Hier wohnt die Hoffnung, wir fühlten es. In der Vivienda Social Mapuche, wo Chiles Hauptstadt aufhört, die schroffen Berge beginnen. 25 kleine Reihenhäuser, sozialer Wohnungsbau. Rar in Chile, wo eine Million Menschen kein vernünftiges Dach überm Kopf haben, die Wohnungsnot die politische Debatte zwar maßgeblich bestimmt, aber billigere Unterkünfte kaum gefördert werden. Die harmonische Gasse folgt der Az Mapu-Ethik der UreinwohnerInnen, der Mapuche. Der Mensch verbindet sich mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren. Türen zeigen nach Osten, wo die Sonne aufgeht, schmiegen sich an den Hang, bilden einen sicheren Gemeinschaftsraum. Ruth Meñaco, die Initiatorin, hat gekämpft für diesen basisdemokratischen Traum. Sich gegen die weiße Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt, die keine indigene Genossenschaft neben sich wollte. Jedenfalls keine, die auf Eigenständigkeit beharrt. Das Land ganzheitlich sieht. Schon in der Bauweise andere Akzente setzt. So schützt in der Vivienda ein starker Stamm pro Haus, diagonal, vor Erdbeben.
Erdbeben kommen oft vor, in Chile. Echte und symbolische.
Seit Salvador Allende 1973 von Pinochets Junta ermordet worden ist, vor 50 Jahren, geriet die gesellschaftliche Tektonik ins Wanken. 1990 musste der Diktator weichen, blieb aber Oberbefehlshaber der Armee, starb 2006, in Freiheit.
Die landesweite Protestbewegung, 2019 und 2020, von StudentInnen angeführt und von breiten Bevölkerungsschichten aufgenommen, richtete sich nicht nur gegen die soziale Ungerechtigkeit und teurere Ticketpreise für die Metro. Es ging ganz grundsätzlich um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Brutaler Polizeieinsatz hat das verhindert.
Im Andenstaat bleiben die Verbrechen der Gewaltherrschaft ungesühnt, werfen Schatten der Angst, die tief sitzt, sich vererbt hat.
Mit diesem Mangel an Licht muss seit März 2022 Präsident Gabriel Boric klarkommen. Ein Sozialist, gerade mal 37 Jahre alt, der in sein Kabinett mehr Frauen als Männer berufen hat. Darunter welche, die offen homosexuell leben. Boric liest Gedichte, spricht von seiner Schwermut. Er kam an die Macht, weil er sich maßgeblich für den Entwurf einer neuen Verfassung engagiert hat. Ein Text, der global Maßstäbe setzt. Gleichberechtigung, Naturschutz, Minderheitenrechte, Lebensglück und, ja, bezahlbare Unterkünfte garantiert - hätte. Viele verbanden mit der neuen Verfassung die Hoffnung, das Erbe der Pinochet-Diktatur endlich abzuschütteln. Chiles Konservative, die die Medien kontrollieren, haben gegen den Entwurf Stimmung gemacht, den Menschen eingebläut, dass die neue Verfassung sie enteignen würde: „Wer mit Ja stimmt, verliert sein Zuhause.“
Die Saat der Furcht und Lügen ging auf.
Die neue Verfassung fiel durch, der Rückwärtsgang wurde eingelegt.
Erstaunlich ist dennoch, wie stark, in Nischen, die chilenische Zivilgesellschaft ist. Auch und gerade, was die Landnutzung bestimmt.
In Santiago werden die Cites wiederbelebt. Eine Cite ist eine Sackgasse, die sich als Mini-Kiez versteht, in der Kinder spielen. Sich NachbarInnen umeinander kümmern. Dem neoliberalen Kapitalismus der umzäunten Hochhäuser wird ein alternatives Raummodell entgegensetzt.
Und im Süden, im See-Distrikt, der ans Voralpenland erinnert, kurz vor Patagonien, sagen einzelne auf Nimmerwiedersehen zur intensiven Agrarwirtschaft. Auf der regenerativen Rinderfarm Cerro Azul wird etwa vorbildlich gezeigt, warum Pestizide, Stall-Gefängnisse und Tier-Medikamente nicht notwendig sind. Warum einheimische Bäume ökologischer sind als Fast-Wood-Plantagen. Regenerativ heißt, dass die Natur, nach Jahren der Ausbeutung, die Chance bekommt, zu heilen. Ich hatte als überzeugter Vegetarier nicht erwartet, dass ich jemals eine Rinderfarm akzeptabel finden würde. Hier ist es passiert. Das Land wird genutzt, ohne es auszunutzen. Klingt wie ein Rezept für eine nachhaltige Demokratisierung – und ist es auch.