Mitte Zwei
Oktober
Die Übernahme
1. Belagert, Juli 2019
Wir duckten uns. So tief es ging. Uns war angst und bange. Das Glück von gestern zählte in der heutigen Belagerung wenig. Bierflaschen und VHS-Tapes, mit Packband als Fünfer-Bund verschnürt, flogen - tack, tack, tack - durchs geöffnete Teeküchenfenster der Landesparteigeschäftsstelle. Ostra-Allee. Neben der Eisenbahnunterführung, die zur Magdeburger Straße ging. In Sichtweite der Yenidze, was uns, anfangs, amüsiert hatte, da die ehemalige Zigarettenfabrik, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Stil einer Moschee gebaut, bei den aus dem Amt katapultierten Parteihonoratioren tagtäglich Anti-Muslim-Schaum vorm Mund verursacht haben musste.
Nothing lasts forever, Hass kennt keine Grammatik, sagte Hall, die erst am Vortag mit überwältigender Hippiemehrheit zur neuen Landesparteivorsitzenden gewählt worden war. Vielleicht sollten wir demnächst umziehen. Eh nicht besonders gemütlich hier. Die Glatzen der Generation Hoyerswerda plündern gerade die Videothek unter uns. Hall hatte die Angewohnheit, Sachen zu sagen, die nahezu jeder mitbekam. Bombenumsatz für den Laden, versicherungstechnisch, mein ich. Sie riss, am Boden kauernd, das hellbraune Packband von einem Bündel ab und zeigte, als handelte es sich um eine Rarität, die Vorderseite einer VHS-Kassette. Eingefleischte Die-Hard-Fans, alle Folgen am Stück, ordentlich sortiert. Die Landesparteivorsitzende band sich die Haare mit einem Blumenband zum Dutt, robbte fluchend zum Fenster, fuck, fuck, fuck, während Feldschlösschenflaschen hinter ihr reihenweise an der Marmorspüle zerschellten. Sie zog sich an der Seite hoch, schloss das Fenster und blickte vorsichtig durch die Faltjalousie. Es stimmt, wer austeilt, aber nicht einstecken kann, sollte nicht die öffentliche Bühne suchen. Zehn bis fünfzehn überaus charmante Glatz...
.. iasten, liebste Vorsitzende Hall, ergänzte Stan, der neue Landesparteipressesprecher.
Glatziasten - klingt wie ein Film von Lars von Trier, sagte Seeta, die neue stellvertretende Landesparteivorsitzende, gleichzeitig Kulturbeauftragte und hochschwanger. Klingt nach Open-Air-Kino da draußen. Hört ihr das auch? Die rufen doch nicht allen Ernstes <Yippie-ya-yay, Schweinebacke>? Sind wir in eine Stirb-langsam-Gedenkveranstaltung geraten? Warum um alles auf der Welt?
Oh, ganz einfach, liebste Vize Seeta, sagte Stan und deutete aufs ausgebleichte Cover, das ihm Hall auf sein Verlangen hin zugeschoben hatte. Honey, it’s the xenophobic 90s, Lichtenhagen, Solingen, Mölln, remember? Bruce Willis hat den selben Friseur. One size fits kahl.
Wir - die gesamte neue Landesparteiführung der, wie wir sie insgeheim nannten, HfD - mussten, trotz der Anspannung, grinsen.
Sehr lustig, liebster Sprecher Stan, sagte Hall. Wirklich, ausgesprochen komisch. Allein: wer in schlechter Gesellschaft eine gute Zeit verbringt, ist nur bedingt zu beneiden. Leider eine Frage weniger Minuten, bis die Kalamitäter sich daran erinnern, dass Flaschen als Brandsätze taugen.
Triumph des Killens, hart wie Riefenstahl, sagte Stan. Wartet ne Menge Drecksarbeit auf uns.
Wie sieht's aus, liebste Vize Seeta, fragte Hall, kommst du zu deinen Freunden und Helfern durch?
Hammorni, Hilfe färdsch, liebste Vorsitzende Hall. Seeta, die einzige geborene Dresdnerin des Führungsquartetts, rief seit mehreren Minuten bei der Polizei an.
