Ende Drei
November
Das Unbekannte
Jede Lust hat ein Haltbarkeitsdatum.
Eine Vorgeschichte jede Beziehung.
Beinahe. Du sahst mich an.
Es gibt Ausnahmen, deren Jähheit mit altbekannten Bildern beschworen wird: Hals über Kopf.
Oder Blitz aus heiterm Himmel.
Liebe kennt, an sich, eine halbwegs bewährte Schnittmenge. Kennt, normalerweise, Überschneidungen, die mit gemeinsamen Freunden, Bekannten, Orten, Institutionen verbunden sind.
Out of the blue passiert, geht man ins Detail, selten.
Wir deckten uns zu. Der Sturm schlief neben uns ein. Du wachtest über mich. Ich zählte die Sprachen, die ich noch lernen wollte.
Selbst Paare, sagtest du, am nächsten Morgen, die von der Zufälligkeit ihrer ersten Begegnung beseelt sind, das Treffen als Schicksalsmoment bezeichnen, liegen einem romantischen Irrtum auf.
Besucht man dieselbe Universität, wird man zur selben Tagung eingeladen, isst man regelmäßig im selben Restaurant, tanzt im selben Club, engagiert sich im selben Verein, joggt im selben Park, bietet sich, früher oder später, die Chance zur Begegnung.
Du gähntest. Dein Körper hielt den Boden fern.
Ich roch an den Bohnen, die du im Schwarzen Tee aufgeweicht hattest.
Und?
Es erinnerte mich an nichts. Ich legte mich aufs Holz. Außer an dich und mich, sagte ich. In Bristol auf der Brücke. Dein Haar hatte nach Bohnen und Tee geduftet.
Die Geworfenheit, sagtest du, mir die Mühle aus der Hand nehmend, die selbstverständlich in jedem Leben existiert, ist in diesem Fall aleatorisch.
Kenngrößen geschuldet, die unseren Alltag ausmachen.
Ganz anders sieht es in der Fremde aus.
Wenn zwei Menschen allein unterwegs sind. Ohne Anhang. Ohne Verpflichtungen, Termine, Anlaufstellen.
Ohne Alltag.
Wenn zwei Menschen keine Ankerpunkte in einer fremden Stadt haben. Sich zufällig unterhalten und erstaunt feststellen, dass sie nichts miteinander teilen.
Keinerlei Berührungspunkte haben, außer - und das ist das entscheidende Außer - außer ein Gefühl für die oder den anderen.
*
Die Frage, die sich stellte, lautete: wie viele Geschlechtspartner solltest du, sollte ich im Leben haben? Sollte der eine mehr als die andere haben? Oder sollte die eine mehr als der andere haben? Und wie stand es mit dem Alter? Hatte Sexualität nicht eine grundverschiedene Bedeutung für jüngere Menschen als für alte oder sehr alte?
Reichte die Vorstellung, mit einem Fremden zu schlafen, um mit einem Fremden geschlafen zu haben? Reichte, einfach gesagt, das Schließen der Augen?
*
Dann, Sekunden später, die Warnung: in Gwangju könne man nicht einfach so die Straße überqueren. Lee hob den Zeigefinger. Es erinnerte uns an die Art wie die Polizisten ihre Schlagstöcke gehalten hatten, während des Marschierens. Sie waren den ganzen Samstag marschiert. In Zweier- und Dreierreihen. Selbst allein waren sie marschiert, der Schlagstock hatte ihnen Gesellschaft geleistet. Du sagtest: Danke. Wir wollen Euch nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich sagte, als mich Lee fragend ansah, alles gut. Ratschläge seien uns willkommen. Die Gastfreundschaft, die man uns entgegenbrächte, sei unwahrscheinlich. Die Leute rissen sich zwar nicht um einen, aber waren da, wenn nötig. Lee packte eine Zigarette aus, fragte Morrie um Feuer und blies den Rauch Richtung Polizeizentrale. Es käme darauf an, sagte sie, wann man wen zum Feind habe.
*
Sie flirteten mit dem Megaphone. Schrien sich die Lunge aus dem Leib. Sale. Dauersale. Rekordtiefpreise. Heute. Nur heute. Nicht morgen. Auf gar keinen Fall morgen.
