Schweizer Aphorismen
Die Schweiz, sie ist kein Land, sondern ein Zustand, ab und an ein besorgniserregender.
Lenzburg, 9. - 12. Mai
1.
Die Magie der mittleren Höhe wird oftmals unterschätzt. Obwohl ihre Erreichbarkeit, ihre Unmittelbarkeit, ihre Überschaubarkeit gefeiert werden sollten.
2.
Die unablässige Kontrolle im Öffentlichen Raum sei, so die hiesige Überzeugung, ihr Zwist und Anarchie ausschließender Unterpfand. Ein Problem ist: Als Pfand ist sie, die Kontrolle, nicht einlösbar. Stellt damit also eher eine Fessel dar, die der Freiheit auf Dauer nicht nur angelegt, sondern, mit etwas Pech, immer enger gezurrt wird.
3.
Wer im Kleinen Tag für Tag gegängelt wird, verbringt viel Zeit mit dem Kampf gegen Nichtigkeiten, so dass am Ende, verständlicherweise, die Kraft fürs übergreifende Handeln fehlt.
4.
Sucht sich die Moral Nischen, gehört sie zur Menge der Verräterïnnen; ob bequem oder nicht, spielt dabei, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Moral existiert nicht im Singular, nur im Plural.
5.
Oben die Burg, unten, direkt im Schatten des Hausbergs, das panoptische Gefängnis, dazwischen reiche Felder, blühende Blumenwiesen, etliche politische Banner an privaten Fassaden und ein Sammelsurium an, meistens, als Solitär zwar gelungener, als Gesamtbild aber eher misslungener, auto//chtoner Architektur – Lenzburg ist ein passendes, erstes Gateway in die Schweiz.
6.
Wer reich ist, wer arm, sitzt dennoch im allgemeineren Wohlstand, der die Schweiz auszeichnet, in einer spürbaren sozialen Kluft, die der Tektonik der unebenen, aufgefalteten, gestauchten, erodierten, kargen, angereicherten Landschaft entspricht.
7.
Genauer hinzusehen, am vermeintlich falschen Lack zu kratzen, knüpft nirgendwo, schon gar nicht in der eidgenossenschaftlichen Fremde, die aufs Unversehrtsein gesteigerten Wert legt, gesellig-leichte Ad-hoc-Bekanntschaften, aber ermöglicht, auf Dauer, mit Glück, tiefere Freundschaften.
8.
Feindschaft, die uns gilt, die wir zulassen, der wir uns stellen, schärft die eigenen Überzeugungen, erlaubt uns die präzise Klarstellung des Richtigen oder, was gleichfalls notwendig ist, wenn wir falschliegen, was in meinem Fall häufig passiert, macht unsere Vorurteile allmählich stumpfer.
Aarau, 13. Mai
9.
DU
DU
DUO
DU
10.
ART
ART
WARTEN
ART
Seengen, Hallwilersee, Frauenbad, am Morgen, 14. Mai
11.
Die Drohung der Berge liegt in ihrer Schönheit, die uns, am Ende, verstößt.
12.
Im Wasser bin ich mir am nächsten und fremdesten zugleich.
13.
Der See kennt nichts Überflüssiges; er trinkt sich selbst.
14.
Das Reden der anderen ist der Tod meines Schweigens.
Solothurn, Literaturtage, am Abend, 14. Mai
15.
Wenn auf der einen Seite des Flusses, der Aare, am Landhausquai getrunken wird, heißt es nicht, dass auf der anderen Seite, wo sich Unterer Winkel und Kreuzackerquai treffen, nicht etliche gleichzeitig am Ertrinken sind.
16.
Die Risikobereitschaft der geselligen Schweizerïnnen, die förmlich aufeinander hocken, als gäbe es kein Morgen, ist ansteckend; im doppelten Sinne.
17.
Wir werden, seit unserem Grenzübertritt am Bodensee, permanent von Autos und Fahrrädern bedrängt, die nichts davon wissen, dass ihre Lenkerïnnen im Ausland als langsam gelten. Ich nehme mir vor, alle Klischees zu beerdigen, um nicht selbst vorzeitig in der Grube zu landen.
18.
Vorsicht ist der Nachsicht nicht ebenbürtig - sie ist ihr vorzuziehen.
Solothurn, 15. Mai
19.
Der meiste, wenn nicht – seien wir ehrlich – jeder Reichtum hat verfaulte Stellen, stammt aus kontaminierten Brunnen, besteht aber hartnäckig darauf, im Lichte, unbefleckt zu sein.
20.
Das Vermögen der barocken Stadt, sagt sie, gekrönt von einer strahlenden Kathedrale, ee stammt aus weit verstreuten Schlachtfeldern, gespickt mit handlichen Gräbern. Schweizer Söldner brachten ihn mit, den nun neutralen Wohlstand, als sie, nach Mord- und Totschlag, gut bezahlt, blutbefleckt heimkehrten.
21.
Geld ist weder jungfräulich noch jungmännlich; es ist durch viele Hände gegangen, die sich, versuchsweise, gegenseitig waschen, aber den Gestank des Anzweifelbaren kaum, um nicht gleich zu sagen: niemals loswerden.
22.
Wer, wie es im Deutschen heißt, Liebe macht, erhöht und erniedrigt den Akt, scheint mir, zugleich. Ob es bessere Ausdrücke gibt, für den Moment der Lust, der Gier, der Zärtlichkeit, dem Beieinanderliegen, der Sehnsucht nach Höhepunkten, die stets und ewig im Kleinen Tod enden? Ob Ausdrücke überhaupt notwendig sind?
Solothurn, 16. Mai
23.
Die vermeintliche Höflichkeit der Unwahrheit gebiert leicht durchschaubare Lügen.
24.
Geschenke, die im falschen Rachen landen, wecken die Rachlust.
25.
Zu sprechen, frei, spontan und ehrlich, ist selten der Schriftstellerei eigen, die doch, recht häufig, eine widerkauende Kunst ist, um nicht gleich zu sagen: sein muss.
26.
Ohne Revision halten sich wenige Sätze dauerhaft am Text fest.
27.
Die Zumutung, über ein vielschichtiges Werk zu reden, gerät gelegentlich, im Über- oder Unterschwang, zur Travestie desselben.
Lenzburg, Kanton Aargau, 17. Mai
28.
Die Schweiz ist ein schönes Land. Das keines sein will.
Lenzburg, 18. Mai
29.
Im Hagelschauer hielten wir uns fest. Ich mich an dir, du dich an mir. Um nicht mir nichts, dir nichts vom Hügelweg, unweit des Fünfweiers, zu rutschen. Nach dem Hagel kam der Regen. In dicken Streifen fiel er strahlend, fiel er senkrecht auf den Wald. Wind kam auf, brüllte. Glasklare Tropfenbündel durchschlugen die engen Wipfelschichten und platschten knallend auf unsere Umarmung. Du hattest mir gerade erst Hundert Eiskörner vom dünnen Joggingoberteil gewischt. Die Wasserriemen peitschten uns, mit einer absurden Lust, einer tolldreisten Geschwindigkeit, bis wir nur noch über die Schweizer Maienzeit lachen konnten.
Lenzburg, 19. Mai, früh am Morgen
30.
Was heißt es, Schrift in den Raum zu stellen? Da ein Stelldichein per se eher unwahrscheinlich ist, steht am Anfang der Raum-Füllung wohl die Einsamkeit. Sowohl der Sätze als auch der Stellenden.
31.
Gegensätze, heißt es, zögen sich an. Besonders in der Eidgenossenschaft, die doch aus der Vielfalt ihre Kraft bezieht. Im öffentlichen Diskurs ist das allerdings derzeit kaum noch der Fall. Hier haben sie, die Gegensätze, es mehr und mehr aufeinander abgesehen. Sie lauern sich auf, scheinheilig und querschießend, wollen sich am liebsten auslöschen.
Seengen, Frauenbad, 19. Mai, am Mittag, knapp vorm Regen
32.
Die Kühle ist dem Herzen angenehm; wenn wir ihr bald entsteigen, ih entkommen können.
33.
Was ist besser als zu leben? Gleichzeitig zu lieben und geliebt zu werden.
Zürich, 20. Mai
34.
Zürich ist ein hartes Pflaster; viele Banker, die uns in den Straßen begegnen, sehen so unglücklich aus, wie sie es, vermutlich, verdient haben.
35.
Die oberflächliche Sterilität des auf Naht gebügelten Zürichs, einer Stadt, die Sauberkeit mit Kontrolle verwechselt, lässt sich von der Pandemie nicht unterkriegen. Im Gegenteil.
36.
Wer woanders viel Geld hat, hat in Zürich nicht per se das große Los gezogen.
37.
So überzeugend der neue Erweiterungsbau des wunderschön am Seehang gelegenen Museums Rietberg ist, so wenig überzeugend ist die kommentarlose Zurschaustellung des Räuberguts aus Benin, das sich als Schenkung maskiert. Erstaunlich, wie sehr das einzige Kunstmuseum für außereuropäische Kulturen in der Schweiz der Zeit hinterherhinkt.
38.
Zürich umschlingt den See wie eine goldene Kneifzange, die real estate zusammendrückt.
Lenzburg, am Morgen, im Garten des Literaturhauses, 22. Mai
39.
Die Sprache der Pflanzen ist poetisch – ohne es darauf anzulegen.
40.
Unsere Ewigkeit liegt in unserer Vergänglichkeit.
41.
Ewigkeit sei ein Garten, der blüht.
42.
Der armselige Überdruss, am Leben zu sein, hier, im reichen Garten des Aargauer Literaturhauses, hat er keinen Platz.
43.
Ich glaube an alles – was ist.
44.
Das Gemeine an der Gemeinsamkeit liegt zunächst an ihrem Anfang, aber noch viel mehr an ihrem Ende.
45.
Ewiger Frieden ist der menschlichen Existenz nicht nur fremd, er ist ihr, aus vielerlei Gründen, sogar zuwider.
46.
Wer gut ist, macht Karriere; in sich selbst.
47.
Wer viel träumt, hat ein schönes Leben. Wer wenig träumt, hat mehr im Eben.
Seengen, Frauenbad, am Nachmittag, 22. Mai
48.
Die Seele des Sees sei das Wasser, seine Freundïnnen seien die Fische.
49.
Jede wahre Stärke ist sich ihrer Schwäche bewusst – und vice versa.
50.
Etwas am Anfang zu verlieren, im Seichten, erleichtert die Chance, es wiederzufinden, im Tiefen.
51.
Jede Wärme enthält Kälte, kaum eine Kälte Wärme.
52.
Wer untergeht, weil er sich helfend einmischt, hält den eidgenössischen Optimismus des neutralen Passivismus eher für überbewertet.
53.
Die Neutralität der Schweiz ist, scheint mir, wahrscheinlich für die Mehrheit kein Ideal, sondern ein Verkaufsargument.
54.
Die Berge, die den Hallwilersee schmücken, rufen nicht, sie schweigen zurück.
55.
Mut ohne Anlass ähnelt dem Starrsinn.
56.
Allein der moralische Kompass hilft uns bei echten Richtungsentscheidungen.
Meisterschwanden, 23. Mai
57.
Auf dem Parkplatz der Seerose verlangten sie nicht nur die Parkplatznummer, sondern auch das Kennzeichen, bis wir zahlen durften. Der Wilhelm-Tell-Alles-Wahn macht mich ganz kirre. Ich nehme mir vor, seltener die ganze Wahrheit zu sagen.
58.
Nur in der Vergangenheit zu leben, sei den Toten vorbehalten.
59.
Der Schlaf sei sowohl Abbild des Lebens als auch des Todes.
60.
Wer unablässig fragt, verzichtet auf Antworten.
Brugg und Windisch, 24. Mai
61.
Auf dem Weg nach Brugg passieren wir die Habsburg, den ursprünglichen Stammsitz des gleichnamigen Adelsgeschlechts. Und wieder überkommt mich unsagbarer Ekel, wie bei jeder Burgfestung, die errichtet worden ist, um von hoch oben die da unten auszubeuten und brutal zu kontrollieren. Erstaunlich, dass die Schweizerïnnen, bekannt für ihren Eigensinn, in der Vergangenheit nicht mehr Kastelle als Steinbrüche für Schulen und Hospitäler genutzt haben.
62.
In Windisch, auf der Insel Geissenschachen, die man über die vier eleganten Metallwellen des brillanten Aarestegs Mülimatt erreicht, liegen militärische Ausbildungsgegenstände der sogenannten Genietruppen, die für die technischen Armeebauten zuständig sind, herum. Es sieht, vorsichtig gesagt, eher unaufgeräumt aus. Die Schweizer Armee ist mir auf Anhieb sympathisch. Unordnung ist ein Zeichen von Kreativität, die sich, bei Bedarf, anders organisiert.
63.
Wer spielt, hält nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst den Spiegel vor.
Lenzburg, 25. Mai
64.
Wenn Entscheidungen anstehen, hat die Schlange viele Köpfe.
65.
Das Schlechte ist, in aller Regel, mit sich mehr im Reinen als das Gute.
66.
Wer Streit sucht, wird, auch in der Schweiz, schnell fündig; wer dem Frieden auf der Spur ist, braucht wesentlich mehr Geduld.
67.
Fruchtbarkeit ist – und ist nicht – eine Frage des Alters.
68.
Wer viel spricht, versteckt die Weisheit.
69.
Im Kleinen sei die Ungeduld nicht weniger mächtig als im Großen.
70.
Jede wahre Philosophie bleibt Rudiment.
Staufen, 26. Mai
71.
Auf dem Weg zum Hofladen, wo es Äpfel, Brot und Eier gibt, die wenig mit dem Migros-Angebot gemein haben, passieren wir erst die Feuerwehr, das größte Gebäude im Dorf, dann einen Hydranten, der gerade probehalber entwässert wird. Seit unserer Ankunft habe ich bemerkt, wie allgegenwärtig die Fürio-Kräfte sind. Im Schweizerischen Feuerwehrverband sind mehr als 100.000 Angehörige der Orts-, Berufs- und Betriebsfeuerwehren organisiert. Nun haben die Wehren, versteht sich, recht wehrhafte Wagen, groß und imposant, die, scheint mir, angesichts der rigiden Schweizer Parkraumbewirtschaftung – außerhalb des Einsatzes – nirgendwo anhalten dürfen; aber wahrscheinlich existieren, am Rande der Ortschaften, ausgewiesene Haltepunkte für Einsatzfahrzeuge, die, gegen einen Obolus, das schnelle Parkierä und damit Pausenbrot oder Austreten gestatten.
72.
Gäbe es einen Stolz-Quotienten, der sich anhand der gehissten Nationalflaggen berechnen ließe, die Schweiz läge wohl in den Top Ten.
Seengen, Frauenbad, am späten Nachmittag, 27. Mai
73.
Wer nur Erfolg hat, hat nicht gelebt. Die Nackenschläge, die ich einstecke, haben einen Vorteil: sie gehören mir, mir allein.
74.
Die direkte Demokratie der Schweiz geht, im Falle des Falles, mit der direkten Ablehnung der Welt einher. Diese Rückweisung wird als Errungenschaft verpackt, bis die Abkehr, wenigstens in der Schweiz selbst, als indirekt wahrgenommen wird – also keine Rolle mehr spielt.
75.
Die Genügsamkeit der Eidgenossenschaft beweist sich im (zu) günstig ein- und im (zu) teuer verkaufen.
76.
Das Deutsche an der Schweiz ist nicht ihre Sprache, sondern, was ich nur zu gut von mir selbst kenne, ihre moralische Selbstzufriedenheit, die sich, bei Bedarf, als geläuterte Zerknirschung präsentiert.
77.
Meine On-Laufschuhe, eine eidgenössische Erfindung, die ich außerordentlich schätze, für die ich dankbar bin, und die Schweiz selbst, die ich, versteht sich, ich will hier keinen falschen Zungenschlag aufkommen lassen, die ich ebenfalls außerordentlich schätze, mehr als das: für deren Gastfreundschaft ich dankbar bin, meine On-Laufschuhe und, falls ich das sagen darf, meine Schweiz legen mir nicht nur Geröll in den Weg, sondern beide zwingen mich auch dazu, kleine Brocken, en passant, aufzuschnappen; Steine und Steinchen, die alsbald am Fuß drücken, die mich zunächst, ich neige zur Akzeptanz einer Mitgift, die mich eine ganze Weile begleiten, bevor ich die Unebenheit irgendwann nicht mehr aushalte, bevor ich anhalte und sie, die fraglichen Geröllstückchen, die als Lückenbüßer im Schuh, in der Schweiz stecken, bevor ich sie, die Steine und Steinchen, fürderhin davon abhalte, mich zu enervieren, indem ich sie, leise fluchend, mühsam pulend – die eine Weile mitgeschleppten Kieselsteine passen übrigens nicht nur optimal in die On-und Off-Sohlenlöcher, sondern passen auch bestens zu mir, wollen sich nicht von mir trennen, sind als Ballast überaus anhänglich, halten sich, scheint mir, gar, im Sinne des Utilitarismus, für nützlich – indem ich sie also mühsam pulend, freudestrahlend, seufzend entferne.
Luzern, 28. Mai
78.
Seien wir axiomatisch: Jede Stadt hat den See, den sie verdient. Was das, falls es stimmt, über Luzern sagt? Auf den ersten Blick: eine Glücksstadt, die an ihre urbane Seele, ihre ausgezeichnete Lage glaubt, die sich Sünden vergibt, solange es die eigenen sind.
79.
Während die Temperatur stündlich steigt, entledigen sich die Luzernerïnnen ihrer Masken. Als handelte es sich um Wärme-Accessoires, die in der Frühlingssonne stören. Die pandemische Fasnacht ist offenbar in der von der Reuss pittoresk aufgespaltenen Stadt vorbei. Dass es kein Nadelwehr gibt, das man nach Covid-Belieben einfach umstellen kann? Hier werden’s die Heilige Jungfrau und die Rigi, Königin der Berge, schon richten; wie immer der Spruch am Ende auch lautet.
80.
Der Vierwaldstättersee spielt mit uns, während wir in seinem kalten Wasser schwimmen, Verstecken. Er tut in Luzern so, als handelte es sich bei ihm um einen skandinavischen Fjord; eine Attitüde, die der Translokation, die ihn, den magischen Schweizer Zentralsee, das klare Kreuz der Eidgenossenschaft, für mich, noch schöner macht.
81.
Angesichts des Totentanzes der Spreuerbrücke – der öffentlichen Sichtbarkeit der Vergänglichkeit, die selten geworden ist – kann ich mich eines Gedankens nicht erwehren: Luzern ist eine thanatologische Schönheit, alt und jung zugleich; eine Stadt, in der es sich gut sterben lässt.
Wasserschloss Hallwyl im Aabach und Seengen, Frauenbad, 29. Mai
82.
Gleichberechtigung errichtet keine Mauern, sondern reißt Grenzen nieder.
83.