Die Rechnung war einfach: machte sich überhaupt eine Streife zu uns in die Wilsdruffer Vorstadt auf den Weg, dann höchstens, wenn die Beamten am Notruf ihren eigenen Dialekt hörten.
Keiner nimmt ab, sagte Seeta. Die stellvertretende Landesparteivorsitzende kaute an ihren mit Glitzersteinchen geschmückten Nägeln. Äh äuf da reschdn Seide blind. Tatütata. This channel is reserved for rightwing emergency calls only. Tatütata.
Gibt ja keine Hetzjagd, liebste Vize Seeta, sagte Stan ironisch, nirgendwo nicht.
Totenstille im Tal der Ahnungslosen, sagte Becca, die neue Landesparteischatzmeisterin.
Gucken wahrscheinlich Fuschball, liebste Schatzmeisterin, sagte Seeta und hob warnend den Zeigefinger der rechten Hand. Jezze bass ma off Sportsfreunde: erschd die Orbeid, dann es Vorgnieschn.
Apropos <Vorgnieschn> - ich bin nun darauf gekommen, falls euch's interessiert, wofür Wilsdruffer Vorstadt steht, sagte Stan, der von seinem iPad Tweets mit der Bitte um schnelle Hilfe an die Hippies schickte.
Nämlich?, fragte Becca. Die Syrerin zitterte plötzlich am ganzen Körper. Erinnerungen setzten ein. Die Landesschatzmeisterin drückte sich an die Wand, atmete tief durch, schlich zum Wasserspender, nahm sich ein Glas, füllte es, wobei sie ein Drittel verschüttete, und trank einen Schluck.
Schade ums Löschwasser, liebste Schatzmeisterin, sagte Stan, sprang auf, war mit einem Satz bei ihr und nahm Becca behutsam in die Arme, was nicht ohne Komik war, da sie ihn um zwei Kopflängen deutlich überragte.
Nach Homs hab ich nicht mehr damit gerechnet, so schnell in einem belagerten Haus festzusitzen. Becca machte sich von ihm sanft los, sagte: danke, Stan. Also, was heißt's denn nun?
Er sah sie einen Moment verständnislos an.
Wilsdruffer Vorstadt, sagte Becca.
Will's druff, waa?, sagte Stan. Der Pressesprecher verzog spöttisch die Mundwinkel. Unser Naher Osten. Selbstverständlich nicht mit deinem zu vergleichen, Becca. Mummbids! Der Kölner mit malayischen Wurzeln, der an der DIU traditionelle chinesische Medizin studierte, versuchte, ab und an, ein sächsisches Wort zu benutzen.
Wo kommen die denn so schnell her?, fragte Seeta, die in der Zwischenzeit von Hall ans Fenster gezogen worden war, um mit ihr gemeinsam die Bier trinkenden und auf den Gehweg pinkelnden Skinheads zu begutachten. Gibt's hier in der Nähe einen Runen-auf-Kopfhaut-Wettbwerb? War doch eben, beim Besuch der Noch-Bundestagsfraktionsvorsitzenden, alles still.
Na ja, sagte Hall, nicht ganz. Sowohl PoHuKra, der menschenfreundliche Potsdamer mit den eleganten Hundekrawatten, als auch GoSaFoo, die menschenfreundliche Ex-Goldman-Sachs-Angestellte aus Biel und ehemalige Foodora-Beraterin, haben um die Wette in ihre Smartphones gebrüllt, als sie, vor Wut schnaubend, das Weite gesucht haben. Die Landesparteivorsitzende zog Seeta schließlich vom Fenster weg und lotste die Schwangere zu einem Holzschemel mit Kissen. Wer an ein Springtuch denkt, hat keins. Sehen ihre rechten Felle wegschwimmen. Haben uns unterschätzt. Merken erst jetzt die Kraft der Hippies. Hall lachte bitter. Wir sind die erste echte Gefahr für die. Hartmann hätt sich am Ende über Merkels Ansage hinweggesetzt, glaubt mir. Das ist allen klar gewesen. PoHuKra und GoSaFoo hatten schon den Champagner kalt gestellt. Die Konservativen waren hier schon immer extrem rechts. Selbst unter Biedenkopf. Wir stehen vielen im Weg. Warum es also nicht mit einer ordentlichen Portion Einschüchterung versuchen? Ausbeuter schätzen die Naivität anderer. Nicht mit uns.