Flüstertüte, sagtest du, allen Ernstes? So heißt das auf Deutsch?
Ein Euphemismus, sagte ich.
Ach, sagtest du und zogst ironisch die Braue hoch, tatsächlich?
*
Man hatte euch aufgehängt. Eure Köpfe abgeschnitten, gezeichnet, mit bezaubernden Strichen, ohne Körnung. Weichgewaschen, sagtest du. Schreibt man das zusammen?, fragte ich. In diesem Moment, dem Akt des Hängens, auf jeden Körperfall, sagtest du, wir baumeln im Lichtwind, sehen nach vorne, nur nach vorne, als gäbe es kein Hinten. Keinen Hinter Grund, sagte ich. Zwei Wörter?, fragtest du. Hinter Grund? Ja, sagte ich.
*
Der Taxifahrer war begeistert. Germany? Er klatschte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Germany - great. Great. Great. Yes, sagte ich, but Korea is great, too. Your team has even beaten the German football team at the World Cup in Russia. Er versteht dich nicht, sagtest du. Ich weiß, sagte ich und lächelte den Taxifahrer an, der zurücklächelte. Ich freue mich aufs Museum, sagtest du. Ich mich auch, sagte ich, obwohl meine Gedanken beim Vortrag waren, den ich am Nachmittag über Erinnerung und Architektur in Berlin und Gwangju halten würde. Ich kämpfte gleichzeitig gegen eine Erkältung, die ich mir im Flieger aufgehalst hatte. Auf dem Flug von Helsinki nach Seoul war es nicht nur extrem kalt in der Maschine gewesen, neben mir, gleich auf der anderen Seite des Ganges, hatte auch ein Mann mit einer brodelnden Erkältung gesessen. Er hatte, über Stunden, aufgestoßen, gerülpst, geschnieft und gehustet.
Beim Aussteigen, wir waren am Museum, ich war bereits außerhalb des Taxis, konnte ihn kaum noch hören, du dagegen hörtest ihn genau, beim Aussteigen sagte der koreanische Taxifahrer: Heil Hitler! Dabei zeigte er den Nazisalut.
*
Der Samen fror in der Plastikhülle. Wurde alt. Wie er. Ich, dachte er. Sei ehrlich. Der Respekt vor den anderen, die im Hotel aufräumten, hielt ihn davon ab, den sorgsam verpackten Samen in den Mülleimer zu legen. Es gab Dinge, die sich gehörten. Andere Dinge gehörten ihm. Ich werde, dachte er, den Samen mit nach Hause nehmen. Als wartete ein Frühling auf mich. Als gäbe es einen Sinn für Körperflüssigkeiten, die nicht mehr in mir lagern, die nicht mehr, als Lusttropfen, an mir hängen, die sich selbständig gemacht haben, das Weite gesucht, aber nicht gefunden haben, deren Sinnlosigkeit meine Sinnlosigkeit, deren Verpackung meine Verpackung ist.
*
Ihn griffen sie, die Masken. Schlugen auf Trommeln. Blech und blau. An Händen, fest. Fester als gedacht. Rieben. Kosten. Schlugen. Kugelten. Grunzten. Warfen gelbe Bänder, weiß gefärbt. Wild und wahr. Laut gezähmt. Vertrieben und lockten Geister, in den krummen Gängen, zwischen den Ständen, die alles feilboten, was zwischen Zähne, Gaumen, Mägen passte. Wohlgeruch, und der Tod. Immer der Tod. Warum ich, fragte er sie, später, in einer ruhigen Ecke. Sie lachte. Du bist der Exot, sagte sie, hier, der Fremde, der ragt, mit Zügen, unbekannt und bekannt zugleich.
*
Selbst wenn der Regen leicht sei, sagten sie, sollten wir bitte den Schirm benutzen. Der Wind wehe aus dem Norden und bringe schwere, chinesische Luft.
*
Wenn sich alles erzählen ließe, ließe sich nichts erzählen, sagte sie, als er, wieder mal, die Litanei der Freiheit des Narrativs anstimmte. Wer nach außen wirken wolle, habe eine Verantwortung dem uns gegebenen Erzählbaren gegenüber.