Die Beschreibungen des ständig erweiterten Wasserschlosses, gelegen auf künstlichen Inseln im Aabach, das, wie die meisten Burganlagen, eine bewegte Baugeschichte hat, strotzen vor „XYZ ließ errichten“. Wem das Geld für die Festung wie abgepresst wurde und wer tatsächlich unter welchen Bedingungen gearbeitet hat, fehlt in den kunst-touristischen Texten.
84.
Wer viel will, erreicht, subjektiv gesehen, zumeist, sehr wenig.
85.
Aus dem Kreis herauszutreten und Abstand zu nehmen, zeigt, dass er, der Kreis, gar nicht existiert; jedenfalls nicht so, wie wir ihn uns vorgestellt haben. Am interessantesten ist es, wenn solch ein vermeintlicher Kreis entweder sehr klein, etwa eine Familie oder eine Firma, oder sehr groß, etwa eine Stadt oder Nation, ist.
86.
Mühe lässt sich nicht abrechnen; was nicht heißt, dass man sich keine geben sollte.
87.
Zufriedenheit ist dem Kriege fremd. Selbst ein siegreicher weckt unstillbare Rachegelüste, von einem verlorenen Krieg ganz zu schweigen.
88.
Intelligenz weiß um die eigenen Fehler, Klugheit überwindet sie.
89.
Niemand, der glücklich liebt, denkt freiwillig ans Sterben.
Lenzburg, sehr früh, 30. Mai
90.
Wer allein sein will – oder muss –, nutze das Morgengrauen, welches sich, im Gegensatz zu seiner weltläufigeren besseren Hälfte, der Abenddämmerung, sowohl weniger ans Vergangene klammert, als auch geringere Angst vor der Nacht verspürt.
91.
Ich schlucke das Bedürfnis, mich zu übergeben. Während die Vögel, die mit mir wach sind, die hier, im großen Garten des Aargauer Literaturhauses, ein Garten, der mehr ein Park ist, die hier in einer frohgemuten Menge vorhanden sind, während die Vögel ihr Singbestes geben. Ich vergebe nicht nur meiner Übelkeit, kein Dasein kommt schließlich ohne Brechreiz aus, manchmal scheint mir sogar, dass der Brechreiz wenn schon nicht das edelste Zeichen des gekränkten Denkens, so doch Teil der Rebellion gegen die adrett frisierte Abscheulichkeit des fadenscheinigen Lebens ist, ich vergebe also nicht nur meiner Übelkeit, sondern gebe mich ihr geradezu hin. Die Blumen des Bösen, sie duften beinahe vornehm. Ich stecke, probehalber, meine Nase hinein. Man muss, ist es nicht so?, seine Gegnerïnnen schließlich kennen. Nicht zu gut, um sich nicht über kurz oder lang gemein zu machen, aber so gut es eben geht.
92.
Jede Furcht sei mit der Losigkeit verbändelt.
93.
Lust ist eines der Gefühle, das sich nur schwer ablenken lässt.
Zürich, am Nachmittag und frühen Abend, rund ums Bahnhofsviertel, 30. Mai
94.
Die Gentrifizierung macht selbst vor der ehedem notorischen Langstrasse nicht halt. Was aus dem Multi-Kulti-Rotlichtbezirk wird, der zwar nicht romantisiert werden soll, natürlich nicht, der aber eben auch in der Schweiz als urbaner Ort mit einer außergewöhnlichen Geschichte kaum seinesgleichen hat? Wahrscheinlich, die Zeichen sind lesbar, ein aufgepeppter Totschlichtbezirk, in dem des Nachts das Betongold leuchtet.
95.
Der Negrellisteg überspannt das Gleisfeld wie eine aus dem Himmel gefallene schmale Zahnspange - wahrlich eine besondere Erscheinung, gerade nach Sonnenuntergang. Sowohl die Außenseite der eleganten Liftturmfassade als auch die wellenförmige Brüstung der Brücke leuchten lächelnd am Tage und in der Dunkelheit. Der Stegschlag zwischen den Kreisen 4 und 5 macht die gewaltige Gleisschneise zwar nicht schöner, die wie ein gutartiges Verkehrs-Geschwür Zürich aufreißt, aber weckt die Lust am Luftwandern; was auch schon was ist.
96.
Zürich wächst an den Rändern, als gäbe es keinen nachhaltigen Plan für die platinierte Mitte.
97.
Die Stärken einer Stadt dürfen nicht nur in der Vergangenheit liegen. Was nicht heißt, dass die Gegenwart als Straßen- und Platzhirsch mit ihr macht, was sie will.
98.
Bausünden erlauben keine schnelle Absolution.
Zürich, Thomas-Mann-Archiv und Hiltl am Strand, 31. Mai
99.
Bücher, die uns geprägt haben – in diesem Fall Doktor Faustus, Joseph und seine Brüder und Der Zauberberg –, bleiben, auch wenn wir uns von ihren Verfasserïnnen entfernen, mit uns auf eigentümliche Art und Weise verbunden; wobei die Kunst, scheint mir, mehr zählt als die Weisheit.
100.
Der muffige Geruch der Mann’schen Privatbibliothek, die hoch am Hang der ETH Hönggerberg ihre Zürcher Heimat gefunden hat, riecht nach falscher Ewigkeit. Der Tod hat der Zeit einen Riegel vorgeschoben. Wer hier keine Vanitas-Gefühle entwickelt, kennt keine.
101.
Was Arbeit ist? Beantworten würde ich das gerne mit einer Gegenfrage: Was ist Geld? Vielleicht, brechen wir's herunter, die Beziehung zwischen uns und der Welt, oder sagen wir lieber: einen mehr oder minder maßgeblichen Teil der geltenden Welt.
102.
In Gott suchen wir doch, sind wir ehrlich, immer zuallererst uns selbst. Und da Gott, bekanntermaßen, ziemlich tot ist, finden wir eine metaphysische Leiche, die uns mit ihrer unbotmäßigen Lebendigkeit nicht nur die Vernunft besudelt, was schon einiges an Saubermachgeduld braucht, sondern auch hartnäckig darauf besteht, uns ewig und drei Tage als kulturelle Ausstechform, in der wir angeblich stecken, zu begleiten. Wie ich jetzt darauf komme? Mir fällt gerade ein, während ich in der Gesamtausgabe blättere, dass Thomas Mann in Der Erwählte den Papst in spe in der Gestalt eines Murmeltieres auftreten lässt. Eine Kreatur, die sich einen ausgiebigen Winterschlaf genehmigt. Vielleicht wäre das ein Kompromiss: Der heilige Geist der Weltenerzählung lässt uns regelmäßig einige Monate allein, damit wir klare Gedanken fassen können.
103.
Fast jede Möglichkeit beengt andere Möglichkeiten – ist die Beengung ausgeschlossen, handelt es sich um eine Chance.
104.
Ein Überfall, von uns initiiert, behandelt die anderen, was wir gerne verdrängen, als Abfall.
Seengen, Frauenbad, 1. Juni
105.
Die Ungeduld – wohlgemerkt: eine maßlose; über die maßvolle kann man geteilter Meinung sein, sie sogar, im gewissen Sinne, goutieren –, die Ungeduld der Schweizer Autofahrerïnnen geht mir nicht aus dem Kopf. Je länger ich in der Eidgenossenschaft am Steuer sitze, über wunderschöne Landstraßen fahre, gefährliche Wege mit allerlei engen Nadelkurven, mit stolzen Höhenunterschieden, desto weniger erschließt sich mir weder das, Pardon, Rabaukentum, noch der Jagdinstinkt. Ich fahre aus Gründen der Nachhaltigkeit und weil Berlin flach ist, einen, zugegeben, untermotorisierten Kleinwagen. Das dürften alle Dränglerïnnen ad hoc bemerken, verändert aber nicht ihre Toleranzschwelle. Klar ist auch, das Nummernschild verrät, dass wir nicht von hier sind. Was offenbar eher eine magnetische Wirkung auf die nachfolgenden Autos hat. Ich kann im Rückspiegel problemlos die Wutperlen auf der Stirn der Enervierten sehen. Mein Verbrechen? Ich bin auf den steilen Strecken nicht rasant genug. Meine Vorsicht wird als Absicht, sie unnötig aufzuhalten, interpretiert. Der überall in der Schweiz auf Stellwänden propagierte Respekt? Auf den Hügelstraßen ist er eine Lachnummer, eine zynische.
106.
Von Texten erhoffe ich mir, dass sie Richtungswechsel vollführen; das Lineare, es beinhaltet eine Nebenwirkung, die bald eintritt, die der Langeweile.
107.
Gedanken, die nicht kreisen, kriegen nicht die Kurve.
Lenzburg, im Garten, 2. Juni
108.
Intellektuelle Abenteuer sind nicht billig zu haben – sie kosten Gewissheiten.
109.
Wer von sich zu überzeugt ist, übersieht Details – zeugt also eher nicht als Zeugïn.
110.
Hoffnung lügt sich, mit Glück, nur in die eigene Tasche.
Lenzburg, Bahnhof, 3. Juni
111.
Die Maske, ein Lübecker Spezialprodukt, setzt ihre Marker. Nach kurzer Zeit sehen unsere Gesichter wie ein Delta voller Furchen und Rinnen aus. In der Fremde ist mir, der ich, irgendwie, doch auch Hansestädter bin, unabhängig und halsstarrig, kultiviert und marktschlau, in der Fremde ist mir die Heimat nah – sie schneidet mir ins Fleisch.
112.
Wenig missfällt uns mehr als der Ort, an dem wir aufgewachsen sind, der uns geprägt hat, den wir, Hals über Kopf, verlassen haben, mit einem glücklichen Glucksen und zufriedenen Grinsen. Irgendwann dreht sich der Spiegel. Wir erkennen, dass wir es sind, die dem Ort, der Heimat, missfallen. Wir erkennen, dass wir davon überrascht sind, wie sehr uns solch eine Zurückweisung kränkt.
113.
Es ist leicht, abzulehnen. Schwer, abgelehnt zu werden.
Basel, früher Nachmittag, De-Wette-Park
114.
Der Rhein, 500 Meter von uns entfernt, den ich, allen Ernstes, riechen kann, der Rhein, verglichen mit der Aare oder der Reuss, sagen wir’s ungeschminkt: er ist kein ungetrübter, kein schöner Fluss. Die Geschichte hat ihn kontaminiert. Zum harschen Grenzenzieher in Europa gemacht. Ein leidiger Strom, der das Blut der zerstrittenen Anrainerïnnen getrunken hat. Wieder trinken würde, käme ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Dass Basel den größten Hafen der Schweiz hat, verleiht dem Rhein hier, im Dreiländereck, eine überaus nützliche Bedeutung. Utilitarismus und Schönheit, sie sind allerdings schwierige Bettgenossen.
115.
Ein Fluss ist nur sich selbst treu. Seine Untreue macht ihn wohl erst zu dem, was er ist: Eine ewige Attraktion, die sich, auf Dauer, jedweder Abspeisung erfolgreich widersetzt.
Im Zug nach Berlin
116.
Die Sehnsucht nach der Schweiz überrascht mich. Ich vermisse die Andersartigkeit. Eine Verschiedenheit, die den Schweizerïnnen selbstverständlich bewusst ist. Sie wissen besser, wer sie sind, als sie’s uns, ihren Gästen, eingestehen. Ihre Naivität existiert nur auf den allerersten, sehr oberflächlichen Blick. Die Schweizerïn ist eine Meisterïn des Versteckens. Sie gibt wenig von sich preis, aus Prinzip – und weil sie das Beste für sich behalten will.
117.
Die Schweiz ist ein Weinland – kein schlechtes. Was außerhalb der Schweiz wenige wissen, da die Schweizerïnnen nahezu ihre gesamte Ernte selbst trinken.
Berlin, 4. Juni
118.
Warum wir quer durch Länder reisen, zehn Stunden im Zug sitzen, um geimpft zu werden? Weil es symptomatisch für unseren kleingeistigen Kontinent während der Pandemie ist. Einer Zeit, in der sich Schranken lange eisern gesenkt haben, nationale Egoismen aus den historischen Gruselkellern gesprungen sind – als wären wir nicht alle gleich. In Krisenzeiten zeigt sich, was Bündnisse wert sind.
119.
Soziales Kapital privilegiert. Ob mir das gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Auch wir profitieren vom gesellschaftlichen Embedded-Sein. Außerdem: Die gebotene Impf-Chance abzulehnen, wäre fahrlässig. Je weniger ich als Ansteckungsherd in Frage komme, desto anständiger fühle ich mich als homo politicus. Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, ist, im Kern, keine egoistische, sondern eine altruistische Frage. Wobei klar ist: Die Möglichkeit der Impfung muss allen Menschen auf der ganzen Welt gleichberechtigt offenstehen.
7. Juni, Berlin Mitte
120.
Die Idee, sich im Zentrum aufzuhalten, dort, wo es, das vermeintlich Wichtige, passiert, diese Idee, die im Namen des Berliner Stadtteils, in dem wir leben, geradezu mittelpunkt-gleich festgeschrieben ist, sei, sagt mir das Begehren, sei ein Zustand, der zu häufig die Oberhand gewönne. Solch eine zentralistische Verankerung sei nicht nur per se Humbug, sondern auch in diesem speziellen Augenblick des Hallwilersee-und Lenzburger-Garten-Begehrens Nonsens. Sich zu sehnen, sei nicht zu verurteilen. Gerade nicht, wenn sich etwas plötzlich herauszögert, was eigentlich schon hätte sein können. Das in Gedanken bereits halbwegs Vollzogene, sagt das Begehren, teile die Menschheit übrigens in zwei höchst unterschiedliche Mengen, die sich so gut wie niemals überschnitten: Entweder die Lust aufs Angedachte lasse radikal nach, verflache geradezu, weil man sich schon alles ausgemalt habe, oder die Lust darauf steige extrem an, weil man wisse, dass die Vorstellung von etwas nur eine schattengleiche Verstellung des Echten sei.
121.
Wer sich schämt, Leidenschaft zu zeigen, verlernt sie; oder wenigstens den Ausdruck derselben.
122.
Geimpft zu werden, gleicht solange einem Glückskeks, bis wir ihn aufbeißen und entdecken, dass die in ihm schlummernde Botschaft ein medizinischer Beipackzettel ist, der beachtliche Nebenwirkungen prophezeit, von denen sich, in unserem Falle, eine Thrombosechance als theoretisch möglich erweist.
123.
Der Körper gibt ab und an – oftmals in den entscheidenden Momenten des Seins – die Richtung vor. Der Fähr-Geist versucht, auf der feststehenden Route, die suddenly auftauchenden Hindernisse einigermaßen effektiv zu umkurven.
8. Juni, sehr früh, im Zug von Berlin nach Basel
124.
Dass die Schweizer Botschaft in Berlin, heutzutage gleich neben dem Kanzleramt, direkt am Spreebogen gelegen, weit und breit das einzige Gebäude war, das den Bombenhagel während des 2. Weltkriegs einigermaßen überstanden hat, erstaunt. Wer hatte welches Interesse daran, die bereits evakuierte Botschaft der Eidgenossenschaft auszusparen? Abgesehen davon hat mich die vergangenen Jahre stets die Lust der diplomatischen Schweizerïnnen an ihrem Sommerfest im Regierungsviertel beeindruckt: Es wurde rauschend, zuverlässig, präzise geplant wie ein Uhrwerk aus Schaffhausen, eine Partnerschaft gefeiert, die wenige Reibungen, aber viel Reibach kennt.
9. Juni, Seengen, zurück am Hallwilersee
125.
Selbstmitleid hilft weder dem Erbarmen noch dem Selbst.
126.
Ob das Geld in der Schweiz eine so große Rolle spielt, weil (fast) alles so teuer ist? Oder ist alles so teuer, weil das Geld eine so große Rolle spielt? Die Naivität beider Fragen ist, versteht sich, gewollt, weil, seien wir ehrlich, die Komplexität des Geldes selbst auf einer einfachen Schimäre beruht, die ganz und gar nicht auf der Austauschbarkeit von Waren fußt, sondern der des Profites. Gehortete Gier, das ist, im übelsten Falle, das Geld.
127.
Wer Teenager nicht wenigstens ein wenig beneidet – gerade himmeln sich zwei Jungen und zwei Mädchen im Frauenbad coram publico an –, hat ein beneidenswertes Verhältnis zum Tod.
10. Juni, Weggis, Hertenstein
128.
Die Mutwilligkeit der Schönheit hängt an ihrer Seltenheit, aber noch mehr am Unverstand, dass das Pendel des Zufalls in eine andere Richtung hätte ausschlagen können. Wer den Geburtszufall (wo bin ich wie, wann und mit welchem Geschlecht auf die Welt gekommen?) als angestammtes Privileg betrachtet, bettelt regelrecht darum, verachtet zu werden.
129.
Besitzt die Hässlichkeit Intelligenz, wird sie entweder sehr gehasst oder sehr geliebt.
130.
Wir schlingen, schlingen, schlingen – und können uns doch an der Schönheit des Vierwaldstättersees nicht sattsehen.
131.
Die Anhänglichkeit der Wolken, die sich an die Berge, Pilatus vor, Regis hinter uns, wie an Liebhaberïnnen schmiegen, berührt mich. Dass Wolken einen See meiden, der doch, im gewissen Un-Sinne ihresgleichen und eine andere Art von Beweglichkeit symbolisiert, scheint mir folgerichtig zu sein.
11. Juni, Weggis, Hertenstein
132.
Die Strömung im Vierwaldstättersee ist so stark, dass wir uns anstrengen müssen, um nicht um die Ecke gezogen zu werden - passenderweise in die Sündenbucht. In solchen Momenten denke ich oft an die Ähnlichkeit im Englischen zwischen current und currency. Währungen üben einen starken Sog aus, gegen den man schwer anschwimmen kann.
133.
Wer an sich selbst zweifelt, schwimmt nicht unbedingt schlechter, aber kürzer.
144.
Jede Abstraktion, auch die überzeugendste, kämpft mit der Vergegenständlichkeit, die ihr, sorglos, aufgezwungen wird.
145.
Der Gegenstand hat mehr Probleme mit dem Nichtgegenstand als umgekehrt.
146.
Die Idee ist häufig mit sich selbst glücklicher als mit ihrer Umsetzung, die doch immer eine Veränderung ihres Wesens und nicht zu selten ihre Vernichtung darstellt.
147.
Änderungen mögen Änderungen, wenn sie sich von ihnen selbst fernhalten.
148.
Kontinuität ohne Änderung, wie sie in der Schweiz hauptsächlich gepflegt wird, sei Stagnation.
149.
Ob die Selbstgenügsamkeit der Schweiz etwas mit ihrer Schönheit zu tun hat?
12. Juni, Seengen
150.
Wir vergleichen, was ist, mit dem, was war – viel seltener: was sein könnte. Obwohl die Möglichkeiten der Vergangenheit höchst eingeschränkt sind, fordert sie grenzenlose Aufmerksamkeit wie ein Neugeborenes.