Seeta, Beeca und Stan wiederholten uninsono: nicht mit uns!, und sangen: How many years must a mountain exist, before it is washed to the sea? How many years can some people exist, before they're allowed to be free?
Ihr könnt euch sicher sein, sagte Hall, dem Trio applaudierend, dass Perlenkette und Hundekrawatte bestimmt nur am Handy hingen, um treudoof zu fragen, wie's Wetter morgen wird, ob Mutti schon beim Abendessenkochen ist und was nachher artgerecht aufgetischt wird.
Du denkst ...?, sagte Stan.
Klar, liebster Sprecher, sagte Becca, klingt für mich logisch, was Hall da sagt. Die halbgaren Absetzbewegungen von Höckes militanten Flügelfaschos hab ich PoHuKra und GoSaFoo eh nie abgenommen.
Können wir die Analyse vielleicht auf später verschieben, liebste Schatzmeisterin?, sagte Seeta und legte sich eine Hand auf den Bauch. Die Zwillinge finden das gar nicht so klasse.
Hört ihr das Gebrüll?, fragte Becca.
Neue deutsche Härte, sagte Hall.
Wirr singt das Volk, sagte Stan.
So klingt's, wenn Faschonachschub anrückt, sagte Seeta. Haben die Hippies vielleicht schon geantwortet, liebster Sprecher?
Stan las seine Tweets. Sind auf dem Weg, liebste Vize Seeta. Check bringt die Liberians mit. Eine achtköpfige Punkband aus Miami, die diese Woche bei ihm couchsurft. Frag mich, wie die Jungs mit einem Bad klarkommen.
Ganz einfach: waschen sich nicht, sagte Becca.
Ich glaub nicht, dass wir solange warten sollen, sagte Seeta.
Riechende Freiheitskämpfer hin Odeur her, sagte Stan, der sich keine Gelegenheit für ein Wortspiel entgehen ließ.
Genau, sagte Seeta. Die Glatzen wissen, dass die Hippies anrücken.
Wir müssen überlegen, wie wir abhauen, sagte Becca. Häuser bieten keinen Schutz.
Du hast Recht, sagte Hall, während, wie zur Bestätigung, der erste Pflasterstein die Scheibe zersplitterte. Ein Lager taugt nicht als Spielplatz. Raus hier!
2. Beschwingt, September 2018
Zunächst, als Hall mit der wahnsinnigen - sie nannte es selbst fucking crazy - Idee herausrückte, die Landespartei kurzerhand zu kapern, umdrehen, wir machen aus der rechten Hasspartei einen linken Hippieclub, wir saßen gerade rauchend und träge trinkend am Alaunplatz, die letzten Sonnenstrahlen des endlosen Sommers genießend, darüber philosophierend, ob es jemals wieder regnen würde, als Hall uns, den DrésdonistInnen, ein Titel mit dem wir uns leicht maniriert schmückten, als sie uns von der, ja, so muss man's wohl nennen, blödesten, verrücktesten und, was uns kaum bewusst war, gefährlichsten aller jemals von uns selbst in die Welt gesetzten Schnappsideen erzählte, love not war, als sie den vagen Plan erläuterte, wir brauchen in Dresden ein knappes Tausend Partei-Hippies, wälzten wir uns minutenlang vor Lachen übers frisch gemähte Gras. Liebe statt Krieg! Wir hielten uns die schmerzenden Seiten, Marsch durch die protofaschistischen Instituionen, umarmten und massierten uns, wählen uns selbst als LandtagskandidatInnen, hauchten uns bittersüßen Rauch in die Nasen, Orgasmus statt Gau-Oger, konnten uns gar nicht mehr vor Gekicher und Geknutsche einkriegen. Offene Grenzen statt Schießbefehl! Die Vorstellung war einfach zu absurd, zu köstlich. Die Partei kapern! Sogar Stan und Gaby legten auf einmal ihre Trauerspielminen ab. Was uns allen sofort, obwohl sich keiner etwas anmerken ließ, als Coming-out-again ihrer alten Zuneigung auffiel. Selbst die Zugedröhntesten wurden auf Stan und Gabys bemerkenswerten und, so