Gegeben?, wollte er wissen.
Herausgenommen, sagte sie. Vielleicht hätte ich das eher verwenden sollen: herausgenommen.
*
Bereits der Anflug aufs verregnete Helsinki war eine Qual gewesen. Tief hatte sich die Erkältung in seinen Körper gegraben. Jede Kavität gefüllt. Wöge ich mich, hatte er gedacht, brächte ich, dank des Schleims, wohl ein gutes halbes Kilo mehr auf die Waage. Seine Ohren hatten schon beim Verlassen der Flughöhe protestiert. Das Murren hatte sich, über den grünen finnischen Wäldern, zum Aufstand ausgeweitet. Er hatte ihr Wasser getrunken, ununterbrochen gegähnt, zwischendurch den Kiefer einklicken lassen und, eine Seltenheit für ihn, Angst gehabt, dass die Schmerzen im Gehörgang zu viel werden könnten.
*
Wir sind nicht, was wir sind, weil wir es sind, sondern weil wir es sein wollen, sagte sie.
Das mag für dich stimmen, sagte er, für mich trifft es nicht zu.
*
Selbstmitleid, sagten sie und sahen ins Schaufenster, steht nur ganz wenigen.
Ach, sagte er und machte ein Foto von einem schlafenden Mann, der auf einer Parkbank in der Sonne lag. Und ihr gehört wohl dazu?
Als Influenzer entscheiden wir, sagten sie, was uns steht. Erklären wir Melancholie zum Trend, steigt der Weltschmerz.
Ein englisches Wort, sagte er.
Wissen wir, sagten sie. Genau wie Angst.
*
Sich an sich selbst zu halten, habe ...
... warte, bitte, sagte sie, ihn, der am Boden lag, unterbrechend. Sie stand auf und ging zum Fenster. Öffnete es. Kalte Luft drang in den Raum. Zugvögel, sagte sie. Hörst du ihre Schwingen? Unvergleichlich.
Gänse, schätz ich, sagte er.
Mindestens zehn. Alte Schatten auf Baumkronen. Verwegen, stets unterwegs, frei. Im Schein des Halbmonds müde abgeflogen, sagte sie.
Ein Haiku, sagte er.
Spät, sagte sie, verdammt spät im Jahr.
*
Er strich über das Manuskript und die Daten aus dem Lebenslauf. Ein Sprint, kein Langlauf, dachte er.
*
Das Ziel der Abstraktion nicht aus den Augen zu verlieren, darum ging es. Die Form zu finden, die sich und uns genügte, zunächst, auf den ersten Blick, und dann, was am schwierigsten war, auf Dauer. Eine Form, die sich selbst hielt. Als schwebte sie im Raum. Bodenlos. Als wäre sie unabhängig. Und, was kein Paradox sein soll, abhängig zugleich. Wahrscheinlich der Zustand, der am seltesten erreicht wird.
*
Jeder November dachte an den Tod. Mehr noch als der Februar, der ihm glich, aus der Ferne des Jahreswechsels. Zumindest in unseren Breitengraden dachte der November an der Tod. Das Licht machte sich dünn, legte sich tief auf die Haut der Erde, entbehrte Wärme. Wir saßen draußen, neben uns, und zählten Tage. Es waren weniger, als wir erwarteten. Die Dauer leierte aus.
*
Ich kann's kaum erwarten, sagte sie, als der Regen einsetzte.
Das Dach des Wagens leckte. Sie standen am Rande der Talsperre.
Er sah sie fragend an.
Siehst du die Schleuse?, sagte sie.
Er nickte. Die da hinten, beim Zooeingang, sagte er.
Genau, sagte sie, beim ehemaligen Zooeingang.
Was ist mit der?, fragte er.
Sie wird brechen, sagte sie.
*
Was sich nicht vermeiden lasse, sei der Zweifel. An sich: ein Vorteil. Nur für sich: ein Nachteil. Er nagt, höhlt aus, lässt das Skelett zurück. Ich klappere mit meinen Gliedern, mit jedem Monat mehr. Verrate meine Position, ohne den Mund aufmachen zu müssen, sagte der Warlord, der echter war, als es der Schirm erlaubte.
