90.
Kunst lange zu leben. Gut leben. Zwei Dinge werden schnell mit dem Leben fertig: Dummheit und Liederlichkeit. Die Einen verlieren es, weil sie es zu bewahren nicht den Verstand, die Andern, weil sie nicht den Willen haben. Wie Tugend ihr eigner Lohn, ist Laster seine eigne Strafe. Wer eifrig dem Laster lebt, endigt bald, im zwiefachen Sinn: wer eifrig der Tugend lebt, stirbt nie. Die Untadelhaftigkeit der Seele theilt sich dem Leibe mit: und ein gutgeführtes Leben wird nicht nur intensiv, sondern selbst extensiv ein langes seyn.
Und was das für eine Kunst wäre, Freund, die Kunst des langen, des guten, des erfüllten, des zufriedenen Lebens. Zärtelt das Sein am Anfang, hätschelt uns, und ich spreche nur vom Körperbau, innen wie außen, und hier auch nur vom günstigen Allgemeinbefinden, das doch in Jugendtagen glücklicherweise die Regel ist, so packt das Sein ab der Mitte der Reise die Samthandschuhe weg und verabreicht uns zumeist ab dem 50. Lebensjahr unermüdlich Lektionen, die uns einen üblen Vorgeschmack aufs Sterbebett geben. Einigen Glücklichen bleibt dieser Thanatosunterricht selbst im hohen Alter erspart, einige Unglückliche bekommen ihre exklusiven Einzelstunden im Leiden deutlich früher appliziert.
Unsere Medizin macht Fortschritte, mit denen die wenigsten Körper mithalten können; vom Verstand, der leben will, dem der Tod den letzten Nerv raubt, sei in diesem Moment noch nicht gesprochen. Das lange Leben - und ich verkürze es nun auf die nackte Zahl, die am Ende herausspringt - sei eine Sachfrage, die man, buchstäblich, sportlich angehen oder eben rein medizinisch, sprich: pharmazeutisch einstweilig lösen kann. Ist der Wille vorhanden, das private Konto gefüllt oder das staatliche Gesundheitssystem in der Lage einzuspringen, durchbricht die Lebensdauer ohne große Probleme die 100-Jahre-Schallmauer.
Interessanter, Freund, sogar sehr viel, unendlich interessanter ist das extensive gute Leben, von dem Sie sprechen, das Sie, wie wir alle, als Daseinsideal im Sinn haben. Ein wuchtiges, mit sich selbst zufriedenes Strohfeuer kann, im richtigen Augenblick, mehr wert sein als ein dünnes Flämmchen, das vergeblich glimmt und schließlich stumm und griesgrämig erlöscht.
Entscheidend für ein gutes Leben ist, was Du von ihm erwartest und was Du aus ihm machst. Läuft es Dir weg, obwohl Du die Chance hattest, es zu halten, wirst Du auf alle Tage die verpasste Gelegenheit bedauern. Wer zugreift und erzeugt, wenn die Gestaltung und das Anpacken vonnöten und möglich sind, lebt ein gutes Leben, ist wohl mit sich im Reinen.
Dass der Tod zuverlässig zur Unzeit kommt, da er nun mal die beispielhafte Unzeit ist, darf uns nicht entmutigen, am guten Leben festzuhalten. Den Tod als Erlöser, von dem gar manche schwärmen, den verachte ich.
6. April
Kunst lange zu leben. Gut leben. Zwei Dinge werden schnell mit dem Leben fertig: Dummheit und Liederlichkeit. Die Einen verlieren es, weil sie es zu bewahren nicht den Verstand, die Andern, weil sie nicht den Willen haben. Wie Tugend ihr eigner Lohn, ist Laster seine eigne Strafe. Wer eifrig dem Laster lebt, endigt bald, im zwiefachen Sinn: wer eifrig der Tugend lebt, stirbt nie. Die Untadelhaftigkeit der Seele theilt sich dem Leibe mit: und ein gutgeführtes Leben wird nicht nur intensiv, sondern selbst extensiv ein langes seyn.
Und was das für eine Kunst wäre, Freund, die Kunst des langen, des guten, des erfüllten, des zufriedenen Lebens. Zärtelt das Sein am Anfang, hätschelt uns, und ich spreche nur vom Körperbau, innen wie außen, und hier auch nur vom günstigen Allgemeinbefinden, das doch in Jugendtagen glücklicherweise die Regel ist, so packt das Sein ab der Mitte der Reise die Samthandschuhe weg und verabreicht uns zumeist ab dem 50. Lebensjahr unermüdlich Lektionen, die uns einen üblen Vorgeschmack aufs Sterbebett geben. Einigen Glücklichen bleibt dieser Thanatosunterricht selbst im hohen Alter erspart, einige Unglückliche bekommen ihre exklusiven Einzelstunden im Leiden deutlich früher appliziert.
Unsere Medizin macht Fortschritte, mit denen die wenigsten Körper mithalten können; vom Verstand, der leben will, dem der Tod den letzten Nerv raubt, sei in diesem Moment noch nicht gesprochen. Das lange Leben - und ich verkürze es nun auf die nackte Zahl, die am Ende herausspringt - sei eine Sachfrage, die man, buchstäblich, sportlich angehen oder eben rein medizinisch, sprich: pharmazeutisch einstweilig lösen kann. Ist der Wille vorhanden, das private Konto gefüllt oder das staatliche Gesundheitssystem in der Lage einzuspringen, durchbricht die Lebensdauer ohne große Probleme die 100-Jahre-Schallmauer.
Interessanter, Freund, sogar sehr viel, unendlich interessanter ist das extensive gute Leben, von dem Sie sprechen, das Sie, wie wir alle, als Daseinsideal im Sinn haben. Ein wuchtiges, mit sich selbst zufriedenes Strohfeuer kann, im richtigen Augenblick, mehr wert sein als ein dünnes Flämmchen, das vergeblich glimmt und schließlich stumm und griesgrämig erlöscht.
Entscheidend für ein gutes Leben ist, was Du von ihm erwartest und was Du aus ihm machst. Läuft es Dir weg, obwohl Du die Chance hattest, es zu halten, wirst Du auf alle Tage die verpasste Gelegenheit bedauern. Wer zugreift und erzeugt, wenn die Gestaltung und das Anpacken vonnöten und möglich sind, lebt ein gutes Leben, ist wohl mit sich im Reinen.
Dass der Tod zuverlässig zur Unzeit kommt, da er nun mal die beispielhafte Unzeit ist, darf uns nicht entmutigen, am guten Leben festzuhalten. Den Tod als Erlöser, von dem gar manche schwärmen, den verachte ich.
6. April
91.
Nie bei Skrupeln über Unvorsichtigkeit zum Werke schreiten. Die bloße Besorgniß des Mißlingens im Handelnden ist schon völlige Gewißheit im Zuschauer, zumal wenn er ein Nebenbuhler ist. Wenn schon in der ersten Hitze des Unternehmens die Urtheilskraft Skrupel hegte; so wird sie nachher, im leidenschaftslosen Zustand, das Verdammmgsurtheil offenbarer Thorheit aussprechen. Handlungen, an deren Vorsichtigkeit wir zweifeln, sind gefährlich, und sichrer wäre das Unterlassen. Die Klugheit läßt sich nicht auf Wahrscheinlichkeiten ein: sie wandelt stets am hellen Mittagslichte der Vernunft. Wie soll ein Unternehmen gut ablaufen, dessen Entwurf schon die Besorgniß verurtheilt? Und wenn die durchdachtesten, vom Nemine discrepante unsers Innern bestätigten Beschlüsse oft einen unglücklichen Ausgang nehmen; was haben solche zu erwarten, die bei schwankender Vernunft und Schlimmes augurirender Urtheilskraft gefaßt wurden?
Egal, Freund, was ich bislang gesagt habe, über die Vernunft und das Abwägen, die Vorsicht und den Übermut, in Wahrheit, scheint mir, zweifeln wir, egal ob's sich um enge oder weite Träume und Pläne handelt, zweifeln wir selbst an den ultimativen Gewissheiten, die wir für ein Unternehmen hegen. Wer glaubt, dass die Welt um unsere Drehbücher kreist, leidet an Hybris. Gerade die ausgeklügeltsten Vorhaben, besonders in der Kunst und der Liebe, der Familie und dem Gelderwerb, entpuppen sich oft genug als Delusionen.
Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden, sobald es sich lohnt. Wer annimmt, alles in der Hand zu haben, hat per se alles verloren. Zweifel sei der Vater des Überhaupt-Gelingens.
Vollkommenheit sei ein kategorischer Imperativ, der uns beim Sehen und Handeln, aber nicht beim Erreichen des Ziels leiten soll.
7. April
Nie bei Skrupeln über Unvorsichtigkeit zum Werke schreiten. Die bloße Besorgniß des Mißlingens im Handelnden ist schon völlige Gewißheit im Zuschauer, zumal wenn er ein Nebenbuhler ist. Wenn schon in der ersten Hitze des Unternehmens die Urtheilskraft Skrupel hegte; so wird sie nachher, im leidenschaftslosen Zustand, das Verdammmgsurtheil offenbarer Thorheit aussprechen. Handlungen, an deren Vorsichtigkeit wir zweifeln, sind gefährlich, und sichrer wäre das Unterlassen. Die Klugheit läßt sich nicht auf Wahrscheinlichkeiten ein: sie wandelt stets am hellen Mittagslichte der Vernunft. Wie soll ein Unternehmen gut ablaufen, dessen Entwurf schon die Besorgniß verurtheilt? Und wenn die durchdachtesten, vom Nemine discrepante unsers Innern bestätigten Beschlüsse oft einen unglücklichen Ausgang nehmen; was haben solche zu erwarten, die bei schwankender Vernunft und Schlimmes augurirender Urtheilskraft gefaßt wurden?
Egal, Freund, was ich bislang gesagt habe, über die Vernunft und das Abwägen, die Vorsicht und den Übermut, in Wahrheit, scheint mir, zweifeln wir, egal ob's sich um enge oder weite Träume und Pläne handelt, zweifeln wir selbst an den ultimativen Gewissheiten, die wir für ein Unternehmen hegen. Wer glaubt, dass die Welt um unsere Drehbücher kreist, leidet an Hybris. Gerade die ausgeklügeltsten Vorhaben, besonders in der Kunst und der Liebe, der Familie und dem Gelderwerb, entpuppen sich oft genug als Delusionen.
Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden, sobald es sich lohnt. Wer annimmt, alles in der Hand zu haben, hat per se alles verloren. Zweifel sei der Vater des Überhaupt-Gelingens.
Vollkommenheit sei ein kategorischer Imperativ, der uns beim Sehen und Handeln, aber nicht beim Erreichen des Ziels leiten soll.
7. April
92.
Überschwenglicher Verstand. Ich meine, in Allem. Die erste und höchste Regel zum Handeln und zum Reden, notwendiger je höher unsre Stellung ist, heißt: ein Gran Klugheit ist besser als Centner Spitzfindigkeiten. Dabei wandelt man sicher, wenn auch nicht mit so lautem Beifall; obwohl der Ruf der Klugheit der Triumph des Ruhmes ist. Es sei hinlänglich, den Gescheuten genügt zu haben, deren Urtheil der Probirstein gelungener Thaten ist.
Sie, Freund, sehen mich lächeln. Der Vokal in Gescheuten ist, über die vielen Jahrzehnte, leicht verrutscht - und damit auch, dank dieser Verschiebung, die Bedeutung. In Wahrheit meint Schopenhauer natürlich, was Ihnen gescheit vorgeschwebt hat. Ich möchte mich dennoch ans aktuelle Scheusein halten. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel - und wir also an, dass das Urteil der Schüchternen das Mindestmaß darstellt.
Mir gefällt das.
Die Zaghaften sind nun mal, häufig, nicht zurückhaltend, weil sie keine Meinung haben, sondern weil sie wissen, wann's sich lohnt, in den Ring zu steigen. Packt Scheue der Ehrgeiz, haben Angeber wenig zu lachen. Die Energie, welche sich angestaut hat, fegt die Aufschneider, deren Kunst in der Maskerade besteht, die dementsprechend im Kern eher hohl sind, rasant vom Meinungshof.
Wer Geschrei und tumbes Spektakel schätzt, wird irgendwann - in der Regel: wenn's tatsächlich ans Eingemachte geht - zum Gespött der Ruhe und der Erkenntnis. Lautstärke sei, im Zweifelsfall, schließlich doch der schwächste Teil des Arguments. Ohne Zwischentöne kein Fortschritt, keine Erhohlung ohne Schlaf. Triumphgeheul stelle ein ephemerisches Vergnügen dar, dessen Wirksamkeit lokal begrenzt sei.
Nun sind wir wieder etwas vom Wege abgekommen, Freund, den Sie uns zugewiesen haben. Aber sind nicht, beinahe grundsätzlich, die fremden Früchte die süßesten?
7. April
Überschwenglicher Verstand. Ich meine, in Allem. Die erste und höchste Regel zum Handeln und zum Reden, notwendiger je höher unsre Stellung ist, heißt: ein Gran Klugheit ist besser als Centner Spitzfindigkeiten. Dabei wandelt man sicher, wenn auch nicht mit so lautem Beifall; obwohl der Ruf der Klugheit der Triumph des Ruhmes ist. Es sei hinlänglich, den Gescheuten genügt zu haben, deren Urtheil der Probirstein gelungener Thaten ist.
Sie, Freund, sehen mich lächeln. Der Vokal in Gescheuten ist, über die vielen Jahrzehnte, leicht verrutscht - und damit auch, dank dieser Verschiebung, die Bedeutung. In Wahrheit meint Schopenhauer natürlich, was Ihnen gescheit vorgeschwebt hat. Ich möchte mich dennoch ans aktuelle Scheusein halten. Nehmen Sie mir das bitte nicht übel - und wir also an, dass das Urteil der Schüchternen das Mindestmaß darstellt.
Mir gefällt das.
Die Zaghaften sind nun mal, häufig, nicht zurückhaltend, weil sie keine Meinung haben, sondern weil sie wissen, wann's sich lohnt, in den Ring zu steigen. Packt Scheue der Ehrgeiz, haben Angeber wenig zu lachen. Die Energie, welche sich angestaut hat, fegt die Aufschneider, deren Kunst in der Maskerade besteht, die dementsprechend im Kern eher hohl sind, rasant vom Meinungshof.
Wer Geschrei und tumbes Spektakel schätzt, wird irgendwann - in der Regel: wenn's tatsächlich ans Eingemachte geht - zum Gespött der Ruhe und der Erkenntnis. Lautstärke sei, im Zweifelsfall, schließlich doch der schwächste Teil des Arguments. Ohne Zwischentöne kein Fortschritt, keine Erhohlung ohne Schlaf. Triumphgeheul stelle ein ephemerisches Vergnügen dar, dessen Wirksamkeit lokal begrenzt sei.
Nun sind wir wieder etwas vom Wege abgekommen, Freund, den Sie uns zugewiesen haben. Aber sind nicht, beinahe grundsätzlich, die fremden Früchte die süßesten?
7. April
93.
Universalität. Ein Mann, der alle Vollkommenheiten vereint, gilt für Viele. Indem er den Genuß derselben seinem Umgange mittheilt, verschönert er das Leben. Abwechselung mit Vollkommenheit gewährt die beste Unterhaltung. Es ist eine große Kunst, sich alles Gute aneignen zu können. Und da die Natur aus dem Menschen, indem sie ihn so hoch stellte, einen Inbegriff ihrer ganzen Schöpfung gemacht hat; so mache ihn nun auch die Kunst zu einer kleinen Welt, durch Uebung und Bildung des Verstandes und des Geschmacks.
Ach, die Natur, Freund, die uns angeblich an die Spitze der Evolution katapultiert hat, wir zeigen ihr unsere besondere Dankbarkeit und schlagen gerade auf sie ein, bis ihr Hören und Sehen vergeht, ihre Kapitulation bevorsteht. Unsere Universalität ist die primitivste Provinzialität, die man sich vorstellen kann. Und die kleine Welt, die wir, dank der Kunst der Verfeinerung, selbst geworden sind, isoliert sich schnurstracks von den Kalamitäten, die sie einengen. All die Warnungen, dass wir uns selbst zerstören, werden mit dem Label langweilig versehen und gähnend abgeheftet. Alles schon gehört. Was kann ich dafür? Man darf doch noch das Leben genießen. Miesmacherei rettet auch nicht den Regenwald.
Die wundersamsten Leistungen der Menschheit seien ihre verblüffende Vergesslichkeit und unerschütterliche Ignoranz. Der Kannibalismus, den wir an der Umwelt begehen, ist überall sichtbar, und dennoch stimmen unsere Nationen beinahe unisono das hohe Lied des Wachstums an. Verzichten wir, dann auf Verzicht.
Wie's mit meiner Bilanz steht, wollen Sie wissen. Schlecht. Gerade eben bin ich aus dem Flugzeug gestiegen. Über drei Stunden hat der Trip von Reykjavik nach Berlin gedauert. Die CO₂-Emission dafür beträgt, nur für mich, 975 Kilogramm. Ich werde den Flug klimaneutral kompensieren - also Geld zahlen, damit Bäume gepflanzt werden. Aber hilft das tatsächlich? Wäre es nicht besser gewesen, erst gar nicht zu fliegen? Theoretisch hätte ich Island mit einem Schiff erreichen können. Von Hirtshals in Dänemark nach Seydisfjördur im Osten Islands verkehrt eine Fähre: Abfahrt am Samstag um 15 Uhr, Ankunft am Dienstag um 9 Uhr. Alles eine Frage der Zeit. Und die Herrschaft über Zeit, Freund, ich denke, bei Ihnen wird's ähnlich gewesen sein, ist und bleibt die Frage aller Fragen. Da die Lebensspanne begrenzt ist, versuchen wir, so viel wie möglich mit der uns gegebenen Zeit zu machen. Das Bedauern über die eingeschränkte Dauer führt andauernd zu beklagenswerten Entscheidungen.
Entschleunigung führte zum Überleben. Wer umkehrte, kehrte eher ein. Vollkommenheit läge in der Statik, die Bewegung erlaubte. Haltung und Halt wären der Unterhaltung und dem Gehalt vorzuziehen.
Was ich schreibe, sei was ich sein möchte, aber nicht bin.
8. April
Universalität. Ein Mann, der alle Vollkommenheiten vereint, gilt für Viele. Indem er den Genuß derselben seinem Umgange mittheilt, verschönert er das Leben. Abwechselung mit Vollkommenheit gewährt die beste Unterhaltung. Es ist eine große Kunst, sich alles Gute aneignen zu können. Und da die Natur aus dem Menschen, indem sie ihn so hoch stellte, einen Inbegriff ihrer ganzen Schöpfung gemacht hat; so mache ihn nun auch die Kunst zu einer kleinen Welt, durch Uebung und Bildung des Verstandes und des Geschmacks.
Ach, die Natur, Freund, die uns angeblich an die Spitze der Evolution katapultiert hat, wir zeigen ihr unsere besondere Dankbarkeit und schlagen gerade auf sie ein, bis ihr Hören und Sehen vergeht, ihre Kapitulation bevorsteht. Unsere Universalität ist die primitivste Provinzialität, die man sich vorstellen kann. Und die kleine Welt, die wir, dank der Kunst der Verfeinerung, selbst geworden sind, isoliert sich schnurstracks von den Kalamitäten, die sie einengen. All die Warnungen, dass wir uns selbst zerstören, werden mit dem Label langweilig versehen und gähnend abgeheftet. Alles schon gehört. Was kann ich dafür? Man darf doch noch das Leben genießen. Miesmacherei rettet auch nicht den Regenwald.
Die wundersamsten Leistungen der Menschheit seien ihre verblüffende Vergesslichkeit und unerschütterliche Ignoranz. Der Kannibalismus, den wir an der Umwelt begehen, ist überall sichtbar, und dennoch stimmen unsere Nationen beinahe unisono das hohe Lied des Wachstums an. Verzichten wir, dann auf Verzicht.
Wie's mit meiner Bilanz steht, wollen Sie wissen. Schlecht. Gerade eben bin ich aus dem Flugzeug gestiegen. Über drei Stunden hat der Trip von Reykjavik nach Berlin gedauert. Die CO₂-Emission dafür beträgt, nur für mich, 975 Kilogramm. Ich werde den Flug klimaneutral kompensieren - also Geld zahlen, damit Bäume gepflanzt werden. Aber hilft das tatsächlich? Wäre es nicht besser gewesen, erst gar nicht zu fliegen? Theoretisch hätte ich Island mit einem Schiff erreichen können. Von Hirtshals in Dänemark nach Seydisfjördur im Osten Islands verkehrt eine Fähre: Abfahrt am Samstag um 15 Uhr, Ankunft am Dienstag um 9 Uhr. Alles eine Frage der Zeit. Und die Herrschaft über Zeit, Freund, ich denke, bei Ihnen wird's ähnlich gewesen sein, ist und bleibt die Frage aller Fragen. Da die Lebensspanne begrenzt ist, versuchen wir, so viel wie möglich mit der uns gegebenen Zeit zu machen. Das Bedauern über die eingeschränkte Dauer führt andauernd zu beklagenswerten Entscheidungen.
Entschleunigung führte zum Überleben. Wer umkehrte, kehrte eher ein. Vollkommenheit läge in der Statik, die Bewegung erlaubte. Haltung und Halt wären der Unterhaltung und dem Gehalt vorzuziehen.
Was ich schreibe, sei was ich sein möchte, aber nicht bin.
8. April
94.
Unergründlichkeit der Fähigkeiten. Der Kluge verhüte, daß man sein Wissen und sein Können bis auf den Grund ermesse, wenn er von Allen verehrt sein will. Er lasse zu, daß man ihn kenne, aber nicht, daß man ihn ergründe. Keiner muß die Grenzen seiner Fähigkeiten auffinden können; wegen der augenscheinlichen Gefahr einer Enttäuschung. Nie gebe er Gelegenheit, daß Einer ihm ganz auf den Grund komme. Denn größre Verehrung erregt die Muthmaaßung und der Zweifel über die Ausdehnung der Talente eines Jeden, als die genaue Kundschaft davon, so groß sie auch immer seyn mögen.
Die Verehrung spielt, Freund, in Ihrem Weltverständnis eine weit größere Rolle als in meinem. Der Götzendienst an den Ausgezeichneten, sei's dank angeborener Macht, sei's dank wie auch immer gearteter Talente, dieser Götzendienst, auf den Sie alle naselang anspielen, der sicherlich auch mit Ihrem Gottglauben verbunden ist, bleibt mir ein Rätsel.
