Mitte Zwei
Oktober
Die Übernahme
Beim ersten Angebot zuckten sie, als hätten wir ihnen eine Verletzung zugefügt. Eine Tradition. Sie sahen sich an, schüttelten die Köpfe. Ihre Gesten und Blicke sagten: Was für eine Beleidigung! Dann lächelten sie. Insult, murmelten sie, insult, why did you come to our country? Solch eine anstrengende Reise? For this offer? Eine Verschwendung an Energie! Wir warteten. Im Dossier des Auswärtigen Amts standen Anweisungen, wie wir uns verhalten sollten. Die Gesichtswahrung, hieß es, sei die höchste Kunst.
Man hatte uns, wir erinnerten uns, beim Abschied, als Feuertaufe, zur Seite gezogen und in einen abhörsicheren Raum geleitet, der im alten Teil des Ministeriums, mit Blick auf den Kanal, lag. Dort hatte man kein Wort gesagt, sondern auf den Boden gezeigt, in den eine Installation Jenny Holzers eingelassen war. Ein einziger Satz war, in roten Buchstaben, unablässig, für die nächste halbe Stunde, an uns vorbeigerollt: An ambassador is an honest man sent to lie abroad for the good of his country. Dazu hatte man als Schleife Terry Rileys G Song, interpretiert vom Kronos Quartet, wie du mir zugeflüstert hattest, und Tyondai Braxtons Gracka gespielt.
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Wir teilten die Müdigkeit, aber nicht den Schlaf.
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Dann ging es schnell. Schneller als gedacht. Sie ließen uns keine Wahl. Furcht sei keine Frage der Mutlosigkeit, sagtest du zu mir. Wir hatten den Satz als Warnsignal verabredet. Ich drehte mich um.
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In der Aussage liegt eine Drohung, sagte ich leise. Sie prüfen uns, und jede Prüfung, auch die bestandene, erinnere dich, liegt einem später als Last auf dem Gewissen.
Wir stimmen zu, sagtest du, laut und deutlich, wie es deine Art ist, die ich nicht teile. Allerdings hängt der Wechsel vom Zeitpunkt ab. Verfärbt sich das Laub im Juli, fallen die Blätter im August, herrscht Unordnung.
Chaos sei Ordnung nach der Verabschiedung. Hinter den Kulissen regieren Wünsche, die niemals die Sonne sehen. In ihren Stimmen lag offene Sentimentalität.
Ob sie wollen, dass wir gehen?, fragte ich dich flüsternd.
Du blicktest auf deinen Teller, auf dem sich etwas bewegte.
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Kantensein, sie bog gerade um die Ecke Strelitzer-Elisabethkirchstraße, konnte Kantenseins Verhalten also gut beobachten, Kantensein trug den ausgebeulten Koffer, eine Kraftanstrengung, fraglos, fünfzehn Meter, bis er den gepflasterten Platz vor seinem Wohnhaus hinter sich gelassen hatte. Dann, es war ein Feiertag, genau an der Grenze zum nächsten Haus, setzte Kantensein den schweren, uralten Rimowa ab und schob ihn von nun an, holterdiepolter, übers löchrige Pflaster. Sie bemerkte, hinter ihm bleibend, dass Lichter in mehreren Zimmern angeschaltet wurden, die Kantensein gerade passiert hatte, etliche Fenster öffneten sich, und Männer und Frauen, deren Haut nach Schlaf roch, selbst das nahm sie wahr, blickten Kantensein hinterher, der, in der Zwischenzeit, angefangen hatte, die Winterreise zu singen. Lustig in die Welt hinein, gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter! Sein Bariton durchdrang die Gassen. Das Seltsamste war allerdings, dass Kantensein alle Paar Meter stehenblieb, um im gelben Lichtschein der Straßenlaternen - wohlgemerkt: während er weitersang - sichtlich gerührt in einer zerlesenen Ausgabe von Also sprach Zarathustra zu blättern.
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Sie griff nach ihm, zog ihn heran, drückte ihn auf den Boden, setzte sich auf ihn.
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Zeit unterbricht sich nicht; tut sie's, sei's, für uns, vorbei.
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Die Flasche mit der Flüssigkeit, wahrscheinlich ein Gesichtsspray, er hatte die aufwendig gestaltete Verpackung oft gesehen, ohne jemals den Inhalt zu hinterfragen, lehnte schief gegen den Seifenspender. In der Nacht musste jemand, ohne das Licht anzuschalten, im Halbschlaf, gegen die Flasche mit der Flüssigkeit gekommen sein und sie aus dem Lot gebracht haben. Ist er es selbst gewesen? Ich bin, dachte er, kurz nach 4 Uhr aufgestanden, da ich einerseits wahnsinnigen Durst verspürt habe, das Essen im Chay Village, dem vietnamesischen Restaurant in Schöneberg, war hervorragend, aber salzig gewesen, andereseits schien meine Blase übervoll und der eigentlich Grund für die Unterbrechung der Nachtruhe gewesen zu sein. Ob ich, fragte er sich, aus dem Hahn im Bad Wasser getrunken habe und dabei die Flasche mit der Flüssigkeit zum Schwanken gebracht habe? Oder habe ich das Spray ausprobiert, um zu klären, um was es sich handelt?
Er blickte nach links, weg vom Waschbecken, hin zum Badewannenrand, auf dem ein Buch lag. Der blaue Umschlag der Fitzcarraldo Editions. Er trat näher heran. Flights. Olga Tokarczuk. Ins Englische übersetzt von Jennifer Croft. Habe ich, fragte er sich, während der nächtlichen Unterbrechung gelesen? Er versuchte sich zu erinnern, und er glaubte sich daran zu erinnern, dass der Mann, in Flights, dessen Frau samt Sohn auf einer griechischen Insel verschwunden gewesen ist, im Bett wieder neben dieser Frau liegt und sich fragt, ob es sich um dieselbe Frau handelt. Er dachte, dass er im Fall des Mannes <dieselbe> zusammenschreiben würde, da es, für ihn, der selbst solche Gefühle hegte, in Wahrheit allein darum ginge, ob man verschwinden, wieder auftauchen und, für alle Beteiligten, sich selbst eingeschlossen, wieder <derselbe Mensch> sein könnte.
Dann blickte er weiter nach links, Richtung Regal, das, in der Nische, über der Waschmaschine angebracht war. Ob es etwas - er strich das <an> des vorherigen Verbs - gebracht hat, fragte er sich, dass ich verschiedene Behälter für Kosmetika gekauft habe, um Ordnung zu schaffen? Oder ob, was an der Entropie - der unablässigen Verdichtung der verfügbaren, der benutzten und der unbenutzen Artikel - läge (noch ein <liegen>, aber ein anders gelegenes), oder ob sich dieses Seinsfach selbstständig gemacht habe, eine Existenz führe, auf die er, berechtigterweise, keinen Einfluss habe?
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Der Wecker hatte die Geiselnahme präzise vorbereitet. Genauigkeit sei eine Frage der Unabhängigkeit. Er klingelte um 3 Uhr früh. Keine Minute später. Ich rührte mich, sagte er. Als wärst du Teig, sagtest du. Komplimente klingen anders. Schweren Herzens ließ ich dich zurück, sagte er. Am Himmel hingen Sterne, die nichts vom Morgen wissen wollten, sagtest du. Er stand auf dem Fahrradsattel und dachte an The Killing Moon.
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Der Unterschied, aka Stil, häufig gebraucht, wird zur Normalität, aka stillos.
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Ein seltsamer Ausdruck: Luftholen. Als finge man Luft ein. Und brächte die Luft dann heim. 10.000 Liter am Tag. Im Atembeutel, aus Jute, bemalt, an der Wand hängend. Wie die Papiertüten, die es früher in Flugzeugen gegeben hatte. Mit geschlossenen Augen stand er unter der Pappel. Das Laub legte sich auf seine baren Schultern. Es brennt, dachte er. Am Zaun welkte rotes Efeu.
Sie verweilte am geöffneten Fenster und hoffte, dass er bemerkte, wie sie ihn observierte. Deine Lunge, flüsterte sie, hat eine Oberfläche, die so groß ist wie die Wohnung, in der wir gewohnt haben: 140 Quadratmeter. Die Schlieren der Dunkelheit, goldene Striche auf Wellen surfend, mischten sich ins Abendblau.
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Die anderen lagen so, dass die Polizisten, an der Ecke Tor-Brunnen, theoretisch einen Blick auf die Campierenden werfen konnten. Beobachtetes Schlafen. Das kam für mich nicht in Frage. Die anderen hätten ein Ring gebildet, um die Blicke abzulenken. Grog war seit drei Tagen verschwunden. Er hatte mir die Touren Richtung Mauergedenkstätte angekreidet. Hatte mich, wüst schimpfend, bezichtigt, etwas am Grasstreifen laufen zu haben. Hatte gedroht, er würde mir einen Denkzettel verpassen, ich würde schon sehen, was ich davon hätte, ich würde es bereuen, ihn hintergangen zu haben. Beim Wort Denkzettel hatte ich an Robert Walsers 526 Mikrogramme denken und unwillkürlich lächeln müssen. Nicht die beste Reaktion, aus Grogs Sicht.
Ich hatte, vor vielen Jahren, die Gelegenheit gehabt, einen Notizzettel Walsers anzufassen, auf dem, jedenfalls hatte ich mir das eingebildet, unten links, der Name Jakob von Gunten zu entziffern gewesen war. Die Erinnerung an die Lektüre der überempfindlichen Mikrogramme, die, für mich, Walsers Entfernung von der Welt symbolisierten, sein idiosynkratisches Verhältnis zur ihm auferlegten Wirklichkeit wie nichts anderes darstellten, die mich mit einer immensen Wucht flutende Erinnerung an die ehemalige Lektüre, ich hatte Walser als Jugendlicher gelesen und über alle Maßen, mit einer Intensität, die an religiöse Inbrunst heranreichte, geliebt, der Flashback ins Land der unendlichen Möglichkeiten, was die Kindheit sein kann, hatte mich so sentimental werden lassen, dass mein Kreislauf in den tiefsten denkzettelbaren Keller gerutscht war. Ich hatte mich, das wertvolle, unersetzbare Stück Papier in der Hand, zum Entsetzen der aufgeregten, kreidebleichen Archivare, auf den Boden setzen, ja legen müssen. Der Schwindel, der mich erfasst hatte, hatte noch über Tage angehalten. Ich hatte, allen Ernstes, über Wochen nicht meine zerschundenen Finger waschen können. Ich hatte mich wund gefühlt, verletzt. Etwas war in mir - und hier passte der Begriff wie niemals zuvor - buchstäblich aufgebrochen. Etwas, das sich partout nicht hatte schließen lassen, das unendlich geschmerzt und auf einer Außerordentlichkeit beharrt hatte, die mir klar gemacht hatte, dass Walser mir etwas zugefügt, mich grundsätzlich aus dem Gleichgewicht gebracht, meine Unversehrtheit überwunden hatte. Bewunderung enthält, hatte ich damals zum ersten Mal gedacht und halbwegs verstanden, nicht umsonst den Begriff Wunde.
