Mitte Fünf
Januar
Der Laut
Schwierig, davon zu sprechen. Mit sich selbst. Mit uns. Euch. Fremd und vertraut. Organic. Die Nachhaltigkeit ewiger Erregung. Sie standen in einer Reihe, verrückte Richtungen, nach vorne und hinten. Ihr Mund auf seinem. Gesucht. Sie ihn, er sie. Ergriffen. Worte gestaucht und geküsst, Glieder. Raum, den sie teilten, vermaßen, schützten. Finger. Und Nägel. Und Zähne, geklappert. Die Kält der Angst, die Hitze der Furcht. Gelotst, durch Untiefen. Und gerammt. Begriffe, im Rachen versteckt. Körper, ergriffen. Ihre Hände kannten Orte, Terra incognita, über die man nicht mit anderen sprach, die wir dennoch nicht vergaßen, die uns nicht ließen, über die man selten schrieb, und wenn, machte man es niemanden recht. Jeder Akt legte Wert auf seine Eigenart. Orte. In denen man vor Glück schrie, vor Last, sich, dann doch, vergaß, und, sich erinnernd, staunend kam, gekrümmt, mit alten Lauten, die man nur jetzt eigen nannte, nach Leben suchte, wieder und wieder. Again. A gain. Seine Lippen auf ihren. Körper flüsterten. Das taten sie. Zusammen. Summten. Quietschten. Summary. Offen, geschlossen. Feucht, getrocknet. Als lernten sie. Was Abgrund genug war. Als brachten sie sich selbst Dinge bei. Uns Dinge bei, die wir in ihnen wohnten, zur Untermiete, aus ihnen atmeten, oberhalb der fraglichen Organe, mit Nasen, jung und alt. Die Pupillen blieben unverändert, ausgezeichnet. Blau, seine, braun, ihre; vice versa. Was vorhanden ist, war, sein sollte. An Zuflucht. Und Sinnlichkeit. Nein, sage es nicht. Doch. Und Sinn. Er schämte sich. Reibeisen. Gebrochen. Ungedacht. Angenähert. Er glaubte, er bliebe befriedigt jung. Als hingen Sachen zusammen. Gefühle, die sich, wiederum, das ließe sich sagen, vernetzten. Enger wurden. Gesprochen und geschwiegen. Und, sie blieben ehrlich, geschlossene Augen, zwischendurch geöffnet, auch das, sie kamen und starben. In- und miteinander. Am Ende zu zweit, zu dritt und allein.
Oak Avenue, North Cheam, Worcester Park, im geliehenen Raum, über die Feiertage eingehegt, gezwängt, freiwillig, ungeahnt, was käme, heute, während er diesen Satz schrieb, heirateteten die Eigentümer des Mock-Tudor-Hauses, im geliehenen Raum stand er, aus den 30er-Jahren, stand unweit der Waschmaschine, des Trockners, Miele dachte er, seine Mutter hatte ihnen, daheim, zum Einzug, eine Miele gekauft, in Mitte, wo sie wohnten, wie konnte man in Mitte leben, dachte er, jedesmal dachte er das, wenn er gefragt wurde, wo sie in Berlin lebten, und lächelnd wir leben in Mitte sagte, obwohl es kein Zentrum gab, weder in der Philosophie noch in der Erdkunde, der Weltenkunde, um genau zu sein, im geliehenen Raum des Londoner Vororts, Metroland, beinahe, stand er, nach einer weiteren schlaflosen Nacht erschöpft, unweit der spinning Waschmaschine, deren Lichter, besonders das runde, das jenes Rad umfing, das man nutzte, um die Programme einzustellen, deren Lichter vor seinen Augen, er trug keine Brille, verschwammen. Kreise tanzten, zuckten als gelbe Blitze übers Display, drei Meter entfernt. Die Laute des Schleudergangs begleiteten die Blitze. Feuer brach aus. Immer brach Feuer aus, wenn er sich konzentrierte und schaute. Seine Augen fühlten sich frei, beweglich. Freier als er, ungebundener. Die Freiheit der Augen, die sich nicht dem Festen verpflichtet fühlten, nahm Jahr für Jahr zu. Ob Blindheit, im gewissen Sinne, die höchste Freiheit darstellt, fragte er sich, in die Brunst blickend. Gelbe und rote Flammen zuckten. Er speicherte das Bild, ohne Kamera. Wollte es besitzen. Endlos viele Bilder hatte er so gespeichert. Eines Tages würde der Ikonudule, wie sie ihn nannte, die Bilder zeichnen, er hatte es sich vorgenommen. Im Augenblick reichte die Camera obscura.
Die Lust am Bild, um naiv-kapriziös anzufangen: die Lust am Idol, am trügerischen Bild, das uns lange vorschwebt, die Lust am Bild geht einher mit der Anbetung der Farbe, mehr noch als der Form. Die Farben bleiben, so schien es ihm, der täglich anders sah, gewischt sah, in Schlieren sah, tags, nachts, die Farben blieben sich - und damit ihm - treuer als die Formen, deren Hülle, wie sein Körper, auf Veränderung drängte.
Obwohl die Vorstellung, dass es unseren Weltraum nicht gibt, ihm nicht fremd war, er die (meta)physische Idee, dass Alles Nichts sei, überzeugender fand als das Gegenteil - dass Nichts Alles sei -, machte ihn das Farbensehen glücklich, einigermaßen, zumindest.
*
Du sagtest, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Sie sagten, wie denn? Du sagtest, anders, irgendwie anders. Sie sagten, weniger eintönig? Du sagtest, es ist nicht die Eintönigkeit, die mich stört, wobei: stört ist auch nicht das richtige Wort, die mich mürbe macht, ja das passt besser, dass mir alles unter den Fingern zerbröselt, entspricht nicht meinen Wünschen. Sie sagten, du hast Wünsche? Stellst du dir den Tag als Jukebox vor? Aufstehen, Münzeinwurf, Lieblingsmelodie? Du sagtest, so hätte ich das nicht beschrieben. Sie sagten, wie denn? Du sagtest, das habt ihr eben bereits gefragt. Sie sagten, was ist falsch an Wiederholungen? Du sagtest, das ist genau das Problem.