151.
Keine Zeit zu haben, ist dem Menschen ureigen, jedenfalls auf Dauer. Dass die Schweiz die Heimat der präzisen Uhrwerke ist, also der Ort, der sich der Kontrolle der Zeit verschrieben hat, trotz der unabdingbaren Vergänglichkeit der Zeit, die sich zwar messen, aber nicht besitzen lässt, hinterlässt, zwangsweise, eine Spur im eidgenössischen Wesen.
13. Juni, Zürich
152.
Die Mieten in der heimlichen Hauptstadt der Schweiz sind unerschwinglich. Für kleine Wohnungen werden Riesensummen verlangt; es scheint normal zu sein, dass die Hälfte des Verdienstes für die nicht-eigenen Vierwände aufgewendet werden müssen. Dass Zureich rot-grün regiert wird, führt offenbar nicht zu einer rot-grünen Politik, die irgendein Interesse am Bestandsschutz oder einer Chancengleichheit in den zentralen Vierteln hat. Bankerïnnen verbunkern sich, Normalverdienerïnnen ziehen die (Reiß)Leine, verlassen die Stadt oder leben bescheiden in einer ganz und gar nicht bescheidenen Finanzhochburg. Bleibt die Frage: Warum die Züricherïnnen bei den Kommunalwahlen diesen, vermeintlich, sozialen Parteien überhaupt ihre Stimme geben? Warum wählen sie nicht gleich konservativ? Und warum gibt es in der Verdrängungsmetropole keine Neugründung einer links-sozialen Partei, die’s ernst mit ihren lauteren Parolen meint?
153.
Wir sitzen im sogar Theater – das erste Mal seit Ewigkeiten erleben wir wieder eine Aufführung live. Und fühlen uns gleichzeitig sehr wohl und sehr unwohl. Wie man mit anderen zusammen atmet, in einem geschlossenen Raum, stellt sich als Kulturtechnik heraus, die der Übung bedarf. Die Selbstverständlichkeit, sie ist dahin, jedenfalls auf weiteres. Dass die meisten Schweizerïnnen, denen wir begegnen, eher lässig mit der Pandemie umgehen, verwundert uns, besonders angesichts der unverhältnismäßig hohen Todeszahlen in der (L)Eidgenossenschaft.
14. Juni, Seengen, zu Fuß auf dem Weg zum See
154.
Die Schönheit dieses Erdfleckens ist, für mich, je öfter wir den leicht abfallenden Pfad Richtung Wasser gehen, nicht selten mit Fernblick auf die Alpen, vorbei am moorigen Naturschutzgebiet und den Wildblumenwiesen, meine Schweiz – falls ich das sagen darf. Die kurze Strecke vom Parkplatz bis zum Frauenbad ist hier, mitten im Seetal, nichts Besonderes, kein Weg, der in irgendeinem Reiseführer auftauchen würde. Und dennoch wohnt diesem zehnminütigen Spaziergang ein Liebreiz inne, der mich erdet, mich beruhigt, Schwer- durch Übermut ersetzt. Plötzlich verstehe ich, dass der Begriff Schweiz, den sich viele Gegenden als Anhängsel angeeignet haben, etwa Holsteinische Schweiz, eine Aspiration darstellt, die weit über das Geographische hinausgeht. Die Schweiz ist ein gesegnetes Land, wo der Haussegen, aus verschiedensten Gründen, erstaunlich schief hängt.
15. Juni, Lenzburg
155.
Der gestrige Tag war heiß, die Nacht darauf wiederum ordentlich kalt – mit dem Resultat, dass die überdüngten Felder, die um das Städtchen herumliegen, morgens regelrecht furzen und heute früh derart mächtig nach chemischen Fertilizer stinken, dass wir lieber die Fenster geschlossen halten. Dass die Schweizer Stimmbevölkerung gerade zwei Agrarinitiativen krachend abgelehnt hat, erstaunt mich. Die Trinkwasser- und die Pestizid-Initiative wurden mit 60,7% respektive 60,6% aller Stimmen verworfen. Bis auf den Kanton Basel-Stadt stimmten alle anderen Kantone gegen eine Grünere Landwirtschaft. Mit dem Geruch der eigenen Wohnung, wir alle wissen es, verhält es sich eben so, dass wir ihn irgendwann nicht mehr wahrnehmen. Wir merken halt nur, wenn es bei den Nachbarïnnen streng riecht.
16. Juni, Lenzburg, im Müllerhaus
156.
Der Gast eines Gastes zu sein, was ich derzeit in der Schweiz bin, macht uns entweder zu einem vernachlässigten Mitbringsel, stell die Blumen bitte vor die Tür, ich leide an Heuschnupfen, oder zu einem Amuse-Bouche, einem Extrahäppchen, das sich stets auf Neue beweisen muss, von ihm ist schließlich nichts bekannt, es wurde nicht geordert. Diese Appetizerrolle hat einige Vorteile, man wird wölfisch verschlungen, aber eben auch einige Schattenseiten, das Interesse, falls es überhaupt existiert, verklingt rasant. Bei mir, der ich diese Partie routiniert spiele, überwiegt das Vergnügen, beobachten zu können, ohne zu sehr beäugt zu werden. Ich bereise die Schweiz quasi im Huckeback-Modus Vivendi. Die Übereinkunft, als Gast – und im verstärkten Maße als Gast des Gastes – anwesend nicht anwesend zu sein, also klaglos zu zahlen, ohne zusätzliche Wünsche zu äußern, sich stillschweigend zu fügen, den angewiesenen Platz nicht zu verlassen, wird überall auf der Welt von Einheimischen goutiert. Hier, in der Schweiz, scheint mir, eine Vermutung, die sich täglich verstärkt, hier ist dieses passive Gastspiel allerdings besonders beliebt. Das Besitzstandwahren ist der Eidgenossenschaft in Fleisch und Blut übergegangen. Das inoffizielle Landesmotto Unus pro omnibus, omnes pro uno – einer für alle, alle für einen – klingt zwar weltläufig, ist es aber nicht. Das Schweizer omnes ist ein Schweizer alle(in).
17. Juni, Seengen, von Seerosen geschmückte Uferzone des Hallwilersees
157.
Das warme Wasser macht uns ein Geschenk, auf das wir gerne verzichtet hätten. Die Larven, als Zerkarien bekannt, von Saugwürmern der Gattung Trichobilharzia suchen im See nach Wirten – meistens wären das Enten. Wenn keine Wasservögel da sind, tun’s auch Schwimmerïnnen. Rote, mit eigenartiger Flüssigkeit gefüllte Quaddeln, die verlockend jucken und, etliche Tage später, in roughe Papeln übergehen, werden durch die Zerkarien hervorgerufen. Da man die Attacke nicht sofort im See bemerkt, es dauert rund zehn Stunden, bis sich die Eiterpusteln bilden, gibt es keine Chance, den Schmarotzern zu entkommen. Bleibt die Frage, warum wir, obwohl uns heute früh eine freundliche Schweizerin erzählt hat, dass es sich bei unseren „Stichen“ nicht um Moskitoattacken handelt, dennoch wieder in den See gestiegen sind? Weil wir glauben, dass uns die Larven nicht ein weiteres Mal belästigen? Weil wir dem Wasser nicht widerstehen konnten? Weil unser Körper, der sich aufs Schwimmen eingestellt hatte, den Verstand ausgeschaltet hat? Dass Wissen nicht immer reicht, um eine Veränderung zu bewirken, hier, im Seetal, zeigt sich erneut die Wahrheit dieser unangenehmen Einsicht.
18. Juni, Lenzburg
158.
Die Schweiz hat den Vorteil, jedenfalls in einigen Landesteilen, bei den Europameisterschaften im Fußball, wenn ich das so sagen darf, gegen sich selbst anzutreten. Eine deftige Niederlage gegen Italien dürfte südlich der Schweizer Alpen, im Tessin, als Glanzleistung gefeiert werden; ob diese Feiern von Wehmut durchzogen ist, weil man immer der kleine Fußballbruder geblieben ist, sei dahingestellt. Lieber ein Bruder als ein Erzrivale. Und ja: Ein vergifteter Vorteil bleibt dennoch ein Pluspunkt, solange der Schadstoff in absehbarer Zeit abbaubar ist.
20. Juni, Bern
159.
Bern ist wie die Schweiz: behütet, an den Ecken etwas rough, gleichzeitig groß und klein – und mit einer Landschaft gesegnet, die ekstatisch dem Statischen entwischt.
160.
Dass der Reichtum dieser Stadt, Pars pro toto für die ganze Schweiz, aus der Welt herausgepresst worden ist, sowohl legal als auch illegal, wollen wenige Bernerïnnen wahrhaben. Vielen reicht es, dass sie die Früchte des Wohlstandes vorfinden und permanent pflücken dürfen. Vermutungen anzustellen, die unbequem sind, die globale Rolle der Eidgenossenschaft von allen Seiten beleuchten, wird als Nestbeschmutzung betrachtet, also lieber, weitgehend, vermieden. Ich frage mich, ob ein ganzes Land solch eine Maskerade unbeschadet aushalten kann. Aber, ein großes Aber, diejenigen, die’s wissen wollen, denen wir dankenswerterweise begegnet sind, die uns durch Bern geführt haben, die wiederum wissen von all diesen Sachen schließlich sehr genau Bescheid. Im Detail zu wissen – positiv gesagt – vereinzelt, grob zu wissen, schafft eine nationalistische Gemeinschaft.
161.
Wir schwimmen, gastfreundlich behütet, in der aufgewühlten Aare. Gleich neben dem Lorraine-Bad, das, nach einem heftigen Gewitter, geschlossen hat. Beim Tauchen höre ich den Fluss, der rauscht und rasselt. Geschichten schleifen über die Flussbettsteine. Storys der Lust und des Verlusts, des Niedergangs und Aufstiegs. Ich kraule gen Ufer, greife das Metall am Austritt, die Aare klammert sich an mich, ich sage ade, lasse sie zurück, entsteige dem Wasser, klatsche, während der nächste Sturm naht, mit meinem neuen Schwimmfreund ab, bin sehr glücklich, am Leben zu sein.
21. Juni, Thun
162.
Ich muss etwas gestehen: Es gelingt uns in neun von zehn Fällen nicht, wenn wir einen Ort verlassen möchten, auf Anhieb die richtige Autobahnauffahrt zu finden. Uns scheint es, dass unter gar keinen Umständen die nächste größere Stadt – meistens unsere Destination – auf den Schildern annonciert wird. So irren wir perplex durch Stadtrandbezirke. Kurven. Üben U-Turns. Halten irgendwo an. Brüten über Karten. Ja, unser Kleinwagen hat kein GPS. Machen uns gegenseitig spöttische Vorwürfe. Auch weniger spöttische. Seufzen. Weinen etwas, bis die Tränen versiegen. Sind erschöpft. Trinken den Wasservorrat leer. Schlingen die Reisestullen herunter. Brechen wieder auf. Versuchen, in den Beschriftungen ein System zu entdecken. Rätseln, ob's den Schweizerïnnen reicht, wenn sie sich zurechtfinden.
22. Juni, Thun, am Morgen, nach einer eher schlaflosen Mittsommernacht
163.
Wer behauptet, in allen Lagen eine Selbe, ein Selber zu sein, belügt sich selbst.
164.
Ruhe existiert, wenn alles zusammengezählt ist, nur im Inneren. Und dort macht sie die meisten von uns kirre.
22. Juni, Brienzersee
165.
Hier, im idyllischen Iseltwald, gibt es sie noch: Alternativen. Jedenfalls auf der am Wegesrand prominent angeschlagenen Speisekarte eines Vier-Sterne-Hotels, auf der tote Tiere en masse zur letzten Parade geleitet werden. Gemüsegerichte, zwei an der Zahl, werden als „vegetarische Alternative“ angeboten. Da ich mich seit über 30 Jahren fleischlos ernähre, dürfte ich am Brienzersee als alternativer Methusalem gelten.
23. Juni, Oeschinensee
166.
Während ich im Bergsee schwimme – übrigens etwas zu lang, nachher werden meine Glieder schlottern –, unterhalte ich mich mit einem Schweizer, der mit seinen beiden kletternden Söhnen, drei und vier Jahre alt, am Ufer steht. Seine Frau kümmert sich, einige Meter entfernt, um ein Neugeborenes, wiederum ein Junge, wie der Vater, auf meine Frage hin, lächelnd erklärt. Dann sagt er: „Viel Arbeit für meine Frau.“ „Und für Sie“, sage ich. „Ja, jetzt, während der Pandemie, im Homeoffice“, sagt er.
167.
Wir blicken vom Bett aus auf die Berge und den See, während die Wolken tiefer sinken und uns das Gefühl geben, wir säßen im Flugzeug und flögen durch eine Regenfront. Ein eigenartiger Eindruck, sehr schweizerisch, vielleicht: gleichzeitig abgehoben und gelandet zu sein.
168.
Der Kellner öffnet den Hahn am Tresen, füllt die Karaffe, stellt sie auf unseren Tisch. Auf der Rechnung: Ein Liter Oeschinerseewasser, 6 Franken.
24. Juni, auf dem Weg nach Leukerbad
169.
Der Lötschberger Eisenbahntunnel zwischen Kandersteg und Goppenstein, die Verbindung zwischen dem Berner Oberland und dem Wallis, verblüfft uns nicht nur mit seinem Alter, sondern auch damit, dass er repariert wird, während weiterhin Auto-, Personen- und Frachtzüge durch ihn rattern. Wir, die wir im Wagen sitzen, während der Zug uns durchs Gebirge zieht, staunen über die Entschlossenheit der Arbeiterïnnen, das eigene Leben als Kontinuität anderer Leben zu betrachten. Ob diese Widmung angemessen honoriert wird – und zwar nicht nur, aber eben auch finanziell?
25. Juni, Leukerbad
170.
Wer selbst redet, wohlgemerkt: einen Tick zu viel, hört weniger, als möglich und gut wäre.
171.
Ich erkenne, dass ich selbst mehr verdauen muss, als ich mir, dank der abwechslungsreichen Schweiz, erlaubt habe. Ob die Sicht der Dinge durch die eigene Betrübnis sich verengt? Eine rhetorische Frage.
172.
Vom Nachtessen auf dem Torrent-Gipfel kommend stockt die Gondel, in der sich, mit uns, 30 Menschen befinden. Wir blicken ins erleuchtete Tal. Denken beide, wie wir uns später gestehen, ans Nicht-Erledigte. Ein winziger Vanitas-Moment, der eine Vorahnung vom Totenbett gibt. Werde ich mich einst nur fragen, was ich nicht geschafft habe? Oder werde ich mich daran erinnern, was mir, mehr oder minder, gelungen ist?
26. Juni, Leukerbad
173.
Geduld mit Duldsamkeit zu verwechseln, hat schon mancher Beziehung schweren Schaden zugefügt.
174.
Wie definiert sich Erfolg? Als Adjektiv, das auf reich endet? Als Substantiv, das mit V beginnt und mit ung endet? Oder in absentia?
175.
Leukerbad liegt am Ende der Fahrbarkeit, was die Erfahrbarkeit der (Un)Endlichkeit erhöht.
176.
Die kleine Stadt, deren Herzschlag vom Tourismus bestimmt wird, leidet, sichtbar, an Rhythmusstörungen. Beton bröckelt, Geschäfte sind geschlossen, die Hoteliers, sagt ein Fahrer, der die Festivalgäste zum Ort bringt, seien zum ersten Mal freundlich. Leukerbad ahnt zwar, was es nicht mehr ist, aber es weiß nicht, wie es wieder Fuß fassen soll. In den Gesichtern der Einheimischen wohnt ein fragiles Lauern, das mir unheimlich ist; wahrscheinlich, weil ich mich in ihnen erkenne.
27. Juni, Leukerbad
177.
Wird das Kosmopolitische provinziell, verliert es nicht auf der Stelle seine Weltläufigkeit, aber alsbald die Perspektive und schließlich, nicht zu selten, den Verstand. Was passiert, wenn das Provinzielle kosmopolitisch wird? Zunächst nichts, da es unbemerkt bleibt. Dann entstehen Spielarten des Totalitarismus.
178.
Auf den Weg ins Tal rollen wir. Ich lege den vierten Gang ein, um in den Nadelkurven abzubremsen. Der VW-Van hinter uns küsst unsere Stoßstange. In Inden lasse ich die Ungeduld passieren und folge ihr. Sie ist nicht schneller als wir.
179.
Wir tuckern auf der Autobahn durch die französische Schweiz, die uns, Pardon I, sehr an die deutsche Schweiz erinnert. Auf den ersten Blick, versteht sich. Es gibt Berge, Täler und Seen. In den Dörfern und Städten stehen Kirchtürme, etliche Häuser sind mit Holz verkleidet. Sprächen die Schilder nicht französisch mit uns, wir wähnten uns in der Nähe Luzerns oder Berns. Was, Pardon II, tatsächlich stimmt.
28. Juni, Lenzburg
180.
Während des Gewitters spritzen wir uns mit dem Gartenschlauch nass. Und lachen hysterisch. Das Wasser ist eiskalt. Ich dusche die Goldfische im Teich. Wir sind wieder daheim; transitorisch, versteht sich. Dennoch: Zuhause.
181.
Zugehörigkeit ist eine Entscheidung, die man auch allein treffen kann. Was dieser einsame Entschluss beim Gegenüber auslöst, hängt, häufig, von der Entfernung ab. Erstaunlicherweise schafft Nähe, die auf Respekt fußt, Toleranz. Während größere Distanz einen Abwehrreflex auslöst, dessen Irrationalität sich gerne mit Wut paart.
182.
Ich stehe im Kreuzfeuer, weil ich gesagt habe, was ich denke. Ehrlichkeit wird offenbar am ehesten goutiert, wenn sie nicht die eigenen Fehler aufdeckt.
183.
Das Hupen glücklicher Schweizerïnnen – das Eidgenossenteam hat Frankreich bei der EM im Elfmeterschießen abgezockt – hält uns wach. Wir lauschen dem Konzert, das gar nicht aufhören will, und fragen uns, was passierte, wenn es tatsächlich um etwas ginge.
29. Juni, Seengen, Frauenbad am Hallwilersee
184.
Gelbe Seerosen geleiten uns ins Wasser. Wir werden auf der Stelle ruhig. Der See ist so sauber, dass ich viele, viele Meter die Stängel der Seerosen im tiefen Wasser sehen kann. Ein Urwald des Glücks.
185.
Mir wird erst hier, in der Schweiz, richtig klar, was ich mit meiner Kündigung, dem recht späten song of myself, angestellt habe. Das Hiatus-Leben guckt mich an, kneift und beäugt mich, nickt und korrigiert, krempelt mich um. Es kommen Sachen zum Vorschein, die stets vorhanden gewesen sind, nun aber erst allmählich sichtbar werden. I contain multitudes, um mit Walt Whitman zu sprechen. Was zwar einerseits eher anregend, andererseits auch anstrengend ist.