Wir suchten, verstohlen, den Ausgang. Es gab keinen, den wir erreichen konnten. Seine Leibwächter lungerten vor der AI-Tür. Drei schliefen, auf den nackten Planken, die anderen, fünf oder sechs, spielten Karten und rauchten.
Hasch, sagtest du.
Ich nickte. So habe ich mir das nicht mit dem Spiel vorgestellt, sagte ich.
Werden nicht berechenbarer, sagtest du.
Ich nickte wieder. zeiten, dachte ich, die Zeiten werden nicht berechenbarer. Waren niemals berechenbar. Nichts lässt sich kalkulieren.
Diplomatie, sagte der Warlord, ist die Kunst, die eigenen Zweifel mit anderen zu teilen.
Friedlich, sagtest du.
Kommt drauf an, sagte der Warlord und grinste über uns, digitalwärts.
*
Die Powerstation glühte, angestrahlt vom Kapital, das floss, wie der Fluss, die Themse, an der die Baustelle lag. Kran um Kran hievte treu Gewichte, als gäbe es nur diesen Ort, nur diesen Moment. Glücklich waren die Kräne, glücklicher als die Gesichter der Arbeiter, die mit schweren Stiefeln die Powerstation umrundeten, deren Glühen nichts mit der alten Energie zu tun hatte, sondern vom Geldstrom aus Russland und China und Saudi-Arabien zum Leuchten gebracht wurde. Leerstand, so stand es in den Zügen der Männer geschrieben, war das Schicksal vieler Räume, die sie schufen, in der ungewöhnlichen Kälte, dem ewigen Nebel, das ungewöhnlich scharfe Bild, hineingerutscht, zeugte davon, kurz vorm Brexit.
*
Er ging sich auf die Nerven. Früh, vorm Morgengrauen. Lag blank in sich selbst. Stand nackt neben den Kleidern, die nicht passten, die rochen, nach Essen und Zeit. Nach der Sehnsucht. Regocnition.
Getragenes klebte an uns. Ohne und mit zu viel Erinnerung.
*
Die Sache mit dem Unbekannten war, um es salopp zu sagen, dass es sich, Hals über Kopf, verabschiedete, wurde es deiner ansichtig. Jene Sehnsucht, die wir fühlten, teilte es ganz und gar nicht. Es wusste besser - und damit meine ich: besser als wir -, was es wollte; oder, durchaus auch möglich, wir bildeten uns wenigstens ein, dass dies der Fall war. Die Schuld bei uns zu suchen, vermieden wir tunlichst. Der Reiz des Unbekannten lag, natürlich, zumindest teilweise, in der Distanz, die sich als unüberbrückbar herausstellte. Wären wir uns unter anderen Umständen begegnet, hätten wir einander vermutlich die kalte Schulter gezeigt. Dass es Gründe für deinen Annäherugnsversuch gab, die dem Unbekannten schaden konnten, war ihm sofort aufgegangen. Einen Vorteil hatte die Entfernung: durch die Abwesenheit blieb die Magie erhalten, oder das, was wir dafür hielten.
Die Steigerung von Fall? Abfall.
*
In dir bist und bleibst du allein.
Jede Teilhabe sei zeitlich begrenzt.
Kontakte bedeuten Kontrolle.
Kontrolle muss stets als Verlust definiert werden.
Glück, das sich überwachen lässt, gibt es nicht.
*
Sie hielten sich abseits, von sich und der Wahrheit. Was, zunächst, weder andere noch sie störte. Als es jedoch darum ging, Farbe zu bekennen, drucksten sie, millionenfach, in bewährter Weise herum, entschuldigten sich mit ihrer Sehschwäche, was ihnen, die ohne Brille sowohl Fernes als auch Naheliegendes problemlos sehen konnten, keiner abnahm. Sie rafften weiter, was ihnen die Demokratie im Endstadium anbot, aber verzichteten darauf, für die Freiheit in die Bresche zu springen. Schließlich, irgendetwas musste ja unternommen werden, traten sie der Diktatur bei.
*
Wer ist der Treue treu?