*
Du fingst dich, sagten sie, damals, nach der Krise, wurde auch Zeit, haarscharf am Abgrund, erinnerst du dich?, wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Du hast es besser gewusst, hast trotzdem geschwiegen, was hätte es auch gebracht, Taten in Serie zu begehen? Eine Reihe, sagtest du schließlich, sei die Feindin des Punktes, Hubert Fichte hat das verstanden. Sie sahen sich an und verdrehten die Augen. Dir war es einerlei. Dein Lachen hallte im Waisenhaus, durch leere Gänge. In den Zimmern bekreuzigten sich die Schwestern, zürnten den Brüdern und griffen nach zerlesenen Bibeln.
*
P, die Bedienung, ein Mann, der, seit einem Unfall auf den Lofoten, auf dem in der Zwischenzeit geschlossenen, vom Wind gebeutelten Flugplatz Værøy, der mit beiden Beinen hinkte, war angehalten, den Gästen, während des langwierigen Bezahlvorgangs, das Kartenlesegerät funktionierte, dank des schlechten Datenempfangs, extrem langsam, P war angehalten, den Gästen im Lokal hergestellte, in aller Regel noch lauwarme Haarprodukte aufzuschwatzen. Der Hinkende, der selbst, von Geburt an, kein einziges Haar am Körper hatte, sogar Wimpern und Achselhöhlenhaare fehlten ihm, hatte den Suppenkaspar als Arbeitsplatz gewählt, da das Restaurant in den historischen Gewölben eines Armenhauses aus dem Mittelalter lag, kühl und dunkel, in zehn Meter Tiefe. Von den Haarprodukten hatte beim Einstellungsgespräch niemand gesprochen. P war zwar, augenzwinkernd, wie er geglaubt hatte, am Ende des Interviews gefragt worden, ob er zufällig etwas über die Relation zwischen Zahl der Kopfhaare und Farbe wüsste. Nicht dass das bei ihm eine Rolle spielte, hatte R, der Besitzer des Kellers, ein ehemaliger Clown, dessen Sehfähigkeit nach einer chemischen Verpuffung unter fünf Prozent lag, hinzugefügt. Es würde ihn nur mal so interessieren, da der offensichtliche Mangel, der anwesende Koch hätte ihn auf, Zitat, Ps poliertes Erscheinungsbild hingewiesen, möglicherweise zu einem Plus an Wissen geführt haben könnte. Der Hinkende hatte, während der Frage, unauffällig sein Smartphone gecheckt und, ohne zu zögern, gesagt, Blonde hätten im Durchschnitt 150.000 auf dem Kopf, Brünette immerhin noch 110.000, Schwarzhaarige kämen auf 100.000 und Rothaarige auf 88.000. Der Besitzer des Suppenkaspars, der hauptsächlich von Touristen lebte, sich um seinen Ruf in der Stadt keinerlei Sorgen machte, die Einheimischen bevorzugten Lokale, in denen man im sehr langen Winter am Fenster und im sehr kurzen Sommer im Garten sitzen konnte, der Besitzer hatte P auf der Stelle, noch für den Abend, angeheuert.
*
Ein gerissener Geduldsfaden verknüpft ansonsten Ungesagtes, sagtest du, als er dich um Mäßigung bat. Die Beherrschung sei ein patriarchisches Konzept, anti-demokratisch, anti-feministisch. Wir müssten uns stets die Frage stellen, wem die Zügelung helfe, wer von der Ruhe und der Resignation profitiere. Sind es die Unterdrückten? Dann mäßigen wir uns. Ist es die Oberklasse, die einerseits den Mindestlohn niedrighält, andererseits gegen die Besteuerung von Zinseinkommen und gegen jedwede Transaktionssteuer wettert? Dann mäßigen wir uns nicht, unter gar keinen Umständen. Die asoziale Marktwirtschaft, von der sie träumen, sagtest du zu ihm, sei ein Feind der Demokratie. Dass nur ein Teil der Gesellschaft die Last trüge, der andere Teil tragen lasse, käme nicht in Frage. Risse der Geduldsfaden, gäbe es dafür Gründe, die sich nicht männerbündisch vom Tisch fegen ließen. Die Zeit des Duckens sei vorbei, der Lastenausgleich angesagt.
*
Vergleichbar, sagten wir, euch den Rücken zukehrend, mit auseinandergebrochen Liebesbeziehungen: die Erinnerungen an das Glück, die Gefühle, die Körperlichkeit verflüchtigen sich, werden zum ephemeren Schatten, vom grellen Schein der Gegenwart überlagert. Das zur Staatsräson gewordene Unterdenteppichkehren wird uns als Tugend verkauft, obwohl es den Machthabern nur um den Schutz der eigenen Klasseninteressen geht.
*
Nicht jede Nacht sei gleich lang.
*
Macht wird in jungen Demokratien, sagten wir, oft mit einem Maß an kapitalistischer Gewalt und nackter Halsabschneiderei ausgeübt, die in der vorherigen Schreckensherrschaft ihre schlecht verhohlenen Vorbilder findet.
*
Was denn nun mir der versprochenen Geschichte sei?, fragten wir. Die Anwesenden hielten sich die Hände vor die Münder, damit wir ihr Lächeln nicht auf uns bezögen. Frau K kletterte auf ein Podest, streckte beide Arme aus, wir hörten, unter der Kirchenkuppel, Schwingen, dann setzten sich, einen Sturzflugmoment später, eine Brieftaube, links, und ein Turmfalke, rechts, auf die mit Lederstreifen gegürteten Glieder der Frau K. Sie bat darum, dass man sie mit den Smartphonetaschenlampen anstrahlte und dabei tat, als lenkte man einen Wagen. Der Effekt erinnerte mich an ein Konzert Marylin Mansons. Ohne Aufforderung begannen die Anwesenden, Elton Johns Tiny Dancer zu singen. Du nahmst meinen Kopf und flüstertest in mein Ohr, dass wir gerade von Leuten umgeben wären, die alle, ausnahmslos alle, in dem Video des Songs auftauchten.
*
Ich hielt mich ab, du warst mir keine Stütze. Als die Gebrechen kamen, wechselte der Liebeswind, wechselte die Richtung, floh aus dem Garten, aus dem Rosenhain, zog sich zurück, ungehuldigt, in Träume, die nicht mehr unsere waren.
*
Er war in einem Alter, in dem er jedes und kein Gesicht kannte.