186.
Jeder Versuch darf missglücken, sogar mehrmals. Stellt sich allerdings heraus, dass die Fähigkeiten fürs Glücken hinten und vorne nicht reichen, sollten wir nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag an weiteren Anläufen festhalten. Der Abbruch ist dem Zusammenbruch vorzuziehen.
30. Juni, Staufen und Lenzburg
186.
Seit einiger Zeit kaufen wir nun schon in den Schweizer Farmläden ein, die häufig, nicht immer, auf die Bezahlehrlichkeit der Kundïnnen vertrauen. Es ist ein überaus angenehmes Gefühl zu wissen, dass auf dem Land Vorschusslorbeeren im Angebot sind.
187.
Ich bin überrascht, wie viele Schweizer – bislang nur Männer – es gibt, die mich, seit ich einen kritischen Artikel über das Kunstmuseum Solothurn geschrieben habe, beleidigen, ohne mich zu kennen. Dass der Essay an sich als Diskussionsgrundlage dienen sollte, auch so verfasst ist, wird verdrängt.
188.
Hass ist sicherlich der Vater etlicher Beschimpfungen, aber viel häufiger befruchtet der Stillstand Schmähungen.
1. Juli, Zürich, im Kunsthaus und auf der offenen Pavillon Le Corbusier-Terrasse
189.
Kunst macht mich zum glücklichen Menschen. Sie macht mich nicht per se glücklich, das nicht. Aber sie nimmt sich meinem Menschsein an, lenkt es auf Bahnen, die es mit der Melancholie, dem Grundrauschen, aufnehmen.
190.
Richters Landschaften im Kunsthaus passen hervorragend zur Schweiz. Ihre Erhabenheit schafft eine magnetische Distanz.
191.
Die Kombüsentür, die zur Dachterrasse des Pavillons Le Corbusier führt, erweckt ein Auf-Hoher-See-Gefühl. Wir legen ab; besonders den autochthonen Ballast, mit dem wir in letzter Zeit beladen worden sind.
192.
In jeder Moral steckt, ausnahmslos, das Potential zur Doppelmoral.
193.
Wer der Liebe hinterherrennt, wird, wohl oder übel, mehrmals von der Enttäuschung überholt.
194.
Wer sich nicht selbst hinterfragt, bekommt die Antworten von anderen.
2. Juli, Seengen, Frauenbad am Morgen, und Lenzburg, im Garten, am Abend
195.
Gibt es überhaupt eine Seele, im See wäre sie daheim.
196.
Das erste Zeichen von Wehmut: Nicht wir zählen die Schweizer Tage, die Tage zählen uns – an.
197.
Angesichts der Pandemie, deren Delta-Variante weitgehend ignoriert wird, warum auch nicht: angesichts 22 junger Männer, die für sehr viel Geld Ballspielen?, ist das frühe Ausscheiden von der Fußball-EM für das abtretende Land ein Segen. Weniger Jubelstürme – weniger Tote. Dennoch bleibt es auf den Lenzburger Straßen ruhig. Kein Hupkonzert ertönt, das ein Ende der potentiellen Gefahr feiert.
198.
Die Mischung aus Kapitalismus und Ersatzkrieg macht internationale Fußballspiele zu solch einer ungetrübten Freude.
3. Juli, Zürich
199.
Je mehr Züricherïnnen ich treffe, desto häufiger höre ich von der Unzufriedenheit mit ihrer Stadt – und dem gleichzeitigen Verliebtsein in den eigenen Kiez. Vielleicht sind es die Hassliebe und der Liebehass, die uns am meisten an einen Ort, einen Menschen, eine Obsession binden.
200.
Sich besser zurechtzufinden, heißt noch lange nicht, etwas tatsächlich verstanden zu haben.
201.
Die Schweiz versteckt sich vor uns, wie wir uns vor ihr. Lüftet sie einen Schleier, erspähen wir etliche weitere. Die Eidgenossenschaft ist ein Burkaland, das lieber selber guckt, als angeschaut zu werden.
202.
Zürich ist stolz auf seine Schokoladentradition. Sprüngli, Läderach & Co. haben etwas perfektioniert, was viele von uns, mich eingeschlossen, genauso versuchen: Wir nehmen etwas, was nicht uns gehört, verarbeiten und veredeln es und machen die anderen vergessen, dass es ganz und gar nicht auf unserem Mist gewachsen ist. Ob das eine Copyright-Verletzung darstellt? Falls die Antwort Ja lautet, dann wäre wohl fast der gesamte Kapitalismus eine Diebstahlbewegung. Keine ganz neue Erkenntnis, aber eben doch eine, die wir am liebsten verdrängen.
4. Juli, Seengen, am See, Lenzburg, im Garten und im Wald
203.
Die Zugehörigkeit zum Ungehörigen, denn das ist die Natur, wenn sie sich in ihrer Erhabenheit zeigt, wobei das Sublime nicht zerstörerisch sein muss, die Allgegenwart reicht, um mir meine Position zu offenbaren – denn auch darum handelt es sich: eine Preisgebung, einen Kontrollverlust, ein Eingeständnis, eine Enthüllung, eine Akzeptanz der Schwäche –, diese Zugehörigkeit zum Ungehörigen war mir, selbst als Stadtmensch, immer bewusst. In der Schweiz hat sich allerdings die Wahrnehmung für das Ausgeliefertsein geschärft. Ich sehe, was ist, was vergeht. Ein Memento mori, das mir die Frage stellt, wie ich die nächsten Jahre leben möchte; wenn es sich um Jahre handelt.
204.
Das geschlagene Holz liegt auf dem Waldboden wie auf einem Katafalk. Es vergibt uns nichts.
205.
Das Seewasser hat das geschmolzene Eis der Berge geschluckt. Der Hallwilersee schickt das Sommergut Richtung Aare. Wir schwimmen im Reisewasser, das uns, etwas, gegen das Ufer drückt, dessen ständige Schmalwellen sich brechen und den Himmel spiegeln.
5. Juli, Seengen, Frauenbad, und Lenzburg, Waldgebiet Berg-Ebnet
206.
Die Lüge stellt der Wahrheit nach – was vice versa seltener passiert.
207.
Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass die Deutschschweiz nicht die Schweiz ist; nach vielen Unterhaltungen wird mir klar, dass diese Erkenntnis bei etlichen Deutschweizerïnnen Schwindelanfälle verursacht.
208.
Ich balanciere auf einem zehn Meter langen Holzstück, zwanzig Zentimeter über dem Boden. Falle nach vier Metern herunter. Dann nach sechs, schließlich nach fünf Metern. Ich sage mir, dass am Ende des Stamms eine Idee wartet. Ohne Probleme erreiche ich den Endpunkt, wo, Überraschung, keine Idee auf mich wartet. Ich schlucke, steige ab, verstehe, dass es sich dabei um die Idee handelt.
6. Juli, Seengen, Frauenbad
209.
Das Alter versteht nicht mehr als die Jugend. Aber es hat bereits mehr missverstanden.
210.
Verständnis gehört dem Augenblick, Missverständnis der Ewigkeit.
211.
Die Müdigkeit kennt nur eine Richtung, das Wachsein viele.
212.
In der Fremde schmeckt selbst das Vertraute neu.
7. Juli, tagsüber in Basel, am späten Nachmittag in Riehen, Fondation Beyeler, am Abend in Seengen, Frauenbad
213.
Im Kunstmuseum hängt der wahre Reichtum Basels. Eindrückliche Bildung.
214.
Kara Walkers Sonderausstellung A Black Hole is Everything a Star Longs to Be hat zu Beginn eine Trigger-Warnung: dass uns sehr Unangenehmen begegnen werde. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um einen Text, der Walkers Arbeiten vorstellt. Ich frage mich, ob man es in Basel gewohnt ist, in Ausstellungen Wohlfühlkunst vorgesetzt zu bekommen.
215.
Die ewig gleiche amerikanische, französische, deutsche und – schließlich sind wir in der Eidgenossenschaft – schweizerische Künstlerriege der Dauerausstellungen zeigt, wie in den Museen binäre Weltbilder konstruiert worden sind; es ist erstaunlich, dass mir das über Jahrzehnte nicht aufgefallen ist.
216.
Die Schönheit des Rheins, von einer Baselbrücke bewundert, trifft mich mit Wucht, wirbelt mich herum, aber lässt mich auch sogleich wieder freimütig aus ihren natur-ästhetischen Fängen. Die Langeweile der Flussbarkeit, des ununterbrochen Strömenden, des Kontinuums des Über-das-Ufer-Tretens, des Ab-und-an-Austrocknens und des, in aller Regel, stetig Vor-sich-hin-Fließens, raubt der ad hoc Rhein’schen Erhabenheit, für mich, jegliche Dauergucklust. Ein Fluss ist ein Fluss ist ein Fluss. Und Schluss.
217.
Die Urbanität der schweizerischen Kleinstädte, sei es Luzern, Bern oder Basel, Zürich ist eher die Ausnahme, überrascht mich. Sie geben nicht nur vor, mehr zu sein, als sie sind, sie sind es tatsächlich – wenn auch nur in der Konzentration auf eine wesentliche Funktion. In Bern ist es das Administrative, in Luzern der Tourismus, in Basel die Kunst. Dass eine Stadt, die von der Kunst lebt, eine gewisse Künstlichkeit ausstrahlt, versteht sich von selbst.
218.
Die Fondation Beyeler ist ein hübsches Zwitterwesen, eine attraktive Geldmaschine, die sich, was zu merken ist, aus tiefster Überzeugung der Kunst verschrieben hat. Ähnlich wie das dänische Louisiana Museum für Moderne Kunst setzt die grenznahe Stiftung auf das Eingebettetsein in eine bemerkenswerte Landschaft. Und so ist es denn der Garten, der mir am meisten in Erinnerung bleibt. Renzo Pianos Kunstkörper dagegen, dessen Innenräume überzeugen, erweist sich als simpler Hangar. Jeden Moment erwarten wir, dass sich eine große Schiebetür öffnet und eine kleine Propellermaschine ins Freie rollt. Dass Olafur Eliasson für seine temporäre Installation Life einen Teil der Fenster entfernt, was er „Fürsorge“ nennt, öffnet die Fondation Beyeler nicht nur auf überzeugende Art und Weise hin zu ihrer Umgebung, zur Flora und Fauna des Parks, zum wechselhaften Wetter und zu den Tageszeiten mit ewig changierenden Lichtverhältnissen, sondern enthüllt auch unbeabsichtigt den utilitaristischen Gewächshaus-Charakter des boxgleichen Gebäudes. Die Fürsorge entsorgt den erhabenen Nimbus der an sich intakten Innenhülle.
219.
Der doppelte Regenbogen über dem abendlichen Seetal lehrt uns, nach dem Baden, das Staunen. Einen schöneren, farblich brillanteren Rainbow haben wir noch nirgends gesehen. Die Schweiz verführt uns nach Lichtstrich und Bogenfaden. Mit offenen Mündern starren wir auf das Himmelsereignis, rühren uns zehn Minuten nicht vom Fleck. Das Leben, es ist ein Wunder.
8. Juli, Lenzburg, Jugendfesttage
220.
Es herrscht die ganz besondere Spannung von Vorfreude in der Altstadt. Eine uns allen wohlbekannte Erwartung vor Geburtstagen oder Weihnachten. In Lenzburg beruht sie auf dem Wissen der Traditionen des Jugendfests. Ein Brauch seit, heißt es, 400 Jahren und das, mit Abstand, größte Ereignis im Bezirkshauptort am Aabach. Die Plätze und Brunnen sind anlässlich des Jugendfestes geschmückt. In der Lenzburger Kirche hängen farbige Girlanden. Es duftet nach abgeschnittenen Blumen. Ein Riesenrad, Herz des Lunaparks auf dem Seifiparkplatz, dreht sich gemächlich am Fuße des Schlossbergs. Alles bereitet sich auf die normalerweise große Schlacht zwischen den „Kadetten“ (Schulkindern) und den „Freischaren“ (Erwachsenen) auf dem Gofi, einem Molassehügel in Sichtweite des Schlossbergs, vor. Wegen der Pandemie konnte das in geraden Jahren stattfindende Scharmützel vergangenes Jahr nicht stattfinden. Nun herrscht erneut der „Kriegsfall“, wenn auch „light“. Schließlich ist das Corona-Virus weiterhin gefährlich. Zur Feier des Tages hängen in Lenzburg Fotos vergangener heavy Schlachten: Die fröhlichen Teilnehmerïnnen treiben auf diesen Bildern das Enactment nicht nur soweit, dass sie sich mit allerlei Waffen und Kanonen ins Visier nehmen und reihenweise in einem offenen Gefecht abknallen, was mich durch die Inszenierung an die theatralische Aufführung von Gemetzeln des amerikanischen Bürgerkriegs erinnert, sondern die Freischärlerïnnen zeigen auch beim Umzug und auf dem Schlachtfeld stolz ihr Blackfacing, Yellowfacing und Redfacing. Die rassistischen Darstellungen werden – die Aufnahmen lassen keinen Zweifel – mit einer zutiefst naiven Freude betrieben, mit einer penetranten Ignoranz Jahr für Jahr wiederholt. Als gäbe es weiterhin Kolonialreiche. Als hätte es den Abolitionismus nicht gegeben. Als schickte die Schweiz weiterhin Söldner ins Ausland, um Geld zu scheffeln. Dass in der Zwischenzeit auf den Fotos der Schautafeln einige Schweizerïnnen zu sehen sind – übrigens sehr wenige: die reproduzierten Bilder zeigen ein 99 Prozent weißes Lenzburg –, deren Hautfarbe ohne das xenophobe Völkerschau-Einschmieren dunkler ist, scheint im Aargaustädtchen keine streitlustige Seele zu stören. Was wäre, wenn einige dunkelhäutige Lenzburgerïnnen anfingen, Whitefacing zu betreiben? Sich Kuhglocken umhängen würden? Wäre das ebenso lustig? Und noch eine Bemerkung des überraschten Gastes in der Stadt sei bitte erlaubt: Die Kadettïnnen, so ist der Brauch, gewinnen immer, ausnahmslos gegen die Freischar. Jung gewinnt also bei jedem Jugendfest gegen Alt. Zunächst könnte ich das als nette Geste abtun – die Erwachsenen maßen sich nicht an, die Teenager abzuzocken, sondern motivieren sie. Allerdings kommen die Kadettïnnen in Uniform daher, sind immer, ausnahmslos als autochthone Schweizerïnnen gekleidet – die Schweizerïnnen aus Einwanderfamilien selbstverständlich auch, die Kinder passen sich ein und an. Während die „wilde“ Freischar sich „fremd“ verkleidet – und am Ende, es sei betont, durchweg, ganz grundsätzlich verliert. Die Auslegung einer solchen Siegesgarantie des Einheimischen über das systematisch geotherte Fremde? Überlasse ich Ihnen.
9. Juli, Seengen, Frauenbad, früh am Morgen, Lenzburg, den Rest des Tages
221.
Wir zahlen den Parkplatz am Frauenbad, immer. Uns fällt auf, dass andere Fahrererïnnen, die mit uns gleichzeitig ankommen, selten bezahlen. Um genau zu sein: Eigentlich so gut wie nie. Ob es sich um ein Gewohnheitsrecht handelt? Ich weiß, dass man für diesen Parkplatz noch nicht so lange eine Gebühr berappen muss. Oder handelt es sich um eine grundsätzliche Weigerung der Aargauerïnnen, die nicht bereit sind, am Seetal Parktickets zu lösen? Wie auch immer. Wir akzeptieren, dass wir als Fremde die Regeln befolgen. Zahlten wir nicht fürs Parkieren, wären die Konsequenzen für uns, so viel verstehen wir von der Schweiz in der Zwischenzeit, andere als für die Einheimischen.
222.
Wir laufen gemächlich den Lenzburger Schlosshügel hoch, vorbei an einigen Weinreben, die hier gedeihen. Es ist ein warmer, heller Nachmittag. Die Sicht ist atemberaubend. Oben treffen wir zufällig den Landschaftsarchitekten und Gärtner, der sich seit Ewigkeiten um den von mir – ja, dies ist das richtige Wort – geliebten Garten des Müller-Hauses kümmert. Er ist mit seiner Frau – beide sind Mitte Siebzig – auf die Aussichtsplattform gewandert, um, wie wir auch, die Jugendfest-Schlacht auf dem Gofi aus der Ferne zu beobachten. Beide schwärmen davon, dass sie selbst als Schulkinder Kadettïnnen und später als Erwachsene Teil der Freischar gewesen sind. Dies ist nicht der Moment, um die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft zu konterkarieren. Ich beiße mir auf die Zunge. Nehme mir vor, ein anderes Mal mit ihnen über meine Sichtweise zu sprechen. Auseinandersetzungen haben ihren Ort, kennen ihren Zeitpunkt. Was nicht heißt, dass wir schweigen sollten, wenn keine andere Möglichkeit absehbar ist. Häufig erfordert gerade der Augenblick unser entschlossenes Eingreifen.
223.
Wer stets Zucker schlecken möchte, dem oder der fallen irgendwann die Zähne aus.
10. Juli, Seengen, Frauenbad, früh am Morgen, Lenzburg, den Rest des Tages vor unserer Abfahrt
224.
Die gelben Seerosen zeigen Ermüdungserscheinungen. Sie schwimmen, aber neigen die Köpfe. Wir schließen uns, am letzten Seetag, ihnen an.
225.
Die Provinz sei ein Ort der Wahrheit. Sie sagt mindestens so viel über den Zustand eines Landes aus wie die großen Städte – vielleicht sogar mehr.
226.
Ich begreife erneut, dass ich weniger begriffen habe, als ich mir vorgenommen habe. Obwohl ich schreibend an diesen Ort, besonders den Garten, zurückkommen werde, also die Chance habe, mit erweiterten Begrifflichkeiten zu hantieren, bleibt mir die Schweiz ein Rätsel, das ich nur an den Rändern ansatzweise gelöst habe. Was mir scheint, dass neben den Sprachgrenzen auch die Kantonsmentalitäten eine besondere Rolle spielen. Die Geschichte der Regionen wird ernster genommen, als sie es verdient.
11. Juli, Lenzburg, und im Auto, quer durch die Schweiz, Österreich und Deutschland
227.
Das Leben ist kein Park, behütet und geschützt. Aber ein Garten, wie der des Aargauer Literaturhauses, ein Staudengarten – wäre das nicht möglich?
228.
Hat man sich entschlossen, zu gehen, bekommt der Ort, an dem man sich noch aufhält, auf der Stelle andere Züge.
229.
Die Schweiz war gut zu uns. Eine Güte mit Vorbehalt. Dass wir wieder gehen, war immer Teil des Deals.
230.
Auf der Heimfahrt überkommt uns sowohl Wehmut als auch Lebenslust. Keine schlechte Mischung. Das Gewesene wirkt nach, das Kommende winkt bereits.