Ich wäre, im Falle des Falles, Polizeirevier hin oder her, während der Nacht allein auf der Weinbergwiese gewesen. Außerdem: die Kälte. In den frühen Morgenstunden stürzten die Temperaturen in der Zwischenzeit auf fünf, sechs Grad ab. Und ich hatte es bislang nicht vermocht, im Kaufhof einen kälteresistenten Schlafsack zu organisieren. In kleineren Outdoorgeschäften verfolgten dich unablässig Verkäufer, ich hatte es ausprobiert, während man am Alexanderplatz, stank man nicht zu sehr, in der Rushhour Glück haben konnte.
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Irgendwann erreicht man das Alter der Exualität. Aber nicht in der Mitte, selten in der Mitte.
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Im Konsulat blieb man unter sich. Draußen explodierten Bomben. Was in den Sendungen keinen Widerhall fand, egal: wie laut, wie tot, wie viele. Vertraut das Rot des Blutes. Wir schluckten, anfangs. Später prosteten sie uns zu. Alteingesessene erkannten in unseren Blicken ihre eigene Unachtsamkeit. Alle wussten, hier bliebe man nicht für immer. Im Schatten der Gewehre. Eine ewige Kolonie, sagte der Veteran. Wir nickten, gingen in die Küche, in der die Maschine stand, aus der Heimat eingeflogen, die Kaffee brühte, als befänden wir uns, wie einst, am Campo de` Fiori.
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Sie roch nach Zimt. Wir hielten uns, aus. In ihren Augen lagt das Bewusstsein des, wie's in der neuen Sprache hieß, Bergfests. Wir waren oben angekommen. Nachts. Die Sicht trübte sich ein. Ein Sturm, sagtest du. Es war klar, dass du nicht das beeindruckende Wetterleuchten über den Uhrzeigern Sextens meintest.
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Alte Kontakte verkennen am ehesten den neuen Rhythmus.
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Auf den Zwölfer! Wir hielten uns. Prosteten uns mit Hagebuttentee zu. Ziemlich sauer, sagte ich. Ich hatte die Hagebutten gesammelt und mit dem Bunsenbrenner, aus sicherer Entfernung, im Schnellverfahren schockgetrocknet. Der Tee war nicht tiefrot, wie wir ihn kannten. Malve, sagtest du, die intensive Farbe des Hagebuttentees stammt von Zusätzen. Hast du das nicht gewusst? Ich schüttelte den Kopf. Ich kann Automarken auseinanderhalten, sagte ich. Den Früchten der Rose, sagtest du, wird neben Malven- auch Hibiskusblüten untergemischt.
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Das Seltsame an Merkmalen sei, dass sie sich abschliffen, im Laufe der Zeit verschwänden, um plötzlich, nach einem tiefen Schlummer, mit einer ungeahnten Gewalt hervorzubrechen, als wären sie niemals abgetaucht.
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Der Bogen, den ihr machtet, um uns, wurde größer. Das Licht hielt sich zurück. Ich konnte es dir nicht verübeln - mir, ich bitte dich, glaube mir: mir konnte ich es nicht verübeln, den Umweg, das Zögern, die Angst, denn ich sah mich selbst, den anderen Pfad wählend, den gelben Leuchten folgend, dem Duft des Digitalen hold, analoger als wir war keiner. Du passiertest den Container, in dem die Gärtner saßen, Smartphones in Händen, die von Erde und Laub erzählten, auf den Aufgang der Sonne warteten, mit geschlossenen Augen saßen sie da, ich lehnte am Eisen, dir unbekannt, war und war nicht du.
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Pausiert der Schlaf, wandern die Träume, sagte der Diplomat, der uns, nicht ohne Stolz, die Gästezimmer zeigte.
Wir sahen uns an. Du sagtest, auf die CCTV-Kameras im Bad weisend, Wachsamkeit habe unter Freunden einen anderen Geschmack als unter Feinden.
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Es war nicht so, dass es keine Musik mehr gab. Musik war überall, drang aus Kopfhörern, geöffneten Autofenstern, wurde als Hintergrundsound in der Ackerhalle gedudelt. Aber was es nicht mehr gab, war die Musik, die er, die ich, gehört hatte. Ich hatte keinen Zugriff auf das spotify-Kundenkonto. Er hatte, wie's auch meine Angewohnheit gewesen war, zwischendurch das Passwort gewechselt, und außerdem reichte mein Handy, ein altes Nokia, das Macken hatte, dessen Karte ich, reichte das Geld, ab und an auflud, nicht, um Musik für längere Zeit zu streamen. In der Bücherei, neben der Buchhandlung, gleich beim Park, hatten die Angestellten sofort gemerkt, zu welcher Art von Leserinnen ich gehörte und mir, beim dritten Mal, den täglich wechselnden Zugangscode zum Internet verwehrt, um, was ich sogar verstehen konnte, die Geruchsbelästigung für die Leserschaft und, vor allen Dingen, sich selbst zu verrringern.
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Beim letzten Zahnarztbesuch sagte er zur Zahnärztin, er verzichte auf Betäubung. Er atme lieber den Schmerz aus. Eine Technik, die er seit vielen Jahren beherrsche. Esoterisch sei er nicht, alles sei eine Frage der Entschlossenheit und der Konzentration. Während des Bohrens dachte er an Steve Reich, stellte sich vor, dass die gesamten Geräusche, die ihn umgaben, die in seinem Kopf Platz fanden: das Knacken des Zahns, das Saugen des Schnorchels, das Schaben des scharfen Spachtels, den ihm die Zahnärztin zwischen die engen Zähne zwängte, um an den Karies zu kommen, stellte sich vor, bei den Donaueschinger Musiktagen für Zeitgenössische Musik einer Uraufführung beizuwohnen. Die Zeit im Behandlungsstuhl hätte für ihn länger sein können. Ein Wunsch, den er weder der Zahnärztin, deren Plastikhandschuhe blutverschmiert waren, noch der Zahnarzthelferin, die ihm ob der grob-stumpfen Werkezuge den Mund mehrmals mit Creme einpinselte, beichten konnte. Als ihn die Zahnärztin fragte, ob man bitte auf den dritten Zahn heute verzichten könnte, sie würden gerne Geburtstag feiern, fragte er, wessen Geburtstag denn gefeiert würde, sie sagte: ihrer, er fragte daraufhin, ob er sie in den Arm nehmen dürfte, was sie ihm erlaubte.
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Was Kantensein, nachdem er genug vom Zarathustra und der Winterreise hatte, ich harrte in Hörweite aus, in einer Toreinfahrt, was Kantensein am Telefon sagte, ob er zu einem Mann oder einer Frau sprach, war nicht klar, was Kantensein sagte, veränderte meine Lage drastisch. Kantensein erklärte, die Arme schwingend, wie es seine Art war, er würde gleich ins Hilton, am Gendarmenmarkt, gehen, dort zuerst den Spa aufsuchen, einen günstigen Moment des Unbeobachtetseins abwarten, um sich in den Relaxation Room zu schleichen, sich ausgiebig duschen, sich dann einen abgelegten Bademantel greifen, es gäbe keinen Spa der Welt, zumindest in Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels, in dem nicht, zumeist vor der Sauna, ein abgelegter Bademantel hinge, anschließend würde er mit dem Passepartout, den oder das er, Passepartout sei, erläuterte Kantensein, übrigens sowohl säch- als auch männlich, den oder das er letztes Jahr für zehn Euro im Schlüsselladen an der Müllerstraße gekauft hatte, ja, genau, jener Laden am Leopoldplatz, ja, der existierte noch, auch die Unterm-Tresen-Angebote, eine lohnenswerte Anschaffung, anschließend also - Kantensein sagte tatsächlich also, was ich ansonsten nur aus literarischen Texten mit verschachtelten Sätzen kannte - anschließend würde er also mit dem Passepartout einen Schrank öffnen, entweder, fündig geworden, sofort seine Sachen wechseln, sich, mit etwas Glück, das Bargeld aus dem Portemonnaie greifen, Papiere ließe er grundsätzlich zurück, und abdampfen, oder, wenn ihm danach sei und die Zimmerkarte noch in der Papierhülle mit der säuberlich vermerkten Zimmernummer steckte, wo würden die Rezeptionisten eigentlich das Schönschreiben beigebracht bekommen?, oder manchmal würde er sich auch flugs aufs Zimmer begeben, um nach dem Rechten zu sehen, und, was interessant sei, hätte man eine Karte, könnte man sich, besonders in großen Hotels, die kapitalistisch geführt würden, von den Zimmermädchen, die, Ausnahmen bestätigten die Regel, kaum Deutsch sprächen, könnte man sich auch ein beliebiges, mit Fortüne, unbenutztes, aber bereits aufgeräumtes Zimmer öffnen lassen, die Karte funktioniere leider nicht, und, ohne zu bezahlen, eine ruhige Nacht in chemisch gereinigter Bettwäsche verbringen und die überteuerte Minibar plündern.
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Ich stand hinter ihnen. In der Menge war das möglich. Wir sahen zusammen zur Bühne, während die Sonne hinter der Siegessäule unterging. Die Kälte, die ich die ganze Zeit gespürt hatte, führte zu einer endlosen Umarmung. #unteilbar kennt Grenzen. Die Erinnerung hielt ich nicht aus. Ich drehte mich um und verschwand. Am Spreeweg, beim Haus der Kulturen der Welt, tranken junge Frauen Bier, sie gaben mir eins aus. Ich setzte mich zu ihnen ins Gras, das die Tageswärme staute. Vergaß, dass ich nur Wein mochte. Und schwieg, während erleuchtete Ausflugsboote an uns vorüberzogen.
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Charakter, sie wälzten sich vor Lachen über Seiten, die sie aus Texten gerissen hatten, Charakter, seid, was wir erwarten! Seid einszueinsohnebruchauthentisch! Das Echte entwickelt in Zeiten des Unechten eine Anziehungskraft, die es in kritischeren Zeiten niemals gehabt hätte. Wir bürden euch auf, was wir uns selbst nicht mehr zutrauen: Abstand und Intimität, Vertrauen und Vertraulichkeit. Sei du, ohne du sein. Ginge das? Dürfen wir darauf setzen, dass ihr für uns auf die Barrikaden geht? Die Irreführungen zurechtrückt?