Fehler seien das Ausgezeichnetste, was wir besitzen. In jeder Fähigkeit steckt ein Bruch, der Veränderung ermöglicht. Wer sich für perfekt hält, wird zum Gespött der Selbstkritischen. Wer uns auf den Grund kommt, bereichert uns. Allein im Bekenntnis zum Fehler bleiben wir Mensch. Die Abgehobenen stürzen, früher oder später, wieder gen Boden und zerschellen.
Gerade zu gehen - symbolisch, versteht sich -, obwohl wir eine Last zu tragen haben, zeigt wahre Größe.
9. April
Unergründlichkeit der Fähigkeiten. Der Kluge verhüte, daß man sein Wissen und sein Können bis auf den Grund ermesse, wenn er von Allen verehrt sein will. Er lasse zu, daß man ihn kenne, aber nicht, daß man ihn ergründe. Keiner muß die Grenzen seiner Fähigkeiten auffinden können; wegen der augenscheinlichen Gefahr einer Enttäuschung. Nie gebe er Gelegenheit, daß Einer ihm ganz auf den Grund komme. Denn größre Verehrung erregt die Muthmaaßung und der Zweifel über die Ausdehnung der Talente eines Jeden, als die genaue Kundschaft davon, so groß sie auch immer seyn mögen.
Die Verehrung spielt, Freund, in Ihrem Weltverständnis eine weit größere Rolle als in meinem. Der Götzendienst an den Ausgezeichneten, sei's dank angeborener Macht, sei's dank wie auch immer gearteter Talente, dieser Götzendienst, auf den Sie alle naselang anspielen, der sicherlich auch mit Ihrem Gottglauben verbunden ist, bleibt mir ein Rätsel.
Fehler seien das Ausgezeichnetste, was wir besitzen. In jeder Fähigkeit steckt ein Bruch, der Veränderung ermöglicht. Wer sich für perfekt hält, wird zum Gespött der Selbstkritischen. Wer uns auf den Grund kommt, bereichert uns. Allein im Bekenntnis zum Fehler bleiben wir Mensch. Die Abgehobenen stürzen, früher oder später, wieder gen Boden und zerschellen.
Gerade zu gehen - symbolisch, versteht sich -, obwohl wir eine Last zu tragen haben, zeigt wahre Größe.
9. April
95.
Die Erwartung rege erhalten: man muß sie stets zu kirren wissen: das Viele verspreche noch mehr, die glänzendeste That kündige noch glänzendere an. Man muß nicht seinen ganzen Rest an den ersten Wurf setzen. Ein großer Kunstgriff ist, daß man sich zu mäßigen wisse, im Anwenden seiner Kräfte und seines Wissens, so daß man immer mehr und mehr die Erwartungen befriedigen könne.
Das Verb kirre, Freund, hat sich, meiner Erfahrung nach, nur in nicht kirremachen gehalten. Alle anderen Bedeutungen, also auch die vom Translator in diesem Abschnitt gewählte, haben sich weitgehend absentiert. Während der Arbeit die Ruhe zu bewahren - nun verkürze ich bewusst -, um noch Neuigkeiten in der Hinterhand zu haben, bei Bedarf Überraschungen aus dem Hut zu ziehen, davon sprechen auch Sie, eher sogar vom Zähmen sprechen Sie, dem weitgehend verlorengegangen kirre-Sinn. Was, zugegeben, eine gute Idee wäre, ganz prinzipiell. Denn das Mehr-und-Mehr liegt nun mal nicht in unserer eigenen Hand. Das Wirtschaftssystem zwingt uns, haben wir einen Vertrag unterschrieben, sind wir in einen regulierten Produktionsprozess eingetreten, jeden Tag an die Leistungsgrenze zu gehen. Etwas in petto zu haben, wie es Ihnen als Ideal vorschwebt, sei den Wenigsten weltweit vergönnt.
Der arbeitende Mensch hat sich selbst entmündigt; was keine persönliche Wahl darstellt, sondern systemisch begründet ist. Kapitalismus - in dem Begriff steckt schon die wesentliche Malaise - dient dem Kapital, und dem Kapital ist der Mensch per se zunächst egal. Bis auf wenige Ausnahmen, wie in der sozialen Marktwirtschaft, die mit dem Raubtierkapitalismus laufend ringt. Ich meine, wenn ich den Egalfaktor anführe, Sie ahnen es, die Alles-egal-Kapitalisten, die Anti-Egalitären, jene privilegierte Klasse, die verstanden hat, dass die irrsinnige Anhäufung von Geld ihr gigantische Macht und allen anderen aberwitzige Ohnmacht beschert. Und was für eine eigenartige Bescherung das ist! Die 42 reichsten Menschen der Erde haben derzeit so viel Vermögen gehortet wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen. Selbst in Deutschland - ich schreibe Ihnen von Berlin aus -, einem funktionierenden Sozialstaat, spiegelt sich diese Entwicklung: 45 Haushalte besitzen in der Bundesrepublik so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen.
Wer zwei-, drei-, viermal oder noch häufiger werfen will oder, was häufiger passiert, werfen muss, sollte das Verrenken beim ersten Mal tunlichst vermeiden. Die Spielregeln - Gewicht des Gegenstands, Anzahl der Würfe, Pause zwischen den Würfen, Bezahlung - müssen fair verhandelt werden.
Wer seltener wirft, erhöht die Wertschätzung des Wurfs.
Die Schönheit der Bewegung hat so gut wie nie mit ihrer Frequenz zu tun, allerdings fast immer mit der Lust, die wir bei der Ausführung empfinden.
Leistungen, die uns im Akkord abgezwungen werden, höhlen uns aus. Wir leben nicht, um zu arbeiten. Wir arbeiten, um zu leben. Disziplin sei eine Sekundärtugend. Freiheit sei des Glückes Unterpfand. Begeisterung und Intelligenz wachsen, wenn wir ihnen Raum geben.
10. April
Die Erwartung rege erhalten: man muß sie stets zu kirren wissen: das Viele verspreche noch mehr, die glänzendeste That kündige noch glänzendere an. Man muß nicht seinen ganzen Rest an den ersten Wurf setzen. Ein großer Kunstgriff ist, daß man sich zu mäßigen wisse, im Anwenden seiner Kräfte und seines Wissens, so daß man immer mehr und mehr die Erwartungen befriedigen könne.
Das Verb kirre, Freund, hat sich, meiner Erfahrung nach, nur in nicht kirremachen gehalten. Alle anderen Bedeutungen, also auch die vom Translator in diesem Abschnitt gewählte, haben sich weitgehend absentiert. Während der Arbeit die Ruhe zu bewahren - nun verkürze ich bewusst -, um noch Neuigkeiten in der Hinterhand zu haben, bei Bedarf Überraschungen aus dem Hut zu ziehen, davon sprechen auch Sie, eher sogar vom Zähmen sprechen Sie, dem weitgehend verlorengegangen kirre-Sinn. Was, zugegeben, eine gute Idee wäre, ganz prinzipiell. Denn das Mehr-und-Mehr liegt nun mal nicht in unserer eigenen Hand. Das Wirtschaftssystem zwingt uns, haben wir einen Vertrag unterschrieben, sind wir in einen regulierten Produktionsprozess eingetreten, jeden Tag an die Leistungsgrenze zu gehen. Etwas in petto zu haben, wie es Ihnen als Ideal vorschwebt, sei den Wenigsten weltweit vergönnt.
Der arbeitende Mensch hat sich selbst entmündigt; was keine persönliche Wahl darstellt, sondern systemisch begründet ist. Kapitalismus - in dem Begriff steckt schon die wesentliche Malaise - dient dem Kapital, und dem Kapital ist der Mensch per se zunächst egal. Bis auf wenige Ausnahmen, wie in der sozialen Marktwirtschaft, die mit dem Raubtierkapitalismus laufend ringt. Ich meine, wenn ich den Egalfaktor anführe, Sie ahnen es, die Alles-egal-Kapitalisten, die Anti-Egalitären, jene privilegierte Klasse, die verstanden hat, dass die irrsinnige Anhäufung von Geld ihr gigantische Macht und allen anderen aberwitzige Ohnmacht beschert. Und was für eine eigenartige Bescherung das ist! Die 42 reichsten Menschen der Erde haben derzeit so viel Vermögen gehortet wie die 3,7 Milliarden Menschen der ärmeren Hälfte zusammen. Selbst in Deutschland - ich schreibe Ihnen von Berlin aus -, einem funktionierenden Sozialstaat, spiegelt sich diese Entwicklung: 45 Haushalte besitzen in der Bundesrepublik so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung zusammen.
Wer zwei-, drei-, viermal oder noch häufiger werfen will oder, was häufiger passiert, werfen muss, sollte das Verrenken beim ersten Mal tunlichst vermeiden. Die Spielregeln - Gewicht des Gegenstands, Anzahl der Würfe, Pause zwischen den Würfen, Bezahlung - müssen fair verhandelt werden.
Wer seltener wirft, erhöht die Wertschätzung des Wurfs.
Die Schönheit der Bewegung hat so gut wie nie mit ihrer Frequenz zu tun, allerdings fast immer mit der Lust, die wir bei der Ausführung empfinden.
Leistungen, die uns im Akkord abgezwungen werden, höhlen uns aus. Wir leben nicht, um zu arbeiten. Wir arbeiten, um zu leben. Disziplin sei eine Sekundärtugend. Freiheit sei des Glückes Unterpfand. Begeisterung und Intelligenz wachsen, wenn wir ihnen Raum geben.
10. April
96.
Die große Obhut seiner selbst. Sie ist der Thron der Vernunft, die Grundlage der Vorsicht und durch sie gelingt Alles leicht. Sie ist eine Gabe des Himmels, und als die erste und größte, die wünschenswerteste. Sie ist das Hauptstück der Rüstung und von so großer Wichtigkeit, daß die Abwesenheit keines andern den Mann unvollständig macht, sondern nur als ein Mehr oder Minder bemerkt wird. Alle Handlungen des Lebens hängen von ihrem Einfluß ab, und sie ist zu allen erfordert: denn Alles muß mit Verstand geschehn. Sie besteht in einem natürlichen Hange zu Allem, was der Vernunft am angemessensten ist, wodurch man bei allen Fällen das Richtigste ergreift.
Wie ich diesen Abschnitt in mein Fleisch schneiden fühle! Nur anzufangen, was wir vernünftig durchdacht haben, uns selbst, um Ihren Terminus technicus leicht abzuwandeln, Obdacht vor den Fährnissen des Daseins zu geben, wie erstrebens- und lobenswert das wäre! Allein, ich strauchele unablässig, ecke an, verfange mich in den Wirrnissen, den sattsam bekannten, manchmal unmöglichen Begehrlichkeiten, träume hier- und davon, wünsche mir, um ein Beispiel zu geben, die Jugend zurück, ohne doch auf den zusammengerafften Leseschatz verzichten zu wollen, wünsche mir, um ein zweites unvernünftiges Beispiel gleich ranzuhängen, ich hätte Bakers Detail-Fähigkeiten. Noch ein Bekenntnis gestatte ich mir, mit denen kennen Sie sich ja vermutlich aus, in Ihrer Zeit müssen Sie im Beichtstuhl allerlei Ungeheuerlichkeiten gehört haben, ich fühle mich, was ich selten an die Oberfläche lasse, Freund, was aber wie ein Geysir in mir brodelt, vom Betrieb, wie ich die Schriftwerkerei nennen möchte, unbekümmert abgestempelt. Der Betrieb denkt zu Beginn, was ich verstehe, und, was ich weniger begreife, wiederum am Ende ausschließlich ans Erscheinungsbild. Der Mittelteil, wie der Inhalt auch genannt werden könnte, hat zwar seinen Platz, einen Ehrenplatz sogar, muss sich diesen aber zunächst, den Erscheinungsnebel entschlossen durchwatend, erobern. Das Manöver, was anderen anscheinend spielend gelingt, liegt außerhalb meiner nautischen Kunst. Ich reise, um's anders zu formulieren, stets dahin, wohin mich die Seh(n)sucht drängt, nicht in die mir wiederholt angebotenen sicheren Häfen. Ich schreibe, was ich lesen möchte. Meine Schuld, sagen Sie. Ja, das stimmt. Doch genug davon, ich will uns nicht langweilen. Jeremiaden sind angesichts des Vergnügens, denken zu dürfen, eh nicht meine Sache.
Wer sich selbst genügt, lebt, grundsätzlich, mit der Rüge, ein Eigenbrötler zu sein. Dass die Backwaren unverkäuflich sind, sagt andererseits nichts über ihre Eigenschaften aus.
Sich weit in die Kurve zu legen, schafft Raum für andere, die den geraden Pfad gehen wollen. Hat man ein Ziel und erreicht's, zählt der Weg dorthin letztlich wenig.
11. April
Die große Obhut seiner selbst. Sie ist der Thron der Vernunft, die Grundlage der Vorsicht und durch sie gelingt Alles leicht. Sie ist eine Gabe des Himmels, und als die erste und größte, die wünschenswerteste. Sie ist das Hauptstück der Rüstung und von so großer Wichtigkeit, daß die Abwesenheit keines andern den Mann unvollständig macht, sondern nur als ein Mehr oder Minder bemerkt wird. Alle Handlungen des Lebens hängen von ihrem Einfluß ab, und sie ist zu allen erfordert: denn Alles muß mit Verstand geschehn. Sie besteht in einem natürlichen Hange zu Allem, was der Vernunft am angemessensten ist, wodurch man bei allen Fällen das Richtigste ergreift.
Wie ich diesen Abschnitt in mein Fleisch schneiden fühle! Nur anzufangen, was wir vernünftig durchdacht haben, uns selbst, um Ihren Terminus technicus leicht abzuwandeln, Obdacht vor den Fährnissen des Daseins zu geben, wie erstrebens- und lobenswert das wäre! Allein, ich strauchele unablässig, ecke an, verfange mich in den Wirrnissen, den sattsam bekannten, manchmal unmöglichen Begehrlichkeiten, träume hier- und davon, wünsche mir, um ein Beispiel zu geben, die Jugend zurück, ohne doch auf den zusammengerafften Leseschatz verzichten zu wollen, wünsche mir, um ein zweites unvernünftiges Beispiel gleich ranzuhängen, ich hätte Bakers Detail-Fähigkeiten. Noch ein Bekenntnis gestatte ich mir, mit denen kennen Sie sich ja vermutlich aus, in Ihrer Zeit müssen Sie im Beichtstuhl allerlei Ungeheuerlichkeiten gehört haben, ich fühle mich, was ich selten an die Oberfläche lasse, Freund, was aber wie ein Geysir in mir brodelt, vom Betrieb, wie ich die Schriftwerkerei nennen möchte, unbekümmert abgestempelt. Der Betrieb denkt zu Beginn, was ich verstehe, und, was ich weniger begreife, wiederum am Ende ausschließlich ans Erscheinungsbild. Der Mittelteil, wie der Inhalt auch genannt werden könnte, hat zwar seinen Platz, einen Ehrenplatz sogar, muss sich diesen aber zunächst, den Erscheinungsnebel entschlossen durchwatend, erobern. Das Manöver, was anderen anscheinend spielend gelingt, liegt außerhalb meiner nautischen Kunst. Ich reise, um's anders zu formulieren, stets dahin, wohin mich die Seh(n)sucht drängt, nicht in die mir wiederholt angebotenen sicheren Häfen. Ich schreibe, was ich lesen möchte. Meine Schuld, sagen Sie. Ja, das stimmt. Doch genug davon, ich will uns nicht langweilen. Jeremiaden sind angesichts des Vergnügens, denken zu dürfen, eh nicht meine Sache.
Wer sich selbst genügt, lebt, grundsätzlich, mit der Rüge, ein Eigenbrötler zu sein. Dass die Backwaren unverkäuflich sind, sagt andererseits nichts über ihre Eigenschaften aus.
Sich weit in die Kurve zu legen, schafft Raum für andere, die den geraden Pfad gehen wollen. Hat man ein Ziel und erreicht's, zählt der Weg dorthin letztlich wenig.
11. April
97.
Ruf erlangen und behaupten: es ist die Benutzung der Fama. Der Ruf ist schwer zu erlangen: denn er entsteht nur aus ausgezeichneten Eigenschaften: und diese sind so selten, als die mittelmäßigen häufig. Einmal erlangt aber, erhält er sich leicht. Er legt Verbindlichkeiten auf; aber er wirkt noch mehr. Geht er, wegen der Erhabenheit seiner Ursache und seiner Sphäre, bis zur Verehrung; so verleiht er uns eine Art Majestät. Jedoch ist nur der wirklich gegründete Ruf von unvergänglicher Dauer.
Manchmal, Freund, fällt es uns nicht nur schwer, einen Ruf zu erlangen, manchmal fällt es uns gar nicht auf, wenn wir ihn schier überhören. Sei er gut oder schlecht. Denn auch das, um auf letzteres zu kommen, was Sie diesmal nicht ansprechen, ist sowohl möglich als auch, im Allgemeinen, häufiger der Fall: dass uns ein übler Ruf vorauseilt, von dem wir nichts ahnen oder nichts wissen wollen. Die Verleumdung und der Ruf gehen gerne Hand in Hand. Sich gegen den argen Leumund zur Wehr zu setzen, kann zur Lebensaufgabe werden und so viel Kraft kosten, dass wir im Kampf gegen den Rufmord alle unsere Energie für die guten Taten einbüßen, um am Ende, verbittert und gallig, womöglich tatsächlich unserem Zerrbild zu entsprechen, das Übelwollende von uns in die Welt gesetzt haben.
Bleibt, tief in mir, das Wundern, warum wir, häufig, eher dem schlechten als dem guten Ruf vertrauen. Hat's mit dem Wissen um unsere Unzulänglichkeiten zu tun, die uns nur zu wohlbekannt sind? Heutzutage kommt noch erschwerdend hinzu, dass sich alles, das Positive wie das Negative, im Netz verfängt und sich um uns als Ballast schlingt. Wir schleppen, für andere sofort prüfbar, einen unsichtbaren Nichtrettungsring mit uns herum, der entweder zeigt, wer wir sind, oder, was auch unangenehm ist, wer wir nicht sind. Unsere vermeintlichen Errungenschaften sind abrufbar, Freund. Wie verborgene Tätowierungen geben Wikipedia & Co. als eine Art Palimpsest über uns Auskunft oder, was beinahe noch mehr erschreckt, auch nicht.
Haben wir unseren Netzruf geschützt, haben wir keinen zu verlieren. Mithin - eine absurde Folge der Unauffindbarkeit - existieren wir nicht und werden für bestimmte Kreise augen-clicklich zur Persona non grata.
Und auch die unergründliche Reputation, deren Vergänglichkeit ehedem garantiert gewesen war, irgendwann hatte eben jede Schmierkampagne an Schwung verloren, ist derzeit hartnäckig auf Ewigkeit aus: einmal aus falschen oder richtigen Gründen geteert und gefedert zu werden, garantiert, dass der Schmutz und der Hass an uns kleben bleiben. Sich zu wehren, warum das niemand versucht?, höre ich Sie fragen. Es ist eine Sisyphusarbeit. Haben wir den Gipfel mit der klaren Luft erreicht, reißt uns die nächste Schmutzlawine samt Steingepäck schon wieder ins Jauchen(digi)tal.
Ist die Dummheit Legion, steht die Vernunft auf verlorenem Posten - und hat nur die Wahl, sich zurückzuziehen oder heroisch unterzugehen. Beides schwierige Unterfangen.
12. April
Ruf erlangen und behaupten: es ist die Benutzung der Fama. Der Ruf ist schwer zu erlangen: denn er entsteht nur aus ausgezeichneten Eigenschaften: und diese sind so selten, als die mittelmäßigen häufig. Einmal erlangt aber, erhält er sich leicht. Er legt Verbindlichkeiten auf; aber er wirkt noch mehr. Geht er, wegen der Erhabenheit seiner Ursache und seiner Sphäre, bis zur Verehrung; so verleiht er uns eine Art Majestät. Jedoch ist nur der wirklich gegründete Ruf von unvergänglicher Dauer.
Manchmal, Freund, fällt es uns nicht nur schwer, einen Ruf zu erlangen, manchmal fällt es uns gar nicht auf, wenn wir ihn schier überhören. Sei er gut oder schlecht. Denn auch das, um auf letzteres zu kommen, was Sie diesmal nicht ansprechen, ist sowohl möglich als auch, im Allgemeinen, häufiger der Fall: dass uns ein übler Ruf vorauseilt, von dem wir nichts ahnen oder nichts wissen wollen. Die Verleumdung und der Ruf gehen gerne Hand in Hand. Sich gegen den argen Leumund zur Wehr zu setzen, kann zur Lebensaufgabe werden und so viel Kraft kosten, dass wir im Kampf gegen den Rufmord alle unsere Energie für die guten Taten einbüßen, um am Ende, verbittert und gallig, womöglich tatsächlich unserem Zerrbild zu entsprechen, das Übelwollende von uns in die Welt gesetzt haben.
Bleibt, tief in mir, das Wundern, warum wir, häufig, eher dem schlechten als dem guten Ruf vertrauen. Hat's mit dem Wissen um unsere Unzulänglichkeiten zu tun, die uns nur zu wohlbekannt sind? Heutzutage kommt noch erschwerdend hinzu, dass sich alles, das Positive wie das Negative, im Netz verfängt und sich um uns als Ballast schlingt. Wir schleppen, für andere sofort prüfbar, einen unsichtbaren Nichtrettungsring mit uns herum, der entweder zeigt, wer wir sind, oder, was auch unangenehm ist, wer wir nicht sind. Unsere vermeintlichen Errungenschaften sind abrufbar, Freund. Wie verborgene Tätowierungen geben Wikipedia & Co. als eine Art Palimpsest über uns Auskunft oder, was beinahe noch mehr erschreckt, auch nicht.
Haben wir unseren Netzruf geschützt, haben wir keinen zu verlieren. Mithin - eine absurde Folge der Unauffindbarkeit - existieren wir nicht und werden für bestimmte Kreise augen-clicklich zur Persona non grata.
Und auch die unergründliche Reputation, deren Vergänglichkeit ehedem garantiert gewesen war, irgendwann hatte eben jede Schmierkampagne an Schwung verloren, ist derzeit hartnäckig auf Ewigkeit aus: einmal aus falschen oder richtigen Gründen geteert und gefedert zu werden, garantiert, dass der Schmutz und der Hass an uns kleben bleiben. Sich zu wehren, warum das niemand versucht?, höre ich Sie fragen. Es ist eine Sisyphusarbeit. Haben wir den Gipfel mit der klaren Luft erreicht, reißt uns die nächste Schmutzlawine samt Steingepäck schon wieder ins Jauchen(digi)tal.