Die Schweiz, sie ist kein Land, sondern ein Zustand, ab und an ein besorgniserregender.
Lenzburg, 9. - 12. Mai
1.
Die Magie der mittleren Höhe wird oftmals unterschätzt. Obwohl ihre Erreichbarkeit, ihre Unmittelbarkeit, ihre Überschaubarkeit gefeiert werden sollten.
2.
Die unablässige Kontrolle im Öffentlichen Raum sei, so die hiesige Überzeugung, ihr Zwist und Anarchie ausschließender Unterpfand. Ein Problem ist: Als Pfand ist sie, die Kontrolle, nicht einlösbar. Stellt damit also eher eine Fessel dar, die der Freiheit auf Dauer nicht nur angelegt, sondern, mit etwas Pech, immer enger gezurrt wird.
3.
Wer im Kleinen Tag für Tag gegängelt wird, verbringt viel Zeit mit dem Kampf gegen Nichtigkeiten, so dass am Ende, verständlicherweise, die Kraft fürs übergreifende Handeln fehlt.
4.
Sucht sich die Moral Nischen, gehört sie zur Menge der Verräterïnnen; ob bequem oder nicht, spielt dabei, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Moral existiert nicht im Singular, nur im Plural.
5.
Oben die Burg, unten, direkt im Schatten des Hausbergs, das panoptische Gefängnis, dazwischen reiche Felder, blühende Blumenwiesen, etliche politische Banner an privaten Fassaden und ein Sammelsurium an, meistens, als Solitär zwar gelungener, als Gesamtbild aber eher misslungener, auto//chtoner Architektur – Lenzburg ist ein passendes, erstes Gateway in die Schweiz.
6.
Wer reich ist, wer arm, sitzt dennoch im allgemeineren Wohlstand, der die Schweiz auszeichnet, in einer spürbaren sozialen Kluft, die der Tektonik der unebenen, aufgefalteten, gestauchten, erodierten, kargen, angereicherten Landschaft entspricht.
7.
Genauer hinzusehen, am vermeintlich falschen Lack zu kratzen, knüpft nirgendwo, schon gar nicht in der eidgenossenschaftlichen Fremde, die aufs Unversehrtsein gesteigerten Wert legt, gesellig-leichte Ad-hoc-Bekanntschaften, aber ermöglicht, auf Dauer, mit Glück, tiefere Freundschaften.
8.
Feindschaft, die uns gilt, die wir zulassen, der wir uns stellen, schärft die eigenen Überzeugungen, erlaubt uns die präzise Klarstellung des Richtigen oder, was gleichfalls notwendig ist, wenn wir falschliegen, was in meinem Fall häufig passiert, macht unsere Vorurteile allmählich stumpfer.
Aarau, 13. Mai
9.
DU
DU
DUO
DU
10.
ART
ART
WARTEN
ART
Seengen, Hallwilersee, Frauenbad, am Morgen, 14. Mai
11.
Die Drohung der Berge liegt in ihrer Schönheit, die uns, am Ende, verstößt.
12.
Im Wasser bin ich mir am nächsten und fremdesten zugleich.
13.
Der See kennt nichts Überflüssiges; er trinkt sich selbst.
14.
Das Reden der anderen ist der Tod meines Schweigens.
Solothurn, Literaturtage, am Abend, 14. Mai
15.
Wenn auf der einen Seite des Flusses, der Aare, am Landhausquai getrunken wird, heißt es nicht, dass auf der anderen Seite, wo sich Unterer Winkel und Kreuzackerquai treffen, nicht etliche gleichzeitig am Ertrinken sind.
16.
Die Risikobereitschaft der geselligen Schweizerïnnen, die förmlich aufeinander hocken, als gäbe es kein Morgen, ist ansteckend; im doppelten Sinne.
17.
Wir werden, seit unserem Grenzübertritt am Bodensee, permanent von Autos und Fahrrädern bedrängt, die nichts davon wissen, dass ihre Lenkerïnnen im Ausland als langsam gelten. Ich nehme mir vor, alle Klischees zu beerdigen, um nicht selbst vorzeitig in der Grube zu landen.
18.
Vorsicht ist der Nachsicht nicht ebenbürtig - sie ist ihr vorzuziehen.
Solothurn, 15. Mai
19.
Der meiste, wenn nicht – seien wir ehrlich – jeder Reichtum hat verfaulte Stellen, stammt aus kontaminierten Brunnen, besteht aber hartnäckig darauf, im Lichte, unbefleckt zu sein.
20.
Das Vermögen der barocken Stadt, sagt sie, gekrönt von einer strahlenden Kathedrale, ee stammt aus weit verstreuten Schlachtfeldern, gespickt mit handlichen Gräbern. Schweizer Söldner brachten ihn mit, den nun neutralen Wohlstand, als sie, nach Mord- und Totschlag, gut bezahlt, blutbefleckt heimkehrten.
21.
Geld ist weder jungfräulich noch jungmännlich; es ist durch viele Hände gegangen, die sich, versuchsweise, gegenseitig waschen, aber den Gestank des Anzweifelbaren kaum, um nicht gleich zu sagen: niemals loswerden.
22.
Wer, wie es im Deutschen heißt, Liebe macht, erhöht und erniedrigt den Akt, scheint mir, zugleich. Ob es bessere Ausdrücke gibt, für den Moment der Lust, der Gier, der Zärtlichkeit, dem Beieinanderliegen, der Sehnsucht nach Höhepunkten, die stets und ewig im Kleinen Tod enden? Ob Ausdrücke überhaupt notwendig sind?
Solothurn, 16. Mai
23.
Die vermeintliche Höflichkeit der Unwahrheit gebiert leicht durchschaubare Lügen.
24.
Geschenke, die im falschen Rachen landen, wecken die Rachlust.
25.
Zu sprechen, frei, spontan und ehrlich, ist selten der Schriftstellerei eigen, die doch, recht häufig, eine widerkauende Kunst ist, um nicht gleich zu sagen: sein muss.
26.
Ohne Revision halten sich wenige Sätze dauerhaft am Text fest.
27.
Die Zumutung, über ein vielschichtiges Werk zu reden, gerät gelegentlich, im Über- oder Unterschwang, zur Travestie desselben.
Lenzburg, Kanton Aargau, 17. Mai
28.
Die Schweiz ist ein schönes Land. Das keines sein will.
Lenzburg, 18. Mai
29.
Im Hagelschauer hielten wir uns fest. Ich mich an dir, du dich an mir. Um nicht mir nichts, dir nichts vom Hügelweg, unweit des Fünfweiers, zu rutschen. Nach dem Hagel kam der Regen. In dicken Streifen fiel er strahlend, fiel er senkrecht auf den Wald. Wind kam auf, brüllte. Glasklare Tropfenbündel durchschlugen die engen Wipfelschichten und platschten knallend auf unsere Umarmung. Du hattest mir gerade erst Hundert Eiskörner vom dünnen Joggingoberteil gewischt. Die Wasserriemen peitschten uns, mit einer absurden Lust, einer tolldreisten Geschwindigkeit, bis wir nur noch über die Schweizer Maienzeit lachen konnten.
Lenzburg, 19. Mai, früh am Morgen
30.
Was heißt es, Schrift in den Raum zu stellen? Da ein Stelldichein per se eher unwahrscheinlich ist, steht am Anfang der Raum-Füllung wohl die Einsamkeit. Sowohl der Sätze als auch der Stellenden.
31.
Gegensätze, heißt es, zögen sich an. Besonders in der Eidgenossenschaft, die doch aus der Vielfalt ihre Kraft bezieht. Im öffentlichen Diskurs ist das allerdings derzeit kaum noch der Fall. Hier haben sie, die Gegensätze, es mehr und mehr aufeinander abgesehen. Sie lauern sich auf, scheinheilig und querschießend, wollen sich am liebsten auslöschen.
Seengen, Frauenbad, 19. Mai, am Mittag, knapp vorm Regen
32.
Die Kühle ist dem Herzen angenehm; wenn wir ihr bald entsteigen, ih entkommen können.
33.
Was ist besser als zu leben? Gleichzeitig zu lieben und geliebt zu werden.
Zürich, 20. Mai
34.
Zürich ist ein hartes Pflaster; viele Banker, die uns in den Straßen begegnen, sehen so unglücklich aus, wie sie es, vermutlich, verdient haben.
35.
Die oberflächliche Sterilität des auf Naht gebügelten Zürichs, einer Stadt, die Sauberkeit mit Kontrolle verwechselt, lässt sich von der Pandemie nicht unterkriegen. Im Gegenteil.
36.
Wer woanders viel Geld hat, hat in Zürich nicht per se das große Los gezogen.
37.
So überzeugend der neue Erweiterungsbau des wunderschön am Seehang gelegenen Museums Rietberg ist, so wenig überzeugend ist die kommentarlose Zurschaustellung des Räuberguts aus Benin, das sich als Schenkung maskiert. Erstaunlich, wie sehr das einzige Kunstmuseum für außereuropäische Kulturen in der Schweiz der Zeit hinterherhinkt.
38.
Zürich umschlingt den See wie eine goldene Kneifzange, die real estate zusammendrückt.
Lenzburg, am Morgen, im Garten des Literaturhauses, 22. Mai
39.
Die Sprache der Pflanzen ist poetisch – ohne es darauf anzulegen.
40.
Unsere Ewigkeit liegt in unserer Vergänglichkeit.
41.
Ewigkeit sei ein Garten, der blüht.
42.
Der armselige Überdruss, am Leben zu sein, hier, im reichen Garten des Aargauer Literaturhauses, hat er keinen Platz.
43.
Ich glaube an alles – was ist.
44.
Das Gemeine an der Gemeinsamkeit liegt zunächst an ihrem Anfang, aber noch viel mehr an ihrem Ende.
45.
Ewiger Frieden ist der menschlichen Existenz nicht nur fremd, er ist ihr, aus vielerlei Gründen, sogar zuwider.
46.
Wer gut ist, macht Karriere; in sich selbst.
47.
Wer viel träumt, hat ein schönes Leben. Wer wenig träumt, hat mehr im Eben.
Seengen, Frauenbad, am Nachmittag, 22. Mai
48.
Die Seele des Sees sei das Wasser, seine Freundïnnen seien die Fische.
49.
Jede wahre Stärke ist sich ihrer Schwäche bewusst – und vice versa.
50.
Etwas am Anfang zu verlieren, im Seichten, erleichtert die Chance, es wiederzufinden, im Tiefen.
51.
Jede Wärme enthält Kälte, kaum eine Kälte Wärme.
52.
Wer untergeht, weil er sich helfend einmischt, hält den eidgenössischen Optimismus des neutralen Passivismus eher für überbewertet.
53.
Die Neutralität der Schweiz ist, scheint mir, wahrscheinlich für die Mehrheit kein Ideal, sondern ein Verkaufsargument.
54.
Die Berge, die den Hallwilersee schmücken, rufen nicht, sie schweigen zurück.
55.
Mut ohne Anlass ähnelt dem Starrsinn.
56.
Allein der moralische Kompass hilft uns bei echten Richtungsentscheidungen.
Meisterschwanden, 23. Mai
57.
Auf dem Parkplatz der Seerose verlangten sie nicht nur die Parkplatznummer, sondern auch das Kennzeichen, bis wir zahlen durften. Der Wilhelm-Tell-Alles-Wahn macht mich ganz kirre. Ich nehme mir vor, seltener die ganze Wahrheit zu sagen.
58.
Nur in der Vergangenheit zu leben, sei den Toten vorbehalten.
59.
Der Schlaf sei sowohl Abbild des Lebens als auch des Todes.
60.
Wer unablässig fragt, verzichtet auf Antworten.
Brugg und Windisch, 24. Mai
61.
Auf dem Weg nach Brugg passieren wir die Habsburg, den ursprünglichen Stammsitz des gleichnamigen Adelsgeschlechts. Und wieder überkommt mich unsagbarer Ekel, wie bei jeder Burgfestung, die errichtet worden ist, um von hoch oben die da unten auszubeuten und brutal zu kontrollieren. Erstaunlich, dass die Schweizerïnnen, bekannt für ihren Eigensinn, in der Vergangenheit nicht mehr Kastelle als Steinbrüche für Schulen und Hospitäler genutzt haben.
62.
In Windisch, auf der Insel Geissenschachen, die man über die vier eleganten Metallwellen des brillanten Aarestegs Mülimatt erreicht, liegen militärische Ausbildungsgegenstände der sogenannten Genietruppen, die für die technischen Armeebauten zuständig sind, herum. Es sieht, vorsichtig gesagt, eher unaufgeräumt aus. Die Schweizer Armee ist mir auf Anhieb sympathisch. Unordnung ist ein Zeichen von Kreativität, die sich, bei Bedarf, anders organisiert.
63.
Wer spielt, hält nicht nur der Welt, sondern auch sich selbst den Spiegel vor.
Lenzburg, 25. Mai
64.
Wenn Entscheidungen anstehen, hat die Schlange viele Köpfe.
65.
Das Schlechte ist, in aller Regel, mit sich mehr im Reinen als das Gute.
66.
Wer Streit sucht, wird, auch in der Schweiz, schnell fündig; wer dem Frieden auf der Spur ist, braucht wesentlich mehr Geduld.
67.
Fruchtbarkeit ist – und ist nicht – eine Frage des Alters.
68.
Wer viel spricht, versteckt die Weisheit.
69.
Im Kleinen sei die Ungeduld nicht weniger mächtig als im Großen.
70.
Jede wahre Philosophie bleibt Rudiment.
Staufen, 26. Mai
71.
Auf dem Weg zum Hofladen, wo es Äpfel, Brot und Eier gibt, die wenig mit dem Migros-Angebot gemein haben, passieren wir erst die Feuerwehr, das größte Gebäude im Dorf, dann einen Hydranten, der gerade probehalber entwässert wird. Seit unserer Ankunft habe ich bemerkt, wie allgegenwärtig die Fürio-Kräfte sind. Im Schweizerischen Feuerwehrverband sind mehr als 100.000 Angehörige der Orts-, Berufs- und Betriebsfeuerwehren organisiert. Nun haben die Wehren, versteht sich, recht wehrhafte Wagen, groß und imposant, die, scheint mir, angesichts der rigiden Schweizer Parkraumbewirtschaftung – außerhalb des Einsatzes – nirgendwo anhalten dürfen; aber wahrscheinlich existieren, am Rande der Ortschaften, ausgewiesene Haltepunkte für Einsatzfahrzeuge, die, gegen einen Obolus, das schnelle Parkierä und damit Pausenbrot oder Austreten gestatten.
72.
Gäbe es einen Stolz-Quotienten, der sich anhand der gehissten Nationalflaggen berechnen ließe, die Schweiz läge wohl in den Top Ten.
Seengen, Frauenbad, am späten Nachmittag, 27. Mai
73.
Wer nur Erfolg hat, hat nicht gelebt. Die Nackenschläge, die ich einstecke, haben einen Vorteil: sie gehören mir, mir allein.
74.
Die direkte Demokratie der Schweiz geht, im Falle des Falles, mit der direkten Ablehnung der Welt einher. Diese Rückweisung wird als Errungenschaft verpackt, bis die Abkehr, wenigstens in der Schweiz selbst, als indirekt wahrgenommen wird – also keine Rolle mehr spielt.
75.
Die Genügsamkeit der Eidgenossenschaft beweist sich im (zu) günstig ein- und im (zu) teuer verkaufen.
76.
Das Deutsche an der Schweiz ist nicht ihre Sprache, sondern, was ich nur zu gut von mir selbst kenne, ihre moralische Selbstzufriedenheit, die sich, bei Bedarf, als geläuterte Zerknirschung präsentiert.
77.
Meine On-Laufschuhe, eine eidgenössische Erfindung, die ich außerordentlich schätze, für die ich dankbar bin, und die Schweiz selbst, die ich, versteht sich, ich will hier keinen falschen Zungenschlag aufkommen lassen, die ich ebenfalls außerordentlich schätze, mehr als das: für deren Gastfreundschaft ich dankbar bin, meine On-Laufschuhe und, falls ich das sagen darf, meine Schweiz legen mir nicht nur Geröll in den Weg, sondern beide zwingen mich auch dazu, kleine Brocken, en passant, aufzuschnappen; Steine und Steinchen, die alsbald am Fuß drücken, die mich zunächst, ich neige zur Akzeptanz einer Mitgift, die mich eine ganze Weile begleiten, bevor ich die Unebenheit irgendwann nicht mehr aushalte, bevor ich anhalte und sie, die fraglichen Geröllstückchen, die als Lückenbüßer im Schuh, in der Schweiz stecken, bevor ich sie, die Steine und Steinchen, fürderhin davon abhalte, mich zu enervieren, indem ich sie, leise fluchend, mühsam pulend – die eine Weile mitgeschleppten Kieselsteine passen übrigens nicht nur optimal in die On-und Off-Sohlenlöcher, sondern passen auch bestens zu mir, wollen sich nicht von mir trennen, sind als Ballast überaus anhänglich, halten sich, scheint mir, gar, im Sinne des Utilitarismus, für nützlich – indem ich sie also mühsam pulend, freudestrahlend, seufzend entferne.
Luzern, 28. Mai
78.
Seien wir axiomatisch: Jede Stadt hat den See, den sie verdient. Was das, falls es stimmt, über Luzern sagt? Auf den ersten Blick: eine Glücksstadt, die an ihre urbane Seele, ihre ausgezeichnete Lage glaubt, die sich Sünden vergibt, solange es die eigenen sind.
79.
Während die Temperatur stündlich steigt, entledigen sich die Luzernerïnnen ihrer Masken. Als handelte es sich um Wärme-Accessoires, die in der Frühlingssonne stören. Die pandemische Fasnacht ist offenbar in der von der Reuss pittoresk aufgespaltenen Stadt vorbei. Dass es kein Nadelwehr gibt, das man nach Covid-Belieben einfach umstellen kann? Hier werden’s die Heilige Jungfrau und die Rigi, Königin der Berge, schon richten; wie immer der Spruch am Ende auch lautet.
80.
Der Vierwaldstättersee spielt mit uns, während wir in seinem kalten Wasser schwimmen, Verstecken. Er tut in Luzern so, als handelte es sich bei ihm um einen skandinavischen Fjord; eine Attitüde, die der Translokation, die ihn, den magischen Schweizer Zentralsee, das klare Kreuz der Eidgenossenschaft, für mich, noch schöner macht.
81.
Angesichts des Totentanzes der Spreuerbrücke – der öffentlichen Sichtbarkeit der Vergänglichkeit, die selten geworden ist – kann ich mich eines Gedankens nicht erwehren: Luzern ist eine thanatologische Schönheit, alt und jung zugleich; eine Stadt, in der es sich gut sterben lässt.
Wasserschloss Hallwyl im Aabach und Seengen, Frauenbad, 29. Mai
82.
Gleichberechtigung errichtet keine Mauern, sondern reißt Grenzen nieder.
83.