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Härte besitzt eine Halbwertszeit, die der Dauer der Güte unterlegen ist; auch wenn das Raue die eigene Schwäche per se nicht wahrhaben will.
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Als säße Cat Power neben mir, sagte die Bedienung zum Gast, der mich anstarrte, als würden wir uns von früher kennen. Was wir taten, aber nicht in meiner jetzigen Gestalt. Meine Faust war mal in der Magengrube des Rassisten gelandet. Ich hatte keine Wahl gehabt. Er hätte mir ansonsten eine zweite Ladung Reizgas in die Augen gesprayt. Stellen Sie sich das nur vor - Cat Power, sagte die Bedienung und wischte sich, ohne es zu merken, mit dem Tischlappen den Schweiß von der Stirn. Cat Power! Und dann?, fragte der Rassist, der mich nicht aus den Augen ließ. Die Bedienung griff sich ein halbvolles Glas mit einer Flüssigkeit, die wie Eierlikör aussah, und stürzte das Getränk herunter. Cat Power! In meiner Unsicherheit, sagte die Bedienung, habe ich Satisfaction angestimmt.
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Das Kostüm, hochgeschlossen und elegant, saß, als hätte es mir eine Schneiderin auf den Leib gegossen. Ich hatte 450 Euro aus dem Safe genommen. Die Kombination war einfach gewesen. Frauen wählen häufig 0815, Männer tendieren zu 4321. Ich hielt mich in der Nähe der Kantstraße auf. Die Idee, die Tochter der Frau zu treffen, leuchtete mir ein.
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Liebe sei der Versuch, sich selbst untreu zu sein.
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Die Botschafterin zeigte uns die Unterlagen. Es war noch schlimmer als vermutet. Wir schluckten. Ja, sagte sie und verschränkte die Arme, so sieht's aus. So und nicht anders. Wenn Sie wollen, fahren wir morgen zum Damm. Wir nickten, und du sagtest: Okay, vielen Dank für die Offenheit, bringen wir's hinter uns.
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Die Beule auf der Stirn hatte geglüht. Er war gefallen, in der Aula des Gymnasiums, in Olching, Mitte der 70er Jahre. Die Schule, das erste moderne Gebäude, das er jemals betreten hatte, hatte neu gerochen, blau und futuristisch. Er hatte die Betonkanten im Innenraum unterschätzt. Nichts war normal gewesen. Nur das Zerbrechen. Alles war auseindergebrochen. Als hätte es ein Erdbeben gegeben. Während er die Schule gewechselt hatte. Die Beule hatte sich verfärbt. War blau angelaufen. Wie die Leisten, die Geländer des Schulbaus. Die Flaggen, draußen, der Himmel, über ihm, später, auf dem Heimweg, das Wasser der Amper, kalt und frisch, alles blau, er hatte den Kopf, mit der Beule, zwischen die Stromschnellen gesteckt und hatte, was damals möglich gewesen war, das Flusswasser getrunken, mit hastigen, gierigen Schlucken, als hätte er wahnsinnigen Durst gehabt, als wäre er am Verdursten gewesen, als hätte er Tage in der Wüste verbracht, als hätte man ihm seit einer Woche nichts zu trinken gegeben. Blau, alles war blau gewesen. Selbst die blauen Briefe, die er abgefangen hatte, die seine Abwesenheit gemeldet hätten, die er säuberlich zerschnitten und angezündet hatte.
Er war, in der Aula des Gymnasiums, buchstäblich, abgestürzt. Auf den Kopf gefallen. Klug untergegangen. Verbeult abgegangen. Dumm zerborsten. Zerschlagen. Abgefertigt. Heulend. Nichts wert zu sein, das hatte er gedacht, so fühlt sich das also an. Wie die Alten vorm Wirtshaus, die mit gebeutelten Augen in die Sonne blickten. Abgeurteilt. Er war über Wochen unregelmäßig zum Unterricht gegangen. War in den Wäldern verschwunden. War an den See gegangen. Hatte Morgen für Morgen an nichts gedacht. Nur an sich selbst. An die Tiere, die ihm folgten, als gehörte er zu ihnen. Als wär er ein Tier gewesen. Als hätte er keine Sprache gehabt. Als hätte er keine Lehrerinnen und Lehrer gehabt. Als hätte er keine Freunde gehabt. Als hätte er nichts zu essen gehabt. Die Tiere hatten gesehen, wie er das Wasser des Sees getrunken hatte. Sie hatten gesehen, wie er die Nüsse gesammelt hatte. Kastanien. Eicheln. Die Tiere hatten gesehen, wie er auf den Acker gegangen war, um Knollen auszubuddeln, mit bloßen Händen. Geblutet hat er, als hätte man ihn abgestochen.
Unterfordert. Später. Auf der Estinger Landschule. Nicht daheim, das nicht. Dort nicht. Keiner wäre dort unterfordert gewesen. Weder jung noch alt. Für jede und jeden wäre die Lage eine Herausforderung gewesen, eine Daseinsprüfung, ein Test. Da hätte niemand gesagt: ich bin hier unterfordert. Niemand hätte gesagt: das langweilt mich hier gewaltig. Der Tod hatte in der Familie Einzug gehalten. Unangekündigt. Auf zweierlei Art.
Er hatte den Kopf fallen lassen, ohne sich abzustützen, ohne Widerstand zu leisten. Wenn schon, denn schon, hatte er gedacht, ins Blau der Schulbänder geschaut, wie gebannt, wie hypnotisiert. Bis der Kopf auf die Kante gekracht war. Hart und neu. So neu, dass er sich vom Beton eine Erfrischung erhofft hatte. Fast geglaubt hatte, dass der Beton ihn elastisch eintauchen ließe, ihn umfinge, ihn hielte, ihn erstickte, damit er nicht das Urteil hören müsste. Das ist es also, hatte er gedacht, beim harten Aufschlag hatte er das gedacht, was Räume mit uns machen. Sie schützen uns, bis wir fallen. Wir sind ihnen, grundsätzlich, egal. Gehen wir, gehen wir für immer. Nichts bleibt von uns. Die Aula wird mich vergessen. Die Aula wird vergessen, dass es mich hier gegeben hat. Ich werde weder im Gedächtnis der Schule noch im Gedächtnis der Lehrer oder Schüler einen Eindruck hinterlassen. Der Beton ist zu hart, um einen Eindruck zu hinterlassen. Einen Abdruck zu erlauben. Der Zeit Raum zu geben, sich zu entfalten. Die Schädelknochen prallen am Schulbeton ab. Waschbeton, hatte er gedacht und sich an den See gewünscht, hatte sich gewünscht, ins weiche, warme Wasser zu fallen, den Mund zu öffnen, das blaue Nass in den ausgetrockneten Körper fließen zu lassen. Als gäbe es keine Zukunft. Als gäbe es allein das Jetzt. Als gäbe es nicht den Tod.
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Sie fragte sich, beim Betreten der Schulstraße, sie war durch einen unterirdischen Gang in den orange-grünen Bau eingedrungen, sie fragte sich, ob die verlassene Schule, mitten im Brunnenviertel, die Schwester der Olchinger Lehranstalt war. Sie fühlte sich im modular aufgebauten Stahlskelettbau sofort aufgehoben. Ein Ufo, das sie verschluckte. Grob geriffelte Betonwände. Rahmen und Rohre in Grasgrün. Eckige und abgerundete Fassadenpanele in Knallorange. Freithronende Treppenhäuser, die sich nicht versteckten, nicht im Inneren verschwanden, Ein- und Ausblicke erlaubten, am Baukörper wie Gliedmaßen klebten. Und das Wasser. Im Untergeschoss war eine Leitung geplatzt. Sie zog sich die Schuhe, die Socken und den Hosenanzug aus und watete durch die Brühe.
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Sie denkt an all die Blicke, die sie - er - getauscht, mit Frauen, fremd, mit Männern, fremder noch. Nicht ungereizt, wir, im Gegenteil, im Leibesteil. Organe, vorgewölbt, eure, unsere, versteckt und freigelegt. Archäologie der Lust. Der Körper wegen. Der Güter wegen. Des Austauschs wegen. Ware. Verhandelt zwischen Sein und Idee. Seid ehrlich, denkt sie. Mich - ihn - ließ viel, doch nicht alles gleich. Obwohl, was auch so sei, so ist's gewesen, ich - er - dir treu geblieben ist. Als Wahrnehmung des Glücks. Im Akte, nicht im Vorgestellten, das wütet, seid bitte ehrlich, wie ihr in euch steckt, das wütet hohl und voll in uns, zählt eins und eins zusammen, aus Gründen, die wir zwar benennen, aber nicht steuern können. Die Gedanken sind Brei, sie lacht den Diplomaten an, Brei, den wir löffeln. Der Botschafter scheint verwirrt, sagt, unwillkürlich reimend: bis morgen, Sorgen dann. Sie sagt, wie sehr ich Foucault auch schätze, aber dass er in der Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften behauptet, der Marxismus ruhe im Denken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser, was hieße, dass er überall sonst aufhörte zu atmen, sei nun mal falsch.
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Als die Antwort nicht gefiel, war die Meinung, die wir ansonsten schätzten, plötzlich irrelevant.
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Geschmack, wir betrachten die Auslagen, sei eine Zeitfrage; was wohl bedeutet, dass du aus der Zeit gefallen seist.
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Wie Stimmen, die wisperten, so hörte es sich an. Menschen, um diese Uhrzeit? Es war kurz nach 6 Uhr früh, Sonntagmorgen, das Coworkingbüro leer. Oder ein Radio, angestellt und vergessen? Sie zögerte einen Moment. Entdeckt zu werden, wäre nicht angenehm gewesen. Da sie sich allerdings sicher war, allein im Gebäude zu sein, ging sie schließlich doch und checkte die Quelle. Die Kaffeemaschine war von allein gestartet, und das Wasser, das durch den Filter und die gemahlenen Bohnen sickerte, machte ein Geräusch, das, zumindest aus der Entfernung, an Stimmen erinnerte. Neben der Kanne hing ein Schild: Kaffee schläft nie. Sie riss es ab.
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Jede Grenze, in der Stimme des Botschafters wohnte Gleichgültigkeit, ist verschiebbar. Wer sich für unüberwindbar hält, verliert den Verstand. Flexibilität erleichtert die Wahrnehmung historischer Entwicklungen. Besonders derjenigen, in denen man selbst steckt. Glaubte ich nur an eine Wahrheit, hätte ich Priester werden müssen. Und selbst da, seien wir vernünftig, haut die Exegese ins Gewissheitenkontor. Veränderung sei der Kern der fluiden Welt. Die Oberfläche sei eine Lüge, die uns Geographen der Macht schönredeten. Auf die Übergänge käme es an, auf sie allein.