Ist die Dummheit Legion, steht die Vernunft auf verlorenem Posten - und hat nur die Wahl, sich zurückzuziehen oder heroisch unterzugehen. Beides schwierige Unterfangen.
12. April
98.
Sein Wollen nur in Ziffernschrift. Die Leidenschaften sind die Pforten der Seele. Das praktischeste Wissen besteht in der Verstellungskunst. Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr zu verlieren. Die Zurückhaltung des Vorsichtigen kämpfe gegen das Aufpassen des Forschenden: gegen Luchse an Spürgeist, Tintenfische an Verstecktheit. Selbst unsern Geschmack darf Keiner kennen: damit man ihm nicht begegne, entweder durch Widerspruch oder durch Schmeichelei.
Wer mit verdeckten Karten spielt, läuft Gefahr, in einer Kreuzbubediktatur aufzuwachen. Freund, es dürfte Sie überraschen, aber in den letzten Jahrhunderten haben sich Menschen zu Parteien zusammengetan und Farbe bekannt. In einer Demokratie sind die Einzelnen gemeinsam stark. Allerdings: man muss sich engagieren, eine Meinung entwickeln, mit den Vorlieben hausieren gehen. Spätestens in der Wahlkabine. Was, meines Erachtens, nicht reicht, um eine Demokratie wachzuhalten; aber die Teilhabe an der würdigsten aller politischen Systeme ist ein anderes Thema, ein weites, ein schwer zu beackerndes Feld.
Disput sei die demokratische Währung, der Kompromiss das gemeinsam geschaffene Produkt, dessen Früchte zusammen geerntet und egalitär geteilt werden.
Den Raubtierkapitalisten, die eine Sache sagen, eine andere machen, die nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen, legt man in demokratischen Staaten Fesseln an. Steuergesetze zwingen sie, ihre Gewinne offenzulegen, Arbeiterrechte nehmen die Unternehmer in die verbindliche Pflicht, sich mit Gewerkschaften und Betriebsräten an einen Tisch zu setzen und fürderhin die Konditionen auszuhandeln. Gewiss, es gab, gibt und wird immer Schurken geben, die Vorschriften unterlaufen wollen.
Steuerhinterziehung ist ein Spiel, das den Verstellungskünstlern, die Sie so bewundern, gefallen hätte. Doch der Preis, den man zahlt, wird man beim Abzocken erwischt, ist hoch. Neben Geld- und Gefängnisstrafen haftet auch der Fäulnisgeruch des Asozialen an den Betrügern, die sich in ehrenhafter Gesellschaft nicht mehr ungestört bewegen können. Dass es Biotope, wie Münchner Fußballvereine oder Hamburger Rockerclubs, gibt, wo das weiterhin möglich ist, sagt mehr über diese Organisationen als über eine Demokratie aus.
Wer nur an sich denkt, findet keine gütige Gegenliebe, sondern gleichgültige Raffgier.
Im Egoismus haust die schlimmste Einsamkeit.
Zu teilen, heißt, frei zu atmen. Zu horten, heißt, zu ersticken.
Allein in der Kunst sei das Geheimnis vonnöten. Wer hier alles sagt und alles gibt, ergibt sich dem Markt.
12. April
Sein Wollen nur in Ziffernschrift. Die Leidenschaften sind die Pforten der Seele. Das praktischeste Wissen besteht in der Verstellungskunst. Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr zu verlieren. Die Zurückhaltung des Vorsichtigen kämpfe gegen das Aufpassen des Forschenden: gegen Luchse an Spürgeist, Tintenfische an Verstecktheit. Selbst unsern Geschmack darf Keiner kennen: damit man ihm nicht begegne, entweder durch Widerspruch oder durch Schmeichelei.
Wer mit verdeckten Karten spielt, läuft Gefahr, in einer Kreuzbubediktatur aufzuwachen. Freund, es dürfte Sie überraschen, aber in den letzten Jahrhunderten haben sich Menschen zu Parteien zusammengetan und Farbe bekannt. In einer Demokratie sind die Einzelnen gemeinsam stark. Allerdings: man muss sich engagieren, eine Meinung entwickeln, mit den Vorlieben hausieren gehen. Spätestens in der Wahlkabine. Was, meines Erachtens, nicht reicht, um eine Demokratie wachzuhalten; aber die Teilhabe an der würdigsten aller politischen Systeme ist ein anderes Thema, ein weites, ein schwer zu beackerndes Feld.
Disput sei die demokratische Währung, der Kompromiss das gemeinsam geschaffene Produkt, dessen Früchte zusammen geerntet und egalitär geteilt werden.
Den Raubtierkapitalisten, die eine Sache sagen, eine andere machen, die nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern wollen, legt man in demokratischen Staaten Fesseln an. Steuergesetze zwingen sie, ihre Gewinne offenzulegen, Arbeiterrechte nehmen die Unternehmer in die verbindliche Pflicht, sich mit Gewerkschaften und Betriebsräten an einen Tisch zu setzen und fürderhin die Konditionen auszuhandeln. Gewiss, es gab, gibt und wird immer Schurken geben, die Vorschriften unterlaufen wollen.
Steuerhinterziehung ist ein Spiel, das den Verstellungskünstlern, die Sie so bewundern, gefallen hätte. Doch der Preis, den man zahlt, wird man beim Abzocken erwischt, ist hoch. Neben Geld- und Gefängnisstrafen haftet auch der Fäulnisgeruch des Asozialen an den Betrügern, die sich in ehrenhafter Gesellschaft nicht mehr ungestört bewegen können. Dass es Biotope, wie Münchner Fußballvereine oder Hamburger Rockerclubs, gibt, wo das weiterhin möglich ist, sagt mehr über diese Organisationen als über eine Demokratie aus.
Wer nur an sich denkt, findet keine gütige Gegenliebe, sondern gleichgültige Raffgier.
Im Egoismus haust die schlimmste Einsamkeit.
Zu teilen, heißt, frei zu atmen. Zu horten, heißt, zu ersticken.
Allein in der Kunst sei das Geheimnis vonnöten. Wer hier alles sagt und alles gibt, ergibt sich dem Markt.
12. April
99.
Wirklichkeit und Schein. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind; sondern für das, was sie scheinen. Selten sind die, welche ins Innere schauen, und Viele die, welche sich an den Schein halten. Recht zu haben, reicht nicht aus; wenn mit dem Schein der Arglist.
Sophistisch, Freund, ließe sich ein Hin-und-Wider über das Wesen des Lampenscheins anfangen. Was ist Licht? Ein Anschein, der vergeht, wenn die Kerze abgebrannt oder die Lampe ausgeschaltet ist?
Ist das Anscheinende - folglich das Nicht-So oder das Noch-nicht-So, denn im Anscheinenden steckt, wenigstens für mich, stets die Möglichkeit des echten Lichts, sagen wir: in der sehr frühen Morgendämmerung, wenn sich der Himmel blaufärbt, die Sonne aber noch nicht in unseren Breiten ihr Haupt gehoben hat -, ist das Anscheinende nicht gelegentlich(t) die strahlendere Quelle, deren enorme Befähigung in der potentiellen Tauglichkeit, was andere Unwirklichkeit nennen könnten, liegt?
Gewiss, bei Ihnen dreht's sich, wieder mal, um die Arglist und das hausbackene Verkennen der - nun benutze ich ein wichtiges Beiwort, das Ihr Translator bislang vermieden hat - authentischen Dinge. Jenes Was-sie-sind, also die Authentizität der Dinge, macht mich seit jeher unruhig. Den Dingen, wie's so schön heißt, auf den Grund zu gehen, dabei ohne Geländer zu denken, sei fraglos ein wagemutiges Unterfangen, dessen Kraft- und elendige Zeitrauberei wir nicht unterschätzen sollten. Zwar lockt einerseits Erkenntnisgewinn, der sehr wohl auch im Scheitern steckt, andererseits droht eben genauso der Verlust an Ist-Teilhabe.
Sie merken, ich schwanke. Immer schon schwanke ich, ob das Glück der großzügigen Oberflächlichkeit, welches viele zufrieden und auf Dauer heiter macht, vielleicht der unendlichen Untersuchung des Kleinteiligen vorzuziehen wäre.
Ich habe, ehrlich, keine Ahnung und fühle doch - und ich sage das, um das etwas zu neblige Register zu wechseln - beim körperlichen Vergessen, in den Armen der anderen, eine unmittelbare Sinnhaftigkeit, die mich, kurzfristig, zu einem frohen Menschen macht.
Was ist, sei nicht für uns, sondern sei für sich. Ist es nur für uns, sei es kein Ding, sondern Teil des Subjektiven.
Wer das Objketive sucht, findet sich, im besten Fall, selbst.
13. April
Wirklichkeit und Schein. Die Dinge gelten nicht für das, was sie sind; sondern für das, was sie scheinen. Selten sind die, welche ins Innere schauen, und Viele die, welche sich an den Schein halten. Recht zu haben, reicht nicht aus; wenn mit dem Schein der Arglist.
Sophistisch, Freund, ließe sich ein Hin-und-Wider über das Wesen des Lampenscheins anfangen. Was ist Licht? Ein Anschein, der vergeht, wenn die Kerze abgebrannt oder die Lampe ausgeschaltet ist?
Ist das Anscheinende - folglich das Nicht-So oder das Noch-nicht-So, denn im Anscheinenden steckt, wenigstens für mich, stets die Möglichkeit des echten Lichts, sagen wir: in der sehr frühen Morgendämmerung, wenn sich der Himmel blaufärbt, die Sonne aber noch nicht in unseren Breiten ihr Haupt gehoben hat -, ist das Anscheinende nicht gelegentlich(t) die strahlendere Quelle, deren enorme Befähigung in der potentiellen Tauglichkeit, was andere Unwirklichkeit nennen könnten, liegt?
Gewiss, bei Ihnen dreht's sich, wieder mal, um die Arglist und das hausbackene Verkennen der - nun benutze ich ein wichtiges Beiwort, das Ihr Translator bislang vermieden hat - authentischen Dinge. Jenes Was-sie-sind, also die Authentizität der Dinge, macht mich seit jeher unruhig. Den Dingen, wie's so schön heißt, auf den Grund zu gehen, dabei ohne Geländer zu denken, sei fraglos ein wagemutiges Unterfangen, dessen Kraft- und elendige Zeitrauberei wir nicht unterschätzen sollten. Zwar lockt einerseits Erkenntnisgewinn, der sehr wohl auch im Scheitern steckt, andererseits droht eben genauso der Verlust an Ist-Teilhabe.
Sie merken, ich schwanke. Immer schon schwanke ich, ob das Glück der großzügigen Oberflächlichkeit, welches viele zufrieden und auf Dauer heiter macht, vielleicht der unendlichen Untersuchung des Kleinteiligen vorzuziehen wäre.
Ich habe, ehrlich, keine Ahnung und fühle doch - und ich sage das, um das etwas zu neblige Register zu wechseln - beim körperlichen Vergessen, in den Armen der anderen, eine unmittelbare Sinnhaftigkeit, die mich, kurzfristig, zu einem frohen Menschen macht.
Was ist, sei nicht für uns, sondern sei für sich. Ist es nur für uns, sei es kein Ding, sondern Teil des Subjektiven.
Wer das Objketive sucht, findet sich, im besten Fall, selbst.
13. April
100.
Ein vorurteilsfreier Mann, ein weiser Christ, ein philosophischer Hofmann – seyn, aber nicht scheinen, geschweige affektiren. Die Philosophie ist außer Ansehn gekommen: und doch war sie die höchste Beschäftigung der Weisen. Die Wissenschaft der Denker hat alle Achtung verloren. Seneka führte sie in Rom ein; eine Zeit lang fand sie Gunst bei Hofe: jetzt gilt sie für eine Ungebührlichkeit. Und doch war stets die Aufdeckung des Trugs die Nahrung des denkenden Geistes, die Freude der Rechtschaffenen.
Anstatt mich, Freund, wozu ich neige, mit Ihrem unsäglichen Standesgehorsam, Ihrer kläglichen Hofgläubigkeit anzulegen, was, zumal in der Wiederholung, nichts bringt, da ich nicht Ihr Leben leben muss, Sie nicht das meine, will ich einen Stoßseufzer der Begeisterung ob des letzten Satzes frohlocken. Die Aufdeckung des Trugs sei die Nahrung des denkenden Geistes. Ich schwelge, bin, was ich doch will, warum ich mit Ihnen korrespondiere, entzückt und bewegt.
Wer den Betrug erträgt, schleppt sich eilfertig zu Tode.
Die Wahrheit sei die bekömmlichste Nahrung des Verstandes, die Lüge, zumindest zeitweise, die des Herzens.
13. April
Ein vorurteilsfreier Mann, ein weiser Christ, ein philosophischer Hofmann – seyn, aber nicht scheinen, geschweige affektiren. Die Philosophie ist außer Ansehn gekommen: und doch war sie die höchste Beschäftigung der Weisen. Die Wissenschaft der Denker hat alle Achtung verloren. Seneka führte sie in Rom ein; eine Zeit lang fand sie Gunst bei Hofe: jetzt gilt sie für eine Ungebührlichkeit. Und doch war stets die Aufdeckung des Trugs die Nahrung des denkenden Geistes, die Freude der Rechtschaffenen.
Anstatt mich, Freund, wozu ich neige, mit Ihrem unsäglichen Standesgehorsam, Ihrer kläglichen Hofgläubigkeit anzulegen, was, zumal in der Wiederholung, nichts bringt, da ich nicht Ihr Leben leben muss, Sie nicht das meine, will ich einen Stoßseufzer der Begeisterung ob des letzten Satzes frohlocken. Die Aufdeckung des Trugs sei die Nahrung des denkenden Geistes. Ich schwelge, bin, was ich doch will, warum ich mit Ihnen korrespondiere, entzückt und bewegt.
Wer den Betrug erträgt, schleppt sich eilfertig zu Tode.
Die Wahrheit sei die bekömmlichste Nahrung des Verstandes, die Lüge, zumindest zeitweise, die des Herzens.
13. April
101.
Die eine Hälfte der Welt lacht über die andre, und Narren sind Alle. Jedes ist gut und Jedes ist schlecht; wie es die Stimmen wollen. Was Dieser wünscht, haßt Jener. Ein unerträglicher Narr ist, wer alles nach seinen Begriffen ordnen will. Nicht von Einem Beifall allein hängen die Vollkommenheiten ab. So viele Sinne als Köpfe, und so verschieden. Es giebt keinen Fehler, der nicht seinen Liebhaber fände: auch dürfen wir nicht den Muth verlieren, wenn unsre Sachen Einigen nicht gefallen: denn Andre werden nicht ausbleiben, die sie zu schätzen wissen: aber auch über den Beifall dieser darf man nicht eitel werden; denn wieder Andre werden sie verwerfen. Die Richtschnur der wahren Zufriedenheit ist der Beifall berühmter Männer und die in dieser Gattung eine Stimme haben. Man lebt nicht von Einer Stimme, noch von Einer Mode, noch von Einem Jahrhundert.
Kennen Sie das, Freund, wenn man sich nicht richtig konzentrieren kann, weil man, am Tag zuvor, nicht gesagt hat, was man sagen wollte? Was man eigentlich weiß? Weil man sich und die Wahrheiten - und ich sage bewusst nicht seine Wahrheiten - zuerst sammeln musste, obwohl jemand in unserer Anwesenheit vor anderen dreist gelogen hat?
Der Relativismus, vom dem Sie sprechen, die saloppe Idee, dass jede Sache gut und gleichzeitig schlecht sei, dass wir alle irgendwie Narren seien, stimmt ganz und gar nicht. Wahrheiten existieren - genau wie Lügen.
Gestern, bei einer Podiumsveranstaltung im Historischen Museum in Berlin zum Zustand der Demokratie, sind, als die Fragerunde eröffnet wurde, ein Mann und eine Frau im Publikum aufgestanden, kurz nacheinander, als hätten sie sich abgesprochen, und haben mehr oder minder versteckte rechtsradikale Bemerkungen gemacht. Und, Freund, es hat sich bei dieser öffentlichen Intervention nicht um einen Zufall gehandelt, natürlich nicht. Das Stören von kulturellen und gesellschaftspolitischen Veranstaltungen empfiehlt in einem Strategiepapier die fremden- und europafeindliche AfD seit längerem ihren Mitgliedern. Ich habe es nun bereits mehrmals selbst erlebt. Der Druck auf Theater und Museen durch antiliberale Kräfte ist sowohl auf kommunaler als auch Länderebene enorm. Der Mann und die Frau waren also Emissäre ihrer Partei oder, neben der AfD schicken auch identitäre Gruppen Störer, einer rechtsradikalen Bewegung. Der Mann, ein Mittfünfziger, der sich als Elektroingenieur bezeichnet hat, mit dem ich mich, ganz bewusst, nach der Veranstaltung noch unterhalten und inhaltlich auseinandergesetzt habe, hat in seinem Redebeitrag, um eine Frage hat es sich eher nicht gehandelt, die Grünen beschuldigt, eine, Zitat, "aggressive Rhetorik", Zitatende, gegen Rechtspopulisten zu zeigen. Auf konkrete Beispiele hat er dabei verzichtet.
Eine Lüge entwickelt eine Kraft, die tausend Wahrheiten nicht haben.
Mir gegenüber hat er dann noch die typischen Formulierungen rechtsradikaler Männer benutzt. Beispielsweise hat er Männer, die in seinem AfD-Orstverein "nicht hart genug waren", "Luschen" genannt und, im selben Atemzug, eine Frauenquote verhöhnt. Dass der AfDler Klaus Theweleits Männerphantasien, ein Buch über verhärtete Soldatenkörper und eiskalte maskuline Seelen, das ich ihm als Lektüre empfohlen habe, anrührt, ist wohl ausgeschlossen. Zumal er nicht einmal, was ich ihn gefragt habe, die krawalligen Reden seiner Partei im Bundestag oder die autoritär-nationalradikalen Flügel-Pamphlete von Höcke und Kubitschecks Neue Rechte-Hasstriaden in der Sezession auf eine offene Gesellschaft gelesen oder auch nur gekannt hat.
Das Motto der rechtsradikalen Zeitschrift Sezession lautet übrigens etiam si omnes, ego non, was, frei übersetzt, etwa heißt: Auch wenn alle mitmachen, ich nicht. Die Perversion dieses Wahlspruchs, da doch gerade die Deutschen sich im Zweiten Weltkrieg beim Massenmord als absolute Mitläufer entpuppt haben, liegt, intellektuell, auf der Höhe des Wahlplakats, das den NPD-Politiker Voigt auf dem Motorrad sitzend mit dem Slogan "Gas geben" zeigt. Faschismus pur.
Die Störerin wiederum, die auf der Museumsbühne, dank der Akustik im Zeughausinnenhof, kaum zu verstehen war, die Diskutanten konnten dementsprechend nicht antworten, hat ihren wütenden, rechtsextremen Redebeitrag mit Hass auf muslimische Männer, die deutsche Frauen belästigen würden, gewürzt. Die Zahlen sagen jedoch etwas ganz anderes. Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland, wie in allen anderen Ländern, zu einem Großteil häusliche Gewalt. Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik geht hervor, "dass es im Jahr 2016 bei den Delikten Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen insgesamt 1036 Fälle mit weiblichen Opfern gab. In 601 Fällen blieb es beim Versuch, 435 Frauen wurden getötet. Von diesen 435 Opfern lebten 163 gemeinsam mit dem Tatverdächtigen in einem Haushalt, 52 weitere standen in einem Beziehungs- oder Betreuungsverhältnis, bei 159 weiteren vollendeten Fällen gab es eine räumliche und/oder soziale Nähe zwischen Opfer und Tatverdächtigen. In 26 Fällen gab es keine entsprechende Nähe, in 35 Fällen war es ungeklärt, ob es eine Verbindung gegeben hatte." (Quelle: Faktenfinder Tagesschau)
Ich erwähne diese Zahlen, Freund, um, wenn ich das nächste Mal in einer vergleichbaren Situation bin, Argumente in petto zu haben.
Menschlichkeit kennt keine Grenzen. Wer Grenzen errichtet, ist so gut wie niemals von Nächstenliebe motiviert.
Mein Ich sei stets ein Wir und ein Teil des Du.
14. April
Die eine Hälfte der Welt lacht über die andre, und Narren sind Alle. Jedes ist gut und Jedes ist schlecht; wie es die Stimmen wollen. Was Dieser wünscht, haßt Jener. Ein unerträglicher Narr ist, wer alles nach seinen Begriffen ordnen will. Nicht von Einem Beifall allein hängen die Vollkommenheiten ab. So viele Sinne als Köpfe, und so verschieden. Es giebt keinen Fehler, der nicht seinen Liebhaber fände: auch dürfen wir nicht den Muth verlieren, wenn unsre Sachen Einigen nicht gefallen: denn Andre werden nicht ausbleiben, die sie zu schätzen wissen: aber auch über den Beifall dieser darf man nicht eitel werden; denn wieder Andre werden sie verwerfen. Die Richtschnur der wahren Zufriedenheit ist der Beifall berühmter Männer und die in dieser Gattung eine Stimme haben. Man lebt nicht von Einer Stimme, noch von Einer Mode, noch von Einem Jahrhundert.
Kennen Sie das, Freund, wenn man sich nicht richtig konzentrieren kann, weil man, am Tag zuvor, nicht gesagt hat, was man sagen wollte? Was man eigentlich weiß? Weil man sich und die Wahrheiten - und ich sage bewusst nicht seine Wahrheiten - zuerst sammeln musste, obwohl jemand in unserer Anwesenheit vor anderen dreist gelogen hat?
Der Relativismus, vom dem Sie sprechen, die saloppe Idee, dass jede Sache gut und gleichzeitig schlecht sei, dass wir alle irgendwie Narren seien, stimmt ganz und gar nicht. Wahrheiten existieren - genau wie Lügen.