Die Beschreibungen des ständig erweiterten Wasserschlosses, gelegen auf künstlichen Inseln im Aabach, das, wie die meisten Burganlagen, eine bewegte Baugeschichte hat, strotzen vor „XYZ ließ errichten“. Wem das Geld für die Festung wie abgepresst wurde und wer tatsächlich unter welchen Bedingungen gearbeitet hat, fehlt in den kunst-touristischen Texten.
84.
Wer viel will, erreicht, subjektiv gesehen, zumeist, sehr wenig.
85.
Aus dem Kreis herauszutreten und Abstand zu nehmen, zeigt, dass er, der Kreis, gar nicht existiert; jedenfalls nicht so, wie wir ihn uns vorgestellt haben. Am interessantesten ist es, wenn solch ein vermeintlicher Kreis entweder sehr klein, etwa eine Familie oder eine Firma, oder sehr groß, etwa eine Stadt oder Nation, ist.
86.
Mühe lässt sich nicht abrechnen; was nicht heißt, dass man sich keine geben sollte.
87.
Zufriedenheit ist dem Kriege fremd. Selbst ein siegreicher weckt unstillbare Rachegelüste, von einem verlorenen Krieg ganz zu schweigen.
88.
Intelligenz weiß um die eigenen Fehler, Klugheit überwindet sie.
89.
Niemand, der glücklich liebt, denkt freiwillig ans Sterben.
Lenzburg, sehr früh, 30. Mai
90.
Wer allein sein will – oder muss –, nutze das Morgengrauen, welches sich, im Gegensatz zu seiner weltläufigeren besseren Hälfte, der Abenddämmerung, sowohl weniger ans Vergangene klammert, als auch geringere Angst vor der Nacht verspürt.
91.
Ich schlucke das Bedürfnis, mich zu übergeben. Während die Vögel, die mit mir wach sind, die hier, im großen Garten des Aargauer Literaturhauses, ein Garten, der mehr ein Park ist, die hier in einer frohgemuten Menge vorhanden sind, während die Vögel ihr Singbestes geben. Ich vergebe nicht nur meiner Übelkeit, kein Dasein kommt schließlich ohne Brechreiz aus, manchmal scheint mir sogar, dass der Brechreiz wenn schon nicht das edelste Zeichen des gekränkten Denkens, so doch Teil der Rebellion gegen die adrett frisierte Abscheulichkeit des fadenscheinigen Lebens ist, ich vergebe also nicht nur meiner Übelkeit, sondern gebe mich ihr geradezu hin. Die Blumen des Bösen, sie duften beinahe vornehm. Ich stecke, probehalber, meine Nase hinein. Man muss, ist es nicht so?, seine Gegnerïnnen schließlich kennen. Nicht zu gut, um sich nicht über kurz oder lang gemein zu machen, aber so gut es eben geht.
92.
Jede Furcht sei mit der Losigkeit verbändelt.
93.
Lust ist eines der Gefühle, das sich nur schwer ablenken lässt.
Zürich, am Nachmittag und frühen Abend, rund ums Bahnhofsviertel, 30. Mai
94.
Die Gentrifizierung macht selbst vor der ehedem notorischen Langstrasse nicht halt. Was aus dem Multi-Kulti-Rotlichtbezirk wird, der zwar nicht romantisiert werden soll, natürlich nicht, der aber eben auch in der Schweiz als urbaner Ort mit einer außergewöhnlichen Geschichte kaum seinesgleichen hat? Wahrscheinlich, die Zeichen sind lesbar, ein aufgepeppter Totschlichtbezirk, in dem des Nachts das Betongold leuchtet.
95.
Der Negrellisteg überspannt das Gleisfeld wie eine aus dem Himmel gefallene schmale Zahnspange - wahrlich eine besondere Erscheinung, gerade nach Sonnenuntergang. Sowohl die Außenseite der eleganten Liftturmfassade als auch die wellenförmige Brüstung der Brücke leuchten lächelnd am Tage und in der Dunkelheit. Der Stegschlag zwischen den Kreisen 4 und 5 macht die gewaltige Gleisschneise zwar nicht schöner, die wie ein gutartiges Verkehrs-Geschwür Zürich aufreißt, aber weckt die Lust am Luftwandern; was auch schon was ist.
96.
Zürich wächst an den Rändern, als gäbe es keinen nachhaltigen Plan für die platinierte Mitte.
97.
Die Stärken einer Stadt dürfen nicht nur in der Vergangenheit liegen. Was nicht heißt, dass die Gegenwart als Straßen- und Platzhirsch mit ihr macht, was sie will.
98.
Bausünden erlauben keine schnelle Absolution.
Zürich, Thomas-Mann-Archiv und Hiltl am Strand, 31. Mai
99.
Bücher, die uns geprägt haben – in diesem Fall Doktor Faustus, Joseph und seine Brüder und Der Zauberberg –, bleiben, auch wenn wir uns von ihren Verfasserïnnen entfernen, mit uns auf eigentümliche Art und Weise verbunden; wobei die Kunst, scheint mir, mehr zählt als die Weisheit.
100.
Der muffige Geruch der Mann’schen Privatbibliothek, die hoch am Hang der ETH Hönggerberg ihre Zürcher Heimat gefunden hat, riecht nach falscher Ewigkeit. Der Tod hat der Zeit einen Riegel vorgeschoben. Wer hier keine Vanitas-Gefühle entwickelt, kennt keine.
101.
Was Arbeit ist? Beantworten würde ich das gerne mit einer Gegenfrage: Was ist Geld? Vielleicht, brechen wir's herunter, die Beziehung zwischen uns und der Welt, oder sagen wir lieber: einen mehr oder minder maßgeblichen Teil der geltenden Welt.
102.
In Gott suchen wir doch, sind wir ehrlich, immer zuallererst uns selbst. Und da Gott, bekanntermaßen, ziemlich tot ist, finden wir eine metaphysische Leiche, die uns mit ihrer unbotmäßigen Lebendigkeit nicht nur die Vernunft besudelt, was schon einiges an Saubermachgeduld braucht, sondern auch hartnäckig darauf besteht, uns ewig und drei Tage als kulturelle Ausstechform, in der wir angeblich stecken, zu begleiten. Wie ich jetzt darauf komme? Mir fällt gerade ein, während ich in der Gesamtausgabe blättere, dass Thomas Mann in Der Erwählte den Papst in spe in der Gestalt eines Murmeltieres auftreten lässt. Eine Kreatur, die sich einen ausgiebigen Winterschlaf genehmigt. Vielleicht wäre das ein Kompromiss: Der heilige Geist der Weltenerzählung lässt uns regelmäßig einige Monate allein, damit wir klare Gedanken fassen können.
103.
Fast jede Möglichkeit beengt andere Möglichkeiten – ist die Beengung ausgeschlossen, handelt es sich um eine Chance.
104.
Ein Überfall, von uns initiiert, behandelt die anderen, was wir gerne verdrängen, als Abfall.
Seengen, Frauenbad, 1. Juni
105.
Die Ungeduld – wohlgemerkt: eine maßlose; über die maßvolle kann man geteilter Meinung sein, sie sogar, im gewissen Sinne, goutieren –, die Ungeduld der Schweizer Autofahrerïnnen geht mir nicht aus dem Kopf. Je länger ich in der Eidgenossenschaft am Steuer sitze, über wunderschöne Landstraßen fahre, gefährliche Wege mit allerlei engen Nadelkurven, mit stolzen Höhenunterschieden, desto weniger erschließt sich mir weder das, Pardon, Rabaukentum, noch der Jagdinstinkt. Ich fahre aus Gründen der Nachhaltigkeit und weil Berlin flach ist, einen, zugegeben, untermotorisierten Kleinwagen. Das dürften alle Dränglerïnnen ad hoc bemerken, verändert aber nicht ihre Toleranzschwelle. Klar ist auch, das Nummernschild verrät, dass wir nicht von hier sind. Was offenbar eher eine magnetische Wirkung auf die nachfolgenden Autos hat. Ich kann im Rückspiegel problemlos die Wutperlen auf der Stirn der Enervierten sehen. Mein Verbrechen? Ich bin auf den steilen Strecken nicht rasant genug. Meine Vorsicht wird als Absicht, sie unnötig aufzuhalten, interpretiert. Der überall in der Schweiz auf Stellwänden propagierte Respekt? Auf den Hügelstraßen ist er eine Lachnummer, eine zynische.
106.
Von Texten erhoffe ich mir, dass sie Richtungswechsel vollführen; das Lineare, es beinhaltet eine Nebenwirkung, die bald eintritt, die der Langeweile.
107.
Gedanken, die nicht kreisen, kriegen nicht die Kurve.
Lenzburg, im Garten, 2. Juni
108.
Intellektuelle Abenteuer sind nicht billig zu haben – sie kosten Gewissheiten.
109.
Wer von sich zu überzeugt ist, übersieht Details – zeugt also eher nicht als Zeugïn.
110.
Hoffnung lügt sich, mit Glück, nur in die eigene Tasche.
Lenzburg, Bahnhof, 3. Juni
111.
Die Maske, ein Lübecker Spezialprodukt, setzt ihre Marker. Nach kurzer Zeit sehen unsere Gesichter wie ein Delta voller Furchen und Rinnen aus. In der Fremde ist mir, der ich, irgendwie, doch auch Hansestädter bin, unabhängig und halsstarrig, kultiviert und marktschlau, in der Fremde ist mir die Heimat nah – sie schneidet mir ins Fleisch.
112.
Wenig missfällt uns mehr als der Ort, an dem wir aufgewachsen sind, der uns geprägt hat, den wir, Hals über Kopf, verlassen haben, mit einem glücklichen Glucksen und zufriedenen Grinsen. Irgendwann dreht sich der Spiegel. Wir erkennen, dass wir es sind, die dem Ort, der Heimat, missfallen. Wir erkennen, dass wir davon überrascht sind, wie sehr uns solch eine Zurückweisung kränkt.
113.
Es ist leicht, abzulehnen. Schwer, abgelehnt zu werden.
Basel, früher Nachmittag, De-Wette-Park
114.
Der Rhein, 500 Meter von uns entfernt, den ich, allen Ernstes, riechen kann, der Rhein, verglichen mit der Aare oder der Reuss, sagen wir’s ungeschminkt: er ist kein ungetrübter, kein schöner Fluss. Die Geschichte hat ihn kontaminiert. Zum harschen Grenzenzieher in Europa gemacht. Ein leidiger Strom, der das Blut der zerstrittenen Anrainerïnnen getrunken hat. Wieder trinken würde, käme ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Dass Basel den größten Hafen der Schweiz hat, verleiht dem Rhein hier, im Dreiländereck, eine überaus nützliche Bedeutung. Utilitarismus und Schönheit, sie sind allerdings schwierige Bettgenossen.
115.
Ein Fluss ist nur sich selbst treu. Seine Untreue macht ihn wohl erst zu dem, was er ist: Eine ewige Attraktion, die sich, auf Dauer, jedweder Abspeisung erfolgreich widersetzt.
Im Zug nach Berlin
116.
Die Sehnsucht nach der Schweiz überrascht mich. Ich vermisse die Andersartigkeit. Eine Verschiedenheit, die den Schweizerïnnen selbstverständlich bewusst ist. Sie wissen besser, wer sie sind, als sie’s uns, ihren Gästen, eingestehen. Ihre Naivität existiert nur auf den allerersten, sehr oberflächlichen Blick. Die Schweizerïn ist eine Meisterïn des Versteckens. Sie gibt wenig von sich preis, aus Prinzip – und weil sie das Beste für sich behalten will.
117.
Die Schweiz ist ein Weinland – kein schlechtes. Was außerhalb der Schweiz wenige wissen, da die Schweizerïnnen nahezu ihre gesamte Ernte selbst trinken.
Berlin, 4. Juni
118.
Warum wir quer durch Länder reisen, zehn Stunden im Zug sitzen, um geimpft zu werden? Weil es symptomatisch für unseren kleingeistigen Kontinent während der Pandemie ist. Einer Zeit, in der sich Schranken lange eisern gesenkt haben, nationale Egoismen aus den historischen Gruselkellern gesprungen sind – als wären wir nicht alle gleich. In Krisenzeiten zeigt sich, was Bündnisse wert sind.
119.
Soziales Kapital privilegiert. Ob mir das gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Auch wir profitieren vom gesellschaftlichen Embedded-Sein. Außerdem: Die gebotene Impf-Chance abzulehnen, wäre fahrlässig. Je weniger ich als Ansteckungsherd in Frage komme, desto anständiger fühle ich mich als homo politicus. Die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, ist, im Kern, keine egoistische, sondern eine altruistische Frage. Wobei klar ist: Die Möglichkeit der Impfung muss allen Menschen auf der ganzen Welt gleichberechtigt offenstehen.
7. Juni, Berlin Mitte
120.
Die Idee, sich im Zentrum aufzuhalten, dort, wo es, das vermeintlich Wichtige, passiert, diese Idee, die im Namen des Berliner Stadtteils, in dem wir leben, geradezu mittelpunkt-gleich festgeschrieben ist, sei, sagt mir das Begehren, sei ein Zustand, der zu häufig die Oberhand gewönne. Solch eine zentralistische Verankerung sei nicht nur per se Humbug, sondern auch in diesem speziellen Augenblick des Hallwilersee-und Lenzburger-Garten-Begehrens Nonsens. Sich zu sehnen, sei nicht zu verurteilen. Gerade nicht, wenn sich etwas plötzlich herauszögert, was eigentlich schon hätte sein können. Das in Gedanken bereits halbwegs Vollzogene, sagt das Begehren, teile die Menschheit übrigens in zwei höchst unterschiedliche Mengen, die sich so gut wie niemals überschnitten: Entweder die Lust aufs Angedachte lasse radikal nach, verflache geradezu, weil man sich schon alles ausgemalt habe, oder die Lust darauf steige extrem an, weil man wisse, dass die Vorstellung von etwas nur eine schattengleiche Verstellung des Echten sei.
121.
Wer sich schämt, Leidenschaft zu zeigen, verlernt sie; oder wenigstens den Ausdruck derselben.
122.
Geimpft zu werden, gleicht solange einem Glückskeks, bis wir ihn aufbeißen und entdecken, dass die in ihm schlummernde Botschaft ein medizinischer Beipackzettel ist, der beachtliche Nebenwirkungen prophezeit, von denen sich, in unserem Falle, eine Thrombosechance als theoretisch möglich erweist.
123.
Der Körper gibt ab und an – oftmals in den entscheidenden Momenten des Seins – die Richtung vor. Der Fähr-Geist versucht, auf der feststehenden Route, die suddenly auftauchenden Hindernisse einigermaßen effektiv zu umkurven.
8. Juni, sehr früh, im Zug von Berlin nach Basel
124.
Dass die Schweizer Botschaft in Berlin, heutzutage gleich neben dem Kanzleramt, direkt am Spreebogen gelegen, weit und breit das einzige Gebäude war, das den Bombenhagel während des 2. Weltkriegs einigermaßen überstanden hat, erstaunt. Wer hatte welches Interesse daran, die bereits evakuierte Botschaft der Eidgenossenschaft auszusparen? Abgesehen davon hat mich die vergangenen Jahre stets die Lust der diplomatischen Schweizerïnnen an ihrem Sommerfest im Regierungsviertel beeindruckt: Es wurde rauschend, zuverlässig, präzise geplant wie ein Uhrwerk aus Schaffhausen, eine Partnerschaft gefeiert, die wenige Reibungen, aber viel Reibach kennt.
9. Juni, Seengen, zurück am Hallwilersee
125.
Selbstmitleid hilft weder dem Erbarmen noch dem Selbst.
126.
Ob das Geld in der Schweiz eine so große Rolle spielt, weil (fast) alles so teuer ist? Oder ist alles so teuer, weil das Geld eine so große Rolle spielt? Die Naivität beider Fragen ist, versteht sich, gewollt, weil, seien wir ehrlich, die Komplexität des Geldes selbst auf einer einfachen Schimäre beruht, die ganz und gar nicht auf der Austauschbarkeit von Waren fußt, sondern der des Profites. Gehortete Gier, das ist, im übelsten Falle, das Geld.
127.
Wer Teenager nicht wenigstens ein wenig beneidet – gerade himmeln sich zwei Jungen und zwei Mädchen im Frauenbad coram publico an –, hat ein beneidenswertes Verhältnis zum Tod.
10. Juni, Weggis, Hertenstein
128.
Die Mutwilligkeit der Schönheit hängt an ihrer Seltenheit, aber noch mehr am Unverstand, dass das Pendel des Zufalls in eine andere Richtung hätte ausschlagen können. Wer den Geburtszufall (wo bin ich wie, wann und mit welchem Geschlecht auf die Welt gekommen?) als angestammtes Privileg betrachtet, bettelt regelrecht darum, verachtet zu werden.
129.
Besitzt die Hässlichkeit Intelligenz, wird sie entweder sehr gehasst oder sehr geliebt.
130.
Wir schlingen, schlingen, schlingen – und können uns doch an der Schönheit des Vierwaldstättersees nicht sattsehen.
131.
Die Anhänglichkeit der Wolken, die sich an die Berge, Pilatus vor, Regis hinter uns, wie an Liebhaberïnnen schmiegen, berührt mich. Dass Wolken einen See meiden, der doch, im gewissen Un-Sinne ihresgleichen und eine andere Art von Beweglichkeit symbolisiert, scheint mir folgerichtig zu sein.
11. Juni, Weggis, Hertenstein
132.
Die Strömung im Vierwaldstättersee ist so stark, dass wir uns anstrengen müssen, um nicht um die Ecke gezogen zu werden - passenderweise in die Sündenbucht. In solchen Momenten denke ich oft an die Ähnlichkeit im Englischen zwischen current und currency. Währungen üben einen starken Sog aus, gegen den man schwer anschwimmen kann.
133.
Wer an sich selbst zweifelt, schwimmt nicht unbedingt schlechter, aber kürzer.
144.
Jede Abstraktion, auch die überzeugendste, kämpft mit der Vergegenständlichkeit, die ihr, sorglos, aufgezwungen wird.
145.
Der Gegenstand hat mehr Probleme mit dem Nichtgegenstand als umgekehrt.
146.
Die Idee ist häufig mit sich selbst glücklicher als mit ihrer Umsetzung, die doch immer eine Veränderung ihres Wesens und nicht zu selten ihre Vernichtung darstellt.
147.
Änderungen mögen Änderungen, wenn sie sich von ihnen selbst fernhalten.
148.
Kontinuität ohne Änderung, wie sie in der Schweiz hauptsächlich gepflegt wird, sei Stagnation.
149.
Ob die Selbstgenügsamkeit der Schweiz etwas mit ihrer Schönheit zu tun hat?
12. Juni, Seengen
150.
Wir vergleichen, was ist, mit dem, was war – viel seltener: was sein könnte. Obwohl die Möglichkeiten der Vergangenheit höchst eingeschränkt sind, fordert sie grenzenlose Aufmerksamkeit wie ein Neugeborenes.