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Gao Huan, der spätere Kaiser Shenwu, wurde ehedem von einer mächtigen Armee unter der Führung von Erzhu Zhao umzingelt. Seine eigene Streitmacht war eher bescheiden. Sie bestand gerade mal aus 2000 Reitern und weniger als 30.000 Fußsoldaten. Die Belagerungsreihen der Gegner waren allerdings nicht besonders eng gezogen. Es gab Fluchtmöglichkeiten. An einigen Stellen waren die Lücken besonders groß, luden zum Entkommen ein. Statt allerdings zu fliehen, ging Gao Huan ans Werk und verschloss alle verbliebenen Fluchwege selbst. Er ließ eine große Anzahl zusammengebundener Ochsen und Esel in die offenen Flanken treiben. Sobald seine Offiziere und einfachen Soldaten sahen, dass sie keine Wahl hatten, als zu siegen oder zu sterben, wurden sie von einer einzigartigen Erregung erfasst und griffen mit so verzweifelter Wildheit an, dass die gegnerischen Reihen unter ihrem Ansturm brachen und sich auflösten.
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Ich trat an die Kante. Das Wasser war abgelassen. Im Pool des Humboldthains lagen haufenweise Blätter. Kastanie, dachte ich. Heftiger Wind strich übers Laub. Das Rauschen erinnerte mich an Palermos Promenade, hinter der Jungs, nach Farbe getrennt, Fußball gespielt hatten. Ich sah mich um, trat einen Schritt zurück, nahm Anlauf und sprang.
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Als uns klar war, dass ins alte Kaufhaus Jandorf am Weinbergpark eine schwäbische Automarke ziehen würde, der Mietvertrag, hieß es, gehe über Jahrzehnte, schlossen wir einen Burgfrieden. Von jetzt an fühlten wir uns als Verbündete.
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Gewalt zerstört Brücken. Gibt es keine Brücken, schafft Gewalt welche.
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Sie erinnerte sich, als sie - er - ihr beim Reinigen des Gesichts geholfen hatte. Die Angst war groß gewesen. Nicht größer als die Vorsicht, das nicht. Aber die Furcht, Narben zu behalten, hatte beide umgetrieben, aus unterschiedlichen Gründen. Sich auf vorherige Leistungen zu berufen, war nicht erlaubt gewesen. Jede Schlacht müsse neu geschlagen werden, hatte sie gesagt. Sie dürften sich auf gar keinen Fall mit alten Lorbeeren schmücken. Das hatte sie tatsächlich so gesagt: alte Lorbeeren. Das Heute zähle, Absichtserklärungen seien nicht die E-Mail wert, in der sie abgegeben worden seien.
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Into my armes. Cave sang, ich glaube nicht an eine interventionistische Göttin, sie steckte in der Bredouille. Das Lied kreiste durch ihr Hirn, aber ich weiß, Liebling, dass du das tust, ohne irgendwelche Anstalten zur Landung zu machen. Aber wenn ich's täte, würd ich mich hinknien und sie fragen. Die Schritte setzten sich von selbst. Durch den mageren Park. In den satten Straßen. An der Müllabfuhr vorbei. Dir nicht ein Haar auf dem Kopf zu krümmen. Der süße Geruch von Arbeit. Nicht einzugreifen, wenn's um dich geht. Als wäre das Sein eine Demokratie. Als könnten wir uns, von Zeit zu Zeit, selbst abwählen. Neue Parteien gründen. Neue Programme aufstellen. Kampagnen entwickeln. Andere von uns überzeugen. Als wären andere bereit, uns Veränderung zu erlauben. Jeder Kampf beginnt daheim, in uns. Was blieb? Melancholie. Und die alte Frage, die uralte.
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Wer nur für sich selbst kämpft, langweilt.
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Der Fremde sei, schreibt Simmel, innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises - oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog sei - fixiert. Aber seine Position in diesem sei dadurch wesentlich bestimmt, dass er nicht von vornherein in ihn gehöre, dass er Qualitäten, die aus ihm, dem Raum, nicht stammten und stammen könnten, in ihn hineintrüge.
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In der Dunkelheit, die über ihn hereingebrochen war, eine Glühbirne hatte ihren Dienst aufgegeben, sie erinnerte sich, in der plötzlcihen Dunkelheit hatte er sich vorgestellt, blind zu sein. Er hatte bewusst darauf verzichtet, einen anderen Lichtschalter zu drücken, die Badlampe, gleich um die Ecke, oder die etwas entferntere Studyleuchte anzuschalten. Er hatte die Hand ausgestreckt und auf der Ablage nach dem Hausschlüssel gesucht, im dicken Schlüsselwust, wo auch anderer Krimskrams gelegen hatte. Hotchpotchhöhle hatte sie das immer genannt. No odds and no ends. Nichts hatte er gesehen, rein gar nichts. Dieser Bereich der Wohnung bekam keinerlei Außenlicht ab. Wie in einer Dunkelkammer hatte er gestanden. Die Schlüssel hatten sonderbare Geräusche gemacht. Unvertraut. Als hätten sie sich über ihn unterhalten. Als hätten sie ihn wie Psychologinnen analysiert. Ihn, das war sein Gefühl gewesen, am lebendigen Leibe auseinandergenommen. Viviziert. Er hatte die Metallstücke zögerlich angefasst. Vernachlässigte Preziosen. Kleine Kostbarkeiten, deren Leistung zu selten gewürdigt wird. Kellerschlüssel, er hatte es am Doppelknoten im Band erkannt, das war der Satz für den Heizungsbereich gewesen. Dann der Autoschlüssel, der keinen Türschlüssel mehr angehängt bekommen hatte, seit er den letzten beim Reifenwechsel vergessen und die gesamte Schließanlage des Apartmentblocks, nach einem Einbruchversuch, ausgewechselt werden musste. Das war alles andere als angenehm gewesen. Im Gegenteil. Niemand hatte Zeit verschwenden wollen. Seinetwegen. Er hatte anderen Zeit gestohlen, und sie hatten ihn einen Monat lang mit vorwurfsvollen Augen angesehen. Er hatte sich wie ein Paria gefühlt. My little Dalit hatte sie ihn genannt. So sei das, wenn man ostracise werde. Verbannt, verfemt. Ausgestoßen. Gemieden. Wegen nichts und wieder nichts. Kleinigkeiten bringen Menschen völlig aus dem Gleichgewicht, hatte er damals gedacht. An solchen Sachen merkte man, wie gut es uns eigentlich ginge, hatte sie gesagt.
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Nach vielen Monaten saß ein Vogel an der Tränke. Selbst im heißesten Sommer waren die Vögel ausgeblieben. Es hieß, ihre Anzahl sei im ganzen Land zurückgegangen. Die Tränke, die sie betrieb, da sie umsonst an Wasser kam, bestätigte diese Vermutung. Der Vogel blickte zu ihr, und sie fragte sich, ob es sich um das Tier handelte, das sie im vergangenen Winter, auf dem Balkon der alten Wohnung, mit dem Luxusfutter, während langer Mondnächte, anhänglich gemacht hatte.
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Jeder Beschränktheit sei eine dystopische Entschlossenheit eigen.
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Der Glaube an Hierarchien ist die furchtbarste aller Religionen.
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Seine Zufriedenheit, sie wusste es, hatte stets am seidenen Faden gehangen. Zur Unterordnung war er niemals fähig gewesen. Sein Spott hatte Wunden geschlagen, seine Belesenheit befremdet, seine Weltsicht verstört. Er hatte andauernd die Firmen gewechselt. Wechseln müssen. Man hatte ihn gefeuert. Manchmal hatte man ihn sogar mit dem Werkschutz wie einen Straftäter abführen lassen, an den flüsternden Kolleginnen und Kollegen vorbei. Seht genau hin, das passiert, wenn ihr dem Boss widersprecht. Seine vermeintlichen "Wahrheiten" waren zu roh gewesen, ganz undiplomatisch. Dass er für die heikle Mission augewählt worden war, hatte mit seiner engen Beziehung zu dem Land zu tun. Dem Vertrauensverhältnis zu einem ehemaligen Warlord, der jetzt als Verteidigungsminister agierte und dem man zutraute, nächster Regierungschef zu werden. Er hatte, vor ihren Augen, die Anweisungen des Auswärtigen Amts in den offenen Kamin geworfen. Vom Feuer hat der Mensch die Wärme, Atem von der Luft, vom Wasser Blut und von der Erde das Fleisch, hatte er gesagt. In gleicher Weise auch vom Feuer die Sehkraft, von der Luft das Gehör, vom Wasser die Bewegung, von der Erde das Aufrechtgehen, hatte sie geantwortet, die Hildegard von Bingens Schreiben als Vademecum schätzte.
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Verhandlungen, die erfolgreich enden, starten häufig mit rhetorischen Frontalangriffen.
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Fatigue has less to do with sleep than sleep with fatigue. Der Verteidigungsminister klatschte in die Hände, eine Tür öffnete sich, und vier junge Mäner brachten Baldriansträuche, die sie den Gästen formvollendet als Geschenk überreichten.
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Im Grunde, sagten sie, ihre Höflichkeit war bewundernswert, hätten wir nichts dagegen, wenn Sie, falls es Ihnen passte, hier unterschrieben. Sie reichten uns die beeindruckenden Goldfüller. Wir haben, sagten sie, dabei den Lauf ihrer Waffen putzend, es wirkte wie eine billige Filmszene, wir haben, sie lächelten uns an, hoffentlich stimmt die Schreibweise, wir haben bereits Ihre Namen aufs Dokument gedruckt. Sehen Sie hier, ja, genau, dort.
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Ich schenkte dir Wasser nach, und du sagtest: mehr könntest du nicht von deinen Fingernägeln abbeißen. Das sei das Maximum. Steht mir, sagte ich, die kurzen Nägel. Findest du nicht? Die Fingerspitzen berühren auf der Stelle die Dinge. Unmittelbarkeit, sagtest du, ich nickte. Verletzlich, sagte ich, was ich niemals sein wollte. Was meiner Rolle widerspricht. Die wir dir aufgebürdet haben?, fragtest du. Nicht du, sagte ich, jedenfalls weniger als die anderen. Du nicktest. Sich mit der Kürze abzufinden, sagte ich. Der Kürze?, fragtest du, und ich wusste, was du dachtest. Am Ende bleibt Akzeptanz. Die einzige Schrittfolge, der du dich bislang erfolgreich entzogen hast, sagtest du, mein Tänzer, und zogst mich hoch. Du stelltest die Musik lauter. 17 Hippies, sagte ich. Du sagtest, lächelnd, die bleiben ... jung?, fragte ich.