empfanden wir es, symbolischen Stimmungsumschwung aufmerksam. Sprich: Hanna, Flachs, Elias und Trude, die bereits den ganzen Nachmittag, nach dem Kästner Kolleg, wo einige von uns unterrichteten, andere noch zur Schule gingen, die den Spliffs nicht unerheblichen Lungenraum zugewiesen hatten, registirerten die Annäherung des ehemaligen Vorzeigepaars der Dresdner Hippieszene. Stan und Gaby wälzten sich ausgelassen, wohlgemerkt: mitten im Trennungsjahr, sie waren tatsächlich verheiratet, hatten allerdings die Scheidung eingereicht, wälzten sich aufeinander zu und endeten als keuchendes, gefühlvoll schluchzendes, gierig fummelndes Knäuel unter einer Holzbank, auf der wir Oliven, Fladenbrot, Ayahuasca-Shots, Rotwein und Kerzen geparkt hatten. Aber darum ging's in diesem Moment eignetlich nicht, ganz und gar nicht, denn das wäre eine andere Geschichte, die, um das noch preiszugeben, besonders Check aufregte, der sich, als es Gaby im Frühjahr dreckig gegangen war, aufopferungsvoll um die Kunststudentin bemüht, Tag und Nacht mit ihr geskypt, sogar, für einige Monate, Renate und die Blumenkinder, Nina und Kläuschen, verlassen hatte.
KitKatClub, Hedoné, HfD, sagte Hall, als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten und uns rote Weintrauben und überreife Feigen in die Münder steckten, im großen Kreis saßen, KitKatClub, Hedoné, HfD - die Trias klingt für mich super logisch. Was denkt ihr? Wollen wir nicht alle eine echte Ausweichmöglichkeit für Deutschland? Hippies für Demokratie! Der Nachhaltige Hedonismus verlangt, dass wir nicht nur uns, sondern auch andere glücklich machen. Eigentlich, ihr wisst sehr wohl, wie ich dazu stehe, halte ich's mit Peter Singers Nützlichkeitsgedanken. The life you can safe. Noch radikaler. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen. Hall lächelte in die Runde, langte in einen Korb mit Gänseblumen und roch an einem Bund. Seit 1990, ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich, wurden mindestens 169 Menschen von rechten Extremisten in Deutschland ermordet. 169. Das ist eine niedrige Schätzung. Glaubt ihr, dass das Morden aufhört oder weniger wird, wenn die Partei im nächsten Jahr, nach der Landtagswahl, als Juniorpartner den sächsischen Konservativen den Steigbügel hält? Oder eine Minderheitsregierung der Konservativen toleriert? Kretschmer hat sich mit den Extremen doch längst angefreundet. Die Verharmlosung der Hetzjagden in Chemnitz - das dürfen wir nicht vergessen. Und - seht uns doch an, Flower-Power-Kids! - glaubt ihr, dass wir ins Bild der braunen Spießgesellen passen? Nie und nimmer! Glaubt ihr, dass sie Joshua, Baldo, Becca und Viv, die alle <nicht weiß> sind, nicht noch mehr drangsalieren werden? Was James Baldwin über die Staaten gesagt hat, stimmt auch für uns zu: Die Schwarzen in diesem Land lehrt man, sich selbst von dem Augenblick an zu verachten, wo sie das Licht der Welt erblicken. Glaubt ihr, dass sie uns nicht demnächst auf offener Straße die Blumenkränze von den Hippiehäuptern reißen werden? Uns prügelnd durch die Straßen jagen werden, wenn wir uns für unsere türkischen, arabischen, vietnamesischen, kongolesischen Nachbarn stark machen? Glaubt ihr, dass uns die Pegizei helfen wird? Träumt weiter! Wir müssen, Hall stand auf und zog Seeta, die Musiklehrerin, hoch, legte ihren Arm um Seetas Schultern, wir müssen selbst an die Macht kommen!
(Wird im Oktober kontinuierlich als Text erweitert.)