November
Das Unbekannte
Jede Lust hat ein Haltbarkeitsdatum.
Eine Vorgeschichte jede Beziehung.
Beinahe. Du sahst mich an.
Es gibt Ausnahmen, deren Jähheit mit altbekannten Bildern beschworen wird: Hals über Kopf.
Oder Blitz aus heiterm Himmel.
Liebe kennt, an sich, eine halbwegs bewährte Schnittmenge. Kennt, normalerweise, Überschneidungen, die mit gemeinsamen Freunden, Bekannten, Orten, Institutionen verbunden sind.
Out of the blue passiert, geht man ins Detail, selten.
Wir deckten uns zu. Der Sturm schlief neben uns ein. Du wachtest über mich. Ich zählte die Sprachen, die ich noch lernen wollte.
Selbst Paare, sagtest du, am nächsten Morgen, die von der Zufälligkeit ihrer ersten Begegnung beseelt sind, das Treffen als Schicksalsmoment bezeichnen, liegen einem romantischen Irrtum auf.
Besucht man dieselbe Universität, wird man zur selben Tagung eingeladen, isst man regelmäßig im selben Restaurant, tanzt im selben Club, engagiert sich im selben Verein, joggt im selben Park, bietet sich, früher oder später, die Chance zur Begegnung.
Du gähntest. Dein Körper hielt den Boden fern.
Ich roch an den Bohnen, die du im Schwarzen Tee aufgeweicht hattest.
Und?
Es erinnerte mich an nichts. Ich legte mich aufs Holz. Außer an dich und mich, sagte ich. In Bristol auf der Brücke. Dein Haar hatte nach Bohnen und Tee geduftet.
Die Geworfenheit, sagtest du, mir die Mühle aus der Hand nehmend, die selbstverständlich in jedem Leben existiert, ist in diesem Fall aleatorisch.
Kenngrößen geschuldet, die unseren Alltag ausmachen.
Ganz anders sieht es in der Fremde aus.
Wenn zwei Menschen allein unterwegs sind. Ohne Anhang. Ohne Verpflichtungen, Termine, Anlaufstellen.
Ohne Alltag.
Wenn zwei Menschen keine Ankerpunkte in einer fremden Stadt haben. Sich zufällig unterhalten und erstaunt feststellen, dass sie nichts miteinander teilen.
Keinerlei Berührungspunkte haben, außer - und das ist das entscheidende Außer - außer ein Gefühl für die oder den anderen.
*
Die Frage, die sich stellte, lautete: wie viele Geschlechtspartner solltest du, sollte ich im Leben haben? Sollte der eine mehr als die andere haben? Oder sollte die eine mehr als der andere haben? Und wie stand es mit dem Alter? Hatte Sexualität nicht eine grundverschiedene Bedeutung für jüngere Menschen als für alte oder sehr alte?
Reichte die Vorstellung, mit einem Fremden zu schlafen, um mit einem Fremden geschlafen zu haben? Reichte, einfach gesagt, das Schließen der Augen?
*
Dann, Sekunden später, die Warnung: in Gwangju könne man nicht einfach so die Straße überqueren. Lee hob den Zeigefinger. Es erinnerte uns an die Art wie die Polizisten ihre Schlagstöcke gehalten hatten, während des Marschierens. Sie waren den ganzen Samstag marschiert. In Zweier- und Dreierreihen. Selbst allein waren sie marschiert, der Schlagstock hatte ihnen Gesellschaft geleistet. Du sagtest: Danke. Wir wollen Euch nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich sagte, als mich Lee fragend ansah, alles gut. Ratschläge seien uns willkommen. Die Gastfreundschaft, die man uns entgegenbrächte, sei unwahrscheinlich. Die Leute rissen sich zwar nicht um einen, aber waren da, wenn nötig. Lee packte eine Zigarette aus, fragte Morrie um Feuer und blies den Rauch Richtung Polizeizentrale. Es käme darauf an, sagte sie, wann man wen zum Feind habe.
*
Sie flirteten mit dem Megaphone. Schrien sich die Lunge aus dem Leib. Sale. Dauersale. Rekordtiefpreise. Heute. Nur heute. Nicht morgen. Auf gar keinen Fall morgen.