Oktober
Die Übernahme
Beim ersten Angebot zuckten sie, als hätten wir ihnen eine Verletzung zugefügt. Eine Tradition. Sie sahen sich an, schüttelten die Köpfe. Ihre Gesten und Blicke sagten: Was für eine Beleidigung! Dann lächelten sie. Insult, murmelten sie, insult, why did you come to our country? Solch eine anstrengende Reise? For this offer? Eine Verschwendung an Energie! Wir warteten. Im Dossier des Auswärtigen Amts standen Anweisungen, wie wir uns verhalten sollten. Die Gesichtswahrung, hieß es, sei die höchste Kunst.
Man hatte uns, wir erinnerten uns, beim Abschied, als Feuertaufe, zur Seite gezogen und in einen abhörsicheren Raum geleitet, der im alten Teil des Ministeriums, mit Blick auf den Kanal, lag. Dort hatte man kein Wort gesagt, sondern auf den Boden gezeigt, in den eine Installation Jenny Holzers eingelassen war. Ein einziger Satz war, in roten Buchstaben, unablässig, für die nächste halbe Stunde, an uns vorbeigerollt: An ambassador is an honest man sent to lie abroad for the good of his country. Dazu hatte man als Schleife Terry Rileys G Song, interpretiert vom Kronos Quartet, wie du mir zugeflüstert hattest, und Tyondai Braxtons Gracka gespielt.
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Wir teilten die Müdigkeit, aber nicht den Schlaf.
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Dann ging es schnell. Schneller als gedacht. Sie ließen uns keine Wahl. Furcht sei keine Frage der Mutlosigkeit, sagtest du zu mir. Wir hatten den Satz als Warnsignal verabredet. Ich drehte mich um.
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In der Aussage liegt eine Drohung, sagte ich leise. Sie prüfen uns, und jede Prüfung, auch die bestandene, erinnere dich, liegt einem später als Last auf dem Gewissen.
Wir stimmen zu, sagtest du, laut und deutlich, wie es deine Art ist, die ich nicht teile. Allerdings hängt der Wechsel vom Zeitpunkt ab. Verfärbt sich das Laub im Juli, fallen die Blätter im August, herrscht Unordnung.
Chaos sei Ordnung nach der Verabschiedung. Hinter den Kulissen regieren Wünsche, die niemals die Sonne sehen. In ihren Stimmen lag offene Sentimentalität.
Ob sie wollen, dass wir gehen?, fragte ich dich flüsternd.
Du blicktest auf deinen Teller, auf dem sich etwas bewegte.
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Kantensein, sie bog gerade um die Ecke Strelitzer-Elisabethkirchstraße, konnte Kantenseins Verhalten also gut beobachten, Kantensein trug den ausgebeulten Koffer, eine Kraftanstrengung, fraglos, fünfzehn Meter, bis er den gepflasterten Platz vor seinem Wohnhaus hinter sich gelassen hatte. Dann, es war ein Feiertag, genau an der Grenze zum nächsten Haus, setzte Kantensein den schweren, uralten Rimowa ab und schob ihn von nun an, holterdiepolter, übers löchrige Pflaster. Sie bemerkte, hinter ihm bleibend, dass Lichter in mehreren Zimmern angeschaltet wurden, die Kantensein gerade passiert hatte, etliche Fenster öffneten sich, und Männer und Frauen, deren Haut nach Schlaf roch, selbst das nahm sie wahr, blickten Kantensein hinterher, der, in der Zwischenzeit, angefangen hatte, die Winterreise zu singen. Lustig in die Welt hinein, gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter! Sein Bariton durchdrang die Gassen. Das Seltsamste war allerdings, dass Kantensein alle Paar Meter stehenblieb, um im gelben Lichtschein der Straßenlaternen - wohlgemerkt: während er weitersang - sichtlich gerührt in einer zerlesenen Ausgabe von Also sprach Zarathustra zu blättern.
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Sie griff nach ihm, zog ihn heran, drückte ihn auf den Boden, setzte sich auf ihn.
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Zeit unterbricht sich nicht; tut sie's, sei's, für uns, vorbei.
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Die Flasche mit der Flüssigkeit, wahrscheinlich ein Gesichtsspray, er hatte die aufwendig gestaltete Verpackung oft gesehen, ohne jemals den Inhalt zu hinterfragen, lehnte schief gegen den Seifenspender. In der Nacht musste jemand, ohne das Licht anzuschalten, im Halbschlaf, gegen die Flasche mit der Flüssigkeit gekommen sein und sie aus dem Lot gebracht haben. Ist er es selbst gewesen? Ich bin, dachte er, kurz nach 4 Uhr aufgestanden, da ich einerseits wahnsinnigen Durst verspürt habe, das Essen im Chay Village, dem vietnamesischen Restaurant in Schöneberg, war hervorragend, aber salzig gewesen, andereseits schien meine Blase übervoll und der eigentlich Grund für die Unterbrechung der Nachtruhe gewesen zu sein. Ob ich, fragte er sich, aus dem Hahn im Bad Wasser getrunken habe und dabei die Flasche mit der Flüssigkeit zum Schwanken gebracht habe? Oder habe ich das Spray ausprobiert, um zu klären, um was es sich handelt?
Er blickte nach links, weg vom Waschbecken, hin zum Badewannenrand, auf dem ein Buch lag. Der blaue Umschlag der Fitzcarraldo Editions. Er trat näher heran. Flights. Olga Tokarczuk. Ins Englische übersetzt von Jennifer Croft. Habe ich, fragte er sich, während der nächtlichen Unterbrechung gelesen? Er versuchte sich zu erinnern, und er glaubte sich daran zu erinnern, dass der Mann, in Flights, dessen Frau samt Sohn auf einer griechischen Insel verschwunden gewesen ist, im Bett wieder neben dieser Frau liegt und sich fragt, ob es sich um dieselbe Frau handelt. Er dachte, dass er im Fall des Mannes <dieselbe> zusammenschreiben würde, da es, für ihn, der selbst solche Gefühle hegte, in Wahrheit allein darum ginge, ob man verschwinden, wieder auftauchen und, für alle Beteiligten, sich selbst eingeschlossen, wieder <derselbe Mensch> sein könnte.
Dann blickte er weiter nach links, Richtung Regal, das, in der Nische, über der Waschmaschine angebracht war. Ob es etwas - er strich das <an> des vorherigen Verbs - gebracht hat, fragte er sich, dass ich verschiedene Behälter für Kosmetika gekauft habe, um Ordnung zu schaffen? Oder ob, was an der Entropie - der unablässigen Verdichtung der verfügbaren, der benutzten und der unbenutzen Artikel - läge (noch ein <liegen>, aber ein anders gelegenes), oder ob sich dieses Seinsfach selbstständig gemacht habe, eine Existenz führe, auf die er, berechtigterweise, keinen Einfluss habe?
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Der Wecker hatte die Geiselnahme präzise vorbereitet. Genauigkeit sei eine Frage der Unabhängigkeit. Er klingelte um 3 Uhr früh. Keine Minute später. Ich rührte mich, sagte er. Als wärst du Teig, sagtest du. Komplimente klingen anders. Schweren Herzens ließ ich dich zurück, sagte er. Am Himmel hingen Sterne, die nichts vom Morgen wissen wollten, sagtest du. Er stand auf dem Fahrradsattel und dachte an The Killing Moon.
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Der Unterschied, aka Stil, häufig gebraucht, wird zur Normalität, aka stillos.
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Ein seltsamer Ausdruck: Luftholen. Als finge man Luft ein. Und brächte die Luft dann heim. 10.000 Liter am Tag. Im Atembeutel, aus Jute, bemalt, an der Wand hängend. Wie die Papiertüten, die es früher in Flugzeugen gegeben hatte. Mit geschlossenen Augen stand er unter der Pappel. Das Laub legte sich auf seine baren Schultern. Es brennt, dachte er. Am Zaun welkte rotes Efeu.
Sie verweilte am geöffneten Fenster und hoffte, dass er bemerkte, wie sie ihn observierte. Deine Lunge, flüsterte sie, hat eine Oberfläche, die so groß ist wie die Wohnung, in der wir gewohnt haben: 140 Quadratmeter. Die Schlieren der Dunkelheit, goldene Striche auf Wellen surfend, mischten sich ins Abendblau.
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Die anderen lagen so, dass die Polizisten, an der Ecke Tor-Brunnen, theoretisch einen Blick auf die Campierenden werfen konnten. Beobachtetes Schlafen. Das kam für mich nicht in Frage. Die anderen hätten ein Ring gebildet, um die Blicke abzulenken. Grog war seit drei Tagen verschwunden. Er hatte mir die Touren Richtung Mauergedenkstätte angekreidet. Hatte mich, wüst schimpfend, bezichtigt, etwas am Grasstreifen laufen zu haben. Hatte gedroht, er würde mir einen Denkzettel verpassen, ich würde schon sehen, was ich davon hätte, ich würde es bereuen, ihn hintergangen zu haben. Beim Wort Denkzettel hatte ich an Robert Walsers 526 Mikrogramme denken und unwillkürlich lächeln müssen. Nicht die beste Reaktion, aus Grogs Sicht.
Ich hatte, vor vielen Jahren, die Gelegenheit gehabt, einen Notizzettel Walsers anzufassen, auf dem, jedenfalls hatte ich mir das eingebildet, unten links, der Name Jakob von Gunten zu entziffern gewesen war. Die Erinnerung an die Lektüre der überempfindlichen Mikrogramme, die, für mich, Walsers Entfernung von der Welt symbolisierten, sein idiosynkratisches Verhältnis zur ihm auferlegten Wirklichkeit wie nichts anderes darstellten, die mich mit einer immensen Wucht flutende Erinnerung an die ehemalige Lektüre, ich hatte Walser als Jugendlicher gelesen und über alle Maßen, mit einer Intensität, die an religiöse Inbrunst heranreichte, geliebt, der Flashback ins Land der unendlichen Möglichkeiten, was die Kindheit sein kann, hatte mich so sentimental werden lassen, dass mein Kreislauf in den tiefsten denkzettelbaren Keller gerutscht war. Ich hatte mich, das wertvolle, unersetzbare Stück Papier in der Hand, zum Entsetzen der aufgeregten, kreidebleichen Archivare, auf den Boden setzen, ja legen müssen. Der Schwindel, der mich erfasst hatte, hatte noch über Tage angehalten. Ich hatte, allen Ernstes, über Wochen nicht meine zerschundenen Finger waschen können. Ich hatte mich wund gefühlt, verletzt. Etwas war in mir - und hier passte der Begriff wie niemals zuvor - buchstäblich aufgebrochen. Etwas, das sich partout nicht hatte schließen lassen, das unendlich geschmerzt und auf einer Außerordentlichkeit beharrt hatte, die mir klar gemacht hatte, dass Walser mir etwas zugefügt, mich grundsätzlich aus dem Gleichgewicht gebracht, meine Unversehrtheit überwunden hatte. Bewunderung enthält, hatte ich damals zum ersten Mal gedacht und halbwegs verstanden, nicht umsonst den Begriff Wunde.