*
Zunächst, es lohnt sich nicht, um den heißen Brei herumzureden: die Begegnung im Nonsuch-Viertel, vor unserem Treffen, war eine absolute Katastrophe gewesen. Die Gemüter hatten sich nicht eine Minute lang beruhigt, keiner hatte, knapp zwei Wochen lang, auch nur ansatzweise gut geschlafen. Im Gegenteil, und das zur Weihnachtszeit, wo die Erwartungen an eine segensreiche Zeit gigangtisch sind. Das berüchtigte Zahnfleisch, auf dem wir kriechen, sind wir am Boden, wurde heruntergerockt. Wir litten, als wir uns trafen, an emotionaler Parodontose. Was dann passierte, zwischen dir und mir, zwischen uns und den anderen, war also kein Wunder - oder sagen wir's mal so: vor Gericht, und da werden wir landen, ich bin mir sicher, die Spuren finden sich schließlich überall, können wir mildernde Umstände geltend machen. Ich habe nicht vor, ihretwegen im Knast zu landen.
*
Sprachen sie, herrschte zunächt Stille. Die Tante sagte nichts, die Nichte, die etwas gesagt hatte, wartete. In jeder halben Stunde, die sie im Gespräch verbrachten, wurde, um den Dreh, kam es gut, elf, zwölf Minuten gesprochen, kam es schlecht, und es kam eher schlecht als gut, waren es vier oder fünf. Aber die gesprochene Zeit habe es in sich, wie die Nichte sagte, wenn sie von anderen Familienmitgliedern gefragt wurde, wie es denn mit der schweigsamen Tante gewesen sei. Niemand in der Familie machte sich ansonsten die Mühe, auf Entgegnungen zu warten. Weder besuchte man die Tante, noch lud man sie zu den monatlichen Familienfesten ein. Es handelte sich um eine gesellige Familie, mit Zweigen in verschiedenen Städten, selbst auf dem Land lebten einige Abkömmlinge. Man traf sich seit Jahrzehnten am dritten Wochenende des Monats, so dass man schon Geld ausgegeben, aber noch genug für eine Feier in der Tasche hatte. Niemand hatte während der Feste neben der wortlosen Tante sitzen wollen, und die Nichte war noch zu klein gewesen, als die Entscheidung getroffen worden war, übrigens einstimmig, auf die Anwesenheit der in Schweigen Gehüllten zu verzichten. Eigentlich hatte man die Tante, die, so hieß es, nicht vermögend war, abgeschrieben. Die Bücher will doch keiner, hieß es in der Familie, alle abgegriffen und durchgelesen. Die Tante, hieß es, würde Buch über ihre Bücher führen, sie schriebe ein Buch über ihre Bücher, sie schriebe, hieß es, Kommentare. Die Tante sei offenbar nicht in der Lage, selbst ein Buch zu schreiben, ein eigenes Buch. Wer über Bücher schreibe, sei zu bedauern, hieß es. Mit neuen Büchern, die noch keiner geschrieben habe, könne man doch durchaus Geld verdienen, besonders mit Fotobänden, die gleich am Eingang der Buchhandlung gestapelt lägen, die rasenden Absatz fänden. Aber ihre Ratschläge einen solchen Bilderband zu schreiben, habe die Tante vom Tisch gewischt - und zwar ohne langes Schweigen, im Gegenteil, wie aus der Pistole geschossen sei ihr "Nein" gekommen. In der Familie standen benutzte Bücher nicht hoch im Kurs. Eigentlich standen auch unbenutzte nicht besonders hoch im Kurs. Man besaß eine Handvoll, die man zeigte, wenn von Büchern die Rede war, was selten passierte. Die wenigen Bücher der Familie enthielten alle außerordentlich aussagestarke Bilder, bestanden mehr oder minder aus Farbfotos von Tieren und Rennwagen und gekrönten Häuptern. Das Bilderbuch über die königliche Familie wurde in der Familie als Geschichtsbuch bewertet, das man ab und an zeigte, wenn von Hungersnöten oder Kriegen die Rede war. Die bunten Bilder der Adligen lenkten die Gespräche schnell in angenehmeres Fahrwasser. Meistens wurde dann über das Essen, maßgeschneiderte Kleidung oder den Onkel gesprochen, dem die Königin einst, bei der Einweihung eines Damms, die Hand geschüttelt hatte. Da es allerdings kein Foto von der Begegnung des Onkels mit der Königin gab, hielten die meisten Familienmitglieder die Geschichte des Schüttelns für eine großspurige Aufschneiderei. Die Bücher der Tante, man hatte die Nichte mehrmals befragt, als es um den künftigen Nachlass gegangen war, enthielten nur in Ausnahmefällen Bilder, dann allerdings weder Tiere noch Rennwagen, von königlichen Häuptern ganz zu schweigen.
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Der dritte Aufguss. Die Bohnen, feucht und matschig. Könnte die Maschine, sie protestierte. Ich entscheide, hier ist es up to me, wie du sagen würdest, ob ich einen weiteren Plörreaufguss durch no-organic Filter jage oder, wonach mir wäre, radikal die Teeecke umräume. Neben mir sitzen sie. Hunderte. Schweigend. Blass. Wie ihre Träume. Alle geil. Geldgeil. Sie wiegen Instagram ab. Alles passt, nichts geht. An und ab. Geldgeber linken sich ein. Ich habe sie kommen und gehen sehen, denkst du, und mich verdrückt. Als hätten ihre Körper nicht digitale Dünste verbreitet. Als hätten mich ihre Augen nicht vermessen. Ich schalte das Licht aus. In der Dunkelheit tickt die Zeit langsamer.
*
Die strategische Unwahrheit - ins Feld geführt, um das Terrain zu erkunden und Freundschaften zu pflegen - sei der tolldreisten Wahrheit vorzuziehen. Zumal die Wahrheit, wie uns allen wohlbekannt ist, morgen eine andere sein kann, die Handlung, die wir ihr voller Überzeugung selbstgerecht gewidmet haben, aber hartnäckig bleibt.