Gestern, bei einer Podiumsveranstaltung im Historischen Museum in Berlin zum Zustand der Demokratie, sind, als die Fragerunde eröffnet wurde, ein Mann und eine Frau im Publikum aufgestanden, kurz nacheinander, als hätten sie sich abgesprochen, und haben mehr oder minder versteckte rechtsradikale Bemerkungen gemacht. Und, Freund, es hat sich bei dieser öffentlichen Intervention nicht um einen Zufall gehandelt, natürlich nicht. Das Stören von kulturellen und gesellschaftspolitischen Veranstaltungen empfiehlt in einem Strategiepapier die fremden- und europafeindliche AfD seit längerem ihren Mitgliedern. Ich habe es nun bereits mehrmals selbst erlebt. Der Druck auf Theater und Museen durch antiliberale Kräfte ist sowohl auf kommunaler als auch Länderebene enorm. Der Mann und die Frau waren also Emissäre ihrer Partei oder, neben der AfD schicken auch identitäre Gruppen Störer, einer rechtsradikalen Bewegung. Der Mann, ein Mittfünfziger, der sich als Elektroingenieur bezeichnet hat, mit dem ich mich, ganz bewusst, nach der Veranstaltung noch unterhalten und inhaltlich auseinandergesetzt habe, hat in seinem Redebeitrag, um eine Frage hat es sich eher nicht gehandelt, die Grünen beschuldigt, eine, Zitat, "aggressive Rhetorik", Zitatende, gegen Rechtspopulisten zu zeigen. Auf konkrete Beispiele hat er dabei verzichtet.
Eine Lüge entwickelt eine Kraft, die tausend Wahrheiten nicht haben.
Mir gegenüber hat er dann noch die typischen Formulierungen rechtsradikaler Männer benutzt. Beispielsweise hat er Männer, die in seinem AfD-Orstverein "nicht hart genug waren", "Luschen" genannt und, im selben Atemzug, eine Frauenquote verhöhnt. Dass der AfDler Klaus Theweleits Männerphantasien, ein Buch über verhärtete Soldatenkörper und eiskalte maskuline Seelen, das ich ihm als Lektüre empfohlen habe, anrührt, ist wohl ausgeschlossen. Zumal er nicht einmal, was ich ihn gefragt habe, die krawalligen Reden seiner Partei im Bundestag oder die autoritär-nationalradikalen Flügel-Pamphlete von Höcke und Kubitschecks Neue Rechte-Hasstriaden in der Sezession auf eine offene Gesellschaft gelesen oder auch nur gekannt hat.
Das Motto der rechtsradikalen Zeitschrift Sezession lautet übrigens etiam si omnes, ego non, was, frei übersetzt, etwa heißt: Auch wenn alle mitmachen, ich nicht. Die Perversion dieses Wahlspruchs, da doch gerade die Deutschen sich im Zweiten Weltkrieg beim Massenmord als absolute Mitläufer entpuppt haben, liegt, intellektuell, auf der Höhe des Wahlplakats, das den NPD-Politiker Voigt auf dem Motorrad sitzend mit dem Slogan "Gas geben" zeigt. Faschismus pur.
Die Störerin wiederum, die auf der Museumsbühne, dank der Akustik im Zeughausinnenhof, kaum zu verstehen war, die Diskutanten konnten dementsprechend nicht antworten, hat ihren wütenden, rechtsextremen Redebeitrag mit Hass auf muslimische Männer, die deutsche Frauen belästigen würden, gewürzt. Die Zahlen sagen jedoch etwas ganz anderes. Gewalt gegen Frauen ist in Deutschland, wie in allen anderen Ländern, zu einem Großteil häusliche Gewalt. Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik geht hervor, "dass es im Jahr 2016 bei den Delikten Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen insgesamt 1036 Fälle mit weiblichen Opfern gab. In 601 Fällen blieb es beim Versuch, 435 Frauen wurden getötet. Von diesen 435 Opfern lebten 163 gemeinsam mit dem Tatverdächtigen in einem Haushalt, 52 weitere standen in einem Beziehungs- oder Betreuungsverhältnis, bei 159 weiteren vollendeten Fällen gab es eine räumliche und/oder soziale Nähe zwischen Opfer und Tatverdächtigen. In 26 Fällen gab es keine entsprechende Nähe, in 35 Fällen war es ungeklärt, ob es eine Verbindung gegeben hatte." (Quelle: Faktenfinder Tagesschau)
Ich erwähne diese Zahlen, Freund, um, wenn ich das nächste Mal in einer vergleichbaren Situation bin, Argumente in petto zu haben.
Menschlichkeit kennt keine Grenzen. Wer Grenzen errichtet, ist so gut wie niemals von Nächstenliebe motiviert.
Mein Ich sei stets ein Wir und ein Teil des Du.
14. April
102.
Für große Bissen des Glücks einen Magen haben. Am Leibe der Gescheutheit ist ein nicht unwichtiger Theil ein großer Magen: denn das Große besteht aus großen Theilen. Große Glücksfälle setzen den nicht in Verlegenheit, der noch größrer würdig ist. Was Manchem schon Ueberfüllung, ist dem Andern noch Hunger. Vielen giebt ein ansehnliches Gericht gleich Unverdaulichkeit, wegen der Kleinheit ihrer Natur, die zu hohen Aemtern weder geboren, noch erzogen ist: ihr Benehmen zeigt danach gleich eine gewisse Säure, die von der unverdienten Ehre aufsteigenden Dämpfe machen ihnen den Kopf schwindlig, wodurch sie an hohen Orten große Gefahr laufen, und sie möchten platzen, weil ihr Glück in ihnen keinen Raum findet. Dagegen zeige der große Mann, daß er noch viel Gelaß für größere Dinge hat und mit besondrer Sorgfalt meide er Alles, was Anzeichen eines kleinen Herzens geben könnte.
Sich zu distinguieren, selbst wenn das Glück freiwillig des Wegs kommt, uns freundlich anspricht, sich unserer Eigenarten annimmt, das, Freund, bewegt Sie? Selbst in solch entzückenden Momenten möchten Sie sich noch unterscheiden? Oder sollen sich die großen Glücksritter von den kleinen Messeldienern, die gar nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht vor Überschwang, die schlichtweg platzen könnten vor Duselstolz, hohngrinsend absetzen? Meinen Sie das alles im Ernst, was Sie dort aufgeblasen in die Weltenluft furzend pusten? Von oben herab? Als stünden Sie über den anderen, hielten eine Mahnpredigt und kanzelten uns gut gelaunt ab? Ja, Ihr Standesdünkel hat mit der Hierarchiefinsternis Ihrer Zeit zu tun - andererseits hat 100 Jahre vor Ihnen Erasmus von Rotterdam seine obrigkeitskritischen und aufklärerischen Menschen-werden-nicht-als-Menschen-geboren-sondern-als-solche-erzogen-Schriften veröffentlicht -, wir sprachen darüber, aber eben auch mit Enttäuschung und Kalkül hat Ihre snobistische Hofart zu tun, um nicht gleich zu vermuten: mit dem Charakter, den Sie sich selbst ausgebildet haben; denn dass Sie schon als Kind über das einfache Hochgefühl der anderen Kleinen herablassend gelacht haben, mag ich mir nicht vorstellen.
Wer viel Speichel lecken will, dem tritt man irgendwann auf die Zunge.
15. April
Für große Bissen des Glücks einen Magen haben. Am Leibe der Gescheutheit ist ein nicht unwichtiger Theil ein großer Magen: denn das Große besteht aus großen Theilen. Große Glücksfälle setzen den nicht in Verlegenheit, der noch größrer würdig ist. Was Manchem schon Ueberfüllung, ist dem Andern noch Hunger. Vielen giebt ein ansehnliches Gericht gleich Unverdaulichkeit, wegen der Kleinheit ihrer Natur, die zu hohen Aemtern weder geboren, noch erzogen ist: ihr Benehmen zeigt danach gleich eine gewisse Säure, die von der unverdienten Ehre aufsteigenden Dämpfe machen ihnen den Kopf schwindlig, wodurch sie an hohen Orten große Gefahr laufen, und sie möchten platzen, weil ihr Glück in ihnen keinen Raum findet. Dagegen zeige der große Mann, daß er noch viel Gelaß für größere Dinge hat und mit besondrer Sorgfalt meide er Alles, was Anzeichen eines kleinen Herzens geben könnte.
Sich zu distinguieren, selbst wenn das Glück freiwillig des Wegs kommt, uns freundlich anspricht, sich unserer Eigenarten annimmt, das, Freund, bewegt Sie? Selbst in solch entzückenden Momenten möchten Sie sich noch unterscheiden? Oder sollen sich die großen Glücksritter von den kleinen Messeldienern, die gar nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht vor Überschwang, die schlichtweg platzen könnten vor Duselstolz, hohngrinsend absetzen? Meinen Sie das alles im Ernst, was Sie dort aufgeblasen in die Weltenluft furzend pusten? Von oben herab? Als stünden Sie über den anderen, hielten eine Mahnpredigt und kanzelten uns gut gelaunt ab? Ja, Ihr Standesdünkel hat mit der Hierarchiefinsternis Ihrer Zeit zu tun - andererseits hat 100 Jahre vor Ihnen Erasmus von Rotterdam seine obrigkeitskritischen und aufklärerischen Menschen-werden-nicht-als-Menschen-geboren-sondern-als-solche-erzogen-Schriften veröffentlicht -, wir sprachen darüber, aber eben auch mit Enttäuschung und Kalkül hat Ihre snobistische Hofart zu tun, um nicht gleich zu vermuten: mit dem Charakter, den Sie sich selbst ausgebildet haben; denn dass Sie schon als Kind über das einfache Hochgefühl der anderen Kleinen herablassend gelacht haben, mag ich mir nicht vorstellen.
Wer viel Speichel lecken will, dem tritt man irgendwann auf die Zunge.
15. April
103.
Jeder sei, in seiner Art, majestätisch. Wenn er auch kein König ist, müssen doch alle seine Handlungen, nach seiner Sphäre, eines Königs würdig seyn und sein Thun, in den Grenzen seines Standes und Berufs, königlich. Erhaben seien seine Handlungen, von hohem Flug seine Gedanken und in allem seinem Treiben stelle er einen König an Verdienst, wenn auch nicht an Macht dar: denn das wahrhaft Königliche besteht in der Untadelhaftigkeit der Sitten: und so wird der die Größe nicht beneiden dürfen, der ihr zum Vorbild dienen könnte. Besonders aber sollte denen, welche dem Throne näher stehn, etwas von der wahren Überlegenheit ankleben und sie sollten lieber die wahrhaft Königlichen Eigenschaften als ein eitles Ceremoniell sich anzueignen suchen, nicht eine leere Aufgeblasenheit affektiren, sondern das wesentlich Erhabene annehmen.
Also, vergessen wir einfach die einschläfernde Vergleichsmüdigkeit, die mich rasant überkommt, sobald Sie vom Königlichen als Vorbild schwafeln. Gehen wir, Freund, vielmehr gleich in medias res: widmen wir uns der leeren Aufgeblasenheit und dem eitlen Zerermoniell, das Sie am fetten Schlafittchen packen und humorlos an den Hungerpranger stellen.
Die falsche Standpauke der aufgeblasenen Zeremoniemeister ist, wohl wahr, a pain in the ass, wie die Engländer sagen. Oder, um François Villons anarchische Lebensliebe anzuführen, um die Arroganz durchzurütteln und ein Fortunebeispiel in schönster Vollendung zu geben, wie's eben auch ginge: wir waren zu zweit, aber hatten nur ein Herz.
Der Wert der Gerüste sei zeitlich begrenzt.
Wer unentwegt Wert auf Ummantelung legt, friert alsbald in Sommernächten.
15. April
Jeder sei, in seiner Art, majestätisch. Wenn er auch kein König ist, müssen doch alle seine Handlungen, nach seiner Sphäre, eines Königs würdig seyn und sein Thun, in den Grenzen seines Standes und Berufs, königlich. Erhaben seien seine Handlungen, von hohem Flug seine Gedanken und in allem seinem Treiben stelle er einen König an Verdienst, wenn auch nicht an Macht dar: denn das wahrhaft Königliche besteht in der Untadelhaftigkeit der Sitten: und so wird der die Größe nicht beneiden dürfen, der ihr zum Vorbild dienen könnte. Besonders aber sollte denen, welche dem Throne näher stehn, etwas von der wahren Überlegenheit ankleben und sie sollten lieber die wahrhaft Königlichen Eigenschaften als ein eitles Ceremoniell sich anzueignen suchen, nicht eine leere Aufgeblasenheit affektiren, sondern das wesentlich Erhabene annehmen.
Also, vergessen wir einfach die einschläfernde Vergleichsmüdigkeit, die mich rasant überkommt, sobald Sie vom Königlichen als Vorbild schwafeln. Gehen wir, Freund, vielmehr gleich in medias res: widmen wir uns der leeren Aufgeblasenheit und dem eitlen Zerermoniell, das Sie am fetten Schlafittchen packen und humorlos an den Hungerpranger stellen.
Die falsche Standpauke der aufgeblasenen Zeremoniemeister ist, wohl wahr, a pain in the ass, wie die Engländer sagen. Oder, um François Villons anarchische Lebensliebe anzuführen, um die Arroganz durchzurütteln und ein Fortunebeispiel in schönster Vollendung zu geben, wie's eben auch ginge: wir waren zu zweit, aber hatten nur ein Herz.
Der Wert der Gerüste sei zeitlich begrenzt.
Wer unentwegt Wert auf Ummantelung legt, friert alsbald in Sommernächten.
15. April
104.
Den Aemtern den Puls gefühlt haben. Ihre mannigfaltige Verschiedenheit zu kennen, ist eine meisterliche Kunde, die Aufmerksamkeit verlangt. Einige erfordern Muth, andere scharfen Verstand. Leichter zu verwalten sind die, wobei es auf Rechtschaffenheit, und schwerer die, wobei es auf Geschicklichkeit ankommt. Zu jenen gehört nichts weiter als ein rechtlicher Karakter: für diese hingegen reicht alle Aufmerksamkeit und Eifer nicht aus. Es ist eine mühsame Beschäftigung, Menschen zu regieren, und vollends Narren oder Dummköpfe. Doppelten Verstand hat man nöthig bei denen, die keinen haben. Unerträglich aber sind die Aemter, welche den ganzen Menschen in Anspruch nehmen, zu gezählten Stunden und bei bestimmter Materie: besser sind die, welche keinen Ueberdruß verursachen, indem sie den Ernst mit Mannigfaltigkeit versetzen; denn die Abwechselung muntert auf. Des größten Ansehns genießen die, wobei die Abhängigkeit geringer, oder doch entfernter ist. Die schlimmsten aber sind die, wegen derer man in dieser und noch mehr in jener Welt schwitzen muß.
Die Berufswahl, Freund, sei eines der laizistischen Grundrechte. Wohl ist mir klar, dass zwischen Ihrer Idee des Amtes, wobei Sie, stillschweigend, vom Berufenwerden und nicht der eigenen Berufung, die wir fühlen, da uns etwas interessiert, ausgehen, wohl ist mir also klar, dass zwischen Ihrer Idee des autokratischen Amtes, gerade des höchsten Staatsamtes und der Ministerämter eines Kabinetts, und der von mir erwähnten demokratischen Berufswahl beinahe unüberbrückbare Welten liegen. Das Seltsame ist allerdings, dass Ihre Vorstellung der Bestimmung, gerade wenn es sich um die Besetzung von Posten durch Frauen oder im Staatsgebiet lebende Minderheiten handelt, weiterhin unterschwellig zur Ungleichbehandlung führt. Zwingt man Männer nicht per Quote dazu, fördern und befördern viele von ihnen konsequent andere Männer, die wie sie selbst aussehen und sprechen. Und dass Sie, als Sie die durchaus beachtenswerten Sätze über die Vielfalt und die Herausforderungen eines Amtes geschrieben haben, nur an Männer gedacht haben, darüber müssen wir kaum reden.
Sind alle freiwillig blind, fällt das Sehen den wenigsten ein.
Der von Ihnen ausgemachte Widerspruch zwischen Rechtschaffenheit und Geschicklichkeit, öffnet der Unredlichkeit, solange sie sich der Aufgabe gewachsen zeigt, Tür und Tor. Die Auffassung, dass es wichtiger sei, etwas wie auch immer zu stemmen, als dass es, dank ewiger und fairer Deliberation, gar nicht oder erst mit wahnsinniger Verspätung in Angriff genommen wird, bleibt in Strong-Men-Gesellschaften der Weg des Vorgehens, von Wahl kann nicht gesprochen werden, und, oft genug, der Weg ins Unglück. Denn die anfängliche Geschicklichkeit des einen entpuppt sich, früher oder später, als absolutistische Fehleinschätzung.
Entscheidungen, die sich dem Recht beugen, kennen per se die Möglichkeit der Umkehr und der Revision. Bei Entschlüssen, die der Laune des Autokraten folgen, ist das nicht der Fall. Die immense Gewalt, welche der vermeintlichen Geschicklichkeit innewohnt, führt zu Leid und Elend.
Niemand steht über dem Gesetz, auch die oder der Begabteste nicht.
Ein Mensch, der noch keinen Fehler gemacht hat, dessen Urteil noch nicht gefehlt hat, wurde bislang nicht geboren - und wird er geboren, handelt es sich nicht um einen Menschen, sondern ein AI-Produkt, dessen künstliche Intelligenz ohne Gefühle auskommt. Wobei wir bei der Bedeutung der Emotionen wären, die doch auch - und nicht zu Unrecht - unsere Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Dazu demnächst, wahrscheinlich, mehr.
Ein abschließendes Wort zum monotonen Beruf, der uns keine Luft zum Atmen lässt, von dem Sie so beredsam abraten. Dass der Mensch ein denkendes Wesen ist, wird in Betrieben systematisch unterschätzt oder sogar unterdrückt. Das kapitalistische Unglück liegt mit in dieser Tatsache. Wollen wir gerecht und glücklich sein, sollten wir die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich beschränken und eine weitere Stunde für die freiwillige Mitbestimmung anbieten.
Im Gespräch findet sich der Mensch, als Ersatzmaschine sei er verloren.
16. April
Den Aemtern den Puls gefühlt haben. Ihre mannigfaltige Verschiedenheit zu kennen, ist eine meisterliche Kunde, die Aufmerksamkeit verlangt. Einige erfordern Muth, andere scharfen Verstand. Leichter zu verwalten sind die, wobei es auf Rechtschaffenheit, und schwerer die, wobei es auf Geschicklichkeit ankommt. Zu jenen gehört nichts weiter als ein rechtlicher Karakter: für diese hingegen reicht alle Aufmerksamkeit und Eifer nicht aus. Es ist eine mühsame Beschäftigung, Menschen zu regieren, und vollends Narren oder Dummköpfe. Doppelten Verstand hat man nöthig bei denen, die keinen haben. Unerträglich aber sind die Aemter, welche den ganzen Menschen in Anspruch nehmen, zu gezählten Stunden und bei bestimmter Materie: besser sind die, welche keinen Ueberdruß verursachen, indem sie den Ernst mit Mannigfaltigkeit versetzen; denn die Abwechselung muntert auf. Des größten Ansehns genießen die, wobei die Abhängigkeit geringer, oder doch entfernter ist. Die schlimmsten aber sind die, wegen derer man in dieser und noch mehr in jener Welt schwitzen muß.
Die Berufswahl, Freund, sei eines der laizistischen Grundrechte. Wohl ist mir klar, dass zwischen Ihrer Idee des Amtes, wobei Sie, stillschweigend, vom Berufenwerden und nicht der eigenen Berufung, die wir fühlen, da uns etwas interessiert, ausgehen, wohl ist mir also klar, dass zwischen Ihrer Idee des autokratischen Amtes, gerade des höchsten Staatsamtes und der Ministerämter eines Kabinetts, und der von mir erwähnten demokratischen Berufswahl beinahe unüberbrückbare Welten liegen. Das Seltsame ist allerdings, dass Ihre Vorstellung der Bestimmung, gerade wenn es sich um die Besetzung von Posten durch Frauen oder im Staatsgebiet lebende Minderheiten handelt, weiterhin unterschwellig zur Ungleichbehandlung führt. Zwingt man Männer nicht per Quote dazu, fördern und befördern viele von ihnen konsequent andere Männer, die wie sie selbst aussehen und sprechen. Und dass Sie, als Sie die durchaus beachtenswerten Sätze über die Vielfalt und die Herausforderungen eines Amtes geschrieben haben, nur an Männer gedacht haben, darüber müssen wir kaum reden.
Sind alle freiwillig blind, fällt das Sehen den wenigsten ein.
Der von Ihnen ausgemachte Widerspruch zwischen Rechtschaffenheit und Geschicklichkeit, öffnet der Unredlichkeit, solange sie sich der Aufgabe gewachsen zeigt, Tür und Tor. Die Auffassung, dass es wichtiger sei, etwas wie auch immer zu stemmen, als dass es, dank ewiger und fairer Deliberation, gar nicht oder erst mit wahnsinniger Verspätung in Angriff genommen wird, bleibt in Strong-Men-Gesellschaften der Weg des Vorgehens, von Wahl kann nicht gesprochen werden, und, oft genug, der Weg ins Unglück. Denn die anfängliche Geschicklichkeit des einen entpuppt sich, früher oder später, als absolutistische Fehleinschätzung.
Entscheidungen, die sich dem Recht beugen, kennen per se die Möglichkeit der Umkehr und der Revision. Bei Entschlüssen, die der Laune des Autokraten folgen, ist das nicht der Fall. Die immense Gewalt, welche der vermeintlichen Geschicklichkeit innewohnt, führt zu Leid und Elend.
Niemand steht über dem Gesetz, auch die oder der Begabteste nicht.
Ein Mensch, der noch keinen Fehler gemacht hat, dessen Urteil noch nicht gefehlt hat, wurde bislang nicht geboren - und wird er geboren, handelt es sich nicht um einen Menschen, sondern ein AI-Produkt, dessen künstliche Intelligenz ohne Gefühle auskommt. Wobei wir bei der Bedeutung der Emotionen wären, die doch auch - und nicht zu Unrecht - unsere Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Dazu demnächst, wahrscheinlich, mehr.
Ein abschließendes Wort zum monotonen Beruf, der uns keine Luft zum Atmen lässt, von dem Sie so beredsam abraten. Dass der Mensch ein denkendes Wesen ist, wird in Betrieben systematisch unterschätzt oder sogar unterdrückt. Das kapitalistische Unglück liegt mit in dieser Tatsache. Wollen wir gerecht und glücklich sein, sollten wir die Arbeitszeit auf vier Stunden täglich beschränken und eine weitere Stunde für die freiwillige Mitbestimmung anbieten.
Im Gespräch findet sich der Mensch, als Ersatzmaschine sei er verloren.
16. April
105.