Ich wäre, im Falle des Falles, Polizeirevier hin oder her, während der Nacht allein auf der Weinbergwiese gewesen. Außerdem: die Kälte. In den frühen Morgenstunden stürzten die Temperaturen in der Zwischenzeit auf fünf, sechs Grad ab. Und ich hatte es bislang nicht vermocht, im Kaufhof einen kälteresistenten Schlafsack zu organisieren. In kleineren Outdoorgeschäften verfolgten dich unablässig Verkäufer, ich hatte es ausprobiert, während man am Alexanderplatz, stank man nicht zu sehr, in der Rushhour Glück haben konnte.
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Irgendwann erreicht man das Alter der Exualität. Aber nicht in der Mitte, selten in der Mitte.
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Im Konsulat blieb man unter sich. Draußen explodierten Bomben. Was in den Sendungen keinen Widerhall fand, egal: wie laut, wie tot, wie viele. Vertraut das Rot des Blutes. Wir schluckten, anfangs. Später prosteten sie uns zu. Alteingesessene erkannten in unseren Blicken ihre eigene Unachtsamkeit. Alle wussten, hier bliebe man nicht für immer. Im Schatten der Gewehre. Eine ewige Kolonie, sagte der Veteran. Wir nickten, gingen in die Küche, in der die Maschine stand, aus der Heimat eingeflogen, die Kaffee brühte, als befänden wir uns, wie einst, am Campo de` Fiori.
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Sie roch nach Zimt. Wir hielten uns, aus. In ihren Augen lagt das Bewusstsein des, wie's in der neuen Sprache hieß, Bergfests. Wir waren oben angekommen. Nachts. Die Sicht trübte sich ein. Ein Sturm, sagtest du. Es war klar, dass du nicht das beeindruckende Wetterleuchten über den Uhrzeigern Sextens meintest.
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Alte Kontakte verkennen am ehesten den neuen Rhythmus.
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Auf den Zwölfer! Wir hielten uns. Prosteten uns mit Hagebuttentee zu. Ziemlich sauer, sagte ich. Ich hatte die Hagebutten gesammelt und mit dem Bunsenbrenner, aus sicherer Entfernung, im Schnellverfahren schockgetrocknet. Der Tee war nicht tiefrot, wie wir ihn kannten. Malve, sagtest du, die intensive Farbe des Hagebuttentees stammt von Zusätzen. Hast du das nicht gewusst? Ich schüttelte den Kopf. Ich kann Automarken auseinanderhalten, sagte ich. Den Früchten der Rose, sagtest du, wird neben Malven- auch Hibiskusblüten untergemischt.
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Das Seltsame an Merkmalen sei, dass sie sich abschliffen, im Laufe der Zeit verschwänden, um plötzlich, nach einem tiefen Schlummer, mit einer ungeahnten Gewalt hervorzubrechen, als wären sie niemals abgetaucht.
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Der Bogen, den ihr machtet, um uns, wurde größer. Das Licht hielt sich zurück. Ich konnte es dir nicht verübeln - mir, ich bitte dich, glaube mir: mir konnte ich es nicht verübeln, den Umweg, das Zögern, die Angst, denn ich sah mich selbst, den anderen Pfad wählend, den gelben Leuchten folgend, dem Duft des Digitalen hold, analoger als wir war keiner. Du passiertest den Container, in dem die Gärtner saßen, Smartphones in Händen, die von Erde und Laub erzählten, auf den Aufgang der Sonne warteten, mit geschlossenen Augen saßen sie da, ich lehnte am Eisen, dir unbekannt, war und war nicht du.
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Pausiert der Schlaf, wandern die Träume, sagte der Diplomat, der uns, nicht ohne Stolz, die Gästezimmer zeigte.
Wir sahen uns an. Du sagtest, auf die CCTV-Kameras im Bad weisend, Wachsamkeit habe unter Freunden einen anderen Geschmack als unter Feinden.
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Es war nicht so, dass es keine Musik mehr gab. Musik war überall, drang aus Kopfhörern, geöffneten Autofenstern, wurde als Hintergrundsound in der Ackerhalle gedudelt. Aber was es nicht mehr gab, war die Musik, die er, die ich, gehört hatte. Ich hatte keinen Zugriff auf das spotify-Kundenkonto. Er hatte, wie's auch meine Angewohnheit gewesen war, zwischendurch das Passwort gewechselt, und außerdem reichte mein Handy, ein altes Nokia, das Macken hatte, dessen Karte ich, reichte das Geld, ab und an auflud, nicht, um Musik für längere Zeit zu streamen. In der Bücherei, neben der Buchhandlung, gleich beim Park, hatten die Angestellten sofort gemerkt, zu welcher Art von Leserinnen ich gehörte und mir, beim dritten Mal, den täglich wechselnden Zugangscode zum Internet verwehrt, um, was ich sogar verstehen konnte, die Geruchsbelästigung für die Leserschaft und, vor allen Dingen, sich selbst zu verrringern.
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Beim letzten Zahnarztbesuch sagte er zur Zahnärztin, er verzichte auf Betäubung. Er atme lieber den Schmerz aus. Eine Technik, die er seit vielen Jahren beherrsche. Esoterisch sei er nicht, alles sei eine Frage der Entschlossenheit und der Konzentration. Während des Bohrens dachte er an Steve Reich, stellte sich vor, dass die gesamten Geräusche, die ihn umgaben, die in seinem Kopf Platz fanden: das Knacken des Zahns, das Saugen des Schnorchels, das Schaben des scharfen Spachtels, den ihm die Zahnärztin zwischen die engen Zähne zwängte, um an den Karies zu kommen, stellte sich vor, bei den Donaueschinger Musiktagen für Zeitgenössische Musik einer Uraufführung beizuwohnen. Die Zeit im Behandlungsstuhl hätte für ihn länger sein können. Ein Wunsch, den er weder der Zahnärztin, deren Plastikhandschuhe blutverschmiert waren, noch der Zahnarzthelferin, die ihm ob der grob-stumpfen Werkezuge den Mund mehrmals mit Creme einpinselte, beichten konnte. Als ihn die Zahnärztin fragte, ob man bitte auf den dritten Zahn heute verzichten könnte, sie würden gerne Geburtstag feiern, fragte er, wessen Geburtstag denn gefeiert würde, sie sagte: ihrer, er fragte daraufhin, ob er sie in den Arm nehmen dürfte, was sie ihm erlaubte.
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Was Kantensein, nachdem er genug vom Zarathustra und der Winterreise hatte, ich harrte in Hörweite aus, in einer Toreinfahrt, was Kantensein am Telefon sagte, ob er zu einem Mann oder einer Frau sprach, war nicht klar, was Kantensein sagte, veränderte meine Lage drastisch. Kantensein erklärte, die Arme schwingend, wie es seine Art war, er würde gleich ins Hilton, am Gendarmenmarkt, gehen, dort zuerst den Spa aufsuchen, einen günstigen Moment des Unbeobachtetseins abwarten, um sich in den Relaxation Room zu schleichen, sich ausgiebig duschen, sich dann einen abgelegten Bademantel greifen, es gäbe keinen Spa der Welt, zumindest in Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels, in dem nicht, zumeist vor der Sauna, ein abgelegter Bademantel hinge, anschließend würde er mit dem Passepartout, den oder das er, Passepartout sei, erläuterte Kantensein, übrigens sowohl säch- als auch männlich, den oder das er letztes Jahr für zehn Euro im Schlüsselladen an der Müllerstraße gekauft hatte, ja, genau, jener Laden am Leopoldplatz, ja, der existierte noch, auch die Unterm-Tresen-Angebote, eine lohnenswerte Anschaffung, anschließend also - Kantensein sagte tatsächlich also, was ich ansonsten nur aus literarischen Texten mit verschachtelten Sätzen kannte - anschließend würde er also mit dem Passepartout einen Schrank öffnen, entweder, fündig geworden, sofort seine Sachen wechseln, sich, mit etwas Glück, das Bargeld aus dem Portemonnaie greifen, Papiere ließe er grundsätzlich zurück, und abdampfen, oder, wenn ihm danach sei und die Zimmerkarte noch in der Papierhülle mit der säuberlich vermerkten Zimmernummer steckte, wo würden die Rezeptionisten eigentlich das Schönschreiben beigebracht bekommen?, oder manchmal würde er sich auch flugs aufs Zimmer begeben, um nach dem Rechten zu sehen, und, was interessant sei, hätte man eine Karte, könnte man sich, besonders in großen Hotels, die kapitalistisch geführt würden, von den Zimmermädchen, die, Ausnahmen bestätigten die Regel, kaum Deutsch sprächen, könnte man sich auch ein beliebiges, mit Fortüne, unbenutztes, aber bereits aufgeräumtes Zimmer öffnen lassen, die Karte funktioniere leider nicht, und, ohne zu bezahlen, eine ruhige Nacht in chemisch gereinigter Bettwäsche verbringen und die überteuerte Minibar plündern.
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Ich stand hinter ihnen. In der Menge war das möglich. Wir sahen zusammen zur Bühne, während die Sonne hinter der Siegessäule unterging. Die Kälte, die ich die ganze Zeit gespürt hatte, führte zu einer endlosen Umarmung. #unteilbar kennt Grenzen. Die Erinnerung hielt ich nicht aus. Ich drehte mich um und verschwand. Am Spreeweg, beim Haus der Kulturen der Welt, tranken junge Frauen Bier, sie gaben mir eins aus. Ich setzte mich zu ihnen ins Gras, das die Tageswärme staute. Vergaß, dass ich nur Wein mochte. Und schwieg, während erleuchtete Ausflugsboote an uns vorüberzogen.
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Charakter, sie wälzten sich vor Lachen über Seiten, die sie aus Texten gerissen hatten, Charakter, seid, was wir erwarten! Seid einszueinsohnebruchauthentisch! Das Echte entwickelt in Zeiten des Unechten eine Anziehungskraft, die es in kritischeren Zeiten niemals gehabt hätte. Wir bürden euch auf, was wir uns selbst nicht mehr zutrauen: Abstand und Intimität, Vertrauen und Vertraulichkeit. Sei du, ohne du sein. Ginge das? Dürfen wir darauf setzen, dass ihr für uns auf die Barrikaden geht? Die Irreführungen zurechtrückt?