*
When it really hurts. Sie singen, ohne den Ton zu treffen, inbrünstig, als hinge ihr Leben davon ab. Was es tut. Und? Sie sehen uns an, wir sehen sie an, dann sehen wir uns an, sie sehen sich an. Wir springen auf, sie auch. Der Zorn riecht nach Rauch, frisch und voller Kohle, die Schippe glühend. Blitze. Ein Gewitter, denken wir, ausgerechnet jetzt. Der Weg steht unter Wasser, seit Anfang des Jahres. Nach der Dürre konnte der Boden nichts mehr schlucken. When it really hurts, singen sie, als wir vor der Tür stehen, kniehoch im Fluss. Keine Fragen, bitte, sagst du, als ich den Mund aufmache. Ich nicke und presse die Zunge gegen den Gaumen, den ich mir am Käse der Pizza verbrannt habe. Und?, frage ich. Du nickst. Du weißt, was ich denke. Das Wasser trägt Kadaver, geht schwanger mit den Überresten der Fabrik, flussaufwärts. When it really hurts, sagst du, ich nicke, wir drehen uns um, treten die Tür ein, hinter der sie auf uns warten.
*
Es ist immer dasselbe Ungeheuer, das in den Worten steckt, sie ein- und übernimmt: die Gewissheit, dass nichts wirklich ist, dass alles, was gesagt wird, gar nicht existiert, dass jener Satz, den du mir eben an der Tür mitgegeben hast, in Wahrheit nicht vorhanden war oder mir doch zumindest in der Zwischenzeit abhandengekommen ist. Die Wölfe starren mich an, heulen. Bauhhaus singt. My depression. Our words. Deine Wärme, das Glück der schlaflosen Nacht, die gestrige Aufregung ob der guten Nachricht? Gone, done with. Was bleibt, ist Verlust. Ich bilde mir alles ein und nichts. Schultere das Rudel, das grinst, sie haben es gewusst, mein Rücken ist ihr Schlitten, immer schon gewesen. Wölfe heulen in meine Ohren. Folksongs. Ich verlange das Kronos Quartet, sie grinsen nur, wissen es, wissen alles besser. So sei es denn, schnaufe ich, gehe durch den Bogen, auf den Dächern der Autos liegt Schnee, in den Scheibenwischern schläft Frost.
*
Das Sehen sei, ganz grundsätzlich und immerwährend, kurz erwähnt. Wie soll ich's ausdrücken, ohne eilfertige, blindwütige Larmoyanz? Es wird nicht besser. Das Sehen verändert sich, wie ich mich insgesamt verändere. Ich bin in meinen Ansichten - der Besichtigung des mir zeitweise Angebotenen, des von mir vermeintlich kurzfristig Verstandenen - radikaler geworden. In meinen Ansprüchen an das Eigenartige, an eine Ästhetik, die den anderen, möglicherweise, sehr gefallen könnte, was ich allerdings nicht erwarte, da es bislang nicht der Fall gewesen ist. Und das Sehen ist Teil solch einer in sich selbst tief berührten Eigentümelei. Das Verschwommene in den Fotos ist diesem Modus operandi der Weltwahrnehmung geschuldet, die sowohl un/geduldig auf die Fokussierung wartet als sich auch bewusst/los der Scharfstellung entzieht. Ich denke und sehe viel- und k/eindeutig. Auslegungen sind noch notwendiger, Gewissheiten noch schüchterner. Grenzen haben weniger Bedeutung als früher. Die Übergänge sind insgesamt wichtiger geworden; was mich amüsiert, da das Insgesamte mir ansonsten eher die kalte Schulter zeigt, sich mir das Sein inkonsequent als Unart und Teilweise präsentiert.
Ich spiele. Alles spielt mit mir. Wir haben, im Moment, keine Spieldauer, keinen Schiedsrichter. Und die Regeln wechseln, bei Bedarf. Nichts sei ipso facto, da es weder Vertrag noch Auflösungsklausel gibt; mit der Ausnahme des Früher-oder-später-Todes, aber von dem soll jetzt nicht die Rede sein.
Der Erkenntnis, dass in Flora und Fauna abstrakte Formen das Sagen haben, deren zunächst klare Oberflächlichkeit mich zwar taxonomisch verführt, die ich aber nicht intellektuell (um nicht zu sagen: essentiell) durchdringen kann - jedes Verständnis sei schließlich entweder Makulatur oder ein Zwischenstadium -, dieser Erkenntnis setze ich mich bewusst aus. Die Fotos ergreifen solche un/schuldigen Eindrücke, sind Niederlage und Gleichstand zugleich; niemals jedoch Sieg. Im Augenblick habe ich das Gefühl eines Unentschieden, dessen höchste Schönheit mich gleichsam überrascht und verstört.
*
Versteckt, der Blutmond, heute. Gestern, in unvollendeter Schönheit, der vorgeschichteten Kälte entrissen. Stattdessen, als sich der abgefüllte Eisweinberg neigte, der Tram gefolgt, Richtung Rosenthaler Platz, deren Schnelligkeit mit seiner Langsamkeit aufs Akkurateste korrespondierte.
*
Falls Erfolg verwirrt, sagten sie, wie sähe es dann denn erst mit Misserfolg aus? Hätten wir uns das schon mal überlegt? Über viele Jahre, antworteten wir, hätten wir an nichts anderes als jenes Dann-Denn-Erst gedacht, seien aber zu keinem Ergebnis gekommen. Schließlich hätten wir uns mit der Nicht-Ergebnisfähigkeit unserer Mühen abgefunden, was wiederum zu allerlei hysterischen Lachanfällen und mehreren Teilnahmen an aussichtslosen Hütchenspielen geführt habe. Von Geläutert-Sein könnten wir demgemäß nicht sprechen, hatten wir dann noch hinzugefügt, nichts habe uns auf irgendwetwas vorbereitet, wir hingen in der Luft, ohne Netz und doppelten Boden, zum Salto mortale bereit. Käme das Glück, wiesen wir es allerdings bestimmt nicht zurück, blieben aber skeptisch, mit dem Unglück hätten wir es ähnlich gehalten. Im transiente Kern ähnelten sich beide Zustände: ihre Flüchtigkeit - ja, auch das Unglück beharre nicht auf seiner Anwesenheit, man müsse ihm nur die Tür weisen - machte sie zu Zwillingen, ob ein- oder zweieiig läge dabei im eye of the beholder.
*
Der Laut, der spricht, der hört uns nicht. Er redet und redet und redet über unsere Köpfe hinweg, als wären wir nicht anwesend, als wären wir ihm einerlei. Und wenn er endlich schweigt, liegen wir ermattet nieder, unfähig zum erhofften Applaus.