Nicht lästig seyn. Der Mann von Einem Geschäft und Einer Rede pflegt sehr beschwerlich zu fallen. Die Kürze ist einnehmend und dem Geschäftsgang gemäßer. Sie ersetzt an Höflichkeit, was ihr an Ausdehnung abgeht. Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut; und selbst das Schlimme, wenn wenig, ist nicht so schlimm. Quintessenzen sind wirksamer als ein ganzer Wust. Auch ist es eine bekannte Wahrheit, daß weitläufige Leute selten von vielem Verstande sind; welches sich nicht sowohl im Materiellen der Anordnung, als im Formellen des Denkens zeigt. Es giebt Leute, welche mehr zum Hinderniß als zur Zierde der Welt dasind, unnütze Möbeln, die Jeder aus dem Wege rückt. Der Kluge hüte sich lästig zu sehn, und zumal den Großen, da diese ein sehr beschäftigtes Leben führen, und es schlimmer wäre, Einen von ihnen verdrießlich zu machen, als die ganze übrige Welt. Das gut Gesagte ist bald gesagt.
So sei es. Und auch nicht.
Was gut ist, kann nicht gemessen werden. Was schlecht ist, sofort.
17. April
Nicht lästig seyn. Der Mann von Einem Geschäft und Einer Rede pflegt sehr beschwerlich zu fallen. Die Kürze ist einnehmend und dem Geschäftsgang gemäßer. Sie ersetzt an Höflichkeit, was ihr an Ausdehnung abgeht. Das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut; und selbst das Schlimme, wenn wenig, ist nicht so schlimm. Quintessenzen sind wirksamer als ein ganzer Wust. Auch ist es eine bekannte Wahrheit, daß weitläufige Leute selten von vielem Verstande sind; welches sich nicht sowohl im Materiellen der Anordnung, als im Formellen des Denkens zeigt. Es giebt Leute, welche mehr zum Hinderniß als zur Zierde der Welt dasind, unnütze Möbeln, die Jeder aus dem Wege rückt. Der Kluge hüte sich lästig zu sehn, und zumal den Großen, da diese ein sehr beschäftigtes Leben führen, und es schlimmer wäre, Einen von ihnen verdrießlich zu machen, als die ganze übrige Welt. Das gut Gesagte ist bald gesagt.
So sei es. Und auch nicht.
Was gut ist, kann nicht gemessen werden. Was schlecht ist, sofort.
17. April
106.
Nicht mit seinem Glücke prahlen. Es ist beleidigender, mit Stand und Würde zu prunken, als mit persönlichen Eigenschaften. Das Sich breit machen ist verhaßt; man sollte am Neide genug haben. Hochachtung erlangt man desto weniger, je mehr man darauf ausgeht: denn sie hängt von der Meinung Andrer ab, weshalb man sie sich nicht nehmen kann, sondern sie von den Andern verdienen und abwarten muß. Hohe Aemter erfordern ein ihrer Ausübung angemessenes Ansehn, ohne welches sie nicht würdig verwaltet werden können: daher erhalte man ihnen die Ehre, die nöthig ist, um seiner Pflicht nachkommen zu können: man dringe nicht auf Ehrerbietung, wohl aber befördere man sie. Wer mit seinem Amte viel Aufhebens macht, verräth, daß er es nicht verdient hat und die Würde für seine Schultern zu viel ist. Wenn man ja sich geltend machen will, so sei es eher durch das Ausgezeichnete seiner Talente, als durch zufällige Aeußerlichkeiten. Selbst einen König soll man mehr wegen seiner persönlichen Eigenschaften ehren als wegen seiner äußerlichen Herrschaft.
Nun, Freund, stehe ich wieder mal an einer Ihrer ingeniösen Ratgabelungen und merke, dass mich jeder Pfad in die Vernunft führte, folgte ich ihm. Allein Ihr man sollte am Neid genug haben lässt meinen Verstand erquickliche Purzelbäume schlagen.
Besonders bemerkenswert finde ich die Vorstellung, die mich seit Jahren berührt, dass die Lage, in der wir uns befinden, ein respektables oder - was häufig eher angebracht ist - wildes Verhalten er- und einfordert.
Der Anspruch, den wir an uns haben, kann und sollte nicht allein aus uns selbst kommen, sondern aus der Welt, in die wir geworfen sind.
Wer wirkt, wird. Wer nur ist, verwirkt.
Beachteten wir die elementare Erwartung des ewigen Außen an uns, akzeptierten das halbwegs deterministische Rollenspiel, welches durch eine Stellung entsteht, hätten wir solch eine mehr oder minder verbindliche Anforderung folglich auch zu berücksichtigen, wenn wir sie an anderen wahrnehmen würden.
Eine Richterin oder ein Richter atmen die Luft des Gesetzes, nicht die Abgase der Willkür oder der ideologisch begründeten Sitten.
Die Position, die wir erlangen, die wir uns aussuchen, die man uns anträgt, die sich uns überstülpt, formt uns in der Mehrzahl der Fälle erst. Eine Stellung in der Welt kreiert oft genug Denk- und Handlungsräume, denen sich zu entziehen weder angeraten noch erstrebenswert ist.
Wir wachsen, summa sumarum, in eine Position. Die Zeit, die wir dafür benötigen, sei großzügig bemessen. Die Schnelligkeit der Reife hat schließlich wenig mit der Güte der Frucht zu tun. Und das verfrühte Pflücken befriedigt die Gier des Besitzenwollens, aber, in aller Regel, niemals die Freude des nachhaltigen Genusses.
18. April
Nicht mit seinem Glücke prahlen. Es ist beleidigender, mit Stand und Würde zu prunken, als mit persönlichen Eigenschaften. Das Sich breit machen ist verhaßt; man sollte am Neide genug haben. Hochachtung erlangt man desto weniger, je mehr man darauf ausgeht: denn sie hängt von der Meinung Andrer ab, weshalb man sie sich nicht nehmen kann, sondern sie von den Andern verdienen und abwarten muß. Hohe Aemter erfordern ein ihrer Ausübung angemessenes Ansehn, ohne welches sie nicht würdig verwaltet werden können: daher erhalte man ihnen die Ehre, die nöthig ist, um seiner Pflicht nachkommen zu können: man dringe nicht auf Ehrerbietung, wohl aber befördere man sie. Wer mit seinem Amte viel Aufhebens macht, verräth, daß er es nicht verdient hat und die Würde für seine Schultern zu viel ist. Wenn man ja sich geltend machen will, so sei es eher durch das Ausgezeichnete seiner Talente, als durch zufällige Aeußerlichkeiten. Selbst einen König soll man mehr wegen seiner persönlichen Eigenschaften ehren als wegen seiner äußerlichen Herrschaft.
Nun, Freund, stehe ich wieder mal an einer Ihrer ingeniösen Ratgabelungen und merke, dass mich jeder Pfad in die Vernunft führte, folgte ich ihm. Allein Ihr man sollte am Neid genug haben lässt meinen Verstand erquickliche Purzelbäume schlagen.
Besonders bemerkenswert finde ich die Vorstellung, die mich seit Jahren berührt, dass die Lage, in der wir uns befinden, ein respektables oder - was häufig eher angebracht ist - wildes Verhalten er- und einfordert.
Der Anspruch, den wir an uns haben, kann und sollte nicht allein aus uns selbst kommen, sondern aus der Welt, in die wir geworfen sind.
Wer wirkt, wird. Wer nur ist, verwirkt.
Beachteten wir die elementare Erwartung des ewigen Außen an uns, akzeptierten das halbwegs deterministische Rollenspiel, welches durch eine Stellung entsteht, hätten wir solch eine mehr oder minder verbindliche Anforderung folglich auch zu berücksichtigen, wenn wir sie an anderen wahrnehmen würden.
Eine Richterin oder ein Richter atmen die Luft des Gesetzes, nicht die Abgase der Willkür oder der ideologisch begründeten Sitten.
Die Position, die wir erlangen, die wir uns aussuchen, die man uns anträgt, die sich uns überstülpt, formt uns in der Mehrzahl der Fälle erst. Eine Stellung in der Welt kreiert oft genug Denk- und Handlungsräume, denen sich zu entziehen weder angeraten noch erstrebenswert ist.
Wir wachsen, summa sumarum, in eine Position. Die Zeit, die wir dafür benötigen, sei großzügig bemessen. Die Schnelligkeit der Reife hat schließlich wenig mit der Güte der Frucht zu tun. Und das verfrühte Pflücken befriedigt die Gier des Besitzenwollens, aber, in aller Regel, niemals die Freude des nachhaltigen Genusses.
18. April
107.
Keine Selbstzufriedenheit zeigen. Man sei weder unzufrieden mit sich selbst, denn das wäre Kleinmuth, – noch selbstzufrieden, denn das wäre Dummheit. Die Selbstzufriedenheit entsteht meistens aus Unwissenheit und wird zu einer Glückseligkeit des Unverstandes, die zwar nicht ohne Annehmlichkeit seyn mag, jedoch unserm Ruf und Ansehn nicht förderlich ist. Weil man die unendlich höhern Vollkommenheiten Andrer nicht einzusehn im Stande ist, wird man durch irgend ein gemeines und mittelmäßiges Talent in sich höchlich befriedigt. Mißtrauen ist stets klug und überdies auch nützlich, entweder um dem übeln Ausgang der Sachen vorzubeugen, oder um sich, wenn er da ist, zu trösten; da ein Unglück den nicht überrascht, der es schon fürchtete. Auch Homer schläft zu Zeiten, und Alexander fiel von seiner Höhe und aus seiner Täuschung. Die Dinge hängen von gar vielerlei Umständen ab, und was an Einer Stelle und bei Einer Gelegenheit einen Triumph feierte, wurde bei einer andern zu Schande. Inzwischen besteht die unheilbare Dummheit darin, daß die leerste Selbstzufriedenheit zu voller Blüthe aufgegangen ist und mit ihrem Saamen immer weiter wuchert.
Die Beschimpfung der Selbstzufriedenen, Freund, will mir nicht über die Lippen. Eher packt mich der abgespeckte Neid. Voll kann die Eifersucht halt nicht sein, da Sie wohl Recht haben, dass im kurzsichtig Blasierten ein geharnischtes Stück Idiotie Unterschlupf gefunden hat. Anders schaut's mit dem weitsichtigen Selbstbewusstsein aus, das sich Ziele gesteckt hat, die erreichbar scheinen, dessen Zufriedenheit ob der echten Lage möglicherweise naiv anmutet, aber uns doch um einiges besser als die unaufhörliche Eigenverachtung tut.
Wer sich selbst beleidigt, bittet das Leid, welches eh, so ist das Sein, kräftig an der Tür kratzt, ohne Not viel zu früh herein.
Der Eigenwert beginnt in uns selbst. Auf Anerkennung von außen zu hoffen, sich aber selbst zu verachten, geht selten lange gut.
Dass Sie eine Rangordnung der Talente erwähnen, finde ich absurd. Talent, seien wir ehrlich, lässt sich nicht skalieren. Ähnlich bizarr scheint mir die Idee, dass ein Unglück, welches wir voraussähen, uns nicht mehr überraschte, sobald es einträte. Die Gefühle und der leibliche Schmerz können nur höchst ungenau projiziert werden. Selbst die Fantasiebegabtesten wissen nicht, wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn die Liebe ihres Lebens kalt und steif auf dem Totenbett liegt.
18. April
Keine Selbstzufriedenheit zeigen. Man sei weder unzufrieden mit sich selbst, denn das wäre Kleinmuth, – noch selbstzufrieden, denn das wäre Dummheit. Die Selbstzufriedenheit entsteht meistens aus Unwissenheit und wird zu einer Glückseligkeit des Unverstandes, die zwar nicht ohne Annehmlichkeit seyn mag, jedoch unserm Ruf und Ansehn nicht förderlich ist. Weil man die unendlich höhern Vollkommenheiten Andrer nicht einzusehn im Stande ist, wird man durch irgend ein gemeines und mittelmäßiges Talent in sich höchlich befriedigt. Mißtrauen ist stets klug und überdies auch nützlich, entweder um dem übeln Ausgang der Sachen vorzubeugen, oder um sich, wenn er da ist, zu trösten; da ein Unglück den nicht überrascht, der es schon fürchtete. Auch Homer schläft zu Zeiten, und Alexander fiel von seiner Höhe und aus seiner Täuschung. Die Dinge hängen von gar vielerlei Umständen ab, und was an Einer Stelle und bei Einer Gelegenheit einen Triumph feierte, wurde bei einer andern zu Schande. Inzwischen besteht die unheilbare Dummheit darin, daß die leerste Selbstzufriedenheit zu voller Blüthe aufgegangen ist und mit ihrem Saamen immer weiter wuchert.
Die Beschimpfung der Selbstzufriedenen, Freund, will mir nicht über die Lippen. Eher packt mich der abgespeckte Neid. Voll kann die Eifersucht halt nicht sein, da Sie wohl Recht haben, dass im kurzsichtig Blasierten ein geharnischtes Stück Idiotie Unterschlupf gefunden hat. Anders schaut's mit dem weitsichtigen Selbstbewusstsein aus, das sich Ziele gesteckt hat, die erreichbar scheinen, dessen Zufriedenheit ob der echten Lage möglicherweise naiv anmutet, aber uns doch um einiges besser als die unaufhörliche Eigenverachtung tut.
Wer sich selbst beleidigt, bittet das Leid, welches eh, so ist das Sein, kräftig an der Tür kratzt, ohne Not viel zu früh herein.
Der Eigenwert beginnt in uns selbst. Auf Anerkennung von außen zu hoffen, sich aber selbst zu verachten, geht selten lange gut.
Dass Sie eine Rangordnung der Talente erwähnen, finde ich absurd. Talent, seien wir ehrlich, lässt sich nicht skalieren. Ähnlich bizarr scheint mir die Idee, dass ein Unglück, welches wir voraussähen, uns nicht mehr überraschte, sobald es einträte. Die Gefühle und der leibliche Schmerz können nur höchst ungenau projiziert werden. Selbst die Fantasiebegabtesten wissen nicht, wie es sich tatsächlich anfühlt, wenn die Liebe ihres Lebens kalt und steif auf dem Totenbett liegt.
18. April
108.
Sich gut zu gesellen verstehn, ist der kürzeste Weg ein ganzer Mann zu werden. Der Umgang ist von eingreifender Wirkung: Sitten und Geschmack theilen sich mit; die Sinnesart, ja sogar den Geist nimmt man an, ohne es zu merken. Deswegen suche der Rasche sich dem Ueberlegten beizugesellen, und ebenso in den übrigen Sinnesarten, woraus, ohne Gewaltsamkeit, eine gemäßigte Stimmung hervorgehn wird. Es ist sehr geschickt, sich nach dem Andern stimmen zu können. Das Wechselspiel der Gegensätze verschönert, ja erhält die Welt, und was in der physischen Harmonie herbeiführt, wird es noch mehr in der moralischen. Man beobachte diese kluge Rücksicht bei der Wahl seiner Freunde und Diener: denn durch die Verbindung der Gegensätze wird man einen sehr gescheuten Mittelweg treffen.
Dreierlei, Freund, fällt mir spontan dazu ein - aber zuerst möchte ich folgendes Bekenntnis meinen heutigen Einlassungen voranstellen: Sie treffen mich stets in einer Sofort-Haltung, wenn ich Ihnen schreibe. All die neunmalklugen Ratschläge, die ich in Sachen Ruhebewahren und Erst-mal-fleißig-wachsen und Lieber-abwarten von mir gebe, befolge ich sie? Nein, in den vorliegenden Briefen regiert bislang das umstandslose Ad-hoc, ein kreatives Renegatentum. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich möchte nicht gekünstelt klingen. Meine Reaktionen sollen kurz und schmerzlos sein. Zwar überlege ich genau, was ich sage, selbstverständlich, aber ich zensiere mich nicht.
Ehrlichkeit schafft die besten Freunde und noch bessere Feinde.
Zum Thema des, im weitesten Sinne, Gesellschaftlichen. Gegensätze, heißt es, zögen sich an. Wohl wahr. Allerdings will man, wie in einer Partei, an einem Strang ziehen, um ein politisches Ziel erreichen, kann genau das zu wütenden Attacken auf Parteifreundinnen und Parteifreunde führen, kann zu Übergriffen führen, die vom inhaltlichen Arbeiten abhalten, so dass die Organisation zur Schlangengrube wird, aus der die wenigsten unverletzt steigen.
Wenn wir uns in Bewegungen organisieren, treffen wir zuverlässig auf Persönlichkeiten, die uns lähmen. Wer daraufhin in Paralyse verfällt, wird als Parteisoldatin und Parteisoldat geschätzt, wer aufmuckt, als Abspalterin oder Querulant bis aufs Messer bekämpft.
Sich nach den anderen zu stimmen, raten Sie, Freund. Keine schlechte Empfehlung, handelt es sich um ein humanistisches Bündnis. Folgen wir allerdings naiv und gutgläubig den Ruchlosen, stimmen uns also, gewissermaßen intrinsisch, auf die moralische Kakophonie ein, wird Ihr Hinweis zur Falle. Wenige von uns vermögen den Moment des Absprungs zu treffen. Rechtzeitig zu erkennen, dass etwas ins Unerträgliche kippt, während man noch selbst am Ausbalancieren ist, gelingt leider zu selten. Den Absprung zu schaffen, auch auf die Gefahr hin, bereits getätigte Investitionen zu verlieren, dazu gehört eine ordentliche Portion Mut. Und doch: am Bösen festzuhalten, weil es sich uns ehedem als das Gute vorgestellt hat, macht uns zu Mitwissern und - keine Entschuldigung sei erlaubt - zu Mittätern. Nicht umsonst heißt's: mitgefangen, mitgehangen.
Und dann noch, zum Abschluss, Ihre typische Fixierung auf Männer. Aufrichtig gesprochen: die Machonummer ermüdet mich - unter anderem deswegen, da der männliche Überlegenheitsdünkel selbst zu Beginn des 21. Jarhunderts in der Mehrzahl der Köpfe herumspukt. Meine Partnerin, die permanent auf Podien mit selbstzufriedenen, männerbündischen, vermeintlich aufgeklärten Strotzkerlen sitzt, kann ein Kampflied dazu singen.
Übernimmt das männliche Glied die Kontrolle über das Denken, arbeitet das Männerhirn grundsätzlich auf Sparflamme. Ich rate bei öffentlichen Debatten dazu, ein gut sichtbares Schild anzubringen, auf dem das Wort Betrachtungskastration als Mahnung aufblinkt, sobald Männer ihre Redezeit überziehen.
19. April
Sich gut zu gesellen verstehn, ist der kürzeste Weg ein ganzer Mann zu werden. Der Umgang ist von eingreifender Wirkung: Sitten und Geschmack theilen sich mit; die Sinnesart, ja sogar den Geist nimmt man an, ohne es zu merken. Deswegen suche der Rasche sich dem Ueberlegten beizugesellen, und ebenso in den übrigen Sinnesarten, woraus, ohne Gewaltsamkeit, eine gemäßigte Stimmung hervorgehn wird. Es ist sehr geschickt, sich nach dem Andern stimmen zu können. Das Wechselspiel der Gegensätze verschönert, ja erhält die Welt, und was in der physischen Harmonie herbeiführt, wird es noch mehr in der moralischen. Man beobachte diese kluge Rücksicht bei der Wahl seiner Freunde und Diener: denn durch die Verbindung der Gegensätze wird man einen sehr gescheuten Mittelweg treffen.
Dreierlei, Freund, fällt mir spontan dazu ein - aber zuerst möchte ich folgendes Bekenntnis meinen heutigen Einlassungen voranstellen: Sie treffen mich stets in einer Sofort-Haltung, wenn ich Ihnen schreibe. All die neunmalklugen Ratschläge, die ich in Sachen Ruhebewahren und Erst-mal-fleißig-wachsen und Lieber-abwarten von mir gebe, befolge ich sie? Nein, in den vorliegenden Briefen regiert bislang das umstandslose Ad-hoc, ein kreatives Renegatentum. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Ich möchte nicht gekünstelt klingen. Meine Reaktionen sollen kurz und schmerzlos sein. Zwar überlege ich genau, was ich sage, selbstverständlich, aber ich zensiere mich nicht.
Ehrlichkeit schafft die besten Freunde und noch bessere Feinde.
Zum Thema des, im weitesten Sinne, Gesellschaftlichen. Gegensätze, heißt es, zögen sich an. Wohl wahr. Allerdings will man, wie in einer Partei, an einem Strang ziehen, um ein politisches Ziel erreichen, kann genau das zu wütenden Attacken auf Parteifreundinnen und Parteifreunde führen, kann zu Übergriffen führen, die vom inhaltlichen Arbeiten abhalten, so dass die Organisation zur Schlangengrube wird, aus der die wenigsten unverletzt steigen.
Wenn wir uns in Bewegungen organisieren, treffen wir zuverlässig auf Persönlichkeiten, die uns lähmen. Wer daraufhin in Paralyse verfällt, wird als Parteisoldatin und Parteisoldat geschätzt, wer aufmuckt, als Abspalterin oder Querulant bis aufs Messer bekämpft.
Sich nach den anderen zu stimmen, raten Sie, Freund. Keine schlechte Empfehlung, handelt es sich um ein humanistisches Bündnis. Folgen wir allerdings naiv und gutgläubig den Ruchlosen, stimmen uns also, gewissermaßen intrinsisch, auf die moralische Kakophonie ein, wird Ihr Hinweis zur Falle. Wenige von uns vermögen den Moment des Absprungs zu treffen. Rechtzeitig zu erkennen, dass etwas ins Unerträgliche kippt, während man noch selbst am Ausbalancieren ist, gelingt leider zu selten. Den Absprung zu schaffen, auch auf die Gefahr hin, bereits getätigte Investitionen zu verlieren, dazu gehört eine ordentliche Portion Mut. Und doch: am Bösen festzuhalten, weil es sich uns ehedem als das Gute vorgestellt hat, macht uns zu Mitwissern und - keine Entschuldigung sei erlaubt - zu Mittätern. Nicht umsonst heißt's: mitgefangen, mitgehangen.
Und dann noch, zum Abschluss, Ihre typische Fixierung auf Männer. Aufrichtig gesprochen: die Machonummer ermüdet mich - unter anderem deswegen, da der männliche Überlegenheitsdünkel selbst zu Beginn des 21. Jarhunderts in der Mehrzahl der Köpfe herumspukt. Meine Partnerin, die permanent auf Podien mit selbstzufriedenen, männerbündischen, vermeintlich aufgeklärten Strotzkerlen sitzt, kann ein Kampflied dazu singen.