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Härte besitzt eine Halbwertszeit, die der Dauer der Güte unterlegen ist; auch wenn das Raue die eigene Schwäche per se nicht wahrhaben will.
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Als säße Cat Power neben mir, sagte die Bedienung zum Gast, der mich anstarrte, als würden wir uns von früher kennen. Was wir taten, aber nicht in meiner jetzigen Gestalt. Meine Faust war mal in der Magengrube des Rassisten gelandet. Ich hatte keine Wahl gehabt. Er hätte mir ansonsten eine zweite Ladung Reizgas in die Augen gesprayt. Stellen Sie sich das nur vor - Cat Power, sagte die Bedienung und wischte sich, ohne es zu merken, mit dem Tischlappen den Schweiß von der Stirn. Cat Power! Und dann?, fragte der Rassist, der mich nicht aus den Augen ließ. Die Bedienung griff sich ein halbvolles Glas mit einer Flüssigkeit, die wie Eierlikör aussah, und stürzte das Getränk herunter. Cat Power! In meiner Unsicherheit, sagte die Bedienung, habe ich Satisfaction angestimmt.
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Das Kostüm, hochgeschlossen und elegant, saß, als hätte es mir eine Schneiderin auf den Leib gegossen. Ich hatte 450 Euro aus dem Safe genommen. Die Kombination war einfach gewesen. Frauen wählen häufig 0815, Männer tendieren zu 4321. Ich hielt mich in der Nähe der Kantstraße auf. Die Idee, die Tochter der Frau zu treffen, leuchtete mir ein.
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Liebe sei der Versuch, sich selbst untreu zu sein.
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Die Botschafterin zeigte uns die Unterlagen. Es war noch schlimmer als vermutet. Wir schluckten. Ja, sagte sie und verschränkte die Arme, so sieht's aus. So und nicht anders. Wenn Sie wollen, fahren wir morgen zum Damm. Wir nickten, und du sagtest: Okay, vielen Dank für die Offenheit, bringen wir's hinter uns.
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Die Beule auf der Stirn hatte geglüht. Er war gefallen, in der Aula des Gymnasiums, in Olching, Mitte der 70er Jahre. Die Schule, das erste moderne Gebäude, das er jemals betreten hatte, hatte neu gerochen, blau und futuristisch. Er hatte die Betonkanten im Innenraum unterschätzt. Nichts war normal gewesen. Nur das Zerbrechen. Alles war auseindergebrochen. Als hätte es ein Erdbeben gegeben. Während er die Schule gewechselt hatte. Die Beule hatte sich verfärbt. War blau angelaufen. Wie die Leisten, die Geländer des Schulbaus. Die Flaggen, draußen, der Himmel, über ihm, später, auf dem Heimweg, das Wasser der Amper, kalt und frisch, alles blau, er hatte den Kopf, mit der Beule, zwischen die Stromschnellen gesteckt und hatte, was damals möglich gewesen war, das Flusswasser getrunken, mit hastigen, gierigen Schlucken, als hätte er wahnsinnigen Durst gehabt, als wäre er am Verdursten gewesen, als hätte er Tage in der Wüste verbracht, als hätte man ihm seit einer Woche nichts zu trinken gegeben. Blau, alles war blau gewesen. Selbst die blauen Briefe, die er abgefangen hatte, die seine Abwesenheit gemeldet hätten, die er säuberlich zerschnitten und angezündet hatte.
Er war, in der Aula des Gymnasiums, buchstäblich, abgestürzt. Auf den Kopf gefallen. Klug untergegangen. Verbeult abgegangen. Dumm zerborsten. Zerschlagen. Abgefertigt. Heulend. Nichts wert zu sein, das hatte er gedacht, so fühlt sich das also an. Wie die Alten vorm Wirtshaus, die mit gebeutelten Augen in die Sonne blickten. Abgeurteilt. Er war über Wochen unregelmäßig zum Unterricht gegangen. War in den Wäldern verschwunden. War an den See gegangen. Hatte Morgen für Morgen an nichts gedacht. Nur an sich selbst. An die Tiere, die ihm folgten, als gehörte er zu ihnen. Als wär er ein Tier gewesen. Als hätte er keine Sprache gehabt. Als hätte er keine Lehrerinnen und Lehrer gehabt. Als hätte er keine Freunde gehabt. Als hätte er nichts zu essen gehabt. Die Tiere hatten gesehen, wie er das Wasser des Sees getrunken hatte. Sie hatten gesehen, wie er die Nüsse gesammelt hatte. Kastanien. Eicheln. Die Tiere hatten gesehen, wie er auf den Acker gegangen war, um Knollen auszubuddeln, mit bloßen Händen. Geblutet hat er, als hätte man ihn abgestochen.
Unterfordert. Später. Auf der Estinger Landschule. Nicht daheim, das nicht. Dort nicht. Keiner wäre dort unterfordert gewesen. Weder jung noch alt. Für jede und jeden wäre die Lage eine Herausforderung gewesen, eine Daseinsprüfung, ein Test. Da hätte niemand gesagt: ich bin hier unterfordert. Niemand hätte gesagt: das langweilt mich hier gewaltig. Der Tod hatte in der Familie Einzug gehalten. Unangekündigt. Auf zweierlei Art.
Er hatte den Kopf fallen lassen, ohne sich abzustützen, ohne Widerstand zu leisten. Wenn schon, denn schon, hatte er gedacht, ins Blau der Schulbänder geschaut, wie gebannt, wie hypnotisiert. Bis der Kopf auf die Kante gekracht war. Hart und neu. So neu, dass er sich vom Beton eine Erfrischung erhofft hatte. Fast geglaubt hatte, dass der Beton ihn elastisch eintauchen ließe, ihn umfinge, ihn hielte, ihn erstickte, damit er nicht das Urteil hören müsste. Das ist es also, hatte er gedacht, beim harten Aufschlag hatte er das gedacht, was Räume mit uns machen. Sie schützen uns, bis wir fallen. Wir sind ihnen, grundsätzlich, egal. Gehen wir, gehen wir für immer. Nichts bleibt von uns. Die Aula wird mich vergessen. Die Aula wird vergessen, dass es mich hier gegeben hat. Ich werde weder im Gedächtnis der Schule noch im Gedächtnis der Lehrer oder Schüler einen Eindruck hinterlassen. Der Beton ist zu hart, um einen Eindruck zu hinterlassen. Einen Abdruck zu erlauben. Der Zeit Raum zu geben, sich zu entfalten. Die Schädelknochen prallen am Schulbeton ab. Waschbeton, hatte er gedacht und sich an den See gewünscht, hatte sich gewünscht, ins weiche, warme Wasser zu fallen, den Mund zu öffnen, das blaue Nass in den ausgetrockneten Körper fließen zu lassen. Als gäbe es keine Zukunft. Als gäbe es allein das Jetzt. Als gäbe es nicht den Tod.
*
Sie fragte sich, beim Betreten der Schulstraße, sie war durch einen unterirdischen Gang in den orange-grünen Bau eingedrungen, sie fragte sich, ob die verlassene Schule, mitten im Brunnenviertel, die Schwester der Olchinger Lehranstalt war. Sie fühlte sich im modular aufgebauten Stahlskelettbau sofort aufgehoben. Ein Ufo, das sie verschluckte. Grob geriffelte Betonwände. Rahmen und Rohre in Grasgrün. Eckige und abgerundete Fassadenpanele in Knallorange. Freithronende Treppenhäuser, die sich nicht versteckten, nicht im Inneren verschwanden, Ein- und Ausblicke erlaubten, am Baukörper wie Gliedmaßen klebten. Und das Wasser. Im Untergeschoss war eine Leitung geplatzt. Sie zog sich die Schuhe, die Socken und den Hosenanzug aus und watete durch die Brühe.
*
Sie denkt an all die Blicke, die sie - er - getauscht, mit Frauen, fremd, mit Männern, fremder noch. Nicht ungereizt, wir, im Gegenteil, im Leibesteil. Organe, vorgewölbt, eure, unsere, versteckt und freigelegt. Archäologie der Lust. Der Körper wegen. Der Güter wegen. Des Austauschs wegen. Ware. Verhandelt zwischen Sein und Idee. Seid ehrlich, denkt sie. Mich - ihn - ließ viel, doch nicht alles gleich. Obwohl, was auch so sei, so ist's gewesen, ich - er - dir treu geblieben ist. Als Wahrnehmung des Glücks. Im Akte, nicht im Vorgestellten, das wütet, seid bitte ehrlich, wie ihr in euch steckt, das wütet hohl und voll in uns, zählt eins und eins zusammen, aus Gründen, die wir zwar benennen, aber nicht steuern können. Die Gedanken sind Brei, sie lacht den Diplomaten an, Brei, den wir löffeln. Der Botschafter scheint verwirrt, sagt, unwillkürlich reimend: bis morgen, Sorgen dann. Sie sagt, wie sehr ich Foucault auch schätze, aber dass er in der Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften behauptet, der Marxismus ruhe im Denken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser, was hieße, dass er überall sonst aufhörte zu atmen, sei nun mal falsch.
*
Als die Antwort nicht gefiel, war die Meinung, die wir ansonsten schätzten, plötzlich irrelevant.
*
Geschmack, wir betrachten die Auslagen, sei eine Zeitfrage; was wohl bedeutet, dass du aus der Zeit gefallen seist.
*
Wie Stimmen, die wisperten, so hörte es sich an. Menschen, um diese Uhrzeit? Es war kurz nach 6 Uhr früh, Sonntagmorgen, das Coworkingbüro leer. Oder ein Radio, angestellt und vergessen? Sie zögerte einen Moment. Entdeckt zu werden, wäre nicht angenehm gewesen. Da sie sich allerdings sicher war, allein im Gebäude zu sein, ging sie schließlich doch und checkte die Quelle. Die Kaffeemaschine war von allein gestartet, und das Wasser, das durch den Filter und die gemahlenen Bohnen sickerte, machte ein Geräusch, das, zumindest aus der Entfernung, an Stimmen erinnerte. Neben der Kanne hing ein Schild: Kaffee schläft nie. Sie riss es ab.
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Jede Grenze, in der Stimme des Botschafters wohnte Gleichgültigkeit, ist verschiebbar. Wer sich für unüberwindbar hält, verliert den Verstand. Flexibilität erleichtert die Wahrnehmung historischer Entwicklungen. Besonders derjenigen, in denen man selbst steckt. Glaubte ich nur an eine Wahrheit, hätte ich Priester werden müssen. Und selbst da, seien wir vernünftig, haut die Exegese ins Gewissheitenkontor. Veränderung sei der Kern der fluiden Welt. Die Oberfläche sei eine Lüge, die uns Geographen der Macht schönredeten. Auf die Übergänge käme es an, auf sie allein.