(Wird im Januar kontinuierlich als Text erweitert.)
Januar
Der Laut
Schwierig, davon zu sprechen. Mit sich selbst. Mit uns. Euch. Fremd und vertraut. Organic. Die Nachhaltigkeit ewiger Erregung. Sie standen in einer Reihe, verrückte Richtungen, nach vorne und hinten. Ihr Mund auf seinem. Gesucht. Sie ihn, er sie. Ergriffen. Worte gestaucht und geküsst, Glieder. Raum, den sie teilten, vermaßen, schützten. Finger. Und Nägel. Und Zähne, geklappert. Die Kält der Angst, die Hitze der Furcht. Gelotst, durch Untiefen. Und gerammt. Begriffe, im Rachen versteckt. Körper, ergriffen. Ihre Hände kannten Orte, Terra incognita, über die man nicht mit anderen sprach, die wir dennoch nicht vergaßen, die uns nicht ließen, über die man selten schrieb, und wenn, machte man es niemanden recht. Jeder Akt legte Wert auf seine Eigenart. Orte. In denen man vor Glück schrie, vor Last, sich, dann doch, vergaß, und, sich erinnernd, staunend kam, gekrümmt, mit alten Lauten, die man nur jetzt eigen nannte, nach Leben suchte, wieder und wieder. Again. A gain. Seine Lippen auf ihren. Körper flüsterten. Das taten sie. Zusammen. Summten. Quietschten. Summary. Offen, geschlossen. Feucht, getrocknet. Als lernten sie. Was Abgrund genug war. Als brachten sie sich selbst Dinge bei. Uns Dinge bei, die wir in ihnen wohnten, zur Untermiete, aus ihnen atmeten, oberhalb der fraglichen Organe, mit Nasen, jung und alt. Die Pupillen blieben unverändert, ausgezeichnet. Blau, seine, braun, ihre; vice versa. Was vorhanden ist, war, sein sollte. An Zuflucht. Und Sinnlichkeit. Nein, sage es nicht. Doch. Und Sinn. Er schämte sich. Reibeisen. Gebrochen. Ungedacht. Angenähert. Er glaubte, er bliebe befriedigt jung. Als hingen Sachen zusammen. Gefühle, die sich, wiederum, das ließe sich sagen, vernetzten. Enger wurden. Gesprochen und geschwiegen. Und, sie blieben ehrlich, geschlossene Augen, zwischendurch geöffnet, auch das, sie kamen und starben. In- und miteinander. Am Ende zu zweit, zu dritt und allein.
Oak Avenue, North Cheam, Worcester Park, im geliehenen Raum, über die Feiertage eingehegt, gezwängt, freiwillig, ungeahnt, was käme, heute, während er diesen Satz schrieb, heirateteten die Eigentümer des Mock-Tudor-Hauses, im geliehenen Raum stand er, aus den 30er-Jahren, stand unweit der Waschmaschine, des Trockners, Miele dachte er, seine Mutter hatte ihnen, daheim, zum Einzug, eine Miele gekauft, in Mitte, wo sie wohnten, wie konnte man in Mitte leben, dachte er, jedesmal dachte er das, wenn er gefragt wurde, wo sie in Berlin lebten, und lächelnd wir leben in Mitte sagte, obwohl es kein Zentrum gab, weder in der Philosophie noch in der Erdkunde, der Weltenkunde, um genau zu sein, im geliehenen Raum des Londoner Vororts, Metroland, beinahe, stand er, nach einer weiteren schlaflosen Nacht erschöpft, unweit der spinning Waschmaschine, deren Lichter, besonders das runde, das jenes Rad umfing, das man nutzte, um die Programme einzustellen, deren Lichter vor seinen Augen, er trug keine Brille, verschwammen. Kreise tanzten, zuckten als gelbe Blitze übers Display, drei Meter entfernt. Die Laute des Schleudergangs begleiteten die Blitze. Feuer brach aus. Immer brach Feuer aus, wenn er sich konzentrierte und schaute. Seine Augen fühlten sich frei, beweglich. Freier als er, ungebundener. Die Freiheit der Augen, die sich nicht dem Festen verpflichtet fühlten, nahm Jahr für Jahr zu. Ob Blindheit, im gewissen Sinne, die höchste Freiheit darstellt, fragte er sich, in die Brunst blickend. Gelbe und rote Flammen zuckten. Er speicherte das Bild, ohne Kamera. Wollte es besitzen. Endlos viele Bilder hatte er so gespeichert. Eines Tages würde der Ikonudule, wie sie ihn nannte, die Bilder zeichnen, er hatte es sich vorgenommen. Im Augenblick reichte die Camera obscura.
Die Lust am Bild, um naiv-kapriziös anzufangen: die Lust am Idol, am trügerischen Bild, das uns lange vorschwebt, die Lust am Bild geht einher mit der Anbetung der Farbe, mehr noch als der Form. Die Farben bleiben, so schien es ihm, der täglich anders sah, gewischt sah, in Schlieren sah, tags, nachts, die Farben blieben sich - und damit ihm - treuer als die Formen, deren Hülle, wie sein Körper, auf Veränderung drängte.
Obwohl die Vorstellung, dass es unseren Weltraum nicht gibt, ihm nicht fremd war, er die (meta)physische Idee, dass Alles Nichts sei, überzeugender fand als das Gegenteil - dass Nichts Alles sei -, machte ihn das Farbensehen glücklich, einigermaßen, zumindest.
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Du sagtest, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Sie sagten, wie denn? Du sagtest, anders, irgendwie anders. Sie sagten, weniger eintönig? Du sagtest, es ist nicht die Eintönigkeit, die mich stört, wobei: stört ist auch nicht das richtige Wort, die mich mürbe macht, ja das passt besser, dass mir alles unter den Fingern zerbröselt, entspricht nicht meinen Wünschen. Sie sagten, du hast Wünsche? Stellst du dir den Tag als Jukebox vor? Aufstehen, Münzeinwurf, Lieblingsmelodie? Du sagtest, so hätte ich das nicht beschrieben. Sie sagten, wie denn? Du sagtest, das habt ihr eben bereits gefragt. Sie sagten, was ist falsch an Wiederholungen? Du sagtest, das ist genau das Problem.