Flüstertüte, sagtest du, allen Ernstes? So heißt das auf Deutsch?
Ein Euphemismus, sagte ich.
Ach, sagtest du und zogst ironisch die Braue hoch, tatsächlich?
*
Man hatte euch aufgehängt. Eure Köpfe abgeschnitten, gezeichnet, mit bezaubernden Strichen, ohne Körnung. Weichgewaschen, sagtest du. Schreibt man das zusammen?, fragte ich. In diesem Moment, dem Akt des Hängens, auf jeden Körperfall, sagtest du, wir baumeln im Lichtwind, sehen nach vorne, nur nach vorne, als gäbe es kein Hinten. Keinen Hinter Grund, sagte ich. Zwei Wörter?, fragtest du. Hinter Grund? Ja, sagte ich.
*
Der Taxifahrer war begeistert. Germany? Er klatschte sich vor Vergnügen auf die Schenkel. Germany - great. Great. Great. Yes, sagte ich, but Korea is great, too. Your team has even beaten the German football team at the World Cup in Russia. Er versteht dich nicht, sagtest du. Ich weiß, sagte ich und lächelte den Taxifahrer an, der zurücklächelte. Ich freue mich aufs Museum, sagtest du. Ich mich auch, sagte ich, obwohl meine Gedanken beim Vortrag waren, den ich am Nachmittag über Erinnerung und Architektur in Berlin und Gwangju halten würde. Ich kämpfte gleichzeitig gegen eine Erkältung, die ich mir im Flieger aufgehalst hatte. Auf dem Flug von Helsinki nach Seoul war es nicht nur extrem kalt in der Maschine gewesen, neben mir, gleich auf der anderen Seite des Ganges, hatte auch ein Mann mit einer brodelnden Erkältung gesessen. Er hatte, über Stunden, aufgestoßen, gerülpst, geschnieft und gehustet.
Beim Aussteigen, wir waren am Museum, ich war bereits außerhalb des Taxis, konnte ihn kaum noch hören, du dagegen hörtest ihn genau, beim Aussteigen sagte der koreanische Taxifahrer: Heil Hitler! Dabei zeigte er den Nazisalut.
*
Der Samen fror in der Plastikhülle. Wurde alt. Wie er. Ich, dachte er. Sei ehrlich. Der Respekt vor den anderen, die im Hotel aufräumten, hielt ihn davon ab, den sorgsam verpackten Samen in den Mülleimer zu legen. Es gab Dinge, die sich gehörten. Andere Dinge gehörten ihm. Ich werde, dachte er, den Samen mit nach Hause nehmen. Als wartete ein Frühling auf mich. Als gäbe es einen Sinn für Körperflüssigkeiten, die nicht mehr in mir lagern, die nicht mehr, als Lusttropfen, an mir hängen, die sich selbständig gemacht haben, das Weite gesucht, aber nicht gefunden haben, deren Sinnlosigkeit meine Sinnlosigkeit, deren Verpackung meine Verpackung ist.
*
Ihn griffen sie, die Masken. Schlugen auf Trommeln. Blech und blau. An Händen, fest. Fester als gedacht. Rieben. Kosten. Schlugen. Kugelten. Grunzten. Warfen gelbe Bänder, weiß gefärbt. Wild und wahr. Laut gezähmt. Vertrieben und lockten Geister, in den krummen Gängen, zwischen den Ständen, die alles feilboten, was zwischen Zähne, Gaumen, Mägen passte. Wohlgeruch, und der Tod. Immer der Tod. Warum ich, fragte er sie, später, in einer ruhigen Ecke. Sie lachte. Du bist der Exot, sagte sie, hier, der Fremde, der ragt, mit Zügen, unbekannt und bekannt zugleich.
*
Selbst wenn der Regen leicht sei, sagten sie, sollten wir bitte den Schirm benutzen. Der Wind wehe aus dem Norden und bringe schwere, chinesische Luft.
*
Wenn sich alles erzählen ließe, ließe sich nichts erzählen, sagte sie, als er, wieder mal, die Litanei der Freiheit des Narrativs anstimmte. Wer nach außen wirken wolle, habe eine Verantwortung dem uns gegebenen Erzählbaren gegenüber.