Oktober
Die Übernahme
1. Belagert, Juli 2019
Wir duckten uns. So tief es ging. Uns war angst und bange. Das Glück von gestern zählte in der heutigen Belagerung wenig. Bierflaschen und VHS-Tapes, mit Packband als Fünfer-Bund verschnürt, flogen - tack, tack, tack - durchs geöffnete Teeküchenfenster der Landesparteigeschäftsstelle. Ostra-Allee. Neben der Eisenbahnunterführung, die zur Magdeburger Straße ging. In Sichtweite der Yenidze, was uns, anfangs, amüsiert hatte, da die ehemalige Zigarettenfabrik, zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Stil einer Moschee gebaut, bei den aus dem Amt katapultierten Parteihonoratioren tagtäglich Anti-Muslim-Schaum vorm Mund verursacht haben musste.
Nothing lasts forever, Hass kennt keine Grammatik, sagte Hall, die erst am Vortag mit überwältigender Hippiemehrheit zur neuen Landesparteivorsitzenden gewählt worden war. Vielleicht sollten wir demnächst umziehen. Eh nicht besonders gemütlich hier. Die Glatzen der Generation Hoyerswerda plündern gerade die Videothek unter uns. Hall hatte die Angewohnheit, Sachen zu sagen, die nahezu jeder mitbekam. Bombenumsatz für den Laden, versicherungstechnisch, mein ich. Sie riss, am Boden kauernd, das hellbraune Packband von einem Bündel ab und zeigte, als handelte es sich um eine Rarität, die Vorderseite einer VHS-Kassette. Eingefleischte Die-Hard-Fans, alle Folgen am Stück, ordentlich sortiert. Die Landesparteivorsitzende band sich die Haare mit einem Blumenband zum Dutt, robbte fluchend zum Fenster, fuck, fuck, fuck, während Feldschlösschenflaschen hinter ihr reihenweise an der Marmorspüle zerschellten. Sie zog sich an der Seite hoch, schloss das Fenster und blickte vorsichtig durch die Faltjalousie. Es stimmt, wer austeilt, aber nicht einstecken kann, sollte nicht die öffentliche Bühne suchen. Zehn bis fünfzehn überaus charmante Glatz...
.. iasten, liebste Vorsitzende Hall, ergänzte Stan, der neue Landesparteipressesprecher.
Glatziasten - klingt wie ein Film von Lars von Trier, sagte Seeta, die neue stellvertretende Landesparteivorsitzende, gleichzeitig Kulturbeauftragte und hochschwanger. Klingt nach Open-Air-Kino da draußen. Hört ihr das auch? Die rufen doch nicht allen Ernstes <Yippie-ya-yay, Schweinebacke>? Sind wir in eine Stirb-langsam-Gedenkveranstaltung geraten? Warum um alles auf der Welt?
Oh, ganz einfach, liebste Vize Seeta, sagte Stan und deutete aufs ausgebleichte Cover, das ihm Hall auf sein Verlangen hin zugeschoben hatte. Honey, it’s the xenophobic 90s, Lichtenhagen, Solingen, Mölln, remember? Bruce Willis hat den selben Friseur. One size fits kahl.
Wir - die gesamte neue Landesparteiführung der, wie wir sie insgeheim nannten, HfD - mussten, trotz der Anspannung, grinsen.
Sehr lustig, liebster Sprecher Stan, sagte Hall. Wirklich, ausgesprochen komisch. Allein: wer in schlechter Gesellschaft eine gute Zeit verbringt, ist nur bedingt zu beneiden. Leider eine Frage weniger Minuten, bis die Kalamitäter sich daran erinnern, dass Flaschen als Brandsätze taugen.
Triumph des Killens, hart wie Riefenstahl, sagte Stan. Wartet ne Menge Drecksarbeit auf uns.
Wie sieht's aus, liebste Vize Seeta, fragte Hall, kommst du zu deinen Freunden und Helfern durch?
Hammorni, Hilfe färdsch, liebste Vorsitzende Hall. Seeta, die einzige geborene Dresdnerin des Führungsquartetts, rief seit mehreren Minuten bei der Polizei an.