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Du fingst dich, sagten sie, damals, nach der Krise, wurde auch Zeit, haarscharf am Abgrund, erinnerst du dich?, wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Du hast es besser gewusst, hast trotzdem geschwiegen, was hätte es auch gebracht, Taten in Serie zu begehen? Eine Reihe, sagtest du schließlich, sei die Feindin des Punktes, Hubert Fichte hat das verstanden. Sie sahen sich an und verdrehten die Augen. Dir war es einerlei. Dein Lachen hallte im Waisenhaus, durch leere Gänge. In den Zimmern bekreuzigten sich die Schwestern, zürnten den Brüdern und griffen nach zerlesenen Bibeln.
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P, die Bedienung, ein Mann, der, seit einem Unfall auf den Lofoten, auf dem in der Zwischenzeit geschlossenen, vom Wind gebeutelten Flugplatz Værøy, der mit beiden Beinen hinkte, war angehalten, den Gästen, während des langwierigen Bezahlvorgangs, das Kartenlesegerät funktionierte, dank des schlechten Datenempfangs, extrem langsam, P war angehalten, den Gästen im Lokal hergestellte, in aller Regel noch lauwarme Haarprodukte aufzuschwatzen. Der Hinkende, der selbst, von Geburt an, kein einziges Haar am Körper hatte, sogar Wimpern und Achselhöhlenhaare fehlten ihm, hatte den Suppenkaspar als Arbeitsplatz gewählt, da das Restaurant in den historischen Gewölben eines Armenhauses aus dem Mittelalter lag, kühl und dunkel, in zehn Meter Tiefe. Von den Haarprodukten hatte beim Einstellungsgespräch niemand gesprochen. P war zwar, augenzwinkernd, wie er geglaubt hatte, am Ende des Interviews gefragt worden, ob er zufällig etwas über die Relation zwischen Zahl der Kopfhaare und Farbe wüsste. Nicht dass das bei ihm eine Rolle spielte, hatte R, der Besitzer des Kellers, ein ehemaliger Clown, dessen Sehfähigkeit nach einer chemischen Verpuffung unter fünf Prozent lag, hinzugefügt. Es würde ihn nur mal so interessieren, da der offensichtliche Mangel, der anwesende Koch hätte ihn auf, Zitat, Ps poliertes Erscheinungsbild hingewiesen, möglicherweise zu einem Plus an Wissen geführt haben könnte. Der Hinkende hatte, während der Frage, unauffällig sein Smartphone gecheckt und, ohne zu zögern, gesagt, Blonde hätten im Durchschnitt 150.000 auf dem Kopf, Brünette immerhin noch 110.000, Schwarzhaarige kämen auf 100.000 und Rothaarige auf 88.000. Der Besitzer des Suppenkaspars, der hauptsächlich von Touristen lebte, sich um seinen Ruf in der Stadt keinerlei Sorgen machte, die Einheimischen bevorzugten Lokale, in denen man im sehr langen Winter am Fenster und im sehr kurzen Sommer im Garten sitzen konnte, der Besitzer hatte P auf der Stelle, noch für den Abend, angeheuert.
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Ein gerissener Geduldsfaden verknüpft ansonsten Ungesagtes, sagtest du, als er dich um Mäßigung bat. Die Beherrschung sei ein patriarchisches Konzept, anti-demokratisch, anti-feministisch. Wir müssten uns stets die Frage stellen, wem die Zügelung helfe, wer von der Ruhe und der Resignation profitiere. Sind es die Unterdrückten? Dann mäßigen wir uns. Ist es die Oberklasse, die einerseits den Mindestlohn niedrighält, andererseits gegen die Besteuerung von Zinseinkommen und gegen jedwede Transaktionssteuer wettert? Dann mäßigen wir uns nicht, unter gar keinen Umständen. Die asoziale Marktwirtschaft, von der sie träumen, sagtest du zu ihm, sei ein Feind der Demokratie. Dass nur ein Teil der Gesellschaft die Last trüge, der andere Teil tragen lasse, käme nicht in Frage. Risse der Geduldsfaden, gäbe es dafür Gründe, die sich nicht männerbündisch vom Tisch fegen ließen. Die Zeit des Duckens sei vorbei, der Lastenausgleich angesagt.
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Vergleichbar, sagten wir, euch den Rücken zukehrend, mit auseinandergebrochen Liebesbeziehungen: die Erinnerungen an das Glück, die Gefühle, die Körperlichkeit verflüchtigen sich, werden zum ephemeren Schatten, vom grellen Schein der Gegenwart überlagert. Das zur Staatsräson gewordene Unterdenteppichkehren wird uns als Tugend verkauft, obwohl es den Machthabern nur um den Schutz der eigenen Klasseninteressen geht.
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Nicht jede Nacht sei gleich lang.
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Macht wird in jungen Demokratien, sagten wir, oft mit einem Maß an kapitalistischer Gewalt und nackter Halsabschneiderei ausgeübt, die in der vorherigen Schreckensherrschaft ihre schlecht verhohlenen Vorbilder findet.
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Was denn nun mir der versprochenen Geschichte sei?, fragten wir. Die Anwesenden hielten sich die Hände vor die Münder, damit wir ihr Lächeln nicht auf uns bezögen. Frau K kletterte auf ein Podest, streckte beide Arme aus, wir hörten, unter der Kirchenkuppel, Schwingen, dann setzten sich, einen Sturzflugmoment später, eine Brieftaube, links, und ein Turmfalke, rechts, auf die mit Lederstreifen gegürteten Glieder der Frau K. Sie bat darum, dass man sie mit den Smartphonetaschenlampen anstrahlte und dabei tat, als lenkte man einen Wagen. Der Effekt erinnerte mich an ein Konzert Marylin Mansons. Ohne Aufforderung begannen die Anwesenden, Elton Johns Tiny Dancer zu singen. Du nahmst meinen Kopf und flüstertest in mein Ohr, dass wir gerade von Leuten umgeben wären, die alle, ausnahmslos alle, in dem Video des Songs auftauchten.
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Ich hielt mich ab, du warst mir keine Stütze. Als die Gebrechen kamen, wechselte der Liebeswind, wechselte die Richtung, floh aus dem Garten, aus dem Rosenhain, zog sich zurück, ungehuldigt, in Träume, die nicht mehr unsere waren.
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Er war in einem Alter, in dem er jedes und kein Gesicht kannte.