Gegeben?, wollte er wissen.
Herausgenommen, sagte sie. Vielleicht hätte ich das eher verwenden sollen: herausgenommen.
*
Bereits der Anflug aufs verregnete Helsinki war eine Qual gewesen. Tief hatte sich die Erkältung in seinen Körper gegraben. Jede Kavität gefüllt. Wöge ich mich, hatte er gedacht, brächte ich, dank des Schleims, wohl ein gutes halbes Kilo mehr auf die Waage. Seine Ohren hatten schon beim Verlassen der Flughöhe protestiert. Das Murren hatte sich, über den grünen finnischen Wäldern, zum Aufstand ausgeweitet. Er hatte ihr Wasser getrunken, ununterbrochen gegähnt, zwischendurch den Kiefer einklicken lassen und, eine Seltenheit für ihn, Angst gehabt, dass die Schmerzen im Gehörgang zu viel werden könnten.
*
Wir sind nicht, was wir sind, weil wir es sind, sondern weil wir es sein wollen, sagte sie.
Das mag für dich stimmen, sagte er, für mich trifft es nicht zu.
*
Selbstmitleid, sagten sie und sahen ins Schaufenster, steht nur ganz wenigen.
Ach, sagte er und machte ein Foto von einem schlafenden Mann, der auf einer Parkbank in der Sonne lag. Und ihr gehört wohl dazu?
Als Influenzer entscheiden wir, sagten sie, was uns steht. Erklären wir Melancholie zum Trend, steigt der Weltschmerz.
Ein englisches Wort, sagte er.
Wissen wir, sagten sie. Genau wie Angst.
*
Sich an sich selbst zu halten, habe ...
... warte, bitte, sagte sie, ihn, der am Boden lag, unterbrechend. Sie stand auf und ging zum Fenster. Öffnete es. Kalte Luft drang in den Raum. Zugvögel, sagte sie. Hörst du ihre Schwingen? Unvergleichlich.
Gänse, schätz ich, sagte er.
Mindestens zehn. Alte Schatten auf Baumkronen. Verwegen, stets unterwegs, frei. Im Schein des Halbmonds müde abgeflogen, sagte sie.
Ein Haiku, sagte er.
Spät, sagte sie, verdammt spät im Jahr.
*
Er strich über das Manuskript und die Daten aus dem Lebenslauf. Ein Sprint, kein Langlauf, dachte er.
*
Das Ziel der Abstraktion nicht aus den Augen zu verlieren, darum ging es. Die Form zu finden, die sich und uns genügte, zunächst, auf den ersten Blick, und dann, was am schwierigsten war, auf Dauer. Eine Form, die sich selbst hielt. Als schwebte sie im Raum. Bodenlos. Als wäre sie unabhängig. Und, was kein Paradox sein soll, abhängig zugleich. Wahrscheinlich der Zustand, der am seltesten erreicht wird.
*
Jeder November dachte an den Tod. Mehr noch als der Februar, der ihm glich, aus der Ferne des Jahreswechsels. Zumindest in unseren Breitengraden dachte der November an der Tod. Das Licht machte sich dünn, legte sich tief auf die Haut der Erde, entbehrte Wärme. Wir saßen draußen, neben uns, und zählten Tage. Es waren weniger, als wir erwarteten. Die Dauer leierte aus.
*
Ich kann's kaum erwarten, sagte sie, als der Regen einsetzte.
Das Dach des Wagens leckte. Sie standen am Rande der Talsperre.
Er sah sie fragend an.
Siehst du die Schleuse?, sagte sie.
Er nickte. Die da hinten, beim Zooeingang, sagte er.
Genau, sagte sie, beim ehemaligen Zooeingang.
Was ist mit der?, fragte er.
Sie wird brechen, sagte sie.
*
Was sich nicht vermeiden lasse, sei der Zweifel. An sich: ein Vorteil. Nur für sich: ein Nachteil. Er nagt, höhlt aus, lässt das Skelett zurück. Ich klappere mit meinen Gliedern, mit jedem Monat mehr. Verrate meine Position, ohne den Mund aufmachen zu müssen, sagte der Warlord, der echter war, als es der Schirm erlaubte.