Die Rechnung war einfach: machte sich überhaupt eine Streife zu uns in die Wilsdruffer Vorstadt auf den Weg, dann höchstens, wenn die Beamten am Notruf ihren eigenen Dialekt hörten.
Keiner nimmt ab, sagte Seeta. Die stellvertretende Landesparteivorsitzende kaute an ihren mit Glitzersteinchen geschmückten Nägeln. Äh äuf da reschdn Seide blind. Tatütata. This channel is reserved for rightwing emergency calls only. Tatütata.
Gibt ja keine Hetzjagd, liebste Vize Seeta, sagte Stan ironisch, nirgendwo nicht.
Totenstille im Tal der Ahnungslosen, sagte Becca, die neue Landesparteischatzmeisterin.
Gucken wahrscheinlich Fuschball, liebste Schatzmeisterin, sagte Seeta und hob warnend den Zeigefinger der rechten Hand. Jezze bass ma off Sportsfreunde: erschd die Orbeid, dann es Vorgnieschn.
Apropos <Vorgnieschn> - ich bin nun darauf gekommen, falls euch's interessiert, wofür Wilsdruffer Vorstadt steht, sagte Stan, der von seinem iPad Tweets mit der Bitte um schnelle Hilfe an die Hippies schickte.
Nämlich?, fragte Becca. Die Syrerin zitterte plötzlich am ganzen Körper. Erinnerungen setzten ein. Die Landesschatzmeisterin drückte sich an die Wand, atmete tief durch, schlich zum Wasserspender, nahm sich ein Glas, füllte es, wobei sie ein Drittel verschüttete, und trank einen Schluck.
Schade ums Löschwasser, liebste Schatzmeisterin, sagte Stan, sprang auf, war mit einem Satz bei ihr und nahm Becca behutsam in die Arme, was nicht ohne Komik war, da sie ihn um zwei Kopflängen deutlich überragte.
Nach Homs hab ich nicht mehr damit gerechnet, so schnell in einem belagerten Haus festzusitzen. Becca machte sich von ihm sanft los, sagte: danke, Stan. Also, was heißt's denn nun?
Er sah sie einen Moment verständnislos an.
Wilsdruffer Vorstadt, sagte Becca.
Will's druff, waa?, sagte Stan. Der Pressesprecher verzog spöttisch die Mundwinkel. Unser Naher Osten. Selbstverständlich nicht mit deinem zu vergleichen, Becca. Mummbids! Der Kölner mit malayischen Wurzeln, der an der DIU traditionelle chinesische Medizin studierte, versuchte, ab und an, ein sächsisches Wort zu benutzen.
Wo kommen die denn so schnell her?, fragte Seeta, die in der Zwischenzeit von Hall ans Fenster gezogen worden war, um mit ihr gemeinsam die Bier trinkenden und auf den Gehweg pinkelnden Skinheads zu begutachten. Gibt's hier in der Nähe einen Runen-auf-Kopfhaut-Wettbwerb? War doch eben, beim Besuch der Noch-Bundestagsfraktionsvorsitzenden, alles still.
Na ja, sagte Hall, nicht ganz. Sowohl PoHuKra, der menschenfreundliche Potsdamer mit den eleganten Hundekrawatten, als auch GoSaFoo, die menschenfreundliche Ex-Goldman-Sachs-Angestellte aus Biel und ehemalige Foodora-Beraterin, haben um die Wette in ihre Smartphones gebrüllt, als sie, vor Wut schnaubend, das Weite gesucht haben. Die Landesparteivorsitzende zog Seeta schließlich vom Fenster weg und lotste die Schwangere zu einem Holzschemel mit Kissen. Wer an ein Springtuch denkt, hat keins. Sehen ihre rechten Felle wegschwimmen. Haben uns unterschätzt. Merken erst jetzt die Kraft der Hippies. Hall lachte bitter. Wir sind die erste echte Gefahr für die. Hartmann hätt sich am Ende über Merkels Ansage hinweggesetzt, glaubt mir. Das ist allen klar gewesen. PoHuKra und GoSaFoo hatten schon den Champagner kalt gestellt. Die Konservativen waren hier schon immer extrem rechts. Selbst unter Biedenkopf. Wir stehen vielen im Weg. Warum es also nicht mit einer ordentlichen Portion Einschüchterung versuchen? Ausbeuter schätzen die Naivität anderer. Nicht mit uns.