Übernimmt das männliche Glied die Kontrolle über das Denken, arbeitet das Männerhirn grundsätzlich auf Sparflamme. Ich rate bei öffentlichen Debatten dazu, ein gut sichtbares Schild anzubringen, auf dem das Wort Betrachtungskastration als Mahnung aufblinkt, sobald Männer ihre Redezeit überziehen.
19. April
109.
Kein Ankläger seyn. Es giebt Menschen von finsterer Gemüthsart, die Alles zum Verbrechen stempeln, nicht von Leidenschaft, sondern von einem natürlichen Hange getrieben. Sie sprechen über Alle ihr Verdammungsurtheil aus, über Jene, für das, was sie gethan haben, über Diese, für das, was sie thun werden. Es zeugt von einem grausamen, ja niederträchtigen Sinn: und sie klagen mit einer solchen Uebertreibung an, daß sie aus Splittern Balken machen, die Augen damit auszustoßen. Ueberall sind sie Zuchtmeister, die ein Elysium in eine Galeere umwandeln möchten. Kommt gar noch Leidenschaft hinzu; so treiben sie Alles aufs Aeußerste. Im Gegentheil weiß ein edles Gemüth für Alles eine Entschuldigung zu finden, und wenn nicht ausdrücklich, durch Nichtbeachtung.
Ein edles Prinzip, kein Ankläger zu sein, Freund, dessen halber Kern, die Menschenfreundlichkeit, einleuchtet. Dass Sie - wie ich auch -, dass also wir beide dieses Ideal zwar erkennen, aber, Ihre und meine Äußerungen zeigen es, ganz anders argumentieren, sobald wir die Diskursbühne betreten, sobald wir glauben, Recht zu haben, beweist, dass in uns allen Anklägerinnen und Ankläger stecken. Stecken müssen.
Ohne Anklage gibt es weder einen Schuldspruch noch, was nicht immer, aber doch manchmal aus einem Urteil stammt, ein Bewusstsein der Schuld.
Der Ton macht, fraglos, die Musik. Und wer sich der eigenen Fehlbarkeit bewusst ist, wird bei der Anklage Vernunft und Umsicht walten lassen, wer sich für unfehlbar hält, sei als Staatsanwalt oder Richterin nicht tragbar. Ähnlich, um einen Blick auf die Gegenwehr zu werfen, sieht's mit der Verteidigung aus. Wer beim Verteidigen, gegen besseres Wissen, auf der Unschuld der Angeklagten beharrt, hat kein Gewissen.
Fortschritt stammt oftmals aus der Klage über das Bestehende. Loben wir allein den Ist-Zustand, sind wir dem Untergang geweiht. Im intelligenten Widerspruch steckt der fruchtbarste Zuspruch.
20. April
Kein Ankläger seyn. Es giebt Menschen von finsterer Gemüthsart, die Alles zum Verbrechen stempeln, nicht von Leidenschaft, sondern von einem natürlichen Hange getrieben. Sie sprechen über Alle ihr Verdammungsurtheil aus, über Jene, für das, was sie gethan haben, über Diese, für das, was sie thun werden. Es zeugt von einem grausamen, ja niederträchtigen Sinn: und sie klagen mit einer solchen Uebertreibung an, daß sie aus Splittern Balken machen, die Augen damit auszustoßen. Ueberall sind sie Zuchtmeister, die ein Elysium in eine Galeere umwandeln möchten. Kommt gar noch Leidenschaft hinzu; so treiben sie Alles aufs Aeußerste. Im Gegentheil weiß ein edles Gemüth für Alles eine Entschuldigung zu finden, und wenn nicht ausdrücklich, durch Nichtbeachtung.
Ein edles Prinzip, kein Ankläger zu sein, Freund, dessen halber Kern, die Menschenfreundlichkeit, einleuchtet. Dass Sie - wie ich auch -, dass also wir beide dieses Ideal zwar erkennen, aber, Ihre und meine Äußerungen zeigen es, ganz anders argumentieren, sobald wir die Diskursbühne betreten, sobald wir glauben, Recht zu haben, beweist, dass in uns allen Anklägerinnen und Ankläger stecken. Stecken müssen.
Ohne Anklage gibt es weder einen Schuldspruch noch, was nicht immer, aber doch manchmal aus einem Urteil stammt, ein Bewusstsein der Schuld.
Der Ton macht, fraglos, die Musik. Und wer sich der eigenen Fehlbarkeit bewusst ist, wird bei der Anklage Vernunft und Umsicht walten lassen, wer sich für unfehlbar hält, sei als Staatsanwalt oder Richterin nicht tragbar. Ähnlich, um einen Blick auf die Gegenwehr zu werfen, sieht's mit der Verteidigung aus. Wer beim Verteidigen, gegen besseres Wissen, auf der Unschuld der Angeklagten beharrt, hat kein Gewissen.
Fortschritt stammt oftmals aus der Klage über das Bestehende. Loben wir allein den Ist-Zustand, sind wir dem Untergang geweiht. Im intelligenten Widerspruch steckt der fruchtbarste Zuspruch.
20. April
110.
Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei. Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen. Man wisse, aus seinem Ende selbst sich einen Triumph zu bereiten. Sogar die Sonne zieht sich oft, noch bei hellem Scheine, hinter eine Wolke zurück, damit man sie nicht versinken sehe und ungewiß bleibe, ob sie untergegangen sei, oder nicht. Man entziehe sich zeitig den Unfällen, um nicht vor Beschämung vergehn zu müssen. Laßt uns nicht abwarten, daß die Welt uns den Rücken kehre und uns, noch im Gefühl lebendig, aber in der Hochachtung gestorben, zu Grabe trage. Der Kluge versetzt seinen Wettrenner bei Zeiten in den Ruhestand und wartet nicht ab, daß er, mitten auf der Rennbahn niederstürzend, Gelächter errege. Eine Schöne zerbreche schlau bei Zeiten ihren Spiegel, um es nicht später aus Ungeduld zu thun, wann er sie aus ihrer Täuschung gerissen hat.
Den Absprung zu schaffen, Freund, bevor es nicht mehr geht. Ein unentwegt gehörter Rat, beinahe eine Gebetsmühle, ein Hinweis, der gleichsam auf alles irgendwie und dadurch eben auf gar nichts genau passt.
Die Frage, welche sich mir stellt, sobald der Stempel Rückzug gezückt wird, lautet: Was ist jenes ominöse es-das-nicht-mehr-geht genau genommen? Mir scheint, dass es sich weder um Sachen noch Personen handelt, sondern ums Sein schlechthin. Es ist die ontologische Quintessenz des zaghaft ausgesprochenen Lebens. Eine bei Bedarf vorhandene linguistische Leerstelle für den eigentlichen Sinn, der nicht oder nur sehr selten beim Denken berührt wird.
Um das klarzustellen: ich beziehe mich ausdrücklich nicht auf Freuds Strukturmodell der Psyche, wo das Es zum dunklen, brodelnden Teil des Charakters wird, nur ex negativo zum Ich bestimmt werden kann und sich in wehenden Träumen und wallenden Neurosen bemerkbar macht.
In Ihrem Fall, Freund, nun lehne ich mich weit aus dem Fenster, ist das Es der Tod. Sie raten uns zum Schlussmachen, bevor wir es nicht mehr mit uns, mit unserer Wirkung, mit der Meinung der anderen über uns aushalten.
Wer nicht wartet, dass die Sonne untergeht, stirbt im hellen Licht. Verpasst die Schönheit der Abenddämmerung. Nichts lässt sich mit dem letzten Licht vergleichen, das uns melancholisch die Augen zudrückt. Ein gutes Leben sei eins, das dem Zwielicht Zeit einräumt.
Ohne ein vernünftiges Ende exisitert kein verständiges Leben. Das Vertrauen in die Meinungen anderer sei gut und häufig angebracht. Selbstvertrauen ist jedoch die Grundvoraussetzung für jedwede weise Einschätzung und letztgültige End-Scheidung.
PS
Ihnen wird's längst aufgefallen sein, aber ich muss den Satz dennoch loswerden: Mein Denken wandelt auf literarischen Bahnen und nimmt sich Freiheiten, erkundet Gegenden, die Geschichten eher offenstehen als eingezäunten Systemen.
21. April
Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei. Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen. Man wisse, aus seinem Ende selbst sich einen Triumph zu bereiten. Sogar die Sonne zieht sich oft, noch bei hellem Scheine, hinter eine Wolke zurück, damit man sie nicht versinken sehe und ungewiß bleibe, ob sie untergegangen sei, oder nicht. Man entziehe sich zeitig den Unfällen, um nicht vor Beschämung vergehn zu müssen. Laßt uns nicht abwarten, daß die Welt uns den Rücken kehre und uns, noch im Gefühl lebendig, aber in der Hochachtung gestorben, zu Grabe trage. Der Kluge versetzt seinen Wettrenner bei Zeiten in den Ruhestand und wartet nicht ab, daß er, mitten auf der Rennbahn niederstürzend, Gelächter errege. Eine Schöne zerbreche schlau bei Zeiten ihren Spiegel, um es nicht später aus Ungeduld zu thun, wann er sie aus ihrer Täuschung gerissen hat.
Den Absprung zu schaffen, Freund, bevor es nicht mehr geht. Ein unentwegt gehörter Rat, beinahe eine Gebetsmühle, ein Hinweis, der gleichsam auf alles irgendwie und dadurch eben auf gar nichts genau passt.
Die Frage, welche sich mir stellt, sobald der Stempel Rückzug gezückt wird, lautet: Was ist jenes ominöse es-das-nicht-mehr-geht genau genommen? Mir scheint, dass es sich weder um Sachen noch Personen handelt, sondern ums Sein schlechthin. Es ist die ontologische Quintessenz des zaghaft ausgesprochenen Lebens. Eine bei Bedarf vorhandene linguistische Leerstelle für den eigentlichen Sinn, der nicht oder nur sehr selten beim Denken berührt wird.
Um das klarzustellen: ich beziehe mich ausdrücklich nicht auf Freuds Strukturmodell der Psyche, wo das Es zum dunklen, brodelnden Teil des Charakters wird, nur ex negativo zum Ich bestimmt werden kann und sich in wehenden Träumen und wallenden Neurosen bemerkbar macht.
In Ihrem Fall, Freund, nun lehne ich mich weit aus dem Fenster, ist das Es der Tod. Sie raten uns zum Schlussmachen, bevor wir es nicht mehr mit uns, mit unserer Wirkung, mit der Meinung der anderen über uns aushalten.
Wer nicht wartet, dass die Sonne untergeht, stirbt im hellen Licht. Verpasst die Schönheit der Abenddämmerung. Nichts lässt sich mit dem letzten Licht vergleichen, das uns melancholisch die Augen zudrückt. Ein gutes Leben sei eins, das dem Zwielicht Zeit einräumt.
Ohne ein vernünftiges Ende exisitert kein verständiges Leben. Das Vertrauen in die Meinungen anderer sei gut und häufig angebracht. Selbstvertrauen ist jedoch die Grundvoraussetzung für jedwede weise Einschätzung und letztgültige End-Scheidung.
PS
Ihnen wird's längst aufgefallen sein, aber ich muss den Satz dennoch loswerden: Mein Denken wandelt auf literarischen Bahnen und nimmt sich Freiheiten, erkundet Gegenden, die Geschichten eher offenstehen als eingezäunten Systemen.
21. April
111.
Freunde haben. Es ist ein zweites Daseyn. Jeder Freund ist gut und weise für den Freund, und unter ihnen geht Alles gut ab. Ein Jeder gilt so viel, als die Andern wollen; damit sie aber wollen, muß man ihr Herz und dadurch ihre Zunge gewinnen. Kein Zauber ist mächtiger, als erzeigte Gefälligkeit, und um Freunde zu erwerben, ist das beste Mittel, sich welche zu machen. Das Meiste und Beste, was wir haben, hängt von Andern ab. Wir müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden leben. Jeden Tag suche man einen zu erwerben, nicht gleich zum genauen, aber doch zum wohlwollenden Freunde: einige werden nachher, nachdem sie eine prüfende Wahl bestanden haben, als Vertraute zurückbleiben.
Sie sprechen mir, Freund, aus der Seele. Die Vorteile einer Freundschaft, besonders wenn man sie mit Familienbeziehungen vergleicht, liegen auf der Hand: wir können uns sowohl bewusst für eine Freundschaft entscheiden, das vertraute Miteinander dementsprechend auf immer und ewig artig pflegen, als die Freundschaft auch genauso bewusst beenden. Letzteres ist mindestens so schwer wie ersteres, manche behaupten sogar, es sei um einiges anstrengender, einen Schlussstrich zu ziehen.
Viel ist über das Befreundetsein geschrieben worden, wenig taugt als Vademecum. Vielleicht, wenn ich meine engste Freundschaft heranziehe, vielleicht liegt das an drei grundlegenden Tatsachen, die alle echten Freundschaften auszeichnen:
- Freundschaft besteht auf der Gleichwertigkeit der Beteiligten. Niemand ist der oder dem anderen auf Dauer in allen Dingen haushoch überlegen, was, selbstverständlich nicht heißt, dass die oder der andere in bestimmten Feldern mehr Talent zeigt oder einfach, dank eines Zufalls, beispielsweise einer Erbschaft oder geschickterer Sinne oder eines vorteilhafteren Aussehens, die oder den anderen in den Schatten stellt.
- Freundschaft hält Widerspruch aus. Wer mit sich selbst befreundet sein will und andere Meinungen nicht toleriert, ist ein intellektueller und emotionaler Windbeutel, der unsere Aufmerksamkeit nicht verdient. Ein vernünftiges Nein hätte mancher Freundschaft gut angestanden. Andererseits sollte das liebenswürdige Ja den Ton zwischen Freundinnen und Freunden lenken - folgt dann ein fundiertes Aber, das sich nicht vermeiden lässt, bricht nichts entzwei. Ganz im Gegenteil: Jedem harten Trotzdem wohnt ein zarter Zauber inne, der Freundschaften besiegelt.
- Freundschaft basiert auf Liebe. Liebe ist der Motor der Anwesenheit und Aufmerksamkeit, der Motor des Vergebens und des Vergessens. Herrscht in einer Freundschaft keine Liebe, handelt es sich um eine Bekanntschaft.
21. April
Freunde haben. Es ist ein zweites Daseyn. Jeder Freund ist gut und weise für den Freund, und unter ihnen geht Alles gut ab. Ein Jeder gilt so viel, als die Andern wollen; damit sie aber wollen, muß man ihr Herz und dadurch ihre Zunge gewinnen. Kein Zauber ist mächtiger, als erzeigte Gefälligkeit, und um Freunde zu erwerben, ist das beste Mittel, sich welche zu machen. Das Meiste und Beste, was wir haben, hängt von Andern ab. Wir müssen entweder unter Freunden, oder unter Feinden leben. Jeden Tag suche man einen zu erwerben, nicht gleich zum genauen, aber doch zum wohlwollenden Freunde: einige werden nachher, nachdem sie eine prüfende Wahl bestanden haben, als Vertraute zurückbleiben.
Sie sprechen mir, Freund, aus der Seele. Die Vorteile einer Freundschaft, besonders wenn man sie mit Familienbeziehungen vergleicht, liegen auf der Hand: wir können uns sowohl bewusst für eine Freundschaft entscheiden, das vertraute Miteinander dementsprechend auf immer und ewig artig pflegen, als die Freundschaft auch genauso bewusst beenden. Letzteres ist mindestens so schwer wie ersteres, manche behaupten sogar, es sei um einiges anstrengender, einen Schlussstrich zu ziehen.
Viel ist über das Befreundetsein geschrieben worden, wenig taugt als Vademecum. Vielleicht, wenn ich meine engste Freundschaft heranziehe, vielleicht liegt das an drei grundlegenden Tatsachen, die alle echten Freundschaften auszeichnen:
- Freundschaft besteht auf der Gleichwertigkeit der Beteiligten. Niemand ist der oder dem anderen auf Dauer in allen Dingen haushoch überlegen, was, selbstverständlich nicht heißt, dass die oder der andere in bestimmten Feldern mehr Talent zeigt oder einfach, dank eines Zufalls, beispielsweise einer Erbschaft oder geschickterer Sinne oder eines vorteilhafteren Aussehens, die oder den anderen in den Schatten stellt.
- Freundschaft hält Widerspruch aus. Wer mit sich selbst befreundet sein will und andere Meinungen nicht toleriert, ist ein intellektueller und emotionaler Windbeutel, der unsere Aufmerksamkeit nicht verdient. Ein vernünftiges Nein hätte mancher Freundschaft gut angestanden. Andererseits sollte das liebenswürdige Ja den Ton zwischen Freundinnen und Freunden lenken - folgt dann ein fundiertes Aber, das sich nicht vermeiden lässt, bricht nichts entzwei. Ganz im Gegenteil: Jedem harten Trotzdem wohnt ein zarter Zauber inne, der Freundschaften besiegelt.
- Freundschaft basiert auf Liebe. Liebe ist der Motor der Anwesenheit und Aufmerksamkeit, der Motor des Vergebens und des Vergessens. Herrscht in einer Freundschaft keine Liebe, handelt es sich um eine Bekanntschaft.
21. April
112.
Sich Liebe und Wohlwollen erwerben: denn sogar die erste und oberste Ursache läßt solche in ihre hohen Absichten eingehn und ordnet sie an. Mittelst des Wohlwollens erlangt man die günstige Meinung. Einige verlassen sich so sehr auf ihren Werth, daß sie die Erwerbung der Gunst verschmähen. Allein der Erfahrene weiß, daß der Weg der Verdienste allein, ohne Hülfe der Gunst, ein gar sehr langer ist. Alles erleichtert und ergänzt das Wohlwollen: nicht immer setzt es die guten Eigenschaften, wie Muth, Redlichkeit, Gelehrsamkeit, sogar Klugheit, voraus; nein, es nimmt sie ohne Weiteres als vorhanden an: hingegen die garstigen Fehler sieht es nie, weil es sie nicht sehn will. Es entsteht aus der Übereinstimmung, und zwar gewöhnlich aus der materiellen, dergleichen die der Sinnesart, der Nation, der Verwandtschaft, des Vaterlandes und des Amtes ist: die formelle ist höherer Art, sie ist die der Talente, der Verbindlichkeiten, des Ruhms, der Verdienste. Die ganze Schwierigkeit besteht im Erwerben des Wohlwollens; es zu erhalten ist leicht. Es läßt sich aber erlangen, und man wisse es zu nutzen.
Wenn man sich das Wohlwollen verscherzt, Freund, besonders dasjenige, welches wir für uns selbst fühlen sollten - und auf dieses, das Ihrer zweiten Kategorie angehört, gehen Sie gar nicht ein, was mir natürlich bewusst ist -, wenn man sich dieses Eigen-Wohlwollen verscherzt, wenn man sich selbst kein Günstling mehr ist und wenn man die Liebe zu sich selbst, wohl die Voraussetzung, um überhaupt andere zu lieben, ad acta legt, dann hilft die günstige, die wohlwollende Meinung der anderen, die nicht bemerken oder nicht wahrhaben wollen, was mit uns passiert, wie wir vor ihren Augen auseinanderbrechen, dann helfen Gewogenheit und Zuneigung der anderen rein gar nichts mehr.
Wer in sich wankt, findet außen keinen rechten Halt.
Die Hülle, was überaus verwirren kann, sagt nur sehr bedingt etwas über den Inhalt.
Glatte Oberflächen existieren nicht.
In der kleinsten Spalte kann das größte Graus hausen.
Sind wir in Sicherheit, kann uns das übermäßige Wohlwollen anderer gar auf die Nerven gehen.
PS
Nach dem Enthusiasmus, der mich gestern überkam, da ich so viele Briefe geschrieben habe, wie das Jahr bislang Tage hat, quälen mich heute Selbstzweifel, ob ich nicht meine Zeit verplempere, nicht lieber allein reisen sollte, als mit Ihnen einen geistigen Travelogue zu unternehmen und Ihnen dabei wiederholt auf die Füße zu treten. Will sagen: ich bin mir gerade eher übelgesonnen, grantele vehement mit dem Sein. Wenn wir einen Menschen hassen, glaubt Hermann Hesse, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber sei, das rege uns nicht auf.
22. April
Sich Liebe und Wohlwollen erwerben: denn sogar die erste und oberste Ursache läßt solche in ihre hohen Absichten eingehn und ordnet sie an. Mittelst des Wohlwollens erlangt man die günstige Meinung. Einige verlassen sich so sehr auf ihren Werth, daß sie die Erwerbung der Gunst verschmähen. Allein der Erfahrene weiß, daß der Weg der Verdienste allein, ohne Hülfe der Gunst, ein gar sehr langer ist. Alles erleichtert und ergänzt das Wohlwollen: nicht immer setzt es die guten Eigenschaften, wie Muth, Redlichkeit, Gelehrsamkeit, sogar Klugheit, voraus; nein, es nimmt sie ohne Weiteres als vorhanden an: hingegen die garstigen Fehler sieht es nie, weil es sie nicht sehn will. Es entsteht aus der Übereinstimmung, und zwar gewöhnlich aus der materiellen, dergleichen die der Sinnesart, der Nation, der Verwandtschaft, des Vaterlandes und des Amtes ist: die formelle ist höherer Art, sie ist die der Talente, der Verbindlichkeiten, des Ruhms, der Verdienste. Die ganze Schwierigkeit besteht im Erwerben des Wohlwollens; es zu erhalten ist leicht. Es läßt sich aber erlangen, und man wisse es zu nutzen.
Wenn man sich das Wohlwollen verscherzt, Freund, besonders dasjenige, welches wir für uns selbst fühlen sollten - und auf dieses, das Ihrer zweiten Kategorie angehört, gehen Sie gar nicht ein, was mir natürlich bewusst ist -, wenn man sich dieses Eigen-Wohlwollen verscherzt, wenn man sich selbst kein Günstling mehr ist und wenn man die Liebe zu sich selbst, wohl die Voraussetzung, um überhaupt andere zu lieben, ad acta legt, dann hilft die günstige, die wohlwollende Meinung der anderen, die nicht bemerken oder nicht wahrhaben wollen, was mit uns passiert, wie wir vor ihren Augen auseinanderbrechen, dann helfen Gewogenheit und Zuneigung der anderen rein gar nichts mehr.
Wer in sich wankt, findet außen keinen rechten Halt.
Die Hülle, was überaus verwirren kann, sagt nur sehr bedingt etwas über den Inhalt.