Wir suchten, verstohlen, den Ausgang. Es gab keinen, den wir erreichen konnten. Seine Leibwächter lungerten vor der AI-Tür. Drei schliefen, auf den nackten Planken, die anderen, fünf oder sechs, spielten Karten und rauchten.
Hasch, sagtest du.
Ich nickte. So habe ich mir das nicht mit dem Spiel vorgestellt, sagte ich.
Werden nicht berechenbarer, sagtest du.
Ich nickte wieder. zeiten, dachte ich, die Zeiten werden nicht berechenbarer. Waren niemals berechenbar. Nichts lässt sich kalkulieren.
Diplomatie, sagte der Warlord, ist die Kunst, die eigenen Zweifel mit anderen zu teilen.
Friedlich, sagtest du.
Kommt drauf an, sagte der Warlord und grinste über uns, digitalwärts.
*
Die Powerstation glühte, angestrahlt vom Kapital, das floss, wie der Fluss, die Themse, an der die Baustelle lag. Kran um Kran hievte treu Gewichte, als gäbe es nur diesen Ort, nur diesen Moment. Glücklich waren die Kräne, glücklicher als die Gesichter der Arbeiter, die mit schweren Stiefeln die Powerstation umrundeten, deren Glühen nichts mit der alten Energie zu tun hatte, sondern vom Geldstrom aus Russland und China und Saudi-Arabien zum Leuchten gebracht wurde. Leerstand, so stand es in den Zügen der Männer geschrieben, war das Schicksal vieler Räume, die sie schufen, in der ungewöhnlichen Kälte, dem ewigen Nebel, das ungewöhnlich scharfe Bild, hineingerutscht, zeugte davon, kurz vorm Brexit.
*
Er ging sich auf die Nerven. Früh, vorm Morgengrauen. Lag blank in sich selbst. Stand nackt neben den Kleidern, die nicht passten, die rochen, nach Essen und Zeit. Nach der Sehnsucht. Regocnition.
Getragenes klebte an uns. Ohne und mit zu viel Erinnerung.
*
Die Sache mit dem Unbekannten war, um es salopp zu sagen, dass es sich, Hals über Kopf, verabschiedete, wurde es deiner ansichtig. Jene Sehnsucht, die wir fühlten, teilte es ganz und gar nicht. Es wusste besser - und damit meine ich: besser als wir -, was es wollte; oder, durchaus auch möglich, wir bildeten uns wenigstens ein, dass dies der Fall war. Die Schuld bei uns zu suchen, vermieden wir tunlichst. Der Reiz des Unbekannten lag, natürlich, zumindest teilweise, in der Distanz, die sich als unüberbrückbar herausstellte. Wären wir uns unter anderen Umständen begegnet, hätten wir einander vermutlich die kalte Schulter gezeigt. Dass es Gründe für deinen Annäherugnsversuch gab, die dem Unbekannten schaden konnten, war ihm sofort aufgegangen. Einen Vorteil hatte die Entfernung: durch die Abwesenheit blieb die Magie erhalten, oder das, was wir dafür hielten.
Die Steigerung von Fall? Abfall.
*
In dir bist und bleibst du allein.
Jede Teilhabe sei zeitlich begrenzt.
Kontakte bedeuten Kontrolle.
Kontrolle muss stets als Verlust definiert werden.
Glück, das sich überwachen lässt, gibt es nicht.
*
Sie hielten sich abseits, von sich und der Wahrheit. Was, zunächst, weder andere noch sie störte. Als es jedoch darum ging, Farbe zu bekennen, drucksten sie, millionenfach, in bewährter Weise herum, entschuldigten sich mit ihrer Sehschwäche, was ihnen, die ohne Brille sowohl Fernes als auch Naheliegendes problemlos sehen konnten, keiner abnahm. Sie rafften weiter, was ihnen die Demokratie im Endstadium anbot, aber verzichteten darauf, für die Freiheit in die Bresche zu springen. Schließlich, irgendetwas musste ja unternommen werden, traten sie der Diktatur bei.
*
Wer ist der Treue treu?