Seeta, Beeca und Stan wiederholten uninsono: nicht mit uns!, und sangen: How many years must a mountain exist, before it is washed to the sea? How many years can some people exist, before they're allowed to be free?
Ihr könnt euch sicher sein, sagte Hall, dem Trio applaudierend, dass Perlenkette und Hundekrawatte bestimmt nur am Handy hingen, um treudoof zu fragen, wie's Wetter morgen wird, ob Mutti schon beim Abendessenkochen ist und was nachher artgerecht aufgetischt wird.
Du denkst ...?, sagte Stan.
Klar, liebster Sprecher, sagte Becca, klingt für mich logisch, was Hall da sagt. Die halbgaren Absetzbewegungen von Höckes militanten Flügelfaschos hab ich PoHuKra und GoSaFoo eh nie abgenommen.
Können wir die Analyse vielleicht auf später verschieben, liebste Schatzmeisterin?, sagte Seeta und legte sich eine Hand auf den Bauch. Die Zwillinge finden das gar nicht so klasse.
Hört ihr das Gebrüll?, fragte Becca.
Neue deutsche Härte, sagte Hall.
Wirr singt das Volk, sagte Stan.
So klingt's, wenn Faschonachschub anrückt, sagte Seeta. Haben die Hippies vielleicht schon geantwortet, liebster Sprecher?
Stan las seine Tweets. Sind auf dem Weg, liebste Vize Seeta. Check bringt die Liberians mit. Eine achtköpfige Punkband aus Miami, die diese Woche bei ihm couchsurft. Frag mich, wie die Jungs mit einem Bad klarkommen.
Ganz einfach: waschen sich nicht, sagte Becca.
Ich glaub nicht, dass wir solange warten sollen, sagte Seeta.
Riechende Freiheitskämpfer hin Odeur her, sagte Stan, der sich keine Gelegenheit für ein Wortspiel entgehen ließ.
Genau, sagte Seeta. Die Glatzen wissen, dass die Hippies anrücken.
Wir müssen überlegen, wie wir abhauen, sagte Becca. Häuser bieten keinen Schutz.
Du hast Recht, sagte Hall, während, wie zur Bestätigung, der erste Pflasterstein die Scheibe zersplitterte. Ein Lager taugt nicht als Spielplatz. Raus hier!
2. Beschwingt, September 2018
Zunächst, als Hall mit der wahnsinnigen - sie nannte es selbst fucking crazy - Idee herausrückte, die Landespartei kurzerhand zu kapern, umdrehen, wir machen aus der rechten Hasspartei einen linken Hippieclub, wir saßen gerade rauchend und träge trinkend am Alaunplatz, die letzten Sonnenstrahlen des endlosen Sommers genießend, darüber philosophierend, ob es jemals wieder regnen würde, als Hall uns, den DrésdonistInnen, ein Titel mit dem wir uns leicht maniriert schmückten, als sie uns von der, ja, so muss man's wohl nennen, blödesten, verrücktesten und, was uns kaum bewusst war, gefährlichsten aller jemals von uns selbst in die Welt gesetzten Schnappsideen erzählte, love not war, als sie den vagen Plan erläuterte, wir brauchen in Dresden ein knappes Tausend Partei-Hippies, wälzten wir uns minutenlang vor Lachen übers frisch gemähte Gras. Liebe statt Krieg! Wir hielten uns die schmerzenden Seiten, Marsch durch die protofaschistischen Instituionen, umarmten und massierten uns, wählen uns selbst als LandtagskandidatInnen, hauchten uns bittersüßen Rauch in die Nasen, Orgasmus statt Gau-Oger, konnten uns gar nicht mehr vor Gekicher und Geknutsche einkriegen. Offene Grenzen statt Schießbefehl! Die Vorstellung war einfach zu absurd, zu köstlich. Die Partei kapern! Sogar Stan und Gaby legten auf einmal ihre Trauerspielminen ab. Was uns allen sofort, obwohl sich keiner etwas anmerken ließ, als Coming-out-again ihrer alten Zuneigung auffiel. Selbst die Zugedröhntesten wurden auf Stan und Gabys bemerkenswerten