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Gao Huan, der spätere Kaiser Shenwu, wurde ehedem von einer mächtigen Armee unter der Führung von Erzhu Zhao umzingelt. Seine eigene Streitmacht war eher bescheiden. Sie bestand gerade mal aus 2000 Reitern und weniger als 30.000 Fußsoldaten. Die Belagerungsreihen der Gegner waren allerdings nicht besonders eng gezogen. Es gab Fluchtmöglichkeiten. An einigen Stellen waren die Lücken besonders groß, luden zum Entkommen ein. Statt allerdings zu fliehen, ging Gao Huan ans Werk und verschloss alle verbliebenen Fluchwege selbst. Er ließ eine große Anzahl zusammengebundener Ochsen und Esel in die offenen Flanken treiben. Sobald seine Offiziere und einfachen Soldaten sahen, dass sie keine Wahl hatten, als zu siegen oder zu sterben, wurden sie von einer einzigartigen Erregung erfasst und griffen mit so verzweifelter Wildheit an, dass die gegnerischen Reihen unter ihrem Ansturm brachen und sich auflösten.
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Ich trat an die Kante. Das Wasser war abgelassen. Im Pool des Humboldthains lagen haufenweise Blätter. Kastanie, dachte ich. Heftiger Wind strich übers Laub. Das Rauschen erinnerte mich an Palermos Promenade, hinter der Jungs, nach Farbe getrennt, Fußball gespielt hatten. Ich sah mich um, trat einen Schritt zurück, nahm Anlauf und sprang.
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Als uns klar war, dass ins alte Kaufhaus Jandorf am Weinbergpark eine schwäbische Automarke ziehen würde, der Mietvertrag, hieß es, gehe über Jahrzehnte, schlossen wir einen Burgfrieden. Von jetzt an fühlten wir uns als Verbündete.
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Gewalt zerstört Brücken. Gibt es keine Brücken, schafft Gewalt welche.
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Sie erinnerte sich, als sie - er - ihr beim Reinigen des Gesichts geholfen hatte. Die Angst war groß gewesen. Nicht größer als die Vorsicht, das nicht. Aber die Furcht, Narben zu behalten, hatte beide umgetrieben, aus unterschiedlichen Gründen. Sich auf vorherige Leistungen zu berufen, war nicht erlaubt gewesen. Jede Schlacht müsse neu geschlagen werden, hatte sie gesagt. Sie dürften sich auf gar keinen Fall mit alten Lorbeeren schmücken. Das hatte sie tatsächlich so gesagt: alte Lorbeeren. Das Heute zähle, Absichtserklärungen seien nicht die E-Mail wert, in der sie abgegeben worden seien.
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Into my armes. Cave sang, ich glaube nicht an eine interventionistische Göttin, sie steckte in der Bredouille. Das Lied kreiste durch ihr Hirn, aber ich weiß, Liebling, dass du das tust, ohne irgendwelche Anstalten zur Landung zu machen. Aber wenn ich's täte, würd ich mich hinknien und sie fragen. Die Schritte setzten sich von selbst. Durch den mageren Park. In den satten Straßen. An der Müllabfuhr vorbei. Dir nicht ein Haar auf dem Kopf zu krümmen. Der süße Geruch von Arbeit. Nicht einzugreifen, wenn's um dich geht. Als wäre das Sein eine Demokratie. Als könnten wir uns, von Zeit zu Zeit, selbst abwählen. Neue Parteien gründen. Neue Programme aufstellen. Kampagnen entwickeln. Andere von uns überzeugen. Als wären andere bereit, uns Veränderung zu erlauben. Jeder Kampf beginnt daheim, in uns. Was blieb? Melancholie. Und die alte Frage, die uralte.
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Wer nur für sich selbst kämpft, langweilt.
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Der Fremde sei, schreibt Simmel, innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises - oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog sei - fixiert. Aber seine Position in diesem sei dadurch wesentlich bestimmt, dass er nicht von vornherein in ihn gehöre, dass er Qualitäten, die aus ihm, dem Raum, nicht stammten und stammen könnten, in ihn hineintrüge.
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In der Dunkelheit, die über ihn hereingebrochen war, eine Glühbirne hatte ihren Dienst aufgegeben, sie erinnerte sich, in der plötzlcihen Dunkelheit hatte er sich vorgestellt, blind zu sein. Er hatte bewusst darauf verzichtet, einen anderen Lichtschalter zu drücken, die Badlampe, gleich um die Ecke, oder die etwas entferntere Studyleuchte anzuschalten. Er hatte die Hand ausgestreckt und auf der Ablage nach dem Hausschlüssel gesucht, im dicken Schlüsselwust, wo auch anderer Krimskrams gelegen hatte. Hotchpotchhöhle hatte sie das immer genannt. No odds and no ends. Nichts hatte er gesehen, rein gar nichts. Dieser Bereich der Wohnung bekam keinerlei Außenlicht ab. Wie in einer Dunkelkammer hatte er gestanden. Die Schlüssel hatten sonderbare Geräusche gemacht. Unvertraut. Als hätten sie sich über ihn unterhalten. Als hätten sie ihn wie Psychologinnen analysiert. Ihn, das war sein Gefühl gewesen, am lebendigen Leibe auseinandergenommen. Viviziert. Er hatte die Metallstücke zögerlich angefasst. Vernachlässigte Preziosen. Kleine Kostbarkeiten, deren Leistung zu selten gewürdigt wird. Kellerschlüssel, er hatte es am Doppelknoten im Band erkannt, das war der Satz für den Heizungsbereich gewesen. Dann der Autoschlüssel, der keinen Türschlüssel mehr angehängt bekommen hatte, seit er den letzten beim Reifenwechsel vergessen und die gesamte Schließanlage des Apartmentblocks, nach einem Einbruchversuch, ausgewechselt werden musste. Das war alles andere als angenehm gewesen. Im Gegenteil. Niemand hatte Zeit verschwenden wollen. Seinetwegen. Er hatte anderen Zeit gestohlen, und sie hatten ihn einen Monat lang mit vorwurfsvollen Augen angesehen. Er hatte sich wie ein Paria gefühlt. My little Dalit hatte sie ihn genannt. So sei das, wenn man ostracise werde. Verbannt, verfemt. Ausgestoßen. Gemieden. Wegen nichts und wieder nichts. Kleinigkeiten bringen Menschen völlig aus dem Gleichgewicht, hatte er damals gedacht. An solchen Sachen merkte man, wie gut es uns eigentlich ginge, hatte sie gesagt.
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Nach vielen Monaten saß ein Vogel an der Tränke. Selbst im heißesten Sommer waren die Vögel ausgeblieben. Es hieß, ihre Anzahl sei im ganzen Land zurückgegangen. Die Tränke, die sie betrieb, da sie umsonst an Wasser kam, bestätigte diese Vermutung. Der Vogel blickte zu ihr, und sie fragte sich, ob es sich um das Tier handelte, das sie im vergangenen Winter, auf dem Balkon der alten Wohnung, mit dem Luxusfutter, während langer Mondnächte, anhänglich gemacht hatte.
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Jeder Beschränktheit sei eine dystopische Entschlossenheit eigen.
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Der Glaube an Hierarchien ist die furchtbarste aller Religionen.
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Seine Zufriedenheit, sie wusste es, hatte stets am seidenen Faden gehangen. Zur Unterordnung war er niemals fähig gewesen. Sein Spott hatte Wunden geschlagen, seine Belesenheit befremdet, seine Weltsicht verstört. Er hatte andauernd die Firmen gewechselt. Wechseln müssen. Man hatte ihn gefeuert. Manchmal hatte man ihn sogar mit dem Werkschutz wie einen Straftäter abführen lassen, an den flüsternden Kolleginnen und Kollegen vorbei. Seht genau hin, das passiert, wenn ihr dem Boss widersprecht. Seine vermeintlichen "Wahrheiten" waren zu roh gewesen, ganz undiplomatisch. Dass er für die heikle Mission augewählt worden war, hatte mit seiner engen Beziehung zu dem Land zu tun. Dem Vertrauensverhältnis zu einem ehemaligen Warlord, der jetzt als Verteidigungsminister agierte und dem man zutraute, nächster Regierungschef zu werden. Er hatte, vor ihren Augen, die Anweisungen des Auswärtigen Amts in den offenen Kamin geworfen. Vom Feuer hat der Mensch die Wärme, Atem von der Luft, vom Wasser Blut und von der Erde das Fleisch, hatte er gesagt. In gleicher Weise auch vom Feuer die Sehkraft, von der Luft das Gehör, vom Wasser die Bewegung, von der Erde das Aufrechtgehen, hatte sie geantwortet, die Hildegard von Bingens Schreiben als Vademecum schätzte.
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Verhandlungen, die erfolgreich enden, starten häufig mit rhetorischen Frontalangriffen.
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Fatigue has less to do with sleep than sleep with fatigue. Der Verteidigungsminister klatschte in die Hände, eine Tür öffnete sich, und vier junge Mäner brachten Baldriansträuche, die sie den Gästen formvollendet als Geschenk überreichten.
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Im Grunde, sagten sie, ihre Höflichkeit war bewundernswert, hätten wir nichts dagegen, wenn Sie, falls es Ihnen passte, hier unterschrieben. Sie reichten uns die beeindruckenden Goldfüller. Wir haben, sagten sie, dabei den Lauf ihrer Waffen putzend, es wirkte wie eine billige Filmszene, wir haben, sie lächelten uns an, hoffentlich stimmt die Schreibweise, wir haben bereits Ihre Namen aufs Dokument gedruckt. Sehen Sie hier, ja, genau, dort.
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Ich schenkte dir Wasser nach, und du sagtest: mehr könntest du nicht von deinen Fingernägeln abbeißen. Das sei das Maximum. Steht mir, sagte ich, die kurzen Nägel. Findest du nicht? Die Fingerspitzen berühren auf der Stelle die Dinge. Unmittelbarkeit, sagtest du, ich nickte. Verletzlich, sagte ich, was ich niemals sein wollte. Was meiner Rolle widerspricht. Die wir dir aufgebürdet haben?, fragtest du. Nicht du, sagte ich, jedenfalls weniger als die anderen. Du nicktest. Sich mit der Kürze abzufinden, sagte ich. Der Kürze?, fragtest du, und ich wusste, was du dachtest. Am Ende bleibt Akzeptanz. Die einzige Schrittfolge, der du dich bislang erfolgreich entzogen hast, sagtest du, mein Tänzer, und zogst mich hoch. Du stelltest die Musik lauter. 17 Hippies, sagte ich. Du sagtest, lächelnd, die bleiben ... jung?, fragte ich.