151.
Keine Zeit zu haben, ist dem Menschen ureigen, jedenfalls auf Dauer. Dass die Schweiz die Heimat der präzisen Uhrwerke ist, also der Ort, der sich der Kontrolle der Zeit verschrieben hat, trotz der unabdingbaren Vergänglichkeit der Zeit, die sich zwar messen, aber nicht besitzen lässt, hinterlässt, zwangsweise, eine Spur im eidgenössischen Wesen.
13. Juni, Zürich
152.
Die Mieten in der heimlichen Hauptstadt der Schweiz sind unerschwinglich. Für kleine Wohnungen werden Riesensummen verlangt; es scheint normal zu sein, dass die Hälfte des Verdienstes für die nicht-eigenen Vierwände aufgewendet werden müssen. Dass Zureich rot-grün regiert wird, führt offenbar nicht zu einer rot-grünen Politik, die irgendein Interesse am Bestandsschutz oder einer Chancengleichheit in den zentralen Vierteln hat. Bankerïnnen verbunkern sich, Normalverdienerïnnen ziehen die (Reiß)Leine, verlassen die Stadt oder leben bescheiden in einer ganz und gar nicht bescheidenen Finanzhochburg. Bleibt die Frage: Warum die Züricherïnnen bei den Kommunalwahlen diesen, vermeintlich, sozialen Parteien überhaupt ihre Stimme geben? Warum wählen sie nicht gleich konservativ? Und warum gibt es in der Verdrängungsmetropole keine Neugründung einer links-sozialen Partei, die’s ernst mit ihren lauteren Parolen meint?
153.
Wir sitzen im sogar Theater – das erste Mal seit Ewigkeiten erleben wir wieder eine Aufführung live. Und fühlen uns gleichzeitig sehr wohl und sehr unwohl. Wie man mit anderen zusammen atmet, in einem geschlossenen Raum, stellt sich als Kulturtechnik heraus, die der Übung bedarf. Die Selbstverständlichkeit, sie ist dahin, jedenfalls auf weiteres. Dass die meisten Schweizerïnnen, denen wir begegnen, eher lässig mit der Pandemie umgehen, verwundert uns, besonders angesichts der unverhältnismäßig hohen Todeszahlen in der (L)Eidgenossenschaft.
14. Juni, Seengen, zu Fuß auf dem Weg zum See
154.
Die Schönheit dieses Erdfleckens ist, für mich, je öfter wir den leicht abfallenden Pfad Richtung Wasser gehen, nicht selten mit Fernblick auf die Alpen, vorbei am moorigen Naturschutzgebiet und den Wildblumenwiesen, meine Schweiz – falls ich das sagen darf. Die kurze Strecke vom Parkplatz bis zum Frauenbad ist hier, mitten im Seetal, nichts Besonderes, kein Weg, der in irgendeinem Reiseführer auftauchen würde. Und dennoch wohnt diesem zehnminütigen Spaziergang ein Liebreiz inne, der mich erdet, mich beruhigt, Schwer- durch Übermut ersetzt. Plötzlich verstehe ich, dass der Begriff Schweiz, den sich viele Gegenden als Anhängsel angeeignet haben, etwa Holsteinische Schweiz, eine Aspiration darstellt, die weit über das Geographische hinausgeht. Die Schweiz ist ein gesegnetes Land, wo der Haussegen, aus verschiedensten Gründen, erstaunlich schief hängt.
15. Juni, Lenzburg
155.
Der gestrige Tag war heiß, die Nacht darauf wiederum ordentlich kalt – mit dem Resultat, dass die überdüngten Felder, die um das Städtchen herumliegen, morgens regelrecht furzen und heute früh derart mächtig nach chemischen Fertilizer stinken, dass wir lieber die Fenster geschlossen halten. Dass die Schweizer Stimmbevölkerung gerade zwei Agrarinitiativen krachend abgelehnt hat, erstaunt mich. Die Trinkwasser- und die Pestizid-Initiative wurden mit 60,7% respektive 60,6% aller Stimmen verworfen. Bis auf den Kanton Basel-Stadt stimmten alle anderen Kantone gegen eine Grünere Landwirtschaft. Mit dem Geruch der eigenen Wohnung, wir alle wissen es, verhält es sich eben so, dass wir ihn irgendwann nicht mehr wahrnehmen. Wir merken halt nur, wenn es bei den Nachbarïnnen streng riecht.
16. Juni, Lenzburg, im Müllerhaus
156.
Der Gast eines Gastes zu sein, was ich derzeit in der Schweiz bin, macht uns entweder zu einem vernachlässigten Mitbringsel, stell die Blumen bitte vor die Tür, ich leide an Heuschnupfen, oder zu einem Amuse-Bouche, einem Extrahäppchen, das sich stets auf Neue beweisen muss, von ihm ist schließlich nichts bekannt, es wurde nicht geordert. Diese Appetizerrolle hat einige Vorteile, man wird wölfisch verschlungen, aber eben auch einige Schattenseiten, das Interesse, falls es überhaupt existiert, verklingt rasant. Bei mir, der ich diese Partie routiniert spiele, überwiegt das Vergnügen, beobachten zu können, ohne zu sehr beäugt zu werden. Ich bereise die Schweiz quasi im Huckeback-Modus Vivendi. Die Übereinkunft, als Gast – und im verstärkten Maße als Gast des Gastes – anwesend nicht anwesend zu sein, also klaglos zu zahlen, ohne zusätzliche Wünsche zu äußern, sich stillschweigend zu fügen, den angewiesenen Platz nicht zu verlassen, wird überall auf der Welt von Einheimischen goutiert. Hier, in der Schweiz, scheint mir, eine Vermutung, die sich täglich verstärkt, hier ist dieses passive Gastspiel allerdings besonders beliebt. Das Besitzstandwahren ist der Eidgenossenschaft in Fleisch und Blut übergegangen. Das inoffizielle Landesmotto Unus pro omnibus, omnes pro uno – einer für alle, alle für einen – klingt zwar weltläufig, ist es aber nicht. Das Schweizer omnes ist ein Schweizer alle(in).
17. Juni, Seengen, von Seerosen geschmückte Uferzone des Hallwilersees
157.
Das warme Wasser macht uns ein Geschenk, auf das wir gerne verzichtet hätten. Die Larven, als Zerkarien bekannt, von Saugwürmern der Gattung Trichobilharzia suchen im See nach Wirten – meistens wären das Enten. Wenn keine Wasservögel da sind, tun’s auch Schwimmerïnnen. Rote, mit eigenartiger Flüssigkeit gefüllte Quaddeln, die verlockend jucken und, etliche Tage später, in roughe Papeln übergehen, werden durch die Zerkarien hervorgerufen. Da man die Attacke nicht sofort im See bemerkt, es dauert rund zehn Stunden, bis sich die Eiterpusteln bilden, gibt es keine Chance, den Schmarotzern zu entkommen. Bleibt die Frage, warum wir, obwohl uns heute früh eine freundliche Schweizerin erzählt hat, dass es sich bei unseren „Stichen“ nicht um Moskitoattacken handelt, dennoch wieder in den See gestiegen sind? Weil wir glauben, dass uns die Larven nicht ein weiteres Mal belästigen? Weil wir dem Wasser nicht widerstehen konnten? Weil unser Körper, der sich aufs Schwimmen eingestellt hatte, den Verstand ausgeschaltet hat? Dass Wissen nicht immer reicht, um eine Veränderung zu bewirken, hier, im Seetal, zeigt sich erneut die Wahrheit dieser unangenehmen Einsicht.
18. Juni, Lenzburg
158.
Die Schweiz hat den Vorteil, jedenfalls in einigen Landesteilen, bei den Europameisterschaften im Fußball, wenn ich das so sagen darf, gegen sich selbst anzutreten. Eine deftige Niederlage gegen Italien dürfte südlich der Schweizer Alpen, im Tessin, als Glanzleistung gefeiert werden; ob diese Feiern von Wehmut durchzogen ist, weil man immer der kleine Fußballbruder geblieben ist, sei dahingestellt. Lieber ein Bruder als ein Erzrivale. Und ja: Ein vergifteter Vorteil bleibt dennoch ein Pluspunkt, solange der Schadstoff in absehbarer Zeit abbaubar ist.
20. Juni, Bern
159.
Bern ist wie die Schweiz: behütet, an den Ecken etwas rough, gleichzeitig groß und klein – und mit einer Landschaft gesegnet, die ekstatisch dem Statischen entwischt.
160.
Dass der Reichtum dieser Stadt, Pars pro toto für die ganze Schweiz, aus der Welt herausgepresst worden ist, sowohl legal als auch illegal, wollen wenige Bernerïnnen wahrhaben. Vielen reicht es, dass sie die Früchte des Wohlstandes vorfinden und permanent pflücken dürfen. Vermutungen anzustellen, die unbequem sind, die globale Rolle der Eidgenossenschaft von allen Seiten beleuchten, wird als Nestbeschmutzung betrachtet, also lieber, weitgehend, vermieden. Ich frage mich, ob ein ganzes Land solch eine Maskerade unbeschadet aushalten kann. Aber, ein großes Aber, diejenigen, die’s wissen wollen, denen wir dankenswerterweise begegnet sind, die uns durch Bern geführt haben, die wiederum wissen von all diesen Sachen schließlich sehr genau Bescheid. Im Detail zu wissen – positiv gesagt – vereinzelt, grob zu wissen, schafft eine nationalistische Gemeinschaft.
161.
Wir schwimmen, gastfreundlich behütet, in der aufgewühlten Aare. Gleich neben dem Lorraine-Bad, das, nach einem heftigen Gewitter, geschlossen hat. Beim Tauchen höre ich den Fluss, der rauscht und rasselt. Geschichten schleifen über die Flussbettsteine. Storys der Lust und des Verlusts, des Niedergangs und Aufstiegs. Ich kraule gen Ufer, greife das Metall am Austritt, die Aare klammert sich an mich, ich sage ade, lasse sie zurück, entsteige dem Wasser, klatsche, während der nächste Sturm naht, mit meinem neuen Schwimmfreund ab, bin sehr glücklich, am Leben zu sein.
21. Juni, Thun
162.
Ich muss etwas gestehen: Es gelingt uns in neun von zehn Fällen nicht, wenn wir einen Ort verlassen möchten, auf Anhieb die richtige Autobahnauffahrt zu finden. Uns scheint es, dass unter gar keinen Umständen die nächste größere Stadt – meistens unsere Destination – auf den Schildern annonciert wird. So irren wir perplex durch Stadtrandbezirke. Kurven. Üben U-Turns. Halten irgendwo an. Brüten über Karten. Ja, unser Kleinwagen hat kein GPS. Machen uns gegenseitig spöttische Vorwürfe. Auch weniger spöttische. Seufzen. Weinen etwas, bis die Tränen versiegen. Sind erschöpft. Trinken den Wasservorrat leer. Schlingen die Reisestullen herunter. Brechen wieder auf. Versuchen, in den Beschriftungen ein System zu entdecken. Rätseln, ob's den Schweizerïnnen reicht, wenn sie sich zurechtfinden.
22. Juni, Thun, am Morgen, nach einer eher schlaflosen Mittsommernacht
163.
Wer behauptet, in allen Lagen eine Selbe, ein Selber zu sein, belügt sich selbst.
164.
Ruhe existiert, wenn alles zusammengezählt ist, nur im Inneren. Und dort macht sie die meisten von uns kirre.
22. Juni, Brienzersee
165.
Hier, im idyllischen Iseltwald, gibt es sie noch: Alternativen. Jedenfalls auf der am Wegesrand prominent angeschlagenen Speisekarte eines Vier-Sterne-Hotels, auf der tote Tiere en masse zur letzten Parade geleitet werden. Gemüsegerichte, zwei an der Zahl, werden als „vegetarische Alternative“ angeboten. Da ich mich seit über 30 Jahren fleischlos ernähre, dürfte ich am Brienzersee als alternativer Methusalem gelten.
23. Juni, Oeschinensee
166.
Während ich im Bergsee schwimme – übrigens etwas zu lang, nachher werden meine Glieder schlottern –, unterhalte ich mich mit einem Schweizer, der mit seinen beiden kletternden Söhnen, drei und vier Jahre alt, am Ufer steht. Seine Frau kümmert sich, einige Meter entfernt, um ein Neugeborenes, wiederum ein Junge, wie der Vater, auf meine Frage hin, lächelnd erklärt. Dann sagt er: „Viel Arbeit für meine Frau.“ „Und für Sie“, sage ich. „Ja, jetzt, während der Pandemie, im Homeoffice“, sagt er.
167.
Wir blicken vom Bett aus auf die Berge und den See, während die Wolken tiefer sinken und uns das Gefühl geben, wir säßen im Flugzeug und flögen durch eine Regenfront. Ein eigenartiger Eindruck, sehr schweizerisch, vielleicht: gleichzeitig abgehoben und gelandet zu sein.
168.
Der Kellner öffnet den Hahn am Tresen, füllt die Karaffe, stellt sie auf unseren Tisch. Auf der Rechnung: Ein Liter Oeschinerseewasser, 6 Franken.
24. Juni, auf dem Weg nach Leukerbad
169.
Der Lötschberger Eisenbahntunnel zwischen Kandersteg und Goppenstein, die Verbindung zwischen dem Berner Oberland und dem Wallis, verblüfft uns nicht nur mit seinem Alter, sondern auch damit, dass er repariert wird, während weiterhin Auto-, Personen- und Frachtzüge durch ihn rattern. Wir, die wir im Wagen sitzen, während der Zug uns durchs Gebirge zieht, staunen über die Entschlossenheit der Arbeiterïnnen, das eigene Leben als Kontinuität anderer Leben zu betrachten. Ob diese Widmung angemessen honoriert wird – und zwar nicht nur, aber eben auch finanziell?
25. Juni, Leukerbad
170.
Wer selbst redet, wohlgemerkt: einen Tick zu viel, hört weniger, als möglich und gut wäre.
171.
Ich erkenne, dass ich selbst mehr verdauen muss, als ich mir, dank der abwechslungsreichen Schweiz, erlaubt habe. Ob die Sicht der Dinge durch die eigene Betrübnis sich verengt? Eine rhetorische Frage.
172.
Vom Nachtessen auf dem Torrent-Gipfel kommend stockt die Gondel, in der sich, mit uns, 30 Menschen befinden. Wir blicken ins erleuchtete Tal. Denken beide, wie wir uns später gestehen, ans Nicht-Erledigte. Ein winziger Vanitas-Moment, der eine Vorahnung vom Totenbett gibt. Werde ich mich einst nur fragen, was ich nicht geschafft habe? Oder werde ich mich daran erinnern, was mir, mehr oder minder, gelungen ist?
26. Juni, Leukerbad
173.
Geduld mit Duldsamkeit zu verwechseln, hat schon mancher Beziehung schweren Schaden zugefügt.
174.
Wie definiert sich Erfolg? Als Adjektiv, das auf reich endet? Als Substantiv, das mit V beginnt und mit ung endet? Oder in absentia?
175.
Leukerbad liegt am Ende der Fahrbarkeit, was die Erfahrbarkeit der (Un)Endlichkeit erhöht.
176.
Die kleine Stadt, deren Herzschlag vom Tourismus bestimmt wird, leidet, sichtbar, an Rhythmusstörungen. Beton bröckelt, Geschäfte sind geschlossen, die Hoteliers, sagt ein Fahrer, der die Festivalgäste zum Ort bringt, seien zum ersten Mal freundlich. Leukerbad ahnt zwar, was es nicht mehr ist, aber es weiß nicht, wie es wieder Fuß fassen soll. In den Gesichtern der Einheimischen wohnt ein fragiles Lauern, das mir unheimlich ist; wahrscheinlich, weil ich mich in ihnen erkenne.
27. Juni, Leukerbad
177.
Wird das Kosmopolitische provinziell, verliert es nicht auf der Stelle seine Weltläufigkeit, aber alsbald die Perspektive und schließlich, nicht zu selten, den Verstand. Was passiert, wenn das Provinzielle kosmopolitisch wird? Zunächst nichts, da es unbemerkt bleibt. Dann entstehen Spielarten des Totalitarismus.
178.
Auf den Weg ins Tal rollen wir. Ich lege den vierten Gang ein, um in den Nadelkurven abzubremsen. Der VW-Van hinter uns küsst unsere Stoßstange. In Inden lasse ich die Ungeduld passieren und folge ihr. Sie ist nicht schneller als wir.
179.
Wir tuckern auf der Autobahn durch die französische Schweiz, die uns, Pardon I, sehr an die deutsche Schweiz erinnert. Auf den ersten Blick, versteht sich. Es gibt Berge, Täler und Seen. In den Dörfern und Städten stehen Kirchtürme, etliche Häuser sind mit Holz verkleidet. Sprächen die Schilder nicht französisch mit uns, wir wähnten uns in der Nähe Luzerns oder Berns. Was, Pardon II, tatsächlich stimmt.
28. Juni, Lenzburg
180.
Während des Gewitters spritzen wir uns mit dem Gartenschlauch nass. Und lachen hysterisch. Das Wasser ist eiskalt. Ich dusche die Goldfische im Teich. Wir sind wieder daheim; transitorisch, versteht sich. Dennoch: Zuhause.
181.
Zugehörigkeit ist eine Entscheidung, die man auch allein treffen kann. Was dieser einsame Entschluss beim Gegenüber auslöst, hängt, häufig, von der Entfernung ab. Erstaunlicherweise schafft Nähe, die auf Respekt fußt, Toleranz. Während größere Distanz einen Abwehrreflex auslöst, dessen Irrationalität sich gerne mit Wut paart.
182.
Ich stehe im Kreuzfeuer, weil ich gesagt habe, was ich denke. Ehrlichkeit wird offenbar am ehesten goutiert, wenn sie nicht die eigenen Fehler aufdeckt.
183.
Das Hupen glücklicher Schweizerïnnen – das Eidgenossenteam hat Frankreich bei der EM im Elfmeterschießen abgezockt – hält uns wach. Wir lauschen dem Konzert, das gar nicht aufhören will, und fragen uns, was passierte, wenn es tatsächlich um etwas ginge.
29. Juni, Seengen, Frauenbad am Hallwilersee
184.
Gelbe Seerosen geleiten uns ins Wasser. Wir werden auf der Stelle ruhig. Der See ist so sauber, dass ich viele, viele Meter die Stängel der Seerosen im tiefen Wasser sehen kann. Ein Urwald des Glücks.
185.
Mir wird erst hier, in der Schweiz, richtig klar, was ich mit meiner Kündigung, dem recht späten song of myself, angestellt habe. Das Hiatus-Leben guckt mich an, kneift und beäugt mich, nickt und korrigiert, krempelt mich um. Es kommen Sachen zum Vorschein, die stets vorhanden gewesen sind, nun aber erst allmählich sichtbar werden. I contain multitudes, um mit Walt Whitman zu sprechen. Was zwar einerseits eher anregend, andererseits auch anstrengend ist.