und, so empfanden wir es, symbolischen Stimmungsumschwung aufmerksam. Sprich: Hanna, Flachs, Elias und Trude, die bereits den ganzen Nachmittag, nach dem Kästner Kolleg, wo einige von uns unterrichteten, andere noch zur Schule gingen, die den Spliffs nicht unerheblichen Lungenraum zugewiesen hatten, registirerten die Annäherung des ehemaligen Vorzeigepaars der Dresdner Hippieszene. Stan und Gaby wälzten sich ausgelassen, wohlgemerkt: mitten im Trennungsjahr, sie waren tatsächlich verheiratet, hatten allerdings die Scheidung eingereicht, wälzten sich aufeinander zu und endeten als keuchendes, gefühlvoll schluchzendes, gierig fummelndes Knäuel unter einer Holzbank, auf der wir Oliven, Fladenbrot, Ayahuasca-Shots, Rotwein und Kerzen geparkt hatten. Aber darum ging's in diesem Moment eignetlich nicht, ganz und gar nicht, denn das wäre eine andere Geschichte, die, um das noch preiszugeben, besonders Check aufregte, der sich, als es Gaby im Frühjahr dreckig gegangen war, aufopferungsvoll um die Kunststudentin bemüht, Tag und Nacht mit ihr geskypt, sogar, für einige Monate, Renate und die Blumenkinder, Nina und Kläuschen, verlassen hatte.
KitKatClub, Hedoné, HfD, sagte Hall, als wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten und uns rote Weintrauben und überreife Feigen in die Münder steckten, im großen Kreis saßen, KitKatClub, Hedoné, HfD - die Trias klingt für mich super logisch. Was denkt ihr? Wollen wir nicht alle eine echte Ausweichmöglichkeit für Deutschland? Hippies für Demokratie! Der Nachhaltige Hedonismus verlangt, dass wir nicht nur uns, sondern auch andere glücklich machen. Eigentlich, ihr wisst sehr wohl, wie ich dazu stehe, halte ich's mit Peter Singers Nützlichkeitsgedanken. The life you can safe. Noch radikaler. Aber irgendwo müssen wir ja anfangen. Hall lächelte in die Runde, langte in einen Korb mit Gänseblumen und roch an einem Bund. Seit 1990, ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich, wurden mindestens 169 Menschen von rechten Extremisten in Deutschland ermordet. 169. Das ist eine niedrige Schätzung. Glaubt ihr, dass das Morden aufhört oder weniger wird, wenn die Partei im nächsten Jahr, nach der Landtagswahl, als Juniorpartner den sächsischen Konservativen den Steigbügel hält? Oder eine Minderheitsregierung der Konservativen toleriert? Kretschmer hat sich mit den Extremen doch längst angefreundet. Die Verharmlosung der Hetzjagden in Chemnitz - das dürfen wir nicht vergessen. Und - seht uns doch an, Flower-Power-Kids! - glaubt ihr, dass wir ins Bild der braunen Spießgesellen passen? Nie und nimmer! Glaubt ihr, dass sie Joshua, Baldo, Becca und Viv, die alle <nicht weiß> sind, nicht noch mehr drangsalieren werden? Was James Baldwin über die Staaten gesagt hat, stimmt auch für uns zu: Die Schwarzen in diesem Land lehrt man, sich selbst von dem Augenblick an zu verachten, wo sie das Licht der Welt erblicken. Glaubt ihr, dass sie uns nicht demnächst auf offener Straße die Blumenkränze von den Hippiehäuptern reißen werden? Uns prügelnd durch die Straßen jagen werden, wenn wir uns für unsere türkischen, arabischen, vietnamesischen, kongolesischen Nachbarn stark machen? Glaubt ihr, dass uns die Pegizei helfen wird? Träumt weiter! Wir müssen, Hall stand auf und zog Seeta, die Musiklehrerin, hoch, legte ihren Arm um Seetas Schultern, wir müssen selbst an die Macht kommen!
(Wird im Oktober kontinuierlich als Text erweitert.)