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Zunächst, es lohnt sich nicht, um den heißen Brei herumzureden: die Begegnung im Nonsuch-Viertel, vor unserem Treffen, war eine absolute Katastrophe gewesen. Die Gemüter hatten sich nicht eine Minute lang beruhigt, keiner hatte, knapp zwei Wochen lang, auch nur ansatzweise gut geschlafen. Im Gegenteil, und das zur Weihnachtszeit, wo die Erwartungen an eine segensreiche Zeit gigangtisch sind. Das berüchtigte Zahnfleisch, auf dem wir kriechen, sind wir am Boden, wurde heruntergerockt. Wir litten, als wir uns trafen, an emotionaler Parodontose. Was dann passierte, zwischen dir und mir, zwischen uns und den anderen, war also kein Wunder - oder sagen wir's mal so: vor Gericht, und da werden wir landen, ich bin mir sicher, die Spuren finden sich schließlich überall, können wir mildernde Umstände geltend machen. Ich habe nicht vor, ihretwegen im Knast zu landen.
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Sprachen sie, herrschte zunächt Stille. Die Tante sagte nichts, die Nichte, die etwas gesagt hatte, wartete. In jeder halben Stunde, die sie im Gespräch verbrachten, wurde, um den Dreh, kam es gut, elf, zwölf Minuten gesprochen, kam es schlecht, und es kam eher schlecht als gut, waren es vier oder fünf. Aber die gesprochene Zeit habe es in sich, wie die Nichte sagte, wenn sie von anderen Familienmitgliedern gefragt wurde, wie es denn mit der schweigsamen Tante gewesen sei. Niemand in der Familie machte sich ansonsten die Mühe, auf Entgegnungen zu warten. Weder besuchte man die Tante, noch lud man sie zu den monatlichen Familienfesten ein. Es handelte sich um eine gesellige Familie, mit Zweigen in verschiedenen Städten, selbst auf dem Land lebten einige Abkömmlinge. Man traf sich seit Jahrzehnten am dritten Wochenende des Monats, so dass man schon Geld ausgegeben, aber noch genug für eine Feier in der Tasche hatte. Niemand hatte während der Feste neben der wortlosen Tante sitzen wollen, und die Nichte war noch zu klein gewesen, als die Entscheidung getroffen worden war, übrigens einstimmig, auf die Anwesenheit der in Schweigen Gehüllten zu verzichten. Eigentlich hatte man die Tante, die, so hieß es, nicht vermögend war, abgeschrieben. Die Bücher will doch keiner, hieß es in der Familie, alle abgegriffen und durchgelesen. Die Tante, hieß es, würde Buch über ihre Bücher führen, sie schriebe ein Buch über ihre Bücher, sie schriebe, hieß es, Kommentare. Die Tante sei offenbar nicht in der Lage, selbst ein Buch zu schreiben, ein eigenes Buch. Wer über Bücher schreibe, sei zu bedauern, hieß es. Mit neuen Büchern, die noch keiner geschrieben habe, könne man doch durchaus Geld verdienen, besonders mit Fotobänden, die gleich am Eingang der Buchhandlung gestapelt lägen, die rasenden Absatz fänden. Aber ihre Ratschläge einen solchen Bilderband zu schreiben, habe die Tante vom Tisch gewischt - und zwar ohne langes Schweigen, im Gegenteil, wie aus der Pistole geschossen sei ihr "Nein" gekommen. In der Familie standen benutzte Bücher nicht hoch im Kurs. Eigentlich standen auch unbenutzte nicht besonders hoch im Kurs. Man besaß eine Handvoll, die man zeigte, wenn von Büchern die Rede war, was selten passierte. Die wenigen Bücher der Familie enthielten alle außerordentlich aussagestarke Bilder, bestanden mehr oder minder aus Farbfotos von Tieren und Rennwagen und gekrönten Häuptern. Das Bilderbuch über die königliche Familie wurde in der Familie als Geschichtsbuch bewertet, das man ab und an zeigte, wenn von Hungersnöten oder Kriegen die Rede war. Die bunten Bilder der Adligen lenkten die Gespräche schnell in angenehmeres Fahrwasser. Meistens wurde dann über das Essen, maßgeschneiderte Kleidung oder den Onkel gesprochen, dem die Königin einst, bei der Einweihung eines Damms, die Hand geschüttelt hatte. Da es allerdings kein Foto von der Begegnung des Onkels mit der Königin gab, hielten die meisten Familienmitglieder die Geschichte des Schüttelns für eine großspurige Aufschneiderei. Die Bücher der Tante, man hatte die Nichte mehrmals befragt, als es um den künftigen Nachlass gegangen war, enthielten nur in Ausnahmefällen Bilder, dann allerdings weder Tiere noch Rennwagen, von königlichen Häuptern ganz zu schweigen.
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Der dritte Aufguss. Die Bohnen, feucht und matschig. Könnte die Maschine, sie protestierte. Ich entscheide, hier ist es up to me, wie du sagen würdest, ob ich einen weiteren Plörreaufguss durch no-organic Filter jage oder, wonach mir wäre, radikal die Teeecke umräume. Neben mir sitzen sie. Hunderte. Schweigend. Blass. Wie ihre Träume. Alle geil. Geldgeil. Sie wiegen Instagram ab. Alles passt, nichts geht. An und ab. Geldgeber linken sich ein. Ich habe sie kommen und gehen sehen, denkst du, und mich verdrückt. Als hätten ihre Körper nicht digitale Dünste verbreitet. Als hätten mich ihre Augen nicht vermessen. Ich schalte das Licht aus. In der Dunkelheit tickt die Zeit langsamer.
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Die strategische Unwahrheit - ins Feld geführt, um das Terrain zu erkunden und Freundschaften zu pflegen - sei der tolldreisten Wahrheit vorzuziehen. Zumal die Wahrheit, wie uns allen wohlbekannt ist, morgen eine andere sein kann, die Handlung, die wir ihr voller Überzeugung selbstgerecht gewidmet haben, aber hartnäckig bleibt.