186.
Jeder Versuch darf missglücken, sogar mehrmals. Stellt sich allerdings heraus, dass die Fähigkeiten fürs Glücken hinten und vorne nicht reichen, sollten wir nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag an weiteren Anläufen festhalten. Der Abbruch ist dem Zusammenbruch vorzuziehen.
30. Juni, Staufen und Lenzburg
186.
Seit einiger Zeit kaufen wir nun schon in den Schweizer Farmläden ein, die häufig, nicht immer, auf die Bezahlehrlichkeit der Kundïnnen vertrauen. Es ist ein überaus angenehmes Gefühl zu wissen, dass auf dem Land Vorschusslorbeeren im Angebot sind.
187.
Ich bin überrascht, wie viele Schweizer – bislang nur Männer – es gibt, die mich, seit ich einen kritischen Artikel über das Kunstmuseum Solothurn geschrieben habe, beleidigen, ohne mich zu kennen. Dass der Essay an sich als Diskussionsgrundlage dienen sollte, auch so verfasst ist, wird verdrängt.
188.
Hass ist sicherlich der Vater etlicher Beschimpfungen, aber viel häufiger befruchtet der Stillstand Schmähungen.
1. Juli, Zürich, im Kunsthaus und auf der offenen Pavillon Le Corbusier-Terrasse
189.
Kunst macht mich zum glücklichen Menschen. Sie macht mich nicht per se glücklich, das nicht. Aber sie nimmt sich meinem Menschsein an, lenkt es auf Bahnen, die es mit der Melancholie, dem Grundrauschen, aufnehmen.
190.
Richters Landschaften im Kunsthaus passen hervorragend zur Schweiz. Ihre Erhabenheit schafft eine magnetische Distanz.
191.
Die Kombüsentür, die zur Dachterrasse des Pavillons Le Corbusier führt, erweckt ein Auf-Hoher-See-Gefühl. Wir legen ab; besonders den autochthonen Ballast, mit dem wir in letzter Zeit beladen worden sind.
192.
In jeder Moral steckt, ausnahmslos, das Potential zur Doppelmoral.
193.
Wer der Liebe hinterherrennt, wird, wohl oder übel, mehrmals von der Enttäuschung überholt.
194.
Wer sich nicht selbst hinterfragt, bekommt die Antworten von anderen.
2. Juli, Seengen, Frauenbad am Morgen, und Lenzburg, im Garten, am Abend
195.
Gibt es überhaupt eine Seele, im See wäre sie daheim.
196.
Das erste Zeichen von Wehmut: Nicht wir zählen die Schweizer Tage, die Tage zählen uns – an.
197.
Angesichts der Pandemie, deren Delta-Variante weitgehend ignoriert wird, warum auch nicht: angesichts 22 junger Männer, die für sehr viel Geld Ballspielen?, ist das frühe Ausscheiden von der Fußball-EM für das abtretende Land ein Segen. Weniger Jubelstürme – weniger Tote. Dennoch bleibt es auf den Lenzburger Straßen ruhig. Kein Hupkonzert ertönt, das ein Ende der potentiellen Gefahr feiert.
198.
Die Mischung aus Kapitalismus und Ersatzkrieg macht internationale Fußballspiele zu solch einer ungetrübten Freude.
3. Juli, Zürich
199.
Je mehr Züricherïnnen ich treffe, desto häufiger höre ich von der Unzufriedenheit mit ihrer Stadt – und dem gleichzeitigen Verliebtsein in den eigenen Kiez. Vielleicht sind es die Hassliebe und der Liebehass, die uns am meisten an einen Ort, einen Menschen, eine Obsession binden.
200.
Sich besser zurechtzufinden, heißt noch lange nicht, etwas tatsächlich verstanden zu haben.
201.
Die Schweiz versteckt sich vor uns, wie wir uns vor ihr. Lüftet sie einen Schleier, erspähen wir etliche weitere. Die Eidgenossenschaft ist ein Burkaland, das lieber selber guckt, als angeschaut zu werden.
202.
Zürich ist stolz auf seine Schokoladentradition. Sprüngli, Läderach & Co. haben etwas perfektioniert, was viele von uns, mich eingeschlossen, genauso versuchen: Wir nehmen etwas, was nicht uns gehört, verarbeiten und veredeln es und machen die anderen vergessen, dass es ganz und gar nicht auf unserem Mist gewachsen ist. Ob das eine Copyright-Verletzung darstellt? Falls die Antwort Ja lautet, dann wäre wohl fast der gesamte Kapitalismus eine Diebstahlbewegung. Keine ganz neue Erkenntnis, aber eben doch eine, die wir am liebsten verdrängen.
4. Juli, Seengen, am See, Lenzburg, im Garten und im Wald
203.
Die Zugehörigkeit zum Ungehörigen, denn das ist die Natur, wenn sie sich in ihrer Erhabenheit zeigt, wobei das Sublime nicht zerstörerisch sein muss, die Allgegenwart reicht, um mir meine Position zu offenbaren – denn auch darum handelt es sich: eine Preisgebung, einen Kontrollverlust, ein Eingeständnis, eine Enthüllung, eine Akzeptanz der Schwäche –, diese Zugehörigkeit zum Ungehörigen war mir, selbst als Stadtmensch, immer bewusst. In der Schweiz hat sich allerdings die Wahrnehmung für das Ausgeliefertsein geschärft. Ich sehe, was ist, was vergeht. Ein Memento mori, das mir die Frage stellt, wie ich die nächsten Jahre leben möchte; wenn es sich um Jahre handelt.
204.
Das geschlagene Holz liegt auf dem Waldboden wie auf einem Katafalk. Es vergibt uns nichts.
205.
Das Seewasser hat das geschmolzene Eis der Berge geschluckt. Der Hallwilersee schickt das Sommergut Richtung Aare. Wir schwimmen im Reisewasser, das uns, etwas, gegen das Ufer drückt, dessen ständige Schmalwellen sich brechen und den Himmel spiegeln.
5. Juli, Seengen, Frauenbad, und Lenzburg, Waldgebiet Berg-Ebnet
206.
Die Lüge stellt der Wahrheit nach – was vice versa seltener passiert.
207.
Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass die Deutschschweiz nicht die Schweiz ist; nach vielen Unterhaltungen wird mir klar, dass diese Erkenntnis bei etlichen Deutschweizerïnnen Schwindelanfälle verursacht.
208.
Ich balanciere auf einem zehn Meter langen Holzstück, zwanzig Zentimeter über dem Boden. Falle nach vier Metern herunter. Dann nach sechs, schließlich nach fünf Metern. Ich sage mir, dass am Ende des Stamms eine Idee wartet. Ohne Probleme erreiche ich den Endpunkt, wo, Überraschung, keine Idee auf mich wartet. Ich schlucke, steige ab, verstehe, dass es sich dabei um die Idee handelt.
6. Juli, Seengen, Frauenbad
209.
Das Alter versteht nicht mehr als die Jugend. Aber es hat bereits mehr missverstanden.
210.
Verständnis gehört dem Augenblick, Missverständnis der Ewigkeit.
211.
Die Müdigkeit kennt nur eine Richtung, das Wachsein viele.
212.
In der Fremde schmeckt selbst das Vertraute neu.
7. Juli, tagsüber in Basel, am späten Nachmittag in Riehen, Fondation Beyeler, am Abend in Seengen, Frauenbad
213.
Im Kunstmuseum hängt der wahre Reichtum Basels. Eindrückliche Bildung.
214.
Kara Walkers Sonderausstellung A Black Hole is Everything a Star Longs to Be hat zu Beginn eine Trigger-Warnung: dass uns sehr Unangenehmen begegnen werde. Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um einen Text, der Walkers Arbeiten vorstellt. Ich frage mich, ob man es in Basel gewohnt ist, in Ausstellungen Wohlfühlkunst vorgesetzt zu bekommen.
215.
Die ewig gleiche amerikanische, französische, deutsche und – schließlich sind wir in der Eidgenossenschaft – schweizerische Künstlerriege der Dauerausstellungen zeigt, wie in den Museen binäre Weltbilder konstruiert worden sind; es ist erstaunlich, dass mir das über Jahrzehnte nicht aufgefallen ist.
216.
Die Schönheit des Rheins, von einer Baselbrücke bewundert, trifft mich mit Wucht, wirbelt mich herum, aber lässt mich auch sogleich wieder freimütig aus ihren natur-ästhetischen Fängen. Die Langeweile der Flussbarkeit, des ununterbrochen Strömenden, des Kontinuums des Über-das-Ufer-Tretens, des Ab-und-an-Austrocknens und des, in aller Regel, stetig Vor-sich-hin-Fließens, raubt der ad hoc Rhein’schen Erhabenheit, für mich, jegliche Dauergucklust. Ein Fluss ist ein Fluss ist ein Fluss. Und Schluss.
217.
Die Urbanität der schweizerischen Kleinstädte, sei es Luzern, Bern oder Basel, Zürich ist eher die Ausnahme, überrascht mich. Sie geben nicht nur vor, mehr zu sein, als sie sind, sie sind es tatsächlich – wenn auch nur in der Konzentration auf eine wesentliche Funktion. In Bern ist es das Administrative, in Luzern der Tourismus, in Basel die Kunst. Dass eine Stadt, die von der Kunst lebt, eine gewisse Künstlichkeit ausstrahlt, versteht sich von selbst.
218.
Die Fondation Beyeler ist ein hübsches Zwitterwesen, eine attraktive Geldmaschine, die sich, was zu merken ist, aus tiefster Überzeugung der Kunst verschrieben hat. Ähnlich wie das dänische Louisiana Museum für Moderne Kunst setzt die grenznahe Stiftung auf das Eingebettetsein in eine bemerkenswerte Landschaft. Und so ist es denn der Garten, der mir am meisten in Erinnerung bleibt. Renzo Pianos Kunstkörper dagegen, dessen Innenräume überzeugen, erweist sich als simpler Hangar. Jeden Moment erwarten wir, dass sich eine große Schiebetür öffnet und eine kleine Propellermaschine ins Freie rollt. Dass Olafur Eliasson für seine temporäre Installation Life einen Teil der Fenster entfernt, was er „Fürsorge“ nennt, öffnet die Fondation Beyeler nicht nur auf überzeugende Art und Weise hin zu ihrer Umgebung, zur Flora und Fauna des Parks, zum wechselhaften Wetter und zu den Tageszeiten mit ewig changierenden Lichtverhältnissen, sondern enthüllt auch unbeabsichtigt den utilitaristischen Gewächshaus-Charakter des boxgleichen Gebäudes. Die Fürsorge entsorgt den erhabenen Nimbus der an sich intakten Innenhülle.
219.
Der doppelte Regenbogen über dem abendlichen Seetal lehrt uns, nach dem Baden, das Staunen. Einen schöneren, farblich brillanteren Rainbow haben wir noch nirgends gesehen. Die Schweiz verführt uns nach Lichtstrich und Bogenfaden. Mit offenen Mündern starren wir auf das Himmelsereignis, rühren uns zehn Minuten nicht vom Fleck. Das Leben, es ist ein Wunder.
8. Juli, Lenzburg, Jugendfesttage
220.
Es herrscht die ganz besondere Spannung von Vorfreude in der Altstadt. Eine uns allen wohlbekannte Erwartung vor Geburtstagen oder Weihnachten. In Lenzburg beruht sie auf dem Wissen der Traditionen des Jugendfests. Ein Brauch seit, heißt es, 400 Jahren und das, mit Abstand, größte Ereignis im Bezirkshauptort am Aabach. Die Plätze und Brunnen sind anlässlich des Jugendfestes geschmückt. In der Lenzburger Kirche hängen farbige Girlanden. Es duftet nach abgeschnittenen Blumen. Ein Riesenrad, Herz des Lunaparks auf dem Seifiparkplatz, dreht sich gemächlich am Fuße des Schlossbergs. Alles bereitet sich auf die normalerweise große Schlacht zwischen den „Kadetten“ (Schulkindern) und den „Freischaren“ (Erwachsenen) auf dem Gofi, einem Molassehügel in Sichtweite des Schlossbergs, vor. Wegen der Pandemie konnte das in geraden Jahren stattfindende Scharmützel vergangenes Jahr nicht stattfinden. Nun herrscht erneut der „Kriegsfall“, wenn auch „light“. Schließlich ist das Corona-Virus weiterhin gefährlich. Zur Feier des Tages hängen in Lenzburg Fotos vergangener heavy Schlachten: Die fröhlichen Teilnehmerïnnen treiben auf diesen Bildern das Enactment nicht nur soweit, dass sie sich mit allerlei Waffen und Kanonen ins Visier nehmen und reihenweise in einem offenen Gefecht abknallen, was mich durch die Inszenierung an die theatralische Aufführung von Gemetzeln des amerikanischen Bürgerkriegs erinnert, sondern die Freischärlerïnnen zeigen auch beim Umzug und auf dem Schlachtfeld stolz ihr Blackfacing, Yellowfacing und Redfacing. Die rassistischen Darstellungen werden – die Aufnahmen lassen keinen Zweifel – mit einer zutiefst naiven Freude betrieben, mit einer penetranten Ignoranz Jahr für Jahr wiederholt. Als gäbe es weiterhin Kolonialreiche. Als hätte es den Abolitionismus nicht gegeben. Als schickte die Schweiz weiterhin Söldner ins Ausland, um Geld zu scheffeln. Dass in der Zwischenzeit auf den Fotos der Schautafeln einige Schweizerïnnen zu sehen sind – übrigens sehr wenige: die reproduzierten Bilder zeigen ein 99 Prozent weißes Lenzburg –, deren Hautfarbe ohne das xenophobe Völkerschau-Einschmieren dunkler ist, scheint im Aargaustädtchen keine streitlustige Seele zu stören. Was wäre, wenn einige dunkelhäutige Lenzburgerïnnen anfingen, Whitefacing zu betreiben? Sich Kuhglocken umhängen würden? Wäre das ebenso lustig? Und noch eine Bemerkung des überraschten Gastes in der Stadt sei bitte erlaubt: Die Kadettïnnen, so ist der Brauch, gewinnen immer, ausnahmslos gegen die Freischar. Jung gewinnt also bei jedem Jugendfest gegen Alt. Zunächst könnte ich das als nette Geste abtun – die Erwachsenen maßen sich nicht an, die Teenager abzuzocken, sondern motivieren sie. Allerdings kommen die Kadettïnnen in Uniform daher, sind immer, ausnahmslos als autochthone Schweizerïnnen gekleidet – die Schweizerïnnen aus Einwanderfamilien selbstverständlich auch, die Kinder passen sich ein und an. Während die „wilde“ Freischar sich „fremd“ verkleidet – und am Ende, es sei betont, durchweg, ganz grundsätzlich verliert. Die Auslegung einer solchen Siegesgarantie des Einheimischen über das systematisch geotherte Fremde? Überlasse ich Ihnen.
9. Juli, Seengen, Frauenbad, früh am Morgen, Lenzburg, den Rest des Tages
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Wir zahlen den Parkplatz am Frauenbad, immer. Uns fällt auf, dass andere Fahrererïnnen, die mit uns gleichzeitig ankommen, selten bezahlen. Um genau zu sein: Eigentlich so gut wie nie. Ob es sich um ein Gewohnheitsrecht handelt? Ich weiß, dass man für diesen Parkplatz noch nicht so lange eine Gebühr berappen muss. Oder handelt es sich um eine grundsätzliche Weigerung der Aargauerïnnen, die nicht bereit sind, am Seetal Parktickets zu lösen? Wie auch immer. Wir akzeptieren, dass wir als Fremde die Regeln befolgen. Zahlten wir nicht fürs Parkieren, wären die Konsequenzen für uns, so viel verstehen wir von der Schweiz in der Zwischenzeit, andere als für die Einheimischen.
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Wir laufen gemächlich den Lenzburger Schlosshügel hoch, vorbei an einigen Weinreben, die hier gedeihen. Es ist ein warmer, heller Nachmittag. Die Sicht ist atemberaubend. Oben treffen wir zufällig den Landschaftsarchitekten und Gärtner, der sich seit Ewigkeiten um den von mir – ja, dies ist das richtige Wort – geliebten Garten des Müller-Hauses kümmert. Er ist mit seiner Frau – beide sind Mitte Siebzig – auf die Aussichtsplattform gewandert, um, wie wir auch, die Jugendfest-Schlacht auf dem Gofi aus der Ferne zu beobachten. Beide schwärmen davon, dass sie selbst als Schulkinder Kadettïnnen und später als Erwachsene Teil der Freischar gewesen sind. Dies ist nicht der Moment, um die mir entgegengebrachte Gastfreundschaft zu konterkarieren. Ich beiße mir auf die Zunge. Nehme mir vor, ein anderes Mal mit ihnen über meine Sichtweise zu sprechen. Auseinandersetzungen haben ihren Ort, kennen ihren Zeitpunkt. Was nicht heißt, dass wir schweigen sollten, wenn keine andere Möglichkeit absehbar ist. Häufig erfordert gerade der Augenblick unser entschlossenes Eingreifen.
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Wer stets Zucker schlecken möchte, dem oder der fallen irgendwann die Zähne aus.
10. Juli, Seengen, Frauenbad, früh am Morgen, Lenzburg, den Rest des Tages vor unserer Abfahrt
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Die gelben Seerosen zeigen Ermüdungserscheinungen. Sie schwimmen, aber neigen die Köpfe. Wir schließen uns, am letzten Seetag, ihnen an.
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Die Provinz sei ein Ort der Wahrheit. Sie sagt mindestens so viel über den Zustand eines Landes aus wie die großen Städte – vielleicht sogar mehr.
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Ich begreife erneut, dass ich weniger begriffen habe, als ich mir vorgenommen habe. Obwohl ich schreibend an diesen Ort, besonders den Garten, zurückkommen werde, also die Chance habe, mit erweiterten Begrifflichkeiten zu hantieren, bleibt mir die Schweiz ein Rätsel, das ich nur an den Rändern ansatzweise gelöst habe. Was mir scheint, dass neben den Sprachgrenzen auch die Kantonsmentalitäten eine besondere Rolle spielen. Die Geschichte der Regionen wird ernster genommen, als sie es verdient.
11. Juli, Lenzburg, und im Auto, quer durch die Schweiz, Österreich und Deutschland
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Das Leben ist kein Park, behütet und geschützt. Aber ein Garten, wie der des Aargauer Literaturhauses, ein Staudengarten – wäre das nicht möglich?
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Hat man sich entschlossen, zu gehen, bekommt der Ort, an dem man sich noch aufhält, auf der Stelle andere Züge.
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Die Schweiz war gut zu uns. Eine Güte mit Vorbehalt. Dass wir wieder gehen, war immer Teil des Deals.
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Auf der Heimfahrt überkommt uns sowohl Wehmut als auch Lebenslust. Keine schlechte Mischung. Das Gewesene wirkt nach, das Kommende winkt bereits.