Glatte Oberflächen existieren nicht.
In der kleinsten Spalte kann das größte Graus hausen.
Sind wir in Sicherheit, kann uns das übermäßige Wohlwollen anderer gar auf die Nerven gehen.
PS
Nach dem Enthusiasmus, der mich gestern überkam, da ich so viele Briefe geschrieben habe, wie das Jahr bislang Tage hat, quälen mich heute Selbstzweifel, ob ich nicht meine Zeit verplempere, nicht lieber allein reisen sollte, als mit Ihnen einen geistigen Travelogue zu unternehmen und Ihnen dabei wiederholt auf die Füße zu treten. Will sagen: ich bin mir gerade eher übelgesonnen, grantele vehement mit dem Sein. Wenn wir einen Menschen hassen, glaubt Hermann Hesse, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber sei, das rege uns nicht auf.
22. April
113.
Im Glück aufs Unglück bedacht seyn. Es ist eine gute Vorsorge, für den Winter im Sommer und mit mehr Bequemlichkeit den Vorrath zu sammeln. Zur Zeit des Glücks ist die Gunst wohlfeil und Ueberfluß an Freundschaften. Es ist gut, sie zu bewahren für die Zeit des Mißgeschicks, als welche eine sehr theuere und von Allem entblößte ist. Man erhalte sich daher einen Vorrath von Freunden und Verpflichteten: denn einst wird man hoch schätzen, was man jetzt nicht achtet. Gemeine Seelen haben im Glück keine Freunde: und weil sie jetzt solche nicht kennen, werden diese dereinst im Unglück sie nicht kennen.
Das rechtzeitig Einmachen und die Bevorratung, Freund, ist eine schöne alte Tradition, die wunderbar mit allerlei Fruchtaufstrichen und fermentierten Gemüsesorten gelingt. Immer schon habe ich Leute beneidet, die in ihrer Wohnung eine Vorratskammer vorgefunden oder eingeplant haben. Ich habe das nicht, da der Platz nicht reicht. Der Platzmangel ist ein ewiges Problem. Gewiss, wir könnten aufräumen, wegwerfen, uns von alten Dingen trennen, um Raum fürs Wesentliche zu schaffen. Aber das ist schwierig, da der Tag uns fest im Griff hält und sich nicht von der Gegenwart trennen will. Vom dunklen Abend will der helle Morgen nun mal nichts wissen. Verstehen Sie mich richtig: selbstverständlich möchte ich nicht eingeweckte Pflaumen mit einer Freundschaft vergleichen. Mir scheint allerdings, dass die ewige Vorbereitung auf schlechte Stunden bei der Gestaltung des Tages, was das Treffen von Freundinnen und Freunden einschließt, hinderlich sein kann - und zwar dann, wenn wir die Absicht hegen, die Freundschaftsvorratskammer auf Jahrzehnte im Voraus zu bestücken. Mir scheint, dass uns die Herzen gewissermaßen zufliegen sollten, Ihres zu mir, meins zu Ihnen; jedes Herz findet seinen Zeitpunkt, um zu schlagen. Ich merke es, Freund, wir alle merken es, wenn mich jemand mit dem Versprechen einer artigen Lustpartie vor den Karren spannt, um mich dann im Depot zu parken.
Ihr Ratschlag, sich in guten Zeiten mit Proviant zu versorgen, ist dennoch sowohl weise als auch angebracht. Allein: das Glück, von dem Sie sprechen, muss nicht immer mit der Möglichkeit der Bevorratung einhergehen. Weder materiell noch immatierell. Sie argumentieren übrigens von einem bevorzugten Standpunkt aus, der den Ärmsten der Armen oder der viel kleineren Gruppe der Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstlern fremd ist.
Der Utilitarismus, sich Menschen warm zu halten, um sie irgendwann in die Pflicht nehmen zu können, benötigt außerdem einen kalkulierenden Charakter, der die Welt als Schachbrett versteht. Was Opfer einschließt, ja sogar, bleiben wir beim strategischen Denken, erforderlich macht. In allerletzter Konsequenz suchten Sie sich also Ihre Freund- und Bekanntschaften nach der Nützlichkeit aus, um die schweren Tage, die irgendwann kommen, jede und jeder von uns sei im Alter oder im Krankheitsfalle auf Hilfe angewiesen, einigermaßen zu überstehen. Besser, Freund, und jetzt geht's ans moralisch Eingemachte, ist allerdings eine faire Gesellschaftsordnung, die uns im Falle eines Unglücks mit dem Notwendigen versorgt.
Survival of the fittest, der Raubtierkapitalismus, was die Almosenwirtschaft einschließt, in der sich die Reichen als Retterinnen und Retter von den Bedürftigen vergöttern lassen, das Überleben der Stärksten ist eine vordemokratische Lebensweise. Gewiss, ich idealisiere. Wir leben noch lange nicht in der besten aller Welten, aber wir sollten uns für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller einsetzen, anstatt uns als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer im Sturm bewähren zu wollen.
Enteignen wir die Raffgierigen, um unsere Eigentümlichkeiten zu entfalten. Kennt Reichtum eine Obergrenze, setzen wir der Not Grenzen.
Und, was dringend ansteht, erweitern wir die Bezugsgröße für die nachhaltige Anteilnahme: geben wir den Pflanzen- und Tierarten den Raum, den sie benötigen, geben wir den Flüssen und Ozeanen, den Wäldern und Steppen die Freiheit zurück. Nicht das eigene Unglück, Freund, erfordert derzeit Vorsorge. Unsere Erde, die wir uns, fälschlicherweise, beinahe komplett Untertan gemacht haben, die wir an den Rand des Klimakollapses gewirtschaftet haben, verzeiht uns nicht länger und schlägt zurück.
Denken wir nicht um, kommen wir um.
23. April 2019 und 21. November 2020
Im Glück aufs Unglück bedacht seyn. Es ist eine gute Vorsorge, für den Winter im Sommer und mit mehr Bequemlichkeit den Vorrath zu sammeln. Zur Zeit des Glücks ist die Gunst wohlfeil und Ueberfluß an Freundschaften. Es ist gut, sie zu bewahren für die Zeit des Mißgeschicks, als welche eine sehr theuere und von Allem entblößte ist. Man erhalte sich daher einen Vorrath von Freunden und Verpflichteten: denn einst wird man hoch schätzen, was man jetzt nicht achtet. Gemeine Seelen haben im Glück keine Freunde: und weil sie jetzt solche nicht kennen, werden diese dereinst im Unglück sie nicht kennen.
Das rechtzeitig Einmachen und die Bevorratung, Freund, ist eine schöne alte Tradition, die wunderbar mit allerlei Fruchtaufstrichen und fermentierten Gemüsesorten gelingt. Immer schon habe ich Leute beneidet, die in ihrer Wohnung eine Vorratskammer vorgefunden oder eingeplant haben. Ich habe das nicht, da der Platz nicht reicht. Der Platzmangel ist ein ewiges Problem. Gewiss, wir könnten aufräumen, wegwerfen, uns von alten Dingen trennen, um Raum fürs Wesentliche zu schaffen. Aber das ist schwierig, da der Tag uns fest im Griff hält und sich nicht von der Gegenwart trennen will. Vom dunklen Abend will der helle Morgen nun mal nichts wissen. Verstehen Sie mich richtig: selbstverständlich möchte ich nicht eingeweckte Pflaumen mit einer Freundschaft vergleichen. Mir scheint allerdings, dass die ewige Vorbereitung auf schlechte Stunden bei der Gestaltung des Tages, was das Treffen von Freundinnen und Freunden einschließt, hinderlich sein kann - und zwar dann, wenn wir die Absicht hegen, die Freundschaftsvorratskammer auf Jahrzehnte im Voraus zu bestücken. Mir scheint, dass uns die Herzen gewissermaßen zufliegen sollten, Ihres zu mir, meins zu Ihnen; jedes Herz findet seinen Zeitpunkt, um zu schlagen. Ich merke es, Freund, wir alle merken es, wenn mich jemand mit dem Versprechen einer artigen Lustpartie vor den Karren spannt, um mich dann im Depot zu parken.
Ihr Ratschlag, sich in guten Zeiten mit Proviant zu versorgen, ist dennoch sowohl weise als auch angebracht. Allein: das Glück, von dem Sie sprechen, muss nicht immer mit der Möglichkeit der Bevorratung einhergehen. Weder materiell noch immatierell. Sie argumentieren übrigens von einem bevorzugten Standpunkt aus, der den Ärmsten der Armen oder der viel kleineren Gruppe der Lebenskünstlerinnen und Lebenskünstlern fremd ist.
Der Utilitarismus, sich Menschen warm zu halten, um sie irgendwann in die Pflicht nehmen zu können, benötigt außerdem einen kalkulierenden Charakter, der die Welt als Schachbrett versteht. Was Opfer einschließt, ja sogar, bleiben wir beim strategischen Denken, erforderlich macht. In allerletzter Konsequenz suchten Sie sich also Ihre Freund- und Bekanntschaften nach der Nützlichkeit aus, um die schweren Tage, die irgendwann kommen, jede und jeder von uns sei im Alter oder im Krankheitsfalle auf Hilfe angewiesen, einigermaßen zu überstehen. Besser, Freund, und jetzt geht's ans moralisch Eingemachte, ist allerdings eine faire Gesellschaftsordnung, die uns im Falle eines Unglücks mit dem Notwendigen versorgt.
Survival of the fittest, der Raubtierkapitalismus, was die Almosenwirtschaft einschließt, in der sich die Reichen als Retterinnen und Retter von den Bedürftigen vergöttern lassen, das Überleben der Stärksten ist eine vordemokratische Lebensweise. Gewiss, ich idealisiere. Wir leben noch lange nicht in der besten aller Welten, aber wir sollten uns für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller einsetzen, anstatt uns als Einzelkämpferin oder Einzelkämpfer im Sturm bewähren zu wollen.
Enteignen wir die Raffgierigen, um unsere Eigentümlichkeiten zu entfalten. Kennt Reichtum eine Obergrenze, setzen wir der Not Grenzen.
Und, was dringend ansteht, erweitern wir die Bezugsgröße für die nachhaltige Anteilnahme: geben wir den Pflanzen- und Tierarten den Raum, den sie benötigen, geben wir den Flüssen und Ozeanen, den Wäldern und Steppen die Freiheit zurück. Nicht das eigene Unglück, Freund, erfordert derzeit Vorsorge. Unsere Erde, die wir uns, fälschlicherweise, beinahe komplett Untertan gemacht haben, die wir an den Rand des Klimakollapses gewirtschaftet haben, verzeiht uns nicht länger und schlägt zurück.
Denken wir nicht um, kommen wir um.
23. April 2019 und 21. November 2020
114.
Nie ein Mitbewerber seyn. Jeder Anspruch, dem Andre sich entgegenstellen, schadet dem Ansehn: die Mitbewerber streben sogleich uns zu verunglimpfen, um uns zu verdunkeln. Wenige Menschen führen auf eine redliche Art Krieg. Die Nebenbuhler decken die Fehler auf, welche die Nachsicht vergessen hatte. Viele standen in Ansehn, so lange sie keine Nebenbuhler hatten. Die Hitze des Wettstreits ruft längst abgestorbenen Schimpf ins Leben zurück und gräbt die ältesten Stänkereien wieder aus der Erde. Die Mitwerbung hebt an mit einem Manifest von Verunglimpfungen und nimmt nicht was sie darf, sondern was sie kann zur Hülfe. Und wenn gleich oft, ja meistens die Waffen der Herabsetzung nicht zum Zwecke führen; so suchen wenigstens durch solche die Gegner die niedrige Befriedigung der Rache, und schütteln sie dermaaßen in der Luft, daß von beschämenden Unfällen der Staub der Vergessenheit herabstiegt. Stets waren die Wohlwollenden friedlich und die Leute von Ruf und Ansehn wohlwollend.
Zweierlei, Freund, fällt mir zur Frage der Mitbewerbung ein.
Zunächst der offensichtlichere Punkt. Stünden wir zu unseren Fehlern, wären also die Ersten, die Irrtümer offenlegten, könnte uns niemand diese Verfehlungen als erwähnenswerte Neuigkeiten ankreiden.
Reinen Tisch zu machen, heißt wiederum nicht, den Abfall unter den Teppich zu kehren. Das sittliche Recyclen befreit von Altlasten, die illegale moralische Müllkippe fliegt uns dank ihrer Sicker- und Blähkraft früher oder später um die Ohren.
Dann, als zweite Issue, was, wenigstens heutzutage, außerordentlich wichtig ist, dann wäre da noch die Sache des Wofür. Welche Position streben wir warum an? In einer Parteiendemokratie ist das die Gretchen- und Faustfrage. Taugen die Kandidatinnen und Kandidaten wenig, sind für die fraglichen Positionen fachlich oder aus menschlichen Gründen ungeeignet, sollten sie, an sich, keinen Erfolg haben. Und selbst wenn eine weniger befähigte Persönlichkeit es in einer Partei an die Spitze der Wahlliste schafft, hat das Elektorat, normalerweise, wenn es über ausreichend Informationen verfügt und nicht von Hass und Rachegelüsten getrieben ist, genug Crowdvernunft und Schwarmintelligenz, um das Schlimmste abzuwenden. Ausnahmen bestätigen, bekanntlich, die Regel.
Erst wer sich bewirbt, lernt den Unterschied zwischen Freunden und Feinden kennen, die, nicht zuletzt, auch in der eigenen Seele wohnen.
Nicht jede Position verdient uns, wie wir nicht jede Stellung verdienen. Zu glauben, für alles geeignet zu sein, heißt nur, für nichts genau zu passen.
Mit Verstand begabte Generalistinnen und Generalisten haben den Vorteil, in einem öffentlichen Amt beratungsbereit zu sein, engstirnige Spezialistinnen und Spezialisten den Nachteil, sich zu oft in Details zu verheddern.
24. April
Nie ein Mitbewerber seyn. Jeder Anspruch, dem Andre sich entgegenstellen, schadet dem Ansehn: die Mitbewerber streben sogleich uns zu verunglimpfen, um uns zu verdunkeln. Wenige Menschen führen auf eine redliche Art Krieg. Die Nebenbuhler decken die Fehler auf, welche die Nachsicht vergessen hatte. Viele standen in Ansehn, so lange sie keine Nebenbuhler hatten. Die Hitze des Wettstreits ruft längst abgestorbenen Schimpf ins Leben zurück und gräbt die ältesten Stänkereien wieder aus der Erde. Die Mitwerbung hebt an mit einem Manifest von Verunglimpfungen und nimmt nicht was sie darf, sondern was sie kann zur Hülfe. Und wenn gleich oft, ja meistens die Waffen der Herabsetzung nicht zum Zwecke führen; so suchen wenigstens durch solche die Gegner die niedrige Befriedigung der Rache, und schütteln sie dermaaßen in der Luft, daß von beschämenden Unfällen der Staub der Vergessenheit herabstiegt. Stets waren die Wohlwollenden friedlich und die Leute von Ruf und Ansehn wohlwollend.
Zweierlei, Freund, fällt mir zur Frage der Mitbewerbung ein.
Zunächst der offensichtlichere Punkt. Stünden wir zu unseren Fehlern, wären also die Ersten, die Irrtümer offenlegten, könnte uns niemand diese Verfehlungen als erwähnenswerte Neuigkeiten ankreiden.
Reinen Tisch zu machen, heißt wiederum nicht, den Abfall unter den Teppich zu kehren. Das sittliche Recyclen befreit von Altlasten, die illegale moralische Müllkippe fliegt uns dank ihrer Sicker- und Blähkraft früher oder später um die Ohren.
Dann, als zweite Issue, was, wenigstens heutzutage, außerordentlich wichtig ist, dann wäre da noch die Sache des Wofür. Welche Position streben wir warum an? In einer Parteiendemokratie ist das die Gretchen- und Faustfrage. Taugen die Kandidatinnen und Kandidaten wenig, sind für die fraglichen Positionen fachlich oder aus menschlichen Gründen ungeeignet, sollten sie, an sich, keinen Erfolg haben. Und selbst wenn eine weniger befähigte Persönlichkeit es in einer Partei an die Spitze der Wahlliste schafft, hat das Elektorat, normalerweise, wenn es über ausreichend Informationen verfügt und nicht von Hass und Rachegelüsten getrieben ist, genug Crowdvernunft und Schwarmintelligenz, um das Schlimmste abzuwenden. Ausnahmen bestätigen, bekanntlich, die Regel.
Erst wer sich bewirbt, lernt den Unterschied zwischen Freunden und Feinden kennen, die, nicht zuletzt, auch in der eigenen Seele wohnen.
Nicht jede Position verdient uns, wie wir nicht jede Stellung verdienen. Zu glauben, für alles geeignet zu sein, heißt nur, für nichts genau zu passen.
Mit Verstand begabte Generalistinnen und Generalisten haben den Vorteil, in einem öffentlichen Amt beratungsbereit zu sein, engstirnige Spezialistinnen und Spezialisten den Nachteil, sich zu oft in Details zu verheddern.
24. April
115.
Sich an die Karakterfehler seiner Bekannten gewöhnen: eben wie an häßliche Gesichter. Es ist unerläßlich, wo Verpflichtungen uns an sie knüpfen. Es giebt erschreckliche Karaktere, mit welchen man nicht leben kann: jedoch ohne sie nun auch nicht. Dann ist es geschickt, sich an sie, wie an häßliche Gesichter, allmälig zu gewöhnen, damit man nicht, bei irgend einer fürchterlichen Gelegenheit, ganz aus der Fassung gerathe. Das erste Mal erregen sie Entsetzen: allein nach und nach verlieren sie an Scheußlichkeit, und die Ueberlegung weiß Unannehmlichkeiten vorzubeugen oder sie zu ertragen.
Was sind Charakterfehler, Freund? Lächeln Sie bitte nicht, selbst wenn Ihnen die Antwort so offensichtlich erscheint. Anders als in der Mathematik, wo Zahlen stur auf jeden Abzug mit einem Wertverlust reagieren, ist das nämlich mit dem Charakter und seinen Fehlern eine seltsame Sache: nicht allein reißen sie etwas aus uns heraus, machen uns an Tugenden leichter, sehr wohl kommt es auch zu einer Stärkung der übriggebliebenen Vortrefflichkeiten. Die Arete leckt nicht niedergeschlagen ihre Wunden, sondern stärkt, was in uns an Güte steckt.
Wer um die eigenen Fehler weiß, sollte nicht vor den Missgriffen anderer zittern. Schlimmer als in uns sei es nirgends.
Und der Begriff der Hässlichkeit, Freund, den Sie leichtsinnig als Vorurteil und Schreckensgrund einführen, hat vielerlei Seiten, an denen wir uns manchmal und manch andere allzeit ergötzen. Will sagen: das Hässliche entpuppt sich, so meine Erfahrung, häufig genug als die reine Schönheit, als der passende Zustand für einen wahrhaft aufschlussreichen Augenblick.
Dem oberflächlich Attraktiven am ästhetischen Altar zu huldigen, sei das Vorrecht naiver Kunstnarren, die sich weder für üble Geschmackstiefe noch die großartige Denkkraft des wütenden Widerstands interessieren.
25. April
Sich an die Karakterfehler seiner Bekannten gewöhnen: eben wie an häßliche Gesichter. Es ist unerläßlich, wo Verpflichtungen uns an sie knüpfen. Es giebt erschreckliche Karaktere, mit welchen man nicht leben kann: jedoch ohne sie nun auch nicht. Dann ist es geschickt, sich an sie, wie an häßliche Gesichter, allmälig zu gewöhnen, damit man nicht, bei irgend einer fürchterlichen Gelegenheit, ganz aus der Fassung gerathe. Das erste Mal erregen sie Entsetzen: allein nach und nach verlieren sie an Scheußlichkeit, und die Ueberlegung weiß Unannehmlichkeiten vorzubeugen oder sie zu ertragen.
Was sind Charakterfehler, Freund? Lächeln Sie bitte nicht, selbst wenn Ihnen die Antwort so offensichtlich erscheint. Anders als in der Mathematik, wo Zahlen stur auf jeden Abzug mit einem Wertverlust reagieren, ist das nämlich mit dem Charakter und seinen Fehlern eine seltsame Sache: nicht allein reißen sie etwas aus uns heraus, machen uns an Tugenden leichter, sehr wohl kommt es auch zu einer Stärkung der übriggebliebenen Vortrefflichkeiten. Die Arete leckt nicht niedergeschlagen ihre Wunden, sondern stärkt, was in uns an Güte steckt.
Wer um die eigenen Fehler weiß, sollte nicht vor den Missgriffen anderer zittern. Schlimmer als in uns sei es nirgends.
Und der Begriff der Hässlichkeit, Freund, den Sie leichtsinnig als Vorurteil und Schreckensgrund einführen, hat vielerlei Seiten, an denen wir uns manchmal und manch andere allzeit ergötzen. Will sagen: das Hässliche entpuppt sich, so meine Erfahrung, häufig genug als die reine Schönheit, als der passende Zustand für einen wahrhaft aufschlussreichen Augenblick.
Dem oberflächlich Attraktiven am ästhetischen Altar zu huldigen, sei das Vorrecht naiver Kunstnarren, die sich weder für üble Geschmackstiefe noch die großartige Denkkraft des wütenden Widerstands interessieren.
25. April
116.
Sich nur mit Leuten von Ehr- und Pflichtgefühl abgeben. Mit solchen kann man gegenseitige Verpflichtungen eingehn. Ihre eigene Ehre ist der beste Bürge für ihr Benehmen, sogar bei Mißhelligkeiten: denn sie handeln stets mit Rücksicht auf ihre Würde, daher Streit mit rechtlichen Leuten besser ist, als Sieg über unrechtliche. Mit den Verworfenen giebt es keinen sichern Umgang, weil sie keine Verpflichtung zur Rechtlichkeit fühlen: daher giebt es unter solchen auch keine wahre Freundschaft und ihre Freundschaftsbezeugungen sind nicht ächt, wenn sie es gleich scheinen, weil kein Ehrgefühl sie bekräftigt, und Leute, denen dieses fehlt, halte man immer von sich ab: denn wer die Ehre nicht hochhält, hält auch die Tugend nicht hoch, indem die Ehre der Thron der Rechtlichkeit ist.
