblich eben gerade kein Haupt, das altmodische Wort für Kopf oder Verstand, haben, sondern als Arbeiterinnen und Arbeiter, als Handwerkerinnen und Handwerker den gebildeten Schichten - und nun sage ich etwas, was ganz und gar nicht meine Meinung ist, aber den Snobs als Einstellung eigen ist - gefälligst zuarbeiten sollen.
Eine kranke Idee sei es, zu glauben, dass eine Zehnjährige, die nicht aus einer bürgerlichen Familie stammt, in der die Muttersprache Deutsch ist, sondern, vielleicht, aus einer syrischen Flüchtlingsfamilie, in der Deutsch kaum oder gar nicht gesprochen wird, die selben Chancen hat. Ähnlich sei es mit dem Zehnjährigen, dessen Elternhaus zerrüttet ist, der vorm Schulbesuch kein Frühstück bekommmt, dessen Hausaufgaben niemand kontrolliert. Wir versagen als Gesellschaft, gerade für Kinder aus Familien mit - machen Sie sich auf ein Monsterwort gefasst - Migrationshintergrund. Dieser technokratische Begriff zeigt, wie wenig menschlich der Umgang mit den sprachlich benachteiligten Kindern ist, wie wenig wir, als Gesellschaft, verstanden haben, dass wir längst ein multikulturelles Einwanderungsland geworden sind, das allen, die zu uns kommen, die selben Chancen ermöglichen müsste, die den bereits hier Lebenden offenstehen.
Vorurteile werden durch geschlossene Türen bestätigt. Optionen basieren auf der Erkenntis, dass Menschen klug geboren werden. Häufig genug ist es das kapitalistische System, das uns dumm halten will, damit wir ihm und den wenigen Privilegierten dienen.
Nichts sei vorab besiegelt, außer der Chancengleichheit. Das Recht auf Teilhabe zeichnet offene Gesellschaften aus, die Idee des Wohlgeborenseins geschlossene.
Bliebe die Frage des Verkennens oder, wovor wenige gefeit sind, des Ablehnens der Aufmüpfigen. Sowohl das Rebellische als auch das Andere haben per se wenige Fürsprecher, Talent und Intelligenz hin oder her.
Hannah Arendt hat mal gesagt, dass kein Mensch das Recht habe, zu gehorchen. Wer sich daran erinnert, wird den Eigensinnigen hoffentlich geneigter gegenübertreten.
2. Februar 2020, mit einem langen Sentiemnt vom 10. März 2019