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When it really hurts. Sie singen, ohne den Ton zu treffen, inbrünstig, als hinge ihr Leben davon ab. Was es tut. Und? Sie sehen uns an, wir sehen sie an, dann sehen wir uns an, sie sehen sich an. Wir springen auf, sie auch. Der Zorn riecht nach Rauch, frisch und voller Kohle, die Schippe glühend. Blitze. Ein Gewitter, denken wir, ausgerechnet jetzt. Der Weg steht unter Wasser, seit Anfang des Jahres. Nach der Dürre konnte der Boden nichts mehr schlucken. When it really hurts, singen sie, als wir vor der Tür stehen, kniehoch im Fluss. Keine Fragen, bitte, sagst du, als ich den Mund aufmache. Ich nicke und presse die Zunge gegen den Gaumen, den ich mir am Käse der Pizza verbrannt habe. Und?, frage ich. Du nickst. Du weißt, was ich denke. Das Wasser trägt Kadaver, geht schwanger mit den Überresten der Fabrik, flussaufwärts. When it really hurts, sagst du, ich nicke, wir drehen uns um, treten die Tür ein, hinter der sie auf uns warten.
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Es ist immer dasselbe Ungeheuer, das in den Worten steckt, sie ein- und übernimmt: die Gewissheit, dass nichts wirklich ist, dass alles, was gesagt wird, gar nicht existiert, dass jener Satz, den du mir eben an der Tür mitgegeben hast, in Wahrheit nicht vorhanden war oder mir doch zumindest in der Zwischenzeit abhandengekommen ist. Die Wölfe starren mich an, heulen. Bauhhaus singt. My depression. Our words. Deine Wärme, das Glück der schlaflosen Nacht, die gestrige Aufregung ob der guten Nachricht? Gone, done with. Was bleibt, ist Verlust. Ich bilde mir alles ein und nichts. Schultere das Rudel, das grinst, sie haben es gewusst, mein Rücken ist ihr Schlitten, immer schon gewesen. Wölfe heulen in meine Ohren. Folksongs. Ich verlange das Kronos Quartet, sie grinsen nur, wissen es, wissen alles besser. So sei es denn, schnaufe ich, gehe durch den Bogen, auf den Dächern der Autos liegt Schnee, in den Scheibenwischern schläft Frost.
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Das Sehen sei, ganz grundsätzlich und immerwährend, kurz erwähnt. Wie soll ich's ausdrücken, ohne eilfertige, blindwütige Larmoyanz? Es wird nicht besser. Das Sehen verändert sich, wie ich mich insgesamt verändere. Ich bin in meinen Ansichten - der Besichtigung des mir zeitweise Angebotenen, des von mir vermeintlich kurzfristig Verstandenen - radikaler geworden. In meinen Ansprüchen an das Eigenartige, an eine Ästhetik, die den anderen, möglicherweise, sehr gefallen könnte, was ich allerdings nicht erwarte, da es bislang nicht der Fall gewesen ist. Und das Sehen ist Teil solch einer in sich selbst tief berührten Eigentümelei. Das Verschwommene in den Fotos ist diesem Modus operandi der Weltwahrnehmung geschuldet, die sowohl un/geduldig auf die Fokussierung wartet als sich auch bewusst/los der Scharfstellung entzieht. Ich denke und sehe viel- und k/eindeutig. Auslegungen sind noch notwendiger, Gewissheiten noch schüchterner. Grenzen haben weniger Bedeutung als früher. Die Übergänge sind insgesamt wichtiger geworden; was mich amüsiert, da das Insgesamte mir ansonsten eher die kalte Schulter zeigt, sich mir das Sein inkonsequent als Unart und Teilweise präsentiert.
Ich spiele. Alles spielt mit mir. Wir haben, im Moment, keine Spieldauer, keinen Schiedsrichter. Und die Regeln wechseln, bei Bedarf. Nichts sei ipso facto, da es weder Vertrag noch Auflösungsklausel gibt; mit der Ausnahme des Früher-oder-später-Todes, aber von dem soll jetzt nicht die Rede sein.
Der Erkenntnis, dass in Flora und Fauna abstrakte Formen das Sagen haben, deren zunächst klare Oberflächlichkeit mich zwar taxonomisch verführt, die ich aber nicht intellektuell (um nicht zu sagen: essentiell) durchdringen kann - jedes Verständnis sei schließlich entweder Makulatur oder ein Zwischenstadium -, dieser Erkenntnis setze ich mich bewusst aus. Die Fotos ergreifen solche un/schuldigen Eindrücke, sind Niederlage und Gleichstand zugleich; niemals jedoch Sieg. Im Augenblick habe ich das Gefühl eines Unentschieden, dessen höchste Schönheit mich gleichsam überrascht und verstört.
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Versteckt, der Blutmond, heute. Gestern, in unvollendeter Schönheit, der vorgeschichteten Kälte entrissen. Stattdessen, als sich der abgefüllte Eisweinberg neigte, der Tram gefolgt, Richtung Rosenthaler Platz, deren Schnelligkeit mit seiner Langsamkeit aufs Akkurateste korrespondierte.
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Falls Erfolg verwirrt, sagten sie, wie sähe es dann denn erst mit Misserfolg aus? Hätten wir uns das schon mal überlegt? Über viele Jahre, antworteten wir, hätten wir an nichts anderes als jenes Dann-Denn-Erst gedacht, seien aber zu keinem Ergebnis gekommen. Schließlich hätten wir uns mit der Nicht-Ergebnisfähigkeit unserer Mühen abgefunden, was wiederum zu allerlei hysterischen Lachanfällen und mehreren Teilnahmen an aussichtslosen Hütchenspielen geführt habe. Von Geläutert-Sein könnten wir demgemäß nicht sprechen, hatten wir dann noch hinzugefügt, nichts habe uns auf irgendwetwas vorbereitet, wir hingen in der Luft, ohne Netz und doppelten Boden, zum Salto mortale bereit. Käme das Glück, wiesen wir es allerdings bestimmt nicht zurück, blieben aber skeptisch, mit dem Unglück hätten wir es ähnlich gehalten. Im transiente Kern ähnelten sich beide Zustände: ihre Flüchtigkeit - ja, auch das Unglück beharre nicht auf seiner Anwesenheit, man müsse ihm nur die Tür weisen - machte sie zu Zwillingen, ob ein- oder zweieiig läge dabei im eye of the beholder.
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Der Laut, der spricht, der hört uns nicht. Er redet und redet und redet über unsere Köpfe hinweg, als wären wir nicht anwesend, als wären wir ihm einerlei. Und wenn er endlich schweigt, liegen wir ermattet nieder, unfähig zum erhofften Applaus.
(Wird im Januar kontinuierlich als Text erweitert.)