Was für ein Satz, Freund! Der Streit mit rechtlichen Leuten sei besser, schreiben Sie, als der Sieg über unrechtliche. Richtiger kann man kaum liegen, scheint mir. Und lassen Sie mich hinzufügen, dass mich besonders das Eingeständnis des eigenen Falschliegens, was eben in dieser Äußerung steckt, beeindruckt. Denn Irrtümer passieren auch den ehrwürdigsten Personen. Niemand ist frei von Fehlurteilen. Wer das Gegenteil behauptet, beweist eben genau jenes.
Bleibt die beinahe obligatorische Einschränkung, die Sie dank Ihrer Ideen in mir wachrufen. Unseren Kontakt auf Menschen mit Ehr- und Pflichtgefühl zu beschränken, ist Humbug. Erstens treffen unsere moralischen Pfeile selten ins Urteilsschwarze, Launen und Intrigen lenken sie häufig ab. Zweitens haben wir oft genug über die Wertvorstellungen, die Entscheidungen motivieren, nicht den leisesten Schimmer. Und drittens halten wir ein bestimmtes Benehmen, das uns ständig in unserer Umgebung begegnet, für die Norm, obwohl es für andere einen Sittenverstoß, gar ein Verbrechen darstellt.
Menschen sind moralische Gewohnheitstiere, die ungern ihr Gatter verlassen.
Wer erst von der Freiheit gekostet hat, dem schmeckt die Knechtschaft niemals wieder.
26. April
Sich nur mit Leuten von Ehr- und Pflichtgefühl abgeben. Mit solchen kann man gegenseitige Verpflichtungen eingehn. Ihre eigene Ehre ist der beste Bürge für ihr Benehmen, sogar bei Mißhelligkeiten: denn sie handeln stets mit Rücksicht auf ihre Würde, daher Streit mit rechtlichen Leuten besser ist, als Sieg über unrechtliche. Mit den Verworfenen giebt es keinen sichern Umgang, weil sie keine Verpflichtung zur Rechtlichkeit fühlen: daher giebt es unter solchen auch keine wahre Freundschaft und ihre Freundschaftsbezeugungen sind nicht ächt, wenn sie es gleich scheinen, weil kein Ehrgefühl sie bekräftigt, und Leute, denen dieses fehlt, halte man immer von sich ab: denn wer die Ehre nicht hochhält, hält auch die Tugend nicht hoch, indem die Ehre der Thron der Rechtlichkeit ist.
Was für ein Satz, Freund! Der Streit mit rechtlichen Leuten sei besser, schreiben Sie, als der Sieg über unrechtliche. Richtiger kann man kaum liegen, scheint mir. Und lassen Sie mich hinzufügen, dass mich besonders das Eingeständnis des eigenen Falschliegens, was eben in dieser Äußerung steckt, beeindruckt. Denn Irrtümer passieren auch den ehrwürdigsten Personen. Niemand ist frei von Fehlurteilen. Wer das Gegenteil behauptet, beweist eben genau jenes.
Bleibt die beinahe obligatorische Einschränkung, die Sie dank Ihrer Ideen in mir wachrufen. Unseren Kontakt auf Menschen mit Ehr- und Pflichtgefühl zu beschränken, ist Humbug. Erstens treffen unsere moralischen Pfeile selten ins Urteilsschwarze, Launen und Intrigen lenken sie häufig ab. Zweitens haben wir oft genug über die Wertvorstellungen, die Entscheidungen motivieren, nicht den leisesten Schimmer. Und drittens halten wir ein bestimmtes Benehmen, das uns ständig in unserer Umgebung begegnet, für die Norm, obwohl es für andere einen Sittenverstoß, gar ein Verbrechen darstellt.
Menschen sind moralische Gewohnheitstiere, die ungern ihr Gatter verlassen.
Wer erst von der Freiheit gekostet hat, dem schmeckt die Knechtschaft niemals wieder.
26. April
117.
Nie von sich reden. Entweder man lobt sich, welches Eitelkeit, oder man tadelt sich, welches Kleinheit ist: und wie es im Sprecher Unklugheit verräth, so ist es für den Hörer eine Pein. Wenn nun dieses schon im gewöhnlichen Umgang zu vermeiden ist, wie viel mehr auf einem hohen Posten, wo man zur Versammlung redet, und wo der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gilt. Der gleiche Verstoß gegen die Klugheit liegt im Reden von Anwesenden, wegen der Gefahr auf eine von zwei Klippen zu stoßen: Schmeichelei oder Tadel.
Sich zu tadeln oder zu loben, Freund, zeugt von Einsicht. Sowohl ins vermeindlich Gute als auch unvermeindlich Schlechte des eigenen Charakters, der eigenen Handlungen, der eigenen Errungenschaften und, was anspornt oder deprimiert, Aussichten. Das Lausige als auch das Hervorragende sind doch wohl beides Zustände, die immerdar sind. Manchmal, was arg verwirrt, sogar zugleich.
Die Rolle des auswärtigen Kritikers und die der eingeflogenen Kritikerin, die wir uns alle beständig anmaßen, mehr oder minder begründet, langweilt und steht uns auf Dauer nicht zu. Erst einmal am eigenen Hemd die Flecken zu entdecken, sei die Rezensentenpflicht und Jurorinnenobliegenheit, bevor man anderen das Zeug am Leibe flickt.
Wer nicht vernünftig über sich selbst sprechen kann, kann in aller unschönen Regel nicht gescheit über andere sprechen.
Damit, Freund, möchte ich aber, der ich nach drei Stunden Schlaf gnadenlos übermüdet bin, gerade an sich einen kurzen Geduldsfaden habe, nicht enden. Ihre überaus kluge Bemerkung, dass der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gelte, hat mich vorübergehend ins Reich der Wachen zurückgeholt. Danke, diese scharfsinnige Erkenntnis dürfte mich auf alle Zeiten begleiten.
28. April
Nie von sich reden. Entweder man lobt sich, welches Eitelkeit, oder man tadelt sich, welches Kleinheit ist: und wie es im Sprecher Unklugheit verräth, so ist es für den Hörer eine Pein. Wenn nun dieses schon im gewöhnlichen Umgang zu vermeiden ist, wie viel mehr auf einem hohen Posten, wo man zur Versammlung redet, und wo der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gilt. Der gleiche Verstoß gegen die Klugheit liegt im Reden von Anwesenden, wegen der Gefahr auf eine von zwei Klippen zu stoßen: Schmeichelei oder Tadel.
Sich zu tadeln oder zu loben, Freund, zeugt von Einsicht. Sowohl ins vermeindlich Gute als auch unvermeindlich Schlechte des eigenen Charakters, der eigenen Handlungen, der eigenen Errungenschaften und, was anspornt oder deprimiert, Aussichten. Das Lausige als auch das Hervorragende sind doch wohl beides Zustände, die immerdar sind. Manchmal, was arg verwirrt, sogar zugleich.
Die Rolle des auswärtigen Kritikers und die der eingeflogenen Kritikerin, die wir uns alle beständig anmaßen, mehr oder minder begründet, langweilt und steht uns auf Dauer nicht zu. Erst einmal am eigenen Hemd die Flecken zu entdecken, sei die Rezensentenpflicht und Jurorinnenobliegenheit, bevor man anderen das Zeug am Leibe flickt.
Wer nicht vernünftig über sich selbst sprechen kann, kann in aller unschönen Regel nicht gescheit über andere sprechen.
Damit, Freund, möchte ich aber, der ich nach drei Stunden Schlaf gnadenlos übermüdet bin, gerade an sich einen kurzen Geduldsfaden habe, nicht enden. Ihre überaus kluge Bemerkung, dass der leichteste Schein von Unverstand schon für diesen selbst gelte, hat mich vorübergehend ins Reich der Wachen zurückgeholt. Danke, diese scharfsinnige Erkenntnis dürfte mich auf alle Zeiten begleiten.
28. April
118.
Den Ruf der Höflichkeit erwerben: denn er ist hinreichend, um beliebt zu seyn. Die Höflichkeit ist ein Haupttheil der Bildung und ist eine Art Hexerei, welche die Gunst Aller erobert, wie im Gegentheil Unhöflichkeit allgemeine Verachtung und Widerwillen erregt: wenn aus Stolz entspringend, ist sie abscheulich; wenn aus Grobheit, verächtlich. Die Höflichkeit sei allemal eher zu groß als zu klein, jedoch nicht gleich gegen Alle, wodurch sie zur Ungerechtigkeit würde. Zwischen Feinden ist sie Schuldigkeit, damit man seinen Werth zeige. Sie kostet wenig und hilft viel: jeder Verehrer ist geehrt. Höflichkeit und Ehre haben vor andern Dingen dies voraus, daß sie bei dem, der sie erzeigt, bleiben.
Und wieder, Freund, überzeugt mich das Bedenkliche weit mehr als das Unbedenkliche, welches Sie, quasi als falsche Masche, untreu und ergeben in Ihre Betrachtungen einfügen. Woher, bevor ich beides kurz beleuchte, woher mag diese Widerhakenlust stammen, die viele von uns als Marotte im Hirn tragen? Schrecken wir davor zurück, als eindimensional freundlich oder kurvenlos ablehnend zu gelten? Suchen wir das Sowohl-als-auch, weil wir in Wahrheit kompromisslos verwaschen sind? Oder, wohl eher die Wahrheit, sind und bleiben die Menschen und Dinge, wie wir sie auch wenden und drehen, nun mal vielstimmig? Krähen, kreischen, krawallen, obwohl in ihnen der Jubelwunsch nach Aufmerksamkeit heischt?
Wie auch immer, Sie haben ungewöhnlich viel Recht mit Ihrer Anbetung der Höflichkeit, gerade der, die wir unseren Opponenten zeigen sollten. Kracht es zwischen Freundinnen und Freunden, klärt sich die Luft, zwischen Feinden ziehen dagegen weitere Gewitterwolken auf und Sekunden später ist, oft genug, die Atmosphäre auf immer vergiftet. Man überlege sich also den Moment der Unhöflichkeit sehr genau, da er ein Giftpfeil ist, den wir nicht zu oft folgenlos abschießen können.
Nun noch ein Wort zu Ihrer Idee, dass wir die Höflichkeit wie eine Ware abwiegen sollten, da sie ansonsten zur Ungerechtigkeit führte. Hier spricht, Pardon, Freund, die machtversonnene Hofschranze aus Ihnen, der Courtier, der Handel mit der hierarchischen Etikette treibt, da's sich am Hofstaate als Kriecher besser aushalten lässt.
Begegnet uns Unhöflichkeit, die angestammt ist, sollten wir ihr grundsätzlich nicht mit Geduld und Freundlichkeit begegnen, sondern sie ausbooten. Wer Ungerechtigkeit akzeptiert, begeht eine moralische Rechtswidrigkeit. Kann jemand die Wahrheit nicht verdauen, sollten wir ihn nicht mit weiteren Lügen füttern. Auf Dauer mundet allein die Wahrheit. Die aufgeblasene Höflichkeit, zu der uns die Tradition vermeintlich verpflichtet, obwohl man sie uns nicht entgegenbringt, liegt dagegen schwer im Magen.
Das Gute sei nicht zu müde, ist das Böse hellwach.
29. April
Den Ruf der Höflichkeit erwerben: denn er ist hinreichend, um beliebt zu seyn. Die Höflichkeit ist ein Haupttheil der Bildung und ist eine Art Hexerei, welche die Gunst Aller erobert, wie im Gegentheil Unhöflichkeit allgemeine Verachtung und Widerwillen erregt: wenn aus Stolz entspringend, ist sie abscheulich; wenn aus Grobheit, verächtlich. Die Höflichkeit sei allemal eher zu groß als zu klein, jedoch nicht gleich gegen Alle, wodurch sie zur Ungerechtigkeit würde. Zwischen Feinden ist sie Schuldigkeit, damit man seinen Werth zeige. Sie kostet wenig und hilft viel: jeder Verehrer ist geehrt. Höflichkeit und Ehre haben vor andern Dingen dies voraus, daß sie bei dem, der sie erzeigt, bleiben.
Und wieder, Freund, überzeugt mich das Bedenkliche weit mehr als das Unbedenkliche, welches Sie, quasi als falsche Masche, untreu und ergeben in Ihre Betrachtungen einfügen. Woher, bevor ich beides kurz beleuchte, woher mag diese Widerhakenlust stammen, die viele von uns als Marotte im Hirn tragen? Schrecken wir davor zurück, als eindimensional freundlich oder kurvenlos ablehnend zu gelten? Suchen wir das Sowohl-als-auch, weil wir in Wahrheit kompromisslos verwaschen sind? Oder, wohl eher die Wahrheit, sind und bleiben die Menschen und Dinge, wie wir sie auch wenden und drehen, nun mal vielstimmig? Krähen, kreischen, krawallen, obwohl in ihnen der Jubelwunsch nach Aufmerksamkeit heischt?
Wie auch immer, Sie haben ungewöhnlich viel Recht mit Ihrer Anbetung der Höflichkeit, gerade der, die wir unseren Opponenten zeigen sollten. Kracht es zwischen Freundinnen und Freunden, klärt sich die Luft, zwischen Feinden ziehen dagegen weitere Gewitterwolken auf und Sekunden später ist, oft genug, die Atmosphäre auf immer vergiftet. Man überlege sich also den Moment der Unhöflichkeit sehr genau, da er ein Giftpfeil ist, den wir nicht zu oft folgenlos abschießen können.
Nun noch ein Wort zu Ihrer Idee, dass wir die Höflichkeit wie eine Ware abwiegen sollten, da sie ansonsten zur Ungerechtigkeit führte. Hier spricht, Pardon, Freund, die machtversonnene Hofschranze aus Ihnen, der Courtier, der Handel mit der hierarchischen Etikette treibt, da's sich am Hofstaate als Kriecher besser aushalten lässt.
Begegnet uns Unhöflichkeit, die angestammt ist, sollten wir ihr grundsätzlich nicht mit Geduld und Freundlichkeit begegnen, sondern sie ausbooten. Wer Ungerechtigkeit akzeptiert, begeht eine moralische Rechtswidrigkeit. Kann jemand die Wahrheit nicht verdauen, sollten wir ihn nicht mit weiteren Lügen füttern. Auf Dauer mundet allein die Wahrheit. Die aufgeblasene Höflichkeit, zu der uns die Tradition vermeintlich verpflichtet, obwohl man sie uns nicht entgegenbringt, liegt dagegen schwer im Magen.
Das Gute sei nicht zu müde, ist das Böse hellwach.
29. April
119.
Sich nicht verhaßt machen. Man rufe nicht den Widerwillen hervor: denn auch ungesucht kommt er gar bald von selbst. Viele verabscheuen aus freien Stücken, ohne zu wissen wofür oder warum. Ihr Uebelwollen kommt selbst unsrer Zuvorkommenheit zuvor. Die Gehässigkeit unsrer Natur ist thätiger und rascher zum fremden Schaden, als die Begehrlichkeit derselben zum eignen Vortheil. Einige gefallen sich darin, mit Allen auf einem schlechten Fuß zu seyn; weil sie Ueberdruß empfinden oder erregen. Hat einmal der Haß Wurzel gefaßt; so ist er, wie der schlechte Ruf, schwer auszurotten. Leute von vielem Verstande werden gefürchtet, die von böser Zunge werden verabscheut, die Anmaaßenden sind zum Ekel, die Spötter ein Gräuel, die Sonderlinge läßt man stehn. Demnach bezeuge man Hochachtung, um welche einzuerndten, und denke, daß geschätzt seyn ein Schatz ist.
Der Hass, Freund, Sie können's dank des Zeittals, das zwischen meinem und Ihrem Lebensgipfel liegt, nicht wissen, der Hass ist die härteste Währung meiner Ära, um genau zu sein: des noch sehr jungen Internet-Zeitalters. Aus der angeblichen Distanz, die viele Hasser als Schutzschild benutzen - das World Wide Web, was erwähnt werden muss, gaukelt uns eine gewaltige Entfernung und Anonymität vor, obwohl wir einander heutzutage viel einfacher und schneller als früher unter die dünne Haut kriechen -, aus der irrtümlich vermuteten Distanz erlauben sich die Leute Dinge, die ihnen mit ihren Nachbarn, träfen sie sie auf der Straße, niemals einfielen. Man schlägt und prügelt aufeinander ein, bricht Versprechen, missachtet den menschlichen Ab- und Anstand und geifert, was die dümmsten Instinkte hergeben.
Ja, das sei erwähnt, natürlich gibt's auch Frauen und Männer, die sich online verlieben und zarteste Worte füreinander finden. Es ist also an sich beinahe wie immer: einer oder eine schneidet mit dem Messer Brot, der oder die andere sticht uns mit demselben Instrument das Herz aus.
Wir vergessen gerade reihenweise Ihren Rat, dass das Geschätztsein ein Schatz ist. Und ich nehme mich davon nicht aus. Erst vorgestern, ich war vom Potsdamer Platz Richtung Hauptbahnhof unterwegs, traf ich, ausgerechnet vorm Kanzleramt, eine Gruppe Gelbwesten. Etwa 200 Menschen, deutlich mehr Männer als Frauen. Einer hielt eine Rede, in der er über die Islamisierung Europas schwadronierte, garniert von rechtspopulistischen Forderungen. In mir knallte die Vernunftsicherung durch. Ich bremste mein Fahrrad ab und machte mich, anders lässt's sich nicht formulieren, über die dümmlichen Gedankengänge und emotionalen Achsensprünge lustig - zwar mit Argumenten, aber eben auch mit, ja, einem Hauch von Hass, für den ich mich, noch beim Sprechen, zwar sofort schämte, ihn dennoch nicht abstellen konnte. Der Hass hatte mich fest im Griff, er lenkte meine Zunge, ließ mich abkanzeln, anstatt zu fragen und zu debattieren. Eine verpasste Gelegenheit zum Gespräch. Gewiss, geholfen hat's wenig, dass die muskulösen Gelbwesten-Aufpasser mich umringten und mit geballten Fäusten bearbeiteten. Dennoch: vielleicht wär's anders abgelaufen, hätte ich mich heiterer gezeigt, in meiner Kritik, in meinem Verständnis für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich abgehängt fühlen.
Empathie schwächt den Hass, Sympathie unterstützt die Liebe.
Wer Wut walten lässt, verscherzt sich manche Erkenntnis. Erst beim Zuhören fängt das eigentliche Reden an. Ein Monolog sei kein Gespräch, sondern eine monotone Selbstbefriedigung. Ohne Fragen gelingt keine Konversation. Statements sind Büsche ohne Beeren, sie mögen uns gefallen, nähren tun sie nicht.
29. April
Sich nicht verhaßt machen. Man rufe nicht den Widerwillen hervor: denn auch ungesucht kommt er gar bald von selbst. Viele verabscheuen aus freien Stücken, ohne zu wissen wofür oder warum. Ihr Uebelwollen kommt selbst unsrer Zuvorkommenheit zuvor. Die Gehässigkeit unsrer Natur ist thätiger und rascher zum fremden Schaden, als die Begehrlichkeit derselben zum eignen Vortheil. Einige gefallen sich darin, mit Allen auf einem schlechten Fuß zu seyn; weil sie Ueberdruß empfinden oder erregen. Hat einmal der Haß Wurzel gefaßt; so ist er, wie der schlechte Ruf, schwer auszurotten. Leute von vielem Verstande werden gefürchtet, die von böser Zunge werden verabscheut, die Anmaaßenden sind zum Ekel, die Spötter ein Gräuel, die Sonderlinge läßt man stehn. Demnach bezeuge man Hochachtung, um welche einzuerndten, und denke, daß geschätzt seyn ein Schatz ist.
Der Hass, Freund, Sie können's dank des Zeittals, das zwischen meinem und Ihrem Lebensgipfel liegt, nicht wissen, der Hass ist die härteste Währung meiner Ära, um genau zu sein: des noch sehr jungen Internet-Zeitalters. Aus der angeblichen Distanz, die viele Hasser als Schutzschild benutzen - das World Wide Web, was erwähnt werden muss, gaukelt uns eine gewaltige Entfernung und Anonymität vor, obwohl wir einander heutzutage viel einfacher und schneller als früher unter die dünne Haut kriechen -, aus der irrtümlich vermuteten Distanz erlauben sich die Leute Dinge, die ihnen mit ihren Nachbarn, träfen sie sie auf der Straße, niemals einfielen. Man schlägt und prügelt aufeinander ein, bricht Versprechen, missachtet den menschlichen Ab- und Anstand und geifert, was die dümmsten Instinkte hergeben.
Ja, das sei erwähnt, natürlich gibt's auch Frauen und Männer, die sich online verlieben und zarteste Worte füreinander finden. Es ist also an sich beinahe wie immer: einer oder eine schneidet mit dem Messer Brot, der oder die andere sticht uns mit demselben Instrument das Herz aus.
Wir vergessen gerade reihenweise Ihren Rat, dass das Geschätztsein ein Schatz ist. Und ich nehme mich davon nicht aus. Erst vorgestern, ich war vom Potsdamer Platz Richtung Hauptbahnhof unterwegs, traf ich, ausgerechnet vorm Kanzleramt, eine Gruppe Gelbwesten. Etwa 200 Menschen, deutlich mehr Männer als Frauen. Einer hielt eine Rede, in der er über die Islamisierung Europas schwadronierte, garniert von rechtspopulistischen Forderungen. In mir knallte die Vernunftsicherung durch. Ich bremste mein Fahrrad ab und machte mich, anders lässt's sich nicht formulieren, über die dümmlichen Gedankengänge und emotionalen Achsensprünge lustig - zwar mit Argumenten, aber eben auch mit, ja, einem Hauch von Hass, für den ich mich, noch beim Sprechen, zwar sofort schämte, ihn dennoch nicht abstellen konnte. Der Hass hatte mich fest im Griff, er lenkte meine Zunge, ließ mich abkanzeln, anstatt zu fragen und zu debattieren. Eine verpasste Gelegenheit zum Gespräch. Gewiss, geholfen hat's wenig, dass die muskulösen Gelbwesten-Aufpasser mich umringten und mit geballten Fäusten bearbeiteten. Dennoch: vielleicht wär's anders abgelaufen, hätte ich mich heiterer gezeigt, in meiner Kritik, in meinem Verständnis für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich abgehängt fühlen.
Empathie schwächt den Hass, Sympathie unterstützt die Liebe.
Wer Wut walten lässt, verscherzt sich manche Erkenntnis. Erst beim Zuhören fängt das eigentliche Reden an. Ein Monolog sei kein Gespräch, sondern eine monotone Selbstbefriedigung. Ohne Fragen gelingt keine Konversation. Statements sind Büsche ohne Beeren, sie mögen uns gefallen, nähren tun sie